Zeitschemata [Textkritische interaktive Ansicht mit a als Leittext]
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Zeitschemata

Deutungsmuster von Jugendlichen

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[129:1] Über
»Zeit«
ist in den letzten Jahrzehnten, aus der Perspektive sehr verschiedener Wissenschaften, derart viel geschrieben worden, daß, wenn sich nun auch noch die Erziehungswissenschaft zu Wort meldet, zu befürchten ist, sie könne sich entweder in den schwierig-pluralen Diskussionen von Physik, Biologie, Geschichtsschreibung, Religionswissenschaft, Ethnologie, Philosophie1
1Vgl. etwa H. Gumin und H. Meier (Hg.), Die Zeit. Dauer und Augenblick, München / Zürich 1989.
hilflos verfangen oder aber in erbauliche Trivialitäten ausweichen. Ziemlich am Anfang des neuzeitlichen Nachdenkens über Erziehung findet sich bereits eine solche
»Trivialität«
; in einem langen Traktat mit dem Titel
»Della famiglia«
von Leon Battista Alberti (um 1440) heißt es:
[129:2]
»Gianozzo: Drei Dinge sind es, die der Mensch sein Eigen nennen kann; und sie sind es so sehr, daß die Natur vom ersten Augenblick an, wo du das Licht der Welt erblickt hast, sie dir gegeben hat mit der Freiheit, sie zu gebrauchen, gut oder schlecht, soviel es dir beliebt und gefällt; und die Natur hat angeordnet, daß diese Dinge immer bei dir bleiben und sich niemals, bis zum letzten Tag, von dir trennen. Das eine von ihnen, wisse, ist die Regung der Seele, durch die wir begehren oder in Zorn aufwallen... Das andere, siehe, ist der Körper. Ihn hat die Natur abhängig gemacht, wie ein Werkzeug, wie einen Wagen, auf dem die Seele fährt, und sie hat ihm befohlen, nimmer sich einem anderen Befehl zu unterwerfen als dem der eigenen Seele... Der Natur widerstrebt es, wenn der Körper nicht in der Gewalt der Seele ist, und vor allem liebt der Mensch von Natur aus die Freiheit, er liebt es, sich selbst zu leben, sein Eigen zu sein... [129:3] Lionardo: Und das dritte – was wird das sein? [129:4] Gianozzo: Oh, ein höchst wertvolles Ding! Diese meine Hände und Augen sind nicht so sehr mein Eigen... [129:5] Lionardo: Wunderbar! Was mag das sein? [129:6] Gianozzo: Man kann es keinem hinterlassen, nicht verringern, in keiner Weise kann dies Ding dir nicht gehören, sofern du nur willst, daß es dein ist. [129:7] Lionardo: Und wenn es mir beliebt, wird es einem anderen gehören? [129:8] Gianozzo: Wenn du willst, wird es nicht dein Eigen sein: die Zeit, mein lieber Lionardo, die Zeit, liebe Kinder!«
2
2
L. B. Alberti, Über das Hauswesen (Della Famiglia), Zürich / Stuttgart 1962, 216f.
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[129:9] Frage und Antwort, die entfernt an Augustinus erinnern, haben auch heute noch ihren Alltagssinn, ganz ähnlich dem, was nach dem 15. Jahrhundert rasch geläufig wurde: Daß Zeit Geld wert sein kann, weiß man, seit Geldverleiher Zinsen nehmen; daß sich Geld in Arbeitszeit umrechnen läßt, war eine der Sorgen Dürers; Erasmus von Rotterdam riet dringlich, bei der Ausbildung von Knaben und Jünglingen keine Zeit zu verlieren; Johann Amos Comenius konstruierte den Lebenslauf als sieben aufeinanderfolgende
»Schulen«
; der Pietist August Hermann Francke wollte keine Pausen dulden usw. Derartiges ist oft beschrieben worden3
3Vgl. dazu R. Wendorff, Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa, Opladen 1980; Ph. Aries, Zeit und Geschichte, Frankfurt a.M. 1988; N. Elias, Über die Zeit (Arbeiten zur Wissenssoziologie II, hg. von M. Schröter), Frankfurt a.M. 1984; historisch besonders differenziert und zuverlässig A. Borst, Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas, Berlin 1990; ferner A. Keller, Über die Zeit, Dortmund 1992; vielleicht auch, bezogen auf Probleme der Bildungsgeschichte, K. Mollenhauer, Zur Entstehung des modernen Konzepts von Bildungszeit, in: ders., Umwege, Weinheim / München 1986, 68–91.
, und das Muster pädagogischer Ermahnung, das sich darin zeigt, wird selbst dort noch bestätigt, als ein kultureller Sachverhalt, wo ihm in moralisierender Attitüde das Lob der Muße entgegengehalten oder in soziologisch-analytischer Absicht die Richtung dieses Musters als Taylorisierung der Zeit oder
»Entkörperlichung«
4
4K. Heinemann und P. Ludes, Zeitbewußtsein und Kontrolle der Zeit, in: K. Hemmerich und M. Klein (Hg.), Materialien zur Soziologie des Alltags, Opladen 1978, 220–243.
beschrieben wird.
[129:10] Die Frage ist also, was es zu derartigen und inzwischen gut dokumentieren Problemlagen beizutragen gibt, wenn darüber in pädagogischer Einstellung ergiebig gesprochen werden soll. Das wird ohne Bescheidenheit der Einzelwissenschaft nicht möglich sein, ohne Einschränkungen, die hier vorab erwähnt seien:
  • [129:11]
    Ob es sinnvoll ist, über
    »Zeit«
    so zu reden, als sei dies ein über die Grenzen der einzelnen Wissenschaften oder Wissenssorten hinaus identischer
    »Gegenstand«
    oder nicht vielmehr ein immer wieder je anderes Konstrukt (vgl. dazu C. Colpe, N. Elias)5
    5C. Colpe, Die Zeit in den asiatischen Hochkulturen (Babylon – Iran – lndien), in: Gumin und Meier (Hg.), Zeit, 225–256; auch Elias, Zeit.
    , muß gänzlich unerörtert bleiben.
  • [129:12]
    Eine pauschale Unterscheidung ist indessen sinnvoll: Offenbar liegt die schwierigste Grenze zwischen Fragerichtungen der Natur- und denjenigen der Geistes- und Sozialwissenschaften, zwischen einerseits
    »physikalischem«
    und andererseits
    »semantischem«
    Zeitbegriff, den Deutungen also, die sich auf das beziehen, was man als
    »primäres Zeiterleben«
    bezeichnet hat6
    6E. Pöppel, Erlebte Zeit und Zeit überhaupt, in: Gumin und Meier (Hg.), Zeit, 369-382.
    .
  • [129:13]
    Zwar wäre auch das
    »Zeiterleben«
    ein sinnvoller Gegenstand der Erziehungswissenschaft; seine Aufklärung müßte indessen weit in die Naturwissenschaften hinreichen, etwa in die Biologie (
    »biologische Uhr«
    ) oder die Neurophysiologie. Deshalb soll im folgenden nur vom
    »semantischen«
    Zeitbegriff die Rede |a 109|sein, d.h. von solchen Sachverhalten, die in den Alltagsvokabularien unserer Gegenwart zur Sprache kommen und die sich auf das beziehen, was, ebenfalls alltagssprachlich, in unserer historischen und kulturellen Situation gemeinhin unter Problemen der Zeit verstanden wird.
  • [129:14]
    Dennoch wird im folgenden auch vom
    »Zeiterleben«
    die Rede sein. Dann aber handelt es sich nicht um die auch physiologisch aufklärungsbedürftige Seite solcher Phänomene, sondern um diejenige, die in Selbstbeschreibungen zur Darstellung kommt.

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[129:15] Es gibt, innerhalb unserer säkularen Kultur, zwei Ausgangsdaten für das Nachdenken über Zeit in Erziehungs- und Bildungsprozessen: einerseits Geburt und Tod und andererseits die Frage, die Schleiermacher für die allererste jeder modernen Pädagogik hielt:
»Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren?«
7
7F. Schleiermacher, Pädagogische Schriften I. Die Vorlesungen aus dem Jahre 1826, Frankfurt a.M. / Berlin (West)/ Wien 1983, 9.
Geburt und Tod stecken den Rahmen ab; was dazwischen geschieht, soll von zwei Faktoren abhängig sein, die in einem Wechselwirkungs-Verhältnis stehen: vom vernünftigen Wollen der älteren und von den Entwicklungsverläufen der jüngeren Generation. Aus dem damit gesetzten Problemspektrum greife ich hier nur einen ganz kleinen Ausschnitt heraus, nämlich die Frage, wie psychosozial stark belastete Jugendliche auf die Zumutungen reagieren, die die ältere Generation ihr als Erwartungen zur zeitlichen Strukturierung des Lebens entgegenbringt.
[129:16] Daß Bildung und Erziehung sich in der Zeit erstrecken, auch daß innerhalb unserer Kultur diese Erstreckung geregelt ist, daß sie nach Mustern verläuft, daß es Fortschritte und Einschnitte, kritische und weniger kritische Phasen gibt, dies alles sind triviale Feststellungen. Trivial ist vielleicht auch noch die Einsicht, daß derartige Muster, die das Heranwachsen regulieren, dem Individuum Normalformen der zeitlichen Lebenslaufgliederung auferlegen, mit denen es Schwierigkeiten haben kann. Solche Schwierigkeiten hängen damit zusammen, daß die objektiven Muster, die gesellschaftlichen Normalitätserwartungen für
»gelungene«
Bildungs- und Entwicklungsverläufe – also z. B. Pünktlichkeitserwartungen, Einschulungstermine, Lernzeiten im Jahresrhythmus, Strafmündigkeitstermine u.ä. – dem Erleben von Zeit konfrontiert sind. Muster und Erleben können also aufeinander abgestimmt sein; sie können aber auch, das ist vielleicht schon weniger trivial, im Streit miteinander liegen. Sie müssen also balanciert werden.
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[129:17] Diese Balance gelingt nicht immer. Das Mißlingen kann auf verschiedene Weise erscheinen oder erkennbar werden: Lernzeiten, die Kinder oder Jugendliche brauchen, können von den institutionellen
»meßbaren«
Bildungszeiten (Kleinkindalter, Kindergarten, Grundschule usw. bis hin zum Berufsabschluß) abweichen und etwa als
»Entwicklungsrückstände«
zu Konflikten führen; erinnerte Zeit kann die objektive Chronologie in Verwirrung bringen; die Zeit, die man braucht, um ein auftretendes Bedürfnis sozial verträglich zu befriedigen, kann als unerträglich lange erlebt werden8
8Vgl. G. Kasakos, Zeitperspektive, Planungsverhalten und Sozialisation, München 1971.
; das Zeitempfinden in der Gleichaltrigengruppe, der Subkultur, der Clique kann zu den institutionellen Vorgaben im Hinblick auf meßbare Zeit in Konflikt geraten; wenn die Zeit mit Tätigkeit angefüllt ist, vergeht sie rasch, andernfalls streicht sie frustrierend langsam dahin, entsteht Langeweile; die Zukunft kann, wie die Vergangenheit, als ein Fatum erlebt werden, ohne
»Per|A 23|spektive«
, ohne vorstellbare zeitliche Gliederung; schließlich kann auch der Tageslauf so scheinen, als sei er nichts als eine Abfolge innerer Impulse des Organismus, nicht abstimmungsbedürftig mit äußeren,
»objektiven«
Zeitsachverhalten. In derartigen Balancierungsleistungen zeigt sich ein historisch-anthropologisches Grundproblem, mit dem wir alle zu tun haben, aber auch eine besondere Schwierigkeit, mit der Jugendliche konfrontiert sind, diesich in ohnehin schon schwieriger LebenslageA befinden. Beständig werden uns Synchronisierungen abverlangt.
[129:18] Wir9
9Die folgenden Materialien und Argumentationen entstammen der empirischen Jugendstudie K. Mollenhauer und U. Uhlendorff, Pädagogische Diagnosen II. Selbstdeutungen verhaltensschwieriger Jugendlicher als empirische Grundlage für Erziehungspläne, Weinheim / München 1995. Die Materialien der Studie bestehen als Protokollen von 70 Gesprächen, die mit Jugendlichen beiderlei Geschlechts geführt wurden. Die Stichprobe war eine sehr einseitige Auswahl von Fällen: Es wurden (fast) nur solche Jugendliche interviewt, denen ihre Erzieher (vorwiegend in Heimen der Jugendhilfe) derart gravierende Verhaltensschwierigkeiten zuschrieben, daß die Prognosen eher skeptisch oder gar pessimistisch ausfielen. Neben der Auswertungsdimension
»Zeit«
haben wir in jener Studie die Gesprächsmaterialien auch nach
»Körpererfahrungen«
,
»Selbstbildern«
,
»normativen Orientierungen«
und
»Devianz«
ausgewertet. Dabei war uns in jeder dieser Hinsichten nur an den Selbstdeutungen bzw. Selbstbeschreibungen der Jugendlichen gelegen, nicht aber an objektivierender Ursachenermittlung. Die folgende empirische Berichterstattung ist ein gemeinsamer Text von U. Uhlendorff und mir.
wollen deshalb ermitteln – und das ist nun die engere Fragestellung, die hier (empirisch) erörtert werden soll –, ob bei den Jugendlichen, die in schwierige Verhaltenskonflikte hineingerieten und die bei ihren Erzieherinnen und Erziehern in verschiedenen Einrichtungen der Jugendhilfe eher Ratlosigkeit hervorrufen, etwas erkennbar ist, das auf derartige Lebensprobleme Bezug nimmt. In welchen |a 111|Deutungsmustern, so ist also unsere Frage, geben die Jugendlichen ihren Umgang mit Zeit zu erkennen? Da nach solchen Mustern nicht direkt und nicht in standardisierter Form gefragt wurde – wir haben mit den Jugendlichen offene Gespräche geführt –, können sie nur aus dem Erzählduktus und den zur Sprache gebrachten Inhalten erschlossen werden.
[129:19] Der Spielraum, den der Interpret dabei hat, ist freilich groß und kann zu unkontrollierbaren Vermutungen führen. Er liegt zwischen einer sehr oberflächlichen Auswertung einerseits, bei der etwa nur darauf geachtet würde, ob und in welchen Zusammenhängen überhaupt der Ausdruck
»Zeit«
oder sinnverwandte Vokabeln auftreten – und andererseits in dem Versuch,
»tiefe«
Charakteristiken der Rede, die etwa schon im Satzbau, in der Grammatik, in den Verbformen Indikatoren für den Umgang mit Zeitproblemen vermuten lassen, zu beschreiben. Die erste Variante schien uns zu unergiebig; die zweite wäre eher in linguistischer Grundlagenforschung angebracht, nicht aber im Zusammenhang vorwiegend pragmatischer Interessen. Wir haben uns für einen mittleren Weg entschieden, auch wenn er strengere theoretische Interessen kaum zu befriedigen vermag.
[129:20] Es wurden drei Arten von Äußerungen zum Gegenstand der Auswertung gemacht, die, auch wenn sie nicht in die
»Tiefe«
der mental verankerten Bewußtseinsformen eindringen, doch etwas vom Zeit-Management und dem ihm zugrunde liegenden Habitus im Umgang mit Zeitproblemen zum Vorschein bringen, nämlich:
  • [129:21] Wie bringen die Jugendlichen ihre biographische Vergangenheit zur Darstellung, wie strukturieren sie ihre Erinnerung?
  • [129:22] Wie beschreiben sie soziale Interaktionen und die Wege zwischen einem auftauchenden Bedürfnis und dessen Befriedigung, die Abstimmungen auf die Erwartungen anderer, die dabei als nötig oder unwichtig erachteten
    »Antizipationen«
    ?
  • [129:23] Wie gehen sie mit Zukunftsvorstellungen um, nicht nur in mikrosozialen Interaktionszusammenhängen, sondern im Sinne biographischer Entwürfe als zeitliche Strukturierungen im Erwartungsfeld zwischen
    »Wunsch und Wirklichkeit«
    ?
[129:24] In allen drei Hinsichten muß jene oben angedeutete Balanceleistung erbracht werden zwischen objektiv vorgegebenen chronometrischen Zeit|A 24|schemata und dem subjektiven Erleben von Dauer. Man kann davon ausgehen, daß im sozialisatorischen Regelfall beides im labilen Gleichgewicht gehalten werden kann: Die chronometrischen Vorgaben können akzeptiert werden; hingegen wird das
»psychologische«
Erlebnis von Dauer, die Befriedigung des Moments gleichsam in den Nischen der Chronometrie lokalisiert, gleichviel ob sie im biographischen Verlauf oder in situativen Besonderheiten gefunden werden. Das chronometrisch auferlegte Schema von Bildungskarrieren z. B. kann, ohne daß daraus gravierende Schwierigkeiten entstehen, gelegentlich durchbrochen werden. Jemand kann malA ein halbes Jahr
»durchhängen«
, ohne daß die eigene Kontrolle über Zeitdistanzen verlorengeht; Spiel, Abenteuer und Reisen können si|a 112|tuativ die Erlebnis-Zeit in den Vordergrund rücken, ohne daß dadurch die gesellschaftlich standardisierten Vorgaben prinzipiell in eine Zone der Ablehnung geraten, wie auch umgekehrt die auferlegte Chronometrie nicht das subjektive Erleben von Dauer oder situativer Intensität beeinträchtigen muß.
[129:25] Die Jugendlichen unserer Stichprobe sind zumeist anders. Sehr viele von ihnen tun sich schwer mit dem, was in der Interaktionstheorie
»Perspektiven-Übernahme«
heißt, eine Fähigkeit, die nicht nur die allgemeine Interaktionskompetenz betrifft, sondern auch für den Erwerb sozial verträglicher Zeitschemata grundlegend wichtig ist. Das Sich-Hineinversetzen in die Perspektive von anderen bedeutet ja nicht nur, diesen konkreten anderen Menschen, als aktuellen Beziehungspartner, in seinen Erwartungen an mich ernst zu nehmen; es bedeutet auch, den
»generalized other«
, das, was mir als verallgemeinerte Erwartung begegnet, in meine Handlungsschritte einzubeziehen, also mich in der Perspektive solcher Erwartung zu sehen. Die chronometrische Struktur von Bildungsverläufen in unserer Gesellschaft ist eine solche verallgemeinerte Erwartung. Wer also im Verlauf seiner Sozialisation wenig Gelegenheit hatte, derartige Abstimmungen zu erlernen, gerät leicht in Konflikte. Fast immer entstehen sie entlang dieser kritischen Zone von verallgemeinerungsfähigen objektiven Zeitgliederungsregulativen und den eher subjektiv zu nennenden Erlebnisweisen, die sich von konkreten Situationen, von individuellen Impulsen, von spontanen Befriedigungswünschen nur schwer lösen können. Auch der umgekehrte Fall ist denkbar, daß nämlich die institutionelle Zeitgliederung die subjektiven Erlebnisspielräume überwuchert und deshalb gar nicht mehr zur Erfahrung kommt, daß das subjektive Zeiterleben (
»psychologische Zeit«
) sein Recht verlangen darf und also auch in der Selbstdeutung einen wesentlichen Platz haben sollte.
[129:26] In solcher Lage entwickeln die Jugendlichen unserer Stichprobe
»Schemata«
oder
»Muster«
, nach denen das für jeden von uns irritierende Spiel zwischen persönlichen Impulsen und unpersönlichen Regelvorgaben individuell akzeptabel gedeutet wird. Die Irritation wird, wenn man nicht über die oben beschriebene Frustrationstoleranz und die Fähigkeit zur |A 25|Übernahme genereller Perspektiven verfügt, in durchgehenden Deutungsmustern zur Beruhigung gebracht. Das erlaubt es den Jugendlichen, die Widersprüche oder Differenzen gleichsam zu bereinigen. Drei solcher subjektiver Deutungsmuster haben wir in den Materialien gefunden, und zwar nach Maßgabe der erläuterten Problemlage:
  • [129:27] Es gibt Jugendliche, deren Umgang mit Zeitproblemen ganz oder doch sehr weitgehend von den verallgemeinerten und objektiven Schemata geprägt ist, die in unserer Kultur für biographische Verläufe, für Bildungs- und Lernzeiten gel|a 113|tend gemacht werden. Was ihnen in ihrem Leben relevant erscheint, das wird jenen Vorgaben zugeordnet. Wir bezeichnen dies als das Muster institutionalisierter Zeit.
  • [129:28] Daneben gibt es Jugendliche, die so erzählen, als seien derartige Chronometrien irrelevant. Die Strukturierung von biographischen Erinnerungen, aktuellen Schilderungen und Zukunftserwartungen erfolgt nach Maßgabe wichtiger Beziehungserfahrungen, zumeist in nahen sozialen Kontexten; Zeitverläufe werden entsprechend gegliedert; die Dichte des Erlebens von Interaktionen ist ihnen erheblich wichtiger als die Frage, wie dies sich in die Zeitstruktur etwa von Bildungs- oder Ausbildungskarrieren einfügt. Wir bezeichnen diese Mentalität als an sozialen Beziehungen orientiertes Muster der subjektiven Deutung von Zeit.
  • [129:29] Das dritte Muster umfaßt nicht, wie es scheinen könnte, eine Restgruppe, sondern hat ein ausgeprägtes eigenes Profil. Es wird von Jugendlichen zur Sprache gebracht, denen sowohl die institutionellen Zeitschemata als auch die erlebnisdichten Beziehungsereignisse gleichgültig zu sein scheinen. Ihr Leben – so ist der Eindruck beim Lesen der Interviews – gliedert sich in seinem Verlauf nach aufregenden Episoden, die im übrigen unverbunden bleiben. Eigentlich nehmen sie überhaupt keine Gliederung nach Entwicklungs- oder Bildungsschritten, auch nicht nach folgenreichen Erfahrungen mit anderen Menschen vor, sondern springen von Episode zu Episode, ohne daß Relevanz-Abstufungen erkennbar wären. Wir nennen dieses Muster
    »fragmentiert«
    .
[129:30] Jedes dieser drei Muster enthält Stärken und Schwächen. Erst aus deren Abwägung können sich pädagogische Folgerungen ergeben. Vorerst aber sollen sie qualitativ beschrieben werden.A
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Institutionalisierte Zeit

[129:31] Unter den 70 interviewten Jugendlichen gab es eine Teilgruppe, die eine in sich konsistente, mehr oder weniger chronologische Lebensdarstellung zur Sprache brachte, und zwar in enger Anbindung des Lebenslaufs an Institutionen wie Familie, Heim und Schule. Ein 17jähriger Junge zum Beispiel beschreibt seinen Lebenslauf folgendermaßen:
[129:32]
»Ich war ein Jahr lang im Krankenhaus, weil ich blutkrank war. Und mein Vater und meine Mutter waren ja Alkoholiker und haben sich immer gestritten. Und da kam das Jugendamt und meinte, ein Kind weg oder alle. Und da hat meine Mutter gesagt: eins. Und das war ich, weil ich ja krank war. Und da bin ich gar nicht mehr zu meiner Mutter gekommen, sondern in den Wohnhof in X. Das ist so ein Kinderheim. ... Da war ich dann ungefähr ein halbes Jahr, und dann hat sich ein anderer Heimleiter gemeldet. Und hat gefragt, ob ich nicht da ins Heim möchte. Ich hab natürlich ja gesagt, weil ich das noch nicht alles genau wußte. ... Und dann kam ich auf den Trip, mehr Scheiße zu bauen, also Blödsinn zu machen und sowas. Und dann meinte der Heimleiter, ich hätte so ein kleines, vierjähriges Mädchen betatscht. Und da meinte der Heimleiter, ich kann gehen und sowas. Und dann bin ich in die Jugendpsychiatrie nach D. gekommen. Und die haben dann gesehen, daß ich über|a 114|haupt nichts in der Birne habe, noch richtig ticke da oben. ... Und die haben nach einem Heim geguckt, X. und Y. und weiß Gott nicht alles. Und dann haben sie gesagt, A. ist noch ein Platz frei, und dann bin ich hergekommen. Nee, die Leute sind hier in die Psychiatrie gekommen. Und dann haben wir geredet und so und denn hab ich Ja gesagt. Und dann bin ich hierher gekommen.«
(15/17/m)
10
10Der Code in den Klammerausdrücken bedeutet: Fallnummer/Alter/Geschlecht.
[129:33] Ein anderer erzählt:
[129:34]
»Ich bin in A. geboren, das ist bei X. ... Dann ist meine Mutter gestorben. ... Ich bin dann zu Pflegeeltern in X gekommen. Erst habe ich bis zu meinem ersten Lebensjahr, haben wir in Y noch gewohnt und dann eben zu Pflegeeltern nach X. ... Da kam mal eine harte Zeit, da waren meine Eltern arbeitslos. Und da wurde eben alles gekürzt. ... Und dann bin ich auf die Schule gekommen, auf die Hauptschule. Da bin ich bis zur achten Klasse dann gegangen, siebte habe ich einmal wiederholt, ne, weil ich so einen langen Krankheitsfall hatte. ... Und dann bin ich nach S. gegangen in die Ausbildung letztes Jahr.«
(14/17/m)
[129:35] Ein Mädchen berichtet:
[129:36]
»Also ich bin 1970 hier in X. geboren, ja ich mein’, welches Krankenhaus, das weiß ich jetzt nicht mehr. ... Ich hab zuerst mit meiner Oma, meiner Tante, meinem Opa und meiner Mutter in einem Haus gewohnt. ... Meine Mutter, die mußte ja arbeiten. Also die war eigentlich nie da. Mein Vater, der war eigentlich auch nicht da, also wo ich schon ganz, ganz klein war, da ham se sich auch schon getrennt. Weil ich bin ja auch gekommen, da war meine Mutter 19 und so. Ja, und dann hat se eigentlich so viel Zeit auch nicht gehabt, um sich immer so ganz intensiv zu kümmern, und halt erzogen hat mich halt irgendwie mehr meine Oma. Und darum ist wahrscheinlich auch klar gewesen, daß die halt eben mit 14, wo ich dann 14 war, wo ich dann mit ihr richtig so gewohnt habe, irgendwo dann auch nicht so ganz klargekommen ist. Ja, und dann ging das halt eben nicht mehr, ich hab mich irgendwo |A 27|dann mit meiner Mutter überhaupt nicht verstanden, ja und dann hat se mich eben ins Heim gesteckt, ins Heim geschickt. ...A «
(56/22/w)
[129:37] Die Erzählweise ist relativ einfach. Die Jugendlichen reihen die für sie relevanten Ereignisse zu einem bestimmten Erfahrungsfeld (Familie, Schule) einfach aneinander, sie verwenden dabei häufig die Konjunktion
»und dann«
. Selbst bei der Darstellung wichtiger Situationen und Lebensereignisse gibt es selten Hinweise auf das innere Zeiterleben. Die
»psychologische Zeit«
, Momente der Langeweile oder Ungeduld werden kaum zum Thema. Über die Einschulung heißt es z.B.:
[129:38]
»Morgens hat meine Mutter mich fertiggemacht für die Schule, hat mir ’ne Schultüte in die Hand gedrückt, dann sind wir zur Schule hingefahren. ... Ja, und dann kamen auf einmal meine Freunde aus’m Kindergarten, die ich da kennengelernt hatte, ... und dann kamen die Lehrer raus und ham uns die Hand gegeben, ham se uns in unsern Klassenraum gebracht. Na, dann haben se die Eltern weggefahren, ... haben wir so Zettel gekriegt und sollten das ankreuzen, ja weiter weiß ich auch gar |a 115|nicht mehr. Zwischen elf und zwölf Uhr konnten wir dann gehen. Haben die Eltern uns wieder abgeholt.«
(2/16/m)
[129:39] In ihren Erzählungen vermißt man detaillierte Beschreibungen und zeitliche Abfolgen von zwischenmenschlichen Ereignissen und Handlungen mit den ihnen nahestehenden Personen. Für Außenstehende dramatisch erscheinende Ereignisse wie Trennung und Heimeinweisung werden eher distanziert-sachlich mitgeteilt.A
A
[129:41] In vergleichbarer Art werden Tagesverläufe oder auch Interaktionssequenzen dargestellt. Die Beschreibung des Tagesablaufs folgt den vorgegebenen Zeitplänen und Angeboten der Institutionen. Das
»Ich«
nimmt selten gestaltenden Einfluß, es fügt sich scheinbar dem Rhythmus der Einrichtungen und Lebensfelder.
Biographisch relevante Ereignisse wie etwa der Aufenthalt in einer psychiatrischen Einrichtung sind vorwiegend chronometrisch interessant; demgegenüber tritt die mögliche Erlebnisdichte interaktiver Erfahrungen zurück:
[129:45]
»Da bin ich mit andern Leuten zusammengekommen, ja, und dann nach ’ner Zeit fing dann die ganze Scheiße an, ne? Mit Klauen und Lügen und zu spät nach Hause kommen, mal ’ne Nacht gar nicht kommen. Und da wurden meine Großeltern nach ’ner Zeit natürlich nicht mit fertig. Wurden ja auch älter, und dann ham die gesagt: so, jetzt können wir nicht mehr. Die ham’s lange mit mir ausgehalten! ... Dann ham die mich in die Kinderpsychiatrie gesteckt nach H., weil die gedacht haben, ich bin innerlich nervös. ... Also ich war da auf ’ner geschlossenen Station, hab jeden Tag ’n Gespräch mit dem Doktor gehabt, so ’n Arzt, und nachmittags hab ich Therapien gehabt. Wenn ich gut, mich gut gefühlt habe, dann hab ich nachmittags mal ’ne halbe Stunde oder ’ne Stunde Ausgang gehabt, na, dann wieder rein, dann um 8 ins Bett. Das war so meist der Tagesablauf, der immer so abging, immer. Da gab’s keinen Tag, der nicht so aussah. ... Und dann ’n halbes Jahr da gewesen, und dann bin ich hierhin gekommen, also nicht direkt hier, erstmal in ’ne andere Außenwohngruppe. Ja, und dann nach ’ner Zeit ham se mich dann hier hingetan. Gucken, wie’s hier läuft.«
(35/15/m)
A
[129:48] Auch die Zukunftspläne scheinen einem Fahrplan zu folgen, den man zwar in seinem Zukunftssinn nicht durchschaut, der aber dennoch akzeptiert wird:
[129:49]
»Ein Jahr Hauswirtschaftsschule. Und danach mach’ ich aber noch was anderes, wegen meinem Hauptschulabschluß, damit ich ihn krieg’. Das nennt sich, glaub’ ich, irgendwie BFH oder BVH. ... Danach will ich ’ne Ausbildung als Floristin anfangen. Weil ich Blumen mag, weil ich schon immer hinter Blumen her war, so Gar|A 29|tenarbeit, so Blumengestecke, Blumen binden, Biedermeiersträuße und so weiter.«
(30/16/w)
[129:50]
»Ich war hier zur Schule. Und dann hab ich erst Hauswirtschaft und Agrar gemacht. Und da hab ich gesehen, das ist überhaupt nichts für mich. Ja, und dann hab ich mal versucht, BVJ, Farbe und Holztechnik. Da hat mir Farbe keinen Spaß gemacht, weil der Meister so mies zu mir war. Und der Meister bei Holz war eigentlich immer voll nett zu mir. Dann hab ich mir angewöhnt, immer schon um halb loszugehen, statt immer ein paar Minuten zu spät zu kommen. Und dann hat’s mir |a 116|auch immer mehr Spaß gemacht. Auch, wenn ich da morgens reinkam, so ein schöner Holzduft von Kiefer oder sowas.«
(15/17/m)
A
[129:53] Die Zeit-Deutungsmuster, nach denen diese Jugendlichen ihre biographischen Ereignisse ordnen, sind auf sympathische, aber häufig auch dürftig anmutende Weise realistisch, haben etwas von der Zuverlässigkeit handwerklicher Orientierungen, wie in alten Handwerker-Chroniken. Individuell Bedeutsames rückt demgegenüber eher in den Hintergrund; statt dessen treten Merkmale eines gleichsam öffentlichen Lebenslaufs hervor. Manchmal lesen sich die Äußerungen der Jugendlichen wie eine Jugendamtsakte: frühe Krankheit, Scheidung der Eltern, Aufenthalte bei Verwandten, Einschulung, Umzüge, Schulschwierigkeiten, Familienhilfe, Heimeinweisung, psychiatrische Betreuung, Heimwechsel, BGJ, Lehre. Hinter dem (scheinbar) nüchternen und auf institutionelle Abläufe bezogenen Schema der zeitlichen Orientierung bleibt indessen verborgen, was mit der Bildung des Individuums geschieht. Die in den Äußerungen vorherrschende chronometrische Einstellung könnte auch brüchiges Eis sein, ein durch leidvolle Lebenserfahrung akzeptiertes Korsett biographischer Orientierung, das einerseits Stütze, andererseits Restriktion bedeutet. Es gibt bei dieser Art biographischer Mitteilungen keine, in denen die Zeitvergessenheit im Spiel, die eher privaten biographischen Gliederungen, die Zeitabläufe von Freundschaften oder anderen sozialen Beziehungen, die
»Biographien«
von Gruppenstrukturen, die (vermutbare) Erlebnisdichte von herausragenden Lebensereignissen zur Darstellung gebracht werden.
A

Beziehungszeit

A
[129:58] Das folgende Beispiel eines türkischen Mädchens zeigt, trotz chronologischer Erzählweise, die zeitliche Gliederung der Vergangenheit nach Maßgabe mehr oder weniger dramatischer Beziehungsereignisse:
|A 31|
[129:59]
»Ich bin in Deutschland geboren, ... dann bin ich gleich, nachdem ich geboren bin, hat mich meine Mutter nach Türkei gebracht, bin ich mit meinen Großeltern da aufgewachsen, bis ich sieben Jahre alt war, meine Mutter kam ab und zu mal zu Besuch, und dann hab ich sie Tante genannt, weil ich sie ja nicht kannte, und dann hat sie sich immer über mich geärgert. ... Und meine Großeltern haben versucht, irgendwie zu beweisen, daß sie meine Eltern sind, also meine richtigen Eltern. Das wollt’ ich einfach nicht kapieren, weil ich hab gedacht, ich hab meine Eltern, das sind meine Großeltern, und dann basta, hab ich gedacht. Und ich wollte meine Eltern nicht akzeptieren. Und als ich dann sieben geworden bin, hat mein Vater ’n Brief geschrieben nach Türkei und hat gesagt: ... wir wollen unsere Tochter wiederhaben. ... Und bin ich wieder zurückgekommen, und dann hab ich meine Eltern kennengelernt und meine richtigen Geschwister. ... Und da war ich ganz entsetzt ... ich hab mich selber gefragt: was soll das jetzt, auf einmal hab ich Geschwister, und ich hab nicht meine Ruhe, und ich wollte meine Großeltern also für mich haben, weil die mir mehr Liebe gegeben haben, und alles was ich brauchte. Und mein Vater |a 117|und meine Mutter, die waren eifersüchtig, weil ich meine Großeltern mehr mochte als meine Eltern. Meine Geschwister, die waren auch eifersüchtig, weil meine Oma hat mir alles gegeben, ... die sind eifersüchtig gewesen, die sind immer noch eifersüchtig. Die hetzen mich gegen meine Oma auf. Und als dann dieses Problem kam, also dieses Problem mit meinem Vater, er wollte was, naja – er wollte was von mir, was ein normaler Vater nicht machen konnte. Dann bin ich zur Schule gegangen in H., erst in die Grundschule, ich hatte riesige Probleme erst mit meiner Familie, weil ich erst meine Geschwister kennengelernt habe, und dann, mit der Schule wollt’ ich ja nichts anfangen irgendwie, die Schule war mir nicht wichtig in dem Augenblick. Und dann bin ich in die Sonderschule gekommen, mit meinem Bruder zusammen, der hatte, glaub’ ich, auch Probleme. ... Und als ich in der Sonderschule war, dann nach paar Wochen wollt ich Selbstmord machen. ... Naja, meine Großeltern sind ausgezogen, und dann kam das Problem mit meinem Vater, ... hab ich ganz viele Tabletten genommen. ... Da war ich ... noch nicht ganz 13.«
(29/16/w)
[129:60] Es folgt eine detaillierte Beschreibung der Reaktionen auf den Selbstmordversuch, die familiäre Aufregung, die Behandlung im Krankenhaus, die peinlichen Fragen der Ärzte,
»ob mich jemand vergewaltigt hat, warum ich diesen Selbstmord gemacht habe«
. Sie beschreibt ihre Loyalitätskonflikte gegenüber ihrem Vater, der sie sexuell mißhandelt hat, dann ihren Versuch, einen türkischen Rechtsanwalt einzuschalten, eine dramatische Entführungsszene in die Türkei. Wieder zurück in Deutschland, so erzählt sie,
[129:61]
»... bin ich denn abgehauen, hab ich ’n Auto angehalten, und da war ein Mann, wollt’ ich lieber nicht einsteigen. Hab ich denn ’ne Frau angehalten, und sie mußte zum Zahnarzt, hat sie da den Termin abgesagt, hat mich zum Polizeirevier gefahren. Und der Direktor kannte mich ja nicht, dann kam der andere Polizist, der mich schon kannte. Der hat gesagt: Sie sagt die Wahrheit, dann hat man gleich das Jugendamt verständigt, dann wußten auch meine Eltern schon, wo ich war. Mein Bruder kam, meine Mutter kam, die ganzen türkischen Leute haben sie mitgebracht. Mein Bruder hatte gesagt: bitte tu das nicht, gehe nicht zum Heim zurück. Dann war ich noch verzweifelter und noch bescheuerter an dem Tag! ... Dann bin ich ins Internat gekommen. Ja, und von da aus bin ich nach X. (Heim) gekommen, nach zwei Jahren.«
|A 32|
[129:62] Die erinnerten Erwartungen und die damit verbundenen Spannungen geben dem Lebenslauf seine eigentliche Dynamik. Dramatische soziale Zuspitzungen (wie z.B. die Entführung), die verschiedenen Versuche des Mädchens, die Situation zu lösen (Selbstmordversuch, die Bemühung, über eine Lehrerin einen Rechtsanwalt einzuschalten, die Flucht) und die Gegenhandlungen der Eltern und Reaktionen der Jugendhilfevertreter markieren die verschiedenen Etappen und Wendepunkte innerhalb des Lebenslaufs. Im Zentrum der Erinnerungen stehen aber – im Unterschied zum
»institutionellen«
Zeit-Muster – die Wünsche sowie Strebungen des Individuums und die damit verbundenen sozialen Schwierigkeiten, Ängste und Verzweiflungen. Die erinnerten konflikthaften zwischenmenschlichen Situationen und die mit ihnen verbundenen inneren Bewegungen bilden die eigentlichen Säulen der Autobiographie. Sie verdichten sich zu |a 118|Beziehungsthematiken, die sich über einen längeren Lebensabschnitt hinziehen und nur hier und da mit dem institutionellen Werdegang verknüpft werden. Institutionsbezogene Ereignisse wie Einschulung oder Heimeinweisung tauchen vereinzelt in der Lebensbeschreibung auf, aber mehr im Schatten der sozialen Beziehungsereignisse; sie dienen, wie auch die jeweiligen Altersangaben, mehr als chronologische Orientierungshilfen.
[129:63] Die Biographie verliert dadurch, daß eigene und fremde Handlungsabsichten mitgeteilt werden, ihre starre und an institutionelle Abfolgen gebundene Form. Diese Jugendlichen ziehen andere zeitliche Gliederungspunkte heran und strukturieren ihre Biographie nach einer anderen Logik als jene, die dem Prinzip institutioneller Zeitschemata folgen. Die Autobiographie wird als eine Art Etappendrama aufgebaut, in dem die Entwicklung eines zwischenmenschlichen Konfliktes über einen längeren Zeitraum dargestellt wird, und zwar aus der Sicht des Hauptakteurs; die einzelnen Etappen bzw. dargestellten Lebensstationen bilden bewegende Höhepunkte des Lebensweges, die zumeist mit wichtigen Veränderungen und Wendungen einhergehen.
A
[129:66] Kennzeichnend für die Erzählweise ist, daß Handlungen in dichten zeitlichen Schritten berichtet werden:
»Bin ich dann abgehauen, hab ich ’n Auto angehalten, und da war ’n Mann drin, wollt’ ich lieber nicht einsteigen ... A«
Schwierig wird es nur dann, wenn ein Handlungsgeschehen beschrieben werden soll, in dem mehrere Personen einbezogen sind, die parallel, also zeitgleich handeln, und deren Handlungen schließlich aufeinandertreffen. Als Beispiel noch ein weiterer Auszug aus dem Bericht des türkischen Mädchens:
[129:67]
»Da war ich 13½. ... Und dann wollt’ ich, also hat mein Bruder gesehen, daß ich die Tabletten geschluckt habe, hat meine Mutter geholt. Damals hatt’ ich ja, hatte meine Mutter noch ’n Kind gekriegt, das war mein jüngster Bruder, der war, glaub’ ich, gerade 4 oder 5 Jahre alt, der jüngste jetzt. ... Und meine Mutter hat ja meinen kleinen Bruder bißchen ausgeführt, ... in’ Spielplatz, das war in der Nähe. ... Und dann, als mein Bruder gesehen hat, daß ich Tabletten genommen habe, hat mein Bruder meine Mutter geholt, dann hat sie – mein Vater hat immer Geschichten erzählt, daß ich angeblich in den Toiletten mit deutschen Jungs rumgemacht habe, aber das stimmte gar nicht. Mein Bruder hat gesagt, das stimmt gar nicht, also ich war immer bei meinem Bruder. Und dann hat mein Vater meinen Bruder auch geschimpft, und dann hatt’ ich die Nase voll, ich hab gesagt: Ich will nicht mehr weiterleben! Hab ich Tabletten genommen, ich hatte meinem Bruder auch erzählt davon, und dann, was mein Vater für Märchen zu meiner Mutter erzählt hat, mit den Jungen da – dann hat meine Mutter mich auch halt, als ich Tabletten genommen hab, ... dann hat meine Mutter gesagt: Du bist ’ne alte, was weiß ich, Hure und so. Hat mein Bruder dann alles in dieser Sekunde erzählt, er hat gesagt: das stimmt alles nicht, sie traut sich nicht, dir die Wahrheit zu sagen. Meine Mutter wollt’ das aber nicht glauben, und dann in dem Moment ist mein Vater einen trinken gegangen in ’ne Kneipe, ist mein Bruder schnell hingefahren, hat meinen Vater geholt ... Und dann ist mein Vater gekommen, ham se mich zum Hausarzt gebracht.«
(29/16/w)
|a 118|
[129:68] Es fällt auf, daß es dem Mädchen noch nicht gut gelingt, die verschiedenen Handlungen der beteiligten Personen in der Erzählung zeitlich aufeinander abzustimmen; man weiß beim ersten Lesen nicht so richtig, was vorher und was gleichzeitig passiert ist, wer wann dies oder jenes erzählt hat und zu welchem Zeitpunkt sich dies oder jenes ereignet hat. Erst nach mehrmaligem Lesen läßt sich das Geschehen rekonstruieren. Die Erzählerin reiht Handlungen, die sich parallel zur selben Zeit ereignen, aneinander, so als würden sie zeitlich nacheinander erfolgen (
»Hat mein Bruder in dieser Sekunde dann alles erzählt. Meine Mutter wollt’ das aber nicht glauben, und dann in dem Moment ist mein Vater einen trin|A 34|ken gegangen ..., ist mein Bruder schnell hingefahren ... hat meinen Vater geholtA«
). Alles geschieht zur selben Zeit und doch zeitlich nacheinander. Nun könnte man dies mit den sprachlichen Schwierigkeiten des Mädchens begründen, ihr fehlen solche adverbialen Bestimmungen der Zeit, welche Zeitrelationen verdeutlichen, wie z.B. während, bevor, zur gleichen Zeit, vorher, nachher. Sie verwendet nur ungenaue zeitliche Bestimmungswörter wie
»und dann«
,
»damals«
,
»da«
,
»in dieser Sekunde«
. Das scheint aber eher ein Entwicklungsproblem zu sein.
[129:69] Bei der ersten Gruppe wurden Zeitverläufe beschränkt auf eine Handlungsabfolge beschrieben, in ihrer Vorstellung schien esA keine parallel verlaufenden Geschehensabläufe zu geben. Für die Jugendlichen, die sich diesem zweiten Typ zuordnen lassen, existieren neben den eigenen Handlungen auch andere, von ihnen unabhängige Geschehensabläufe, die sich zeitgleich ereignen. Sie können sie aber noch nicht zeitlich koordinieren. Das Mädchen, das hier prototypisch für die ganze Gruppe steht, scheint sich auf einer Entwicklungsstufe zu befinden, auf der das Individuum in seinen Vorstellungen noch nicht in der Lage ist, zwei Handlungen in ihrer Gleichzeitigkeit zu denken bzw. darzustellen; es gibt noch keine von dem Geschehen abstrahierte Zeitvorstellung, in der verschiedene Handlungsverläufe aufeinander bezogen werden könnten. Die Erzählweise folgt einer
»zentrierten Handlungslogik«
11
11G. Dux, Die Zeit in der Geschichte, Frankfurt a.M. 1989.
: Verschiedene Handlungsabläufe, in die mehrere Personen verwoben sind, die zum Teil parallel verlaufen und aufeinander Bezug nehmen, werden von der Position eines der Beteiligten beschrieben. Einen dem Geschehen übergeordneten und wechselnden Betrachterstandpunkt gibt es nicht. Das Mädchen versetzt sich in ihre damalige Notsituation und beschreibt sie allein aus ihrer Perspektive. Das Muster der
»institutionalisierten Zeit«
ist der entgegengesetzte Fall: Die eigene |a 120|Perspektive fehlt und wird gleichsam der eines abstrakten Anderen geopfert.
[129:70] Die Lebensbeschreibungen unterscheiden sich von denen der ersten Gruppe noch durch ein weiteres Merkmal: Handlungsabfolgen ereignen sich nicht mehr schicksalhaft, sondern werden z.T. selbst mitbestimmt; Ursachen für Veränderungen werden begründetA:
[129:71]
»Naja – weil jedes Mal, wenn ich da zu Hause war, dann gab’s irgendwie immer Streit wegen irgendwelchen Sachen! Und wenn’s so Kleinigkeiten waren. Ich mein’, meine Mutter, die hat Brustkrebs, und die hat auch nicht mehr viel von ihrem Leben zu erwarten, kann ich auch verstehen. Aber deswegen muß sie sich nicht gleich ganz verkriechen und so. Mit meinem Vater ist es auch nicht so ganz einfach, der hat krankhafte Eifersucht. Das ist schon schlimm, also wenn’s nach mir geht, würd’ ich den sofort in’ne Klapse einweisen. Naja, mein Vater, der hält eh nicht viel von mir, der meint, ich wäre zu dumm und so. Aber ich hab mir gesagt, ich geh’ arbeiten, und dann kann ich ihm wenigstens beweisen: Ich hab was gelernt, und du nicht! ... Naja, eine Zeit hab ich ziemlich intensiv über meine Eltern nachgedacht. In letzter Zeit träum’ ich auch sehr viel von ihr (Mutter). Aber mehr so die grausigen Sachen. Da hab ich z.B. schon den eigenen Kopf von meiner Mutter in der Hand gehalten! Und |A 35|– ach – aber jetzt geht’s eigentlich so, find’ ich. Also ich find’, ich muß mich jetzt mehr auf die Arbeit konzentrieren, das ist wichtiger. Weil es geht jetzt im Endeffekt um meine Zukunft, weil ich hab mich sechs Jahre – oder besser gesagt, fünfeinhalb – mehr um meine Eltern gekümmert als um mich selbst. Weil, um mich hat sich keiner gekümmert! Die waren entweder nie da, oder es gab nur Streit und waren weg.«
(47/17/m)
[129:72] Jugendliche, die am institutionen-orientierten Zeitmuster hängen, bevorzugen eine relativ bewertungsfreie Schilderung von Ereignisabfolgen, für die die Konjunktion
»dann ... und dann ... und dann«
steht. Jugendliche des an Beziehungsereignissen orientierten Musters von Zeitgliederungen bringen die Lebenssachverhalte in einer Darstellungsweise zur Geltung, in der interaktiv wichtige Gründe und Folgen mitgeteilt werden. Die von ihnen bevorzugte Konjunktion, auch wenn sie nicht wörtlich verwendet wird, ist
»weil ...«
. Die zeitliche Abfolge von Lebensereignissen ist, innerhalb dieses Musters, an das subjektive Wollen und Können gebunden, mehr jedenfalls als an die institutionalisierte Chronometrie.A
A
[129:75] Ähnlich wie bei der Tagesgestaltung folgen diese Jugendlichen auch bei der Zukunftsplanung stärker als die erste Gruppe ihren individuellen Wünschen, oft entgegen den Ratschlägen ihrer Erzieher und unabhängig von den tatsächlichen Verwirklichungschancen. Ein Mädchen möchte unbedingt Sozialpädagogin werden und entwirft gemeinsame Lebenspläne mit ihrem Freund:
[129:76]
»Wir sind jetzt fast ein Jahr zusammen, und wir wollen noch länger zusammen bleiben. Und wir glauben auch, daß es klappt. Und wir lassen uns nicht von außen beeinflussen, von den Erziehern, das fand ich also ziemlich erniedrigend, daß die kommen und sagen, hör mal zu, der steht doch sowieso nicht auf deinem Niveau, der ist doch etwas tiefer, laß ihn doch hängen, es bringt nichts mit euch beiden. ... |A 36||a 121|Wenn, dann muß ich das selber für mich rauskriegen, ob es stimmt, was die sagen. Aber das können die doch gar nicht beurteilen. Wenn er arbeiten geht und ich arbeiten gehe, dann ist es ... also, ich find’s besser, wenn man zwei verschiedene Arbeiten hat, als wenn z.B. beide im Büro wären. Das wäre überhaupt nichts. ... Und manche sehen das hier nicht ein. Die Erzieher, was die gesagt haben, das fand ich echt total daneben, oh, ich fand das so gemein.«
(20/16/w)
A
[129:79] Jugendliche, die ihren Lebenslauf stärker nach Beziehungsereignissen gliedern, orientieren sich in ihren Zukunftsvorstellungen weniger an konventionellen Karrieren, sondern folgen mehr ihren Interessen, Neigungen, Bedürfnissen. In der eigenen Vorstellung folgt der Lebensweg nicht festgelegten Bahnen. Das Geschehen in der Zeit kann von ihnen mitbestimmt werden, sie vertreten also ein eher
»aktives«
Konzept von Lebenszeit. Die eigene Lebenszeit wird als Entwicklungszeit erlebt: Die persönliche Vergangenheit zeichnet sich durch die Bewältigung sozialer Konflikte und den Erwerb von Kompetenzen aus, das Leben wird als ein individueller sozialer Reifeprozeß gesehen. Sie sehen sich vor der Entwicklungsaufgabe, ihre Lebensvorstellungen und Interessen den eigenen Könnens- und Wollensmöglichkeiten anzupassen.
[129:80] Auch angesichts dieses Zeitmusters – es mutet nicht weniger sympathisch an als das erste – kann man sich fragen, warum eigentlich Jugendliche mit derartigen Orientierungen in Schwierigkeiten geraten, die sie zu Klienten der Jugendhilfe machen. In beiden Arten von Selbstbeschreibung stecken Einseitigkeiten: eine Unterschlagung gleichsam der subjektiven Erlebniskomponente im
»institutionsorientierten«
A, ein Mangel an institutionellem Realismus – wenn man so sagen darf – im zweiten, ganz an das individuelle Zeiterleben gebundenen Fall.
|A 37|

Fragmentierte Zeit

[129:81] Die Strukturierung des Zeiterlebens an den meßbaren institutionellen Abfolgen des Lebens und die Orientierung an erfahrungsdichten Interaktionsereignissen ließen beide Ordnung und eine gewisse Logik erkennen. Daneben gibt es Jugendliche (ca. 25 % der Fälle), deren Erzählweise abgehackt und sprunghaft erscheint, gelegentlich beliebig assoziativ, jedenfalls so, daß zunächst Regelhaftes kaum zu entdecken ist.
[129:82] Ein Jugendlicher z.B. sagt über seine Zeit im Kindergarten:
[129:83] A
»Ou! Tja, das ist schwer. Also da war ich, glaub’ ich, von vier bis fünf. Sind wir spazieren gegangen, auch zusammen was gemacht. Mein Bruder kam ja ein’ Tag später rein. Wir sind zusammen eingeschult worden. War ja vorher auch schon im Vorschulkindergarten. Zweimal im Kindergarten. War langweilig das zweite Mal. ... Ich weiß nur noch, daß ich mal im Kindergarten Geburtstag hatte. Denn war ja bei uns so Sitte, so auf’n Stuhl. Und die Jugendlichen durften mich mit Stuhl hochhe|a 122|benA ... da bin ich eine Woche auf Sonderschule gekommen. Dann waren wir schwimmen, haben wir auch schon gemacht. Mein Djako (Schwimmabzeichen) in der Sonderschule gemacht. Einer mußte sich ja freiwillig melden, ne. Waren ja mehrere. Fragte ein Direktor oder was er war: Wer hat Lust auf den Stuhl? Alle haben sich gemeldet. Außer ich, ne. Er hatte mich drangenommen. Auf’n Stuhl, dann kamen noch drei, vier Stühle drunter. Hat er mir erstmal gratuliert. Da hab ich Schiß gehabt, weil ich Höhenangst hatte.«
(22/17/m)
[129:84] Zu seiner Schulzeit sagt er folgendes:
[129:85] A
»Nur Schreckliches. Wir haben uns nur geprügelt. Der hat angefangen, da hab ich zurückgeschlagen. Ich hab nur einen Zahn verloren ... Wenn ich Schule geschwänzt habe, bin ich meistens zum Wald gegangen, nur rumgegangen, Scheiße bauen, Bäume ausreißen. Da bin ich aber geflitzt, weil ein Wildschwein kam.«
(22/17/m)
[129:86] Auch andere wissen von der Schulzeit wenig zu berichten, was auf die Institution bezogen ist:
[129:87] A
»An die Schultüte kann ich mich noch erinnern, aber sonst? Nö. Da war ich noch bei meinen Pflegeeltern, glaub’ ich, so genau weiß ich das nicht ... Was hab ich damals gemacht? Wir ham draußen gespielt, mit den Autos da, und was weiß ich. Oder wir sind in Scheunen vom Bauern gegangen, ins Heu reinfallen lassen oder so. Dann ham wir auch so einige Einbrüche gemacht, mal ’n bißchen Alkohol rausgeholt und so.«
(12/18/m)
[129:88] Diese Jugendlichen haben offensichtlich gravierende Schwierigkeiten mit der Chronologie. Zwischen verschiedenen Lebenszeitpunkten springen ihre Schilderungen assoziativ hin und her. Dennoch kann man nicht behaupten, daß ihr Zeiterleben ohne jede Ordnung sei; sie ist nur schwerer zu erkennen: Nicht die institutionelle Zeit, nicht Geschichten und Vorgeschichten von Beziehungsereignissen strukturieren ihre biographische Erinnerung, sondern aufregende Momente. Was zwischen diesen liegt, scheint gänzlich irrelevant zu sein (
»Was hab ich denn immer gemacht?«
). Die Bruchstücke stehen in einem Sinnzusammenhang, der sich nicht aus der zeitlichen Abfolge von Ereignissen ergibt, auch nicht aus der Relevanz und
»inneren«
Dauer von Beziehungskonflikten, |A 38|sondern aus Momenten, die nur durch das Merkmal miteinander verbunden sind, aufregend gewesen zu sein. Auch die Beschreibung von Situationen, für die man im Regelfall die Verdeutlichung von Handlungsabläufen erwarten würde, fällt nach dem gleichen Muster der Reihung aufregender Momente aus, z.B. die Beschreibung einer Jugendgerichtsverhandlung:
[129:89]
»Ich dachte, das wär’ hier nicht öffentliches Gericht. Meinte ich, was sind das für Leute? Ja, das sind Praktikanten. Ich hab mich immer kaputtgelacht. Die sahen ja schlimmer aus als ich. Die sahen ja verbrechermäßig aus. Und der Richter: Wie alt bist du? Hab ich gesagt. Wann bist du geboren? Stimmt das wie, wie du heißt? Ich sage, ja. Ich sag’ ihm, daß ich von Geburt so alt bin. Sag’ ihm, daß ich von Geburt auch so heiße. Immer Gericht verarscht. Eine viertel oder halbe Stunde später mein|a 123|te dieser Rechtsanwalt – ich hatte keinen Anwalt, ne: Das war das erste Mal, lassen wir ihn davonkommen! Meinte der Richter ganz blöd – da hätte ich mich allerdings aufregen können, ne: Wenn ich Sie noch einmal erwische, dann sieht das gar nicht so gut für Dich aus! Ja, ja, laber mal, ich so gedacht. Tschau, geh mal schön. Bin ich rausgegangen.«
(22/17/m)
[129:90] Die beschriebenen Ereignisse haben den Charakter von in sich abgeschlossenen Episoden, sie fügen sich in keine zeitliche biographische Abfolge und haben scheinbar auf das weitere Lebensgeschehen keinen Einfluß. Hier andere, nicht weniger skurrile Beschreibungen:
[129:91]
»Und dann bin ich auch abgehauen einmal, mit’m Fahrrad, ... hab ich Streit gehabt mit so’m Jungen, mein Rennrad geschnappt, dann bin ich per Autobahn gleich zurückgefahren nach X. ... Da ham mir noch 20, 30 Kilometer gefehlt auf diesem Schild – steht ja 130, ne. ... Dann hab ich gesagt: och Scheiße, ich hab keinen Bock mehr. ... Und dann sind se, das waren Anhalter, mit mir dann aus der Ausfahrt runter, und ich wollte das gar nicht. ... Dann, ja, ham se mich zur nächsten Tankstelle, die Erzieher angerufen, wo ich war, aus dem Heim da, ne? Dann ist ’n Erzieher gekommen, hat mich da wieder abgeholt. Erst mal wieder zurückgefahren, erst mal geduscht. Weil, ich mußt’ ja mal pinkeln auch mal auf dem Fahrrad. Na, hab ich nicht extra angehalten, sondern ich bin gefahren und hab dabei gepinkelt, ne.«
(33/15/m)
A
[129:93] Eine Jugendliche berichtet:
[129:94] A
»Und, ja, diese Cousins wurden halt innerhalb von zwei Jahren auch zwei Jahre alt, logisch, ne? Ja, und die ham dann immer zu Weihnachten halt immer ihre Süßigkeiten gekriegt, und die hatte dann halt jeder für sich alleine. Na, seit dem Tag an hab ich gemerkt, daß das auch für mich dann besser kommt, wenn ich für mich die Sachen behalte, weil ich hab ja dann mehr, ne! ... Also ich hab ’ne Puppe gekriegt, und die ham ’n LKW gekriegt, so ’n Truck, so ’n Modelltruck, ne. Und das fand ich ja natürlich völlig genial, so’n Modelltruck. Na, und da hab ich, bin ich einfach zu P. hin und meinte so: Du, laß mich doch mal tauschen! Er so: Ja, aber nicht lange! Ich so mir den Truck genommen, ihm die Puppe in die Hand gedrückt und weg damit, das Zimmer abgeschlossen! (lacht) Naja, gut, und den hab ich dann auch behalten. ... Äh (lacht), ich muß da ganz ehrlich zu sa|A 39|gen, vor zwei Jahren, da war ich ja noch 17 und alle drei Cousins 15, und da war ich mit einem von den dreien ’ne ganz kurze Zeit zusammen, aber das ist daran gescheitert, daß ich nie wußte, welchen ich denn nun habe. Weil, irgendwie bin ich da immer so’n bißchen durcheinandergeraten! ... Das waren Drillinge!«
(50/19/w)
[129:95] Wieder ein anderer Jugendlicher beschreibt seine Kindheit so:
[129:96] A
»Meine Onkels, die waren auch erst 16, 17, also: Skateboard, Karton draufgenagelt und mich reingesetzt und angefahren. Oder irgendwie beim Fußballspielen in ’n Riesenmüllcontainer eingesperrt, ja, und dann ham se Fußball gespielt und mich natürlich auch rausgeholt. ... Wo ich meinen ersten Hund hatte, an den erinner’ ich mich auch noch. ... Immer wenn’s irgendwie Ärger gab, dann bin ich immer bei dem Hund in die Hütte reingekrochen, und keiner konnte was machen!«
(3/18/m)
A
[129:98] Wie schon im Zusammenhang der Chronologie von Lebenslaufdaten nützen auch hier die Nachfragen der Interviewer wenig. Sie |a 124|werden teils übergangen, teils bleiben sie mit dem Hinweis darauf, sich nicht erinnern zu können, unbeantwortet, teils werden sie geradezu unwillig abgewehrt, als
»stressig«
empfunden. Zu einem geordneten Nachvollzug ihrer Lebensgeschichte sind sie aufgrund der häufigen Brüche und Wechsel in ihrem Leben nicht in der Lage. Befragt man sie zu einem Lebensabschnitt, dann können sie je nach Erlebnisdichte eine Reihe kurzer Episoden beschreiben; unangenehm in Erinnerung gebliebene Lebensetappen werden, wenn überhaupt, dann stark verkürzt abgehandelt.A
[129:99] Vor einer ständig wechselnden Kulisse werden auf der Vorderbühne immer gleichartige Sketches inszeniert. Die Anekdote scheint deshalb das geeignete Erzählmittel zu sein, mit dessen Hilfe erlebte Diskontinuität in positive Momente gewendet werden kann und die Darstellung der bruchstückhaften Vergangenheit in Form einer Selbststilisierung als Held der Unbeständigkeit gelingt. Veränderungen scheint es dabei nur in der Außenwelt, Bewegung nur zwischen Personen zu geben. Das Selbst bleibt in ihrer Wahrnehmung zwangsläufig unverändert, und zwar deshalb, so läßt sich vermuten, weilA die nötige Selbstdistanz fehlt, um eine sensible Innenwelt zu konturieren. Dadurch kann Lebenszeit A nicht als Entwicklungszeit wahrgenommen werden. Veränderungen sind gleichsam nur auf der Außenseite der PersönlichkeitA, nämlich in der Dimension von Interessen und Tätigkeiten, denkbar. Für einen Fünfzehnjährigen z.B. scheint Therapie eher ein
»netter«
Zeitvertreib gewesen zu sein. Mit der Frage, ob er sich im Hinblick auf seine früheren sozialen Schwierigkeiten verändert habe, scheint er überfordert zu sein. Therapie hat für ihn eher den Charakter einer ausgefüllten Freizeit:
|A 40|
[129:100]
»Und dann konnt’ ich da kokeln, konnt’ ich da auf meiner Therapeutin reiten, so’n Gurt anlegen und dann hinten so: schneller, und so! Im Matsch rum, und das war ganz nett da. Da ... hab ich dann auch vier Jahre Therapie gekriegt. (I: Aber hat das was für dich gebracht, diese Therapie? Daß es dir besser ging?) Also ich glaube nicht. Außer, daß meine Freizeit dann bißchen besser war, ne. Daß ich nicht mehr so rumgegammelt habe, sondern daß ich was zu tun hatte. Nee, ansonsten glaub’ ich nicht.«
(33/15/m)
[129:101] Entsprechend bleiben die Zukunftsvorstellungen und -wünsche dieser Jugendlichen blaß, wirken kontextlos, zufällig, willkürlich, bleiben völlig unerläutert:
[129:102]
»Sanitäter will ich werden, aber ich weiß noch nicht, wie ... Die Ideen kommen später noch«
(6/15/m).
»Fliesenleger oder Schreiner, aber das interessiert mich noch nicht«
(7/13/m).
»Ich will Millionär werden«
oder
»Flugzeugbauer – meine Mutter hat da wohl Beziehungen zum Flughafen.«
(12/18/m)
[129:103] Es gibt keine artikulierten Vorstellungen über Ausbildungswege. Wie man einmal sozial lokalisiert sein will, auch im Hinblick auf |a 125|familiäre Kontexte, bleibt ganz unbestimmt. Ein phantasierendes Ausmalen, oder auch nur die Andeutung davon, ist nicht zu beobachten. Die Unfähigkeit oder Unwilligkeit, die eigene biographische Vergangenheit nach dem Muster sinnhafter Zeitfolgen zu strukturieren, hat in der Diffusität von Zukunftserwartungen ihre Entsprechung. Es herrscht der mal mehr, mal weniger aufregende Lebensaugenblick, ohne in die Ordnungen von Erinnerung und Erwartung eingefügt zu werden.

4

[129:104] Diese drei Deutungsmuster, die sich auf das beziehen, was wir Probleme der Lebenslauf- oder Bildungsgang-Gliederung nennen können, sind natürlich nur ein sehr kleiner Ausschnitt aus dem breiten Fragenspektrum, das sich unter dem Titel
»Zeit und Erziehung/Bildung«
einstellt. Aber selbst dieser bescheidene Ausschnitt zeigt die Schwierigkeiten, die sich dann ergeben, wenn begrifflich Plausibles in empirisch halbwegs Zuverlässiges überführt werden soll. Zudem haben wir nur untersucht, wie Jugendliche ihre Situierung in der
»Zeit«
, d.h. hier nur im Kontext ihres Lebensablaufs, in eigenen Worten zur Sprache bringen – und selbst dies nur mit Bezug auf eine kleine und besonders problembeladene Gruppe. Verallgemeinerungen verbieten sich deshalb. Dennoch lassen sich einige weiterführende Fragen aus unseren Interpretationen gewinnen.
[129:105] Eigentlich haben die Jugendlichen in den Gesprächen mit uns nur zu erkennen gegeben, wie sie ihre Erinnerung strukturieren. Wenn aber, wie viele meinen, Vergangenheit und Zukunft, dazwischen der flüchtige Moment von Gegenwart, wesentliche Ordnungsrichtungen für unser (wenigstens das moderne; aber Augustinus war schon der gleichen Meinung) Zeitbewußtsein sind, dann ist die Frage bildungstheoretisch ziemlich relevant, wie die nachwachsende Generation sich zu dieser
»Ordnung«
verhält. Alle Stufen, die Piaget als Entwicklung des Zeitbewußtseins beim Kinde beschrieben hat12
12J. Piaget, Bildung des Zeitbegriffs beim Kinde, Zürich 1955.
sind von unseren Probanden bereits durchlaufen. Aber nun, gleichsam am Ende des
»Zeit-Bildungs-Curriculums«
, stehen sie vor der Frage, wie sie die zeitliche Konstituierung ihrer Individualität (sie können Geschwindigkeiten messen und vergleichen, mit Uhren umgehen,
»physikalische«
von
»psychologischer«
Zeit unterscheiden usw.) mit den Kontexten synchronisieren können (oder wollen), in denen sie leben. Zu diesen Kontexten gehört auch – nach dem Verständnis der älteren Generation – die erinnerte Vergangenheit. Man |a 126|kann diese Frage weit ausgreifend diskutieren, etwa durch die Zuspitzung auf Geschichte, wie Ph. Ariès das tat13
13Ariès, Zeit.
: Haben die von uns befragten Jugendlichen ein Verhältnis zur Geschichte? Vermutlich haben sie keins. Aber ist nicht schon der gelungene Schritt in die je eigene Erinnerung und die Weise solcher Strukturierung wenigstens auch ein erster möglicher Schritt in die Geschichte – vielleicht nicht die öffentliche aber doch die private? Und ist es nicht der pädagogischen Aufmerksamkeit wert,
»unterstützend«
und
»gegenwirkend«
14
14Vgl. die erste und – wie mir scheint – immer noch überzeugende Konstruktion dieser beiden pädagogischen Handlungstypen bei Schleiermacher, Schriften, 51ff.; 45ff., die Erörterung der Frage, ob in der Erziehung der
»Moment«
der
»Zukunft«
aufgeopfert werden dürfe.
auf das zu achten, was in solchen Strukturierungen oder Selbstdeutungen vor sich geht?
[129:106] Aber wo soll man (
»Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren?«
) unterstützen, wo gegenwirken? Wir haben aus unseren Gesprächsmaterialien drei (grobe), Deutungsmuster für Erinnerung konstruiert. Sie haben eine, wenngleich entfernte, Ähnlichkeit mit Weisen des Umgangs mit erinnerter Zeit, die innerhalb der europäischen Geschichte der Neuzeit literarische Höhepunkte hatten: die
»institutionelle Zeit«
in den frühesten Memoiren und Handwerker-Chroniken, wo, bis ins 19. Jahrhunden hinein, nahezu ausschließlich die Werkstatt-Geschichte notiert wird; die
»Beziehungszeit«
am Beginn der Autobiographie und des Pietismus bis zum Höhepunkt des
»Anton Reiser«
von K.Ph. Moritz, eine Gattung oder eine Erzählweise, in der personale Konstellaionen und damit verbundene innere Geschichten des Individuums zur Darstellung kommen; die
»fragmentierte«
Zeit schließlich bei Baudelaire, wo, etwa im
»Spleen de Paris«
, die Kontinuitäten zerbrechen und nur noch von lyrischen oder dramatischen Lebensmomenten die Rede ist. Diese Abfolge ist nicht unbedingt als Fortschrittsgeschichte zu lesen. Es sind drei hier nur ganz vorläufig konstruierte verschiedene Typen, die der moderne Europäer (möglicherweise) in sich verträglich versammeln kann. Diese Erinnerungstypen, so möchte ich vorschlagen, sind drei nicht-hierarchisch anzuordnende Auslegungen der Zeitlichkeit unserer Existenz im Hinblick darauf, wie wir unsere Erinnerung strukturieren.
»Pathologien«
entstehen – jedenfalls in unserer Kultur – dann, wenn nur je eine dieser drei Weisen zur Geltung gebracht werden kann. Und das scheint bei unseren jugendlichen Gesprächspartnern der Fall gewesen zu sein. Darum sind sie in Schwierigkeiten geraten. Man sollte ihnen deshalb helfen, auch die je anderen beiden Modi in sich zu aktivieren.
[129:107] Erinnerung hat etwas mit Zukunft zu tun. Schleiermacher meinte schon – und Piaget hat es 100 Jahre später empirisch bekräftigt –, daß in dem Maße, in dem die Erinnerungsfähigkeit des heranwachsenden Individuums sich ausbildet, auch sein Vermögen steige, Zukünftiges antizipieren zu können. Das konnte freilich nicht im Sinne irgendeiner empirisch-prognostischen Fähigkeit gemeint sein. Es war gemeint als das Vermögen, aus erinnerten Daten (und ihrer Situierung in Lebens-Zeit-Kontexten) Mutmaßungen über Erwartbares und dessen (mögliche) Modifikationen anzustellen. Das war die |a 127|große Hoffnung der Bildungstheorie der deutschen Klassik; nur so konnte Fortschritt denkbar sein. Die Möglichkeitsbedingung für eine bessere Zukunft schien die zuverlässige (historische) Erinnerung zu sein. Wissen wir es besser? Kaum. Aber was wäre dann ein Umgang der Generationen miteinander, der es ermöglicht, Erinnerungen derart zu artikulieren, daß geschichtliche Vergangenheit und Zukunft in solcher Artikulation wenigstens vorbereitet würden? Im Blick derjenigen Jugendlichen, die ihre Erinnerung nach dem
»institutionellen«
Muster beschreiben, ist die Zukunft nur die Wiederholung der Vergangenheit; nach dem
»Beziehungszeit«
-Muster bleibt alles offen, allenfalls auf das psychologische Subjekt und seine
»Bedürfnisse«
oder aktuellen Beziehungen beschränkt. Auch bei denen, die dem
»fragmentierten«
Muster folgen, blieben die Zukunftserwartungen, wie wir sagten, blaß, kontextlos, willkürlich. Worauf weisen – in der Perspektive pädagogischer Verantwortung gedacht – solche Befunde hin? Läßt sich also ein Erinnerungsmuster denken, das so strukturiert ist, daß es eine ebenfalls
»strukturierte«
Zukunftsphantasie erlaubt? Allerdings immer nur – mit Schleiermacher gesprochen –, wenn wir das mit vernünftigen Gründen
»wollen«
sollten!
[129:108] Das kleinste Partikel in diesem mentalen Spiel zwischen Erinnerung und Antizipation, Vergangenheit und Zukunft, ist der aktuell erlebte Augenblick,
»Moment«
, mehr oder weniger gedehnte Gegenwart. Dürfen wir, die ältere Generation, mit vernünftigen Gründen wollen, daß seine glückliche Erfüllung einer unbestimmten Zukunft aufgeopfert werden solle? Diese Frage war ursprünglich – am Beginn des 19. Jahrhunderts – teilweise der hohen Kindersterblichkeit geschuldet. Sie ging aber schon damals, jedenfalls bei Schleiermacher, darüber hinaus und ist eine Frage danach, ob wir wollen dürfen, daß Bildungswege von Kindern und Jugendlichen nur als
»Karrieren«
gedacht werden, als systemgerechte Schrittabfolgen in der Lebenszeit. Oder müssen wir nicht vielmehr, nach skeptischer Abwägung unserer Wollens-Motive, die Abbrechungen und hedonistischen Impulse, das zwecklose und also aller Zukunft gegenüber gleichgültige Spiel, den erfüllten und damit auch zukunftsindifferenten Augenblick mit seiner besonderen Erlebnisdichte in sein Recht setzen, wenn er denn eines haben sollte? Die oben skizzierten
»fragmentierten«
Deutungen von erinnerter Zeit kommen dem am nächsten; die
»institutionalisierte«
Zeit steht dem am fernsten. Zwischen beiden dehnt sich eine Facette von pädagogischen Aufgaben (für die Erwachsenen), die den Sinn weder des einen noch des anderen liquidieren dürfte.
[129:109] Das Muster der
»fragmentierten«
Deutungen steht der
»postmodernen«
Mentalität am nächsten, das
»institutionelle«
den gegenwärtigen Markt-Mechanismen, die
»Beziehungszeit«
am ehesten den |a 128|psychosozialen Deutungen gegenwärtiger Wirklichkeit. Ich denke, keines von diesen dreien verdient einen Vorzug vor dem anderen. Allenfalls könnte man sie in eine Entwicklungsreihe bringen. Es ließen sich dann auch je spezifische Bildungs- oder Entwicklungsaufgaben denken, die den Jugendlichen dazu verhelfen, ihre zum Stereotyp geronnenen Selbstdeutungen noch einmal in Bewegung zu bringen15
15Vgl. dazu die sehr eindringlichen empirischen Befunde und theoretischen Deutungen von R.L. Selman, The Growth of Interpersonal Understanding, New York 1980; ders. und H. Schultz, Making a Friend in Youth. Developmental Theory and Pair Therapy, Chicago / London 1990.
. Allerdings zeigt sich, wenn wir den Ausdruck
»Entwicklung«
in Anspruch nehmen, ein Zeitkonstrukt nicht der Jugendlichen, sondern unserer eigenen Theorie bzw. unseres kulturellen Bildungsumfeldes. Lebensereignisse von Kindern und Jugendlichen im Sinne einer
»Entwicklung«
aufeinander zu beziehen, ist der Versuch, durch die Reihung gestufter Abfolgen im einzelnen Ereignis Sinn zu finden. Machen wir dieses Konstrukt in der pädagogischen Praxis geltend, dann bekräftigen wir damit den kulturellen Zeithabitus, der unsere pädagogische Kultur prägt. Keinesfalls aber sprechen wir damit eine universelle Wahrheit aus.

Abstract

[129:110] From the beginning of modern times (Neuzeit) the fact that the growing up of the young generation is submitted to various regulations of time got an increasing significance. All the more not only the question becomes important which forms of social organisation of time, for instance in educational institutions, are being available, but also with which patterns of interpreting themselves children and adolescents react on that. Three of such patterns are described and discussed, namely by using materials from discussions with adolescents with severe behavioral disorders.
A

2. Zeit

A
ø
A
ø
A
ø
A
z.B.
A
u. ä.
A
Diese jedem Heranwachsenden auferlegte, als Unterschied zwischen
»physikalischer«
und
»psychologischer«
Zeit beschriebene Entwicklungsaufgabe wurde von der Kognitionstheorie gut erforscht unter der Frage, wie und wann es dem Kinde gelingt, die meßbaren Zeitabläufe und das innere Erleben von Dauer aufeinander derart abzustimmen, daß eine Balance gewährleistet ist (vgl. Piaget 1955), auch wenn sie lebenslang labil bleiben sollte
A
(vgl. Kasakos 1971)
A
ø
A
der
A
ø
A
sich
A
ø
A
ø
A
, ob in dem Material der Interviews
A
ø
A
deutlich
A
[129:18-19] Wir wollen deshalb ermitteln, ob in dem Material der Interviews etwas erkennbar ist, das auf derartige Lebensprobleme Bezug nimmt. In welchen |a 111|Deutungsmustern, so ist also unsere Frage, geben die Jugendlichen ihren Umgang mit Zeit zu erkennen? Da nach solchen Mustern nicht direkt und nicht in standardisierter Form gefragt wurde, können sie nur aus dem Erzählduktus und den zur Sprache gebrachten Inhalten erschlossen werden. Der Spielraum, den der Interpret dabei hat, ist freilich groß und kann zu unkontrollierbaren Vermutungen führen. Er liegt zwischen einer sehr oberflächlichen Auswertung einerseits, bei der etwa nur darauf geachtet würde, ob und in welchen Zusammenhängen überhaupt der Ausdruck
»Zeit«
oder sinnverwandte Vokabeln auftreten – und andererseits in dem Versuch,
»tiefe«
Charakteristiken der Rede, die etwa schon im Satzbau, in der Grammatik, in den Verbformen Indikatoren für den Umgang mit Zeitproblemen vermuten lassen, zu beschreiben. Die erste Variante schien uns zu unergiebig; die zweite wäre eher in linguistischer Grundlagenforschung angebracht, nicht aber im Zusammenhang vorwiegend pragmatischer Interessen. Wir haben uns für einen mittleren Weg entschieden, auch wenn er deutlich theoretische Interessen kaum zu befriedigen vermag.
A
  • [129:21] Wie bringen die Jugendlichen ihre biographische Vergangenheit zur Darstellung, wie strukturieren sie ihre Erinnerung?
  • [129:22] Wie beschreiben sie soziale Interaktionen und die Wege zwischen einem auftauchenden Bedürfnis und dessen Befriedigung, die Abstimmungen auf die Erwartungen anderer, die dabei als nötig oder unwichtig erachteten
    »Antizipationen«
    ?
  • [129:23] Wie gehen sie mit Zukunftsvorstellungen um, nicht nur in mikrosozialen Interaktionszusammenhängen, sondern im Sinne biographischer Entwürfe als zeitliche Strukturierungen im Erwartungsfeld zwischen
    »Wunsch und Wirklichkeit«
    ?
A
Die
A
an
A
etwa
A
rükken
A
diese
A
ø
A
  • [129:27] Es gibt Jugendliche, deren Umgang mit Zeitproblemen ganz oder doch sehr weitgehend von den verallgemeinerten und objektiven Schemata geprägt ist, die in unserer Kultur für biographische Verläufe, für Bildungs- und Lernzeiten gel|a 113|tend gemacht werden. Was ihnen in ihrem Leben relevant erscheint, das wird jenen Vorgaben zugeordnet. Wir bezeichnen dies als das Muster institutionalisierter Zeit.
  • [129:28] Daneben gibt es Jugendliche, die so erzählen, als seien derartige Chronometrien irrelevant. Die Strukturierung von biographischen Erinnerungen, aktuellen Schilderungen und Zukunftserwartungen erfolgt nach Maßgabe wichtiger Beziehungserfahrungen, zumeist in nahen sozialen Kontexten; Zeitverläufe werden entsprechend gegliedert; die Dichte des Erlebens von Interaktionen ist ihnen erheblich wichtiger als die Frage, wie dies sich in die Zeitstruktur etwa von Bildungs- oder Ausbildungskarrieren einfügt. Wir bezeichnen diese Mentalität als an sozialen Beziehungen orientiertes Muster der subjektiven Deutung von Zeit.
  • [129:29] Das dritte Muster umfaßt nicht, wie es scheinen könnte, eine Restgruppe, sondern hat ein ausgeprägtes eigenes Profil. Es wird von Jugendlichen zur Sprache gebracht, denen sowohl die institutionellen Zeitschemata als auch die erlebnisdichten Beziehungsereignisse gleichgültig zu sein scheinen. Ihr Leben – so ist der Eindruck beim Lesen der Interviews – gliedert sich in seinem Verlauf nach aufregenden Episoden, die im übrigen unverbunden bleiben. Eigentlich nehmen sie überhaupt keine Gliederung nach Entwicklungs- oder Bildungsschritten, nach folgenreichen Erfahrungen mit anderen Menschen vor, sondern springen von Episode zu Episode, ohne daß Relevanz-Abstufungen erkennbar wären. Wir nennen dieses Muster
    »fragmentiert«
    .
A
(Wie sie sich quantitativ über die Stichprobe verteilen, ist im Anhang dokumentiert ).
A
ø
A
»Ich war ein Jahr lang im Krankenhaus, weil ich blutkrank war. Und mein Vater und meine Mutter waren ja Alkoholiker und haben sich immer gestritten. Und da kam das Jugendamt und meinte, ein Kind weg oder alle. Und da hat meine Mutter gesagt: eins. Und das war ich, weil ich ja krank war. Und da bin ich gar nicht mehr zu meiner Mutter gekommen, sondern in den Wohnhof in X. Das ist so ein Kinderheim. ... Da war ich dann ungefähr ein halbes Jahr, und dann hat sich ein anderer Heimleiter gemeldet. Und hat gefragt, ob ich nicht da ins Heim möchte. Ich hab natürlich ja gesagt, weil ich das noch nicht alles genau wußte. ... Und dann kam ich auf den Trip, mehr Scheiße zu bauen, also Blödsinn zu machen und sowas. Und dann meinte der Heimleiter, ich hätte so ein kleines, vierjähriges Mädchen betatscht. Und da meinte der Heimleiter, ich kann gehen und sowas. Und dann bin ich in die Jugendpsychiatrie nach D. gekommen. Und die haben dann gesehen, daß ich über|a 114|haupt nichts in der Birne habe, noch richtig ticke da oben. ... Und die haben nach einem Heim geguckt, X. und Y. und weiß Gott nicht alles. Und dann haben sie gesagt, A. ist noch ein Platz frei, und dann bin ich hergekommen. Nee, die Leute sind hier in die Psychiatrie gekommen. Und dann haben wir geredet und so und denn hab ich Ja gesagt. Und dann bin ich hierher gekommen.«
(15/17/m)
A
ø
A
»Ich bin in A. geboren, das ist bei X. ... Dann ist meine Mutter gestorben. ... Ich bin dann zu Pflegeeltern in X gekommen. Erst habe ich bis zu meinem ersten Lebensjahr, haben wir in Y noch gewohnt und dann eben zu Pflegeeltern nach X. ... Da kam mal eine harte Zeit, da waren meine Eltern arbeitslos. Und da wurde eben alles gekürzt. ... Und dann bin ich auf die Schule gekommen, auf die Hauptschule. Da bin ich bis zur achten Klasse dann gegangen, siebte habe ich einmal wiederholt, ne, weil ich so einen langen Krankheitsfall hatte. ... Und dann bin ich nach S. gegangen in die Ausbildung letztes Jahr.«
(14/17/m)
A
Ich meine, es war auch ganz klar, wenn du immer nur irgendwie mit Jüngeren zusammen warst und nicht so mit Leuten in deinem Alter, wenn du so welche nicht gefunden hast und so, ne, ist natürlich auch schlecht. Und dann war es irgendwo auch so ’ne ulkige Erziehung. Wenn du das und das nicht machst oder das und das nicht aufräumst, dann nehm’ ich dir erst den Cassettenrecorder weg, oder sowas war das da auch. Und genauso das Gleiche war dann halt im Heim auch wieder, und das hat mich auch ganz schön runtergerissen dann.
A
»Also ich bin 1970 hier in X. geboren, ja ich mein’, welches Krankenhaus, das weiß ich jetzt nicht mehr. ... Ich hab zuerst mit meiner Oma, meiner Tante, meinem Opa und meiner Mutter in einem Haus gewohnt. ... Meine Mutter, die mußte ja arbeiten. Also die war eigentlich nie da. Mein Vater, der war eigentlich auch nicht da, also wo ich schon ganz, ganz klein war, da ham se sich auch schon getrennt. Weil ich bin ja auch gekommen, da war meine Mutter 19 und so. Ja, und dann hat se eigentlich so viel Zeit auch nicht gehabt, um sich immer so ganz intensiv zu kümmern, und halt erzogen hat mich halt irgendwie mehr meine Oma. Und darum ist wahrscheinlich auch klar gewesen, daß die halt eben mit 14, wo ich dann 14 war, wo ich dann mit ihr richtig so gewohnt habe, irgendwo dann auch nicht so ganz klargekommen ist. Ja, und dann ging das halt eben nicht mehr, ich hab mich irgendwo |A 27|dann mit meiner Mutter überhaupt nicht verstanden, ja und dann hat se mich eben ins Heim gesteckt, ins Heim geschickt. ... Ich meine, es war auch ganz klar, wenn du immer nur irgendwie mit Jüngeren zusammen warst und nicht so mit Leuten in deinem Alter, wenn du so welche nicht gefunden hast und so, ne, ist natürlich auch schlecht. Und dann war es irgendwo auch so ’ne ulkige Erziehung. Wenn du das und das nicht machst oder das und das nicht aufräumst, dann nehm’ ich dir erst den Cassettenrecorder weg, oder sowas war das da auch. Und genauso das Gleiche war dann halt im Heim auch wieder, und das hat mich auch ganz schön runtergerissen dann. «
(56/22/w)
A
z. B.
A
»Morgens hat meine Mutter mich fertiggemacht für die Schule, hat mir ’ne Schultüte in die Hand gedrückt, dann sind wir zur Schule hingefahren. ... Ja, und dann kamen auf einmal meine Freunde aus’m Kindergarten, die ich da kennengelernt hatte, ... und dann kamen die Lehrer raus und ham uns die Hand gegeben, ham se uns in unsern Klassenraum gebracht. Na, dann haben se die Eltern weggefahren, ... haben wir so Zettel gekriegt und sollten das ankreuzen, ja weiter weiß ich auch gar |a 115|nicht mehr. Zwischen elf und zwölf Uhr konnten wir dann gehen. Haben die Eltern uns wieder abgeholt.«
(2/16/m)
A
Das zeigt sich selbst noch in der folgenden, zunächst scheinbar interaktionsdichten Passage:
A
[129:40]
»Ich hab nicht mehr auf meine Mutter gehört, hab mir immer Geld von ihr aus dem Portemonnaie genommen und bin abgehauen. Kam abends wieder so um acht, halb neune. Und dann wollt’ sie mir eine schlagen, hab ich zurückgeschlagen. Na, dann hat se keine Lust mehr drauf gehabt, dann hat se mir gedroht gehabt mit dem Jugendamt und so. Hab ich gesagt: dann mach’ doch, dann hab ich auch meine Ruhe! Ja, das hat sie dann wahrgemacht, aber vorher hat sie noch so’ne Gesprächshilfe für mich geholt gehabt, die hat mit mir Sachen unternommen, schwimmen gegangen ...«
. (2/16/m)
A
[129:42] In vergleichbarer Art werden Tagesverläufe oder auch Interaktionssequenzen dargestellt. Die Beschreibung des Tagesablaufs folgt den vorgegebenen Zeitplänen und Angeboten der Institutionen. Das
»Ich«
nimmt selten gestaltenden Einfluß, es fügt sich scheinbar dem Rhythmus der Einrichtungen und Lebensfelder.
[129:43]
»Erst geh’ ich duschen, frühstücken wir alle zusammen. Es gibt wohl Ausnahmen, die gern noch weiterschlafen. Dann rauchen wir noch eine zusammen am Tisch, |A 28|trinken wohl noch einen Tee und dann gehen wir los.«
Nach der Schule,
»da machen wir Hausaufgaben. Ich hab noch keine Hausaufgaben, krieg’ ich erst im BGJ, die anderen schreiben ein Berichtsheft.«
Es folgt das gemeinsame Abendessen und dann
»Fernsehgucken, Spazierengehen, nach N. (ein nahegelegener Ort) Cola trinken oder auf anderen Gruppen.«
Das Wochenende sieht so aus:
»Da machen wir Autoscooter fahren oder Paddeln. Oder wir fahren irgendwo schön essen oder gucken uns ein Spiel irgendwo an.«
(15/17/m)
[129:44] Biographisch relevante Ereignisse wie etwa der Aufenthalt in einer psychiatrischen Einrichtung sind vorwiegend chronometrisch interessant; demgegenüber tritt die mögliche Erlebnisdichte interaktiver Erfahrungen zurück:
A
»Da bin ich mit andern Leuten zusammengekommen, ja, und dann nach ’ner Zeit fing dann die ganze Scheiße an, ne? Mit Klauen und Lügen und zu spät nach Hause kommen, mal ’ne Nacht gar nicht kommen. Und da wurden meine Großeltern nach ’ner Zeit natürlich nicht mit fertig. Wurden ja auch älter, und dann ham die gesagt: so, jetzt können wir nicht mehr. Die ham’s lange mit mir ausgehalten! ... Dann ham die mich in die Kinderpsychiatrie gesteckt nach H., weil die gedacht haben, ich bin innerlich nervös. ... Also ich war da auf ’ner geschlossenen Station, hab jeden Tag ’n Gespräch mit dem Doktor gehabt, so ’n Arzt, und nachmittags hab ich Therapien gehabt. Wenn ich gut, mich gut gefühlt habe, dann hab ich nachmittags mal ’ne halbe Stunde oder ’ne Stunde Ausgang gehabt, na, dann wieder rein, dann um 8 ins Bett. Das war so meist der Tagesablauf, der immer so abging, immer. Da gab’s keinen Tag, der nicht so aussah. ... Und dann ’n halbes Jahr da gewesen, und dann bin ich hierhin gekommen, also nicht direkt hier, erstmal in ’ne andere Außenwohngruppe. Ja, und dann nach ’ner Zeit ham se mich dann hier hingetan. Gucken, wie’s hier läuft.«
(35/15/m)
A
[129:46] Ist, was selten vorkommt, genauer von Interaktionen, von sozialen Beziehungen und damit verbundenen Erfahrungen die Rede, dann scheinen auch sie vorwiegend nach einem an institutionellen Bedingungen orientierten Muster in die Erzählungen eingefügt zu werden:
[129:47]
»Freunde«
werden im Zusammenhang mit Heimwechsel erwähnt; eine
»Freundin«
erscheint fast nur als Lebenslaufdatum,
»wir werden sehen, was draus wird«
; in der Gruppe gibt man nicht den Ton an,
»ich hab immer gewartet, bis die anderen was gesagt haben ... so mach’ ich das heute noch«
. Tagesläufe werden nicht nach Ereignishöhepunkten gegliedert, sondern als äußere Beschreibung von datierbaren Tätigkeitsabläufen; aus der Malerlehre:
»Tapeten abreißen ... dann verputzen ... neuen Boden reinlegen, dann alles mit Makulaturfarbe überstrichen ... aber jetzt wissen se gar nicht, wie das weitergeht«
. (2/16/m)
A
»Ein Jahr Hauswirtschaftsschule. Und danach mach’ ich aber noch was anderes, wegen meinem Hauptschulabschluß, damit ich ihn krieg’. Das nennt sich, glaub’ ich, irgendwie BFH oder BVH. ... Danach will ich ’ne Ausbildung als Floristin anfangen. Weil ich Blumen mag, weil ich schon immer hinter Blumen her war, so Gar|A 29|tenarbeit, so Blumengestecke, Blumen binden, Biedermeiersträuße und so weiter.«
(30/16/w)
A
»Ich war hier zur Schule. Und dann hab ich erst Hauswirtschaft und Agrar gemacht. Und da hab ich gesehen, das ist überhaupt nichts für mich. Ja, und dann hab ich mal versucht, BVJ, Farbe und Holztechnik. Da hat mir Farbe keinen Spaß gemacht, weil der Meister so mies zu mir war. Und der Meister bei Holz war eigentlich immer voll nett zu mir. Dann hab ich mir angewöhnt, immer schon um halb loszugehen, statt immer ein paar Minuten zu spät zu kommen. Und dann hat’s mir |a 116|auch immer mehr Spaß gemacht. Auch, wenn ich da morgens reinkam, so ein schöner Holzduft von Kiefer oder sowas.«
(15/17/m)
A
[129:51]
»Wenn ich die ganzen Sozialen hier seh’, ich meine die Penner, dann denke ich, hoffentlich wirst du später nicht so ... Vernünftige Arbeit und eine Wohnung, und dann wird der Meister mir helfen, daß ich das BGJ schaffe, dann werde ich zur Tischlerei gehen, und dann ...«
(15/17/m)
[129:52]
»Berufsgrundbildungsjahr zu Ende machen, dann nach Hause, meine Lehre machen, bei meiner Mutter bißchen mit anpacken. Sonst wüßt’ ich nichts«
. (2/16/m)
A
sympathisch
A
Frühe
A
[129:54] 22 Fälle, das ist ein knappes Drittel unserer Stichprobe, folgen diesem Selbstdeutungsmuster, allerdings entschieden häufiger die Jungen als die Mädchen. Darf man sagen, daß diese Jugendlichen Schwierigkeiten mit dem oben angedeuteten Problem haben, nämlich der kognitiven Verarbeitung dessen, was als
»psychologische«
Zeit, als Erfahrung innerer Dauer, als die physikalisch oder chronometrisch nicht meßbare Erl|A 30|benskomponente von Zeitdistanzen bezeichnet werden kann? Vielleicht ist dies, trotz jener realistisch scheinenden Mentalität, jener Handwerker-Chronik-Attitüde, ein Problem? Wir wollen nun sehen, ob der Gegen-Typus uns darüber einigen Aufschluß geben kann.
A
[129:55] Die von uns konstruierte Alternative von eher an institutionellen Verläufen oder eher an sozialen Beziehungsereignissen orientierten Selbstdeutungen im Hinblick auf die Organisation von Zeit-Problemen ist freilich ziemlich grob. Schon das zugrunde gelegte Schema würde vier Problemkonstellationen ergeben (vgl. Tabelle 4).
[129:56]
Tab. 4: Schema der Problemkonstellationen
an Institutionen orientiert an sozialen Beziehungen orientiert
»chronometrische«
Deutungen
Deutungen der
»inneren Dauer«
[129:57] Bezöge man dies auf die je individuelle Kontur der einzelnen Fälle, ergäben sich weitere Differenzierungen, die, angesichts der insgesamt geringen Fallzahl, zwar theoretisch interessant sein mögen, für praktische Perspektiven des Jugendhilfe-Handelns aber wenig hilfreich. Solche Differenzierungen nämlich liefen letzten Endes auf die alte Praxis-Maxime hinaus, es sei eben – was man ohnehin schon weiß – jeder Fall individuell zu betrachten und zu beschreiben, oder auf die neuerdings modisch gewordene Maxime, man müsse die ganze
»Lebenswelt«
der Jugendlichen ins Auge fassen. Beides ist sicher nicht falsch. Demgegenüber aber ist unser Vorgehen von der Vermutung geleitet, daß es nützlich sein könnte, wenige elementare Strukturen solcher
»Lebenswelten«
ausfindig zu machen, hier im Hinblick auf Zeitschemata der Selbstdeutung, einen differentiellen Beitrag also zu leisten zu der pauschalen Aufforderung, sich in der Jugendhilfe-Praxis an
»Lebenswelten«
zu orientieren. Das soll hier untersucht werden.
A
»Ich bin in Deutschland geboren, ... dann bin ich gleich, nachdem ich geboren bin, hat mich meine Mutter nach Türkei gebracht, bin ich mit meinen Großeltern da aufgewachsen, bis ich sieben Jahre alt war, meine Mutter kam ab und zu mal zu Besuch, und dann hab ich sie Tante genannt, weil ich sie ja nicht kannte, und dann hat sie sich immer über mich geärgert. ... Und meine Großeltern haben versucht, irgendwie zu beweisen, daß sie meine Eltern sind, also meine richtigen Eltern. Das wollt’ ich einfach nicht kapieren, weil ich hab gedacht, ich hab meine Eltern, das sind meine Großeltern, und dann basta, hab ich gedacht. Und ich wollte meine Eltern nicht akzeptieren. Und als ich dann sieben geworden bin, hat mein Vater ’n Brief geschrieben nach Türkei und hat gesagt: ... wir wollen unsere Tochter wiederhaben. ... Und bin ich wieder zurückgekommen, und dann hab ich meine Eltern kennengelernt und meine richtigen Geschwister. ... Und da war ich ganz entsetzt ... ich hab mich selber gefragt: was soll das jetzt, auf einmal hab ich Geschwister, und ich hab nicht meine Ruhe, und ich wollte meine Großeltern also für mich haben, weil die mir mehr Liebe gegeben haben, und alles was ich brauchte. Und mein Vater |a 117|und meine Mutter, die waren eifersüchtig, weil ich meine Großeltern mehr mochte als meine Eltern. Meine Geschwister, die waren auch eifersüchtig, weil meine Oma hat mir alles gegeben, ... die sind eifersüchtig gewesen, die sind immer noch eifersüchtig. Die hetzen mich gegen meine Oma auf. Und als dann dieses Problem kam, also dieses Problem mit meinem Vater, er wollte was, naja – er wollte was von mir, was ein normaler Vater nicht machen konnte. Dann bin ich zur Schule gegangen in H., erst in die Grundschule, ich hatte riesige Probleme erst mit meiner Familie, weil ich erst meine Geschwister kennengelernt habe, und dann, mit der Schule wollt’ ich ja nichts anfangen irgendwie, die Schule war mir nicht wichtig in dem Augenblick. Und dann bin ich in die Sonderschule gekommen, mit meinem Bruder zusammen, der hatte, glaub’ ich, auch Probleme. ... Und als ich in der Sonderschule war, dann nach paar Wochen wollt ich Selbstmord machen. ... Naja, meine Großeltern sind ausgezogen, und dann kam das Problem mit meinem Vater, ... hab ich ganz viele Tabletten genommen. ... Da war ich ... noch nicht ganz 13.«
(29/16/w)
A
sie
A
J.
A
»... bin ich denn abgehauen, hab ich ’n Auto angehalten, und da war ein Mann, wollt’ ich lieber nicht einsteigen. Hab ich denn ’ne Frau angehalten, und sie mußte zum Zahnarzt, hat sie da den Termin abgesagt, hat mich zum Polizeirevier gefahren. Und der Direktor kannte mich ja nicht, dann kam der andere Polizist, der mich schon kannte. Der hat gesagt: sie sagt die Wahrheit, dann hat man gleich das Jugendamt verständigt, dann wußten auch meine Eltern schon, wo ich war. Mein Bruder kam, meine Mutter kam, die ganzen türkischen Leute haben sie mitgebracht. Mein Bruder hatte gesagt: bitte tu das nicht, gehe nicht zum Heim zurück. Dann war ich noch verzweifelter und noch bescheuerter an dem Tag! ... Dann bin ich ins Internat gekommen. Ja, und von da aus bin ich nach J. (Heim) gekommen, nach zwei Jahren.«
A
z.B.
A
:
A
[129:64]
»Also sie (Mutter) wußte so irgendwie nicht, wie sie alleine mit mir umgehen konnte, weil ihr Mann war verstorben, war ich da, und das war irgendwie so total verzwickt. ... Und meine Mutter hatte auch keinen Freund die erste Zeit. Und dann hat sie doch einen gehabt. Aber mit dem hab ich mich nicht so gut verstanden, weil, ... er hat mir immer Geld gegeben, ich war noch ziemlich klein, 5 Jahre. Er hat gemeint, geh’ weg, mach’ dir einen schönen Tag, geh’ raus und so. Also ich wurde immer abgeschoben von ihm. Und das hat meine Mutter dann irgendwann mitgekriegt, nach ungefähr einem dreiviertel Jahr oder so. Und dann haben die sich getrennt. ... Dann (einige Jahre später, nach dem Tod der Mutter) fing das so langsam an, daß gesagt wurde, ich bin doch nur das Kind, das zur Pflege ist, ich dürfte mir nicht so viel erlauben. ... Und dann war’s mal soweit, daß die Mutter den Mann mal so aufgehetzt hat, hat ihm Sachen erzählt, die hat sie total verdreht. Sie hat erzählt, ich bin drei Stunden später gekommen, ... obwohl ich nur zwei Minuten oder so später gekommen bin. Und dann war es so, daß der Mann mir irgendwann mal eine geklatscht hat, also eine gehauen hat. Und das war das erste Mal für mich, ich |A 33|war 13, daß ich im Leben geschlagen wurde. Das war nicht äußerlich so, das hat schon irgendwie wehgetan, aber nicht so, daß man weinen muß, aber innerlich ... Und dann bin ich ... da abgehauen. Also, ich hab mich mit Freunden in Verbindung gesetzt, und die wußten auch über alles Bescheid.«
(20/16/w)
[129:65] Hier werden Interaktionen relativ detailliert beschrieben und dabei die eigenen Handlungsabsichten ins Spiel gebracht. In den Lebensgeschichten entstehen Spannungsbögen, weil sich unterschiedliche Interaktionserwartungen gegenüberstehen.
A
usw.
A
Hier ein Beispiel
A
13 1/2
A
»Da war ich 13 1/2. ... Und dann wollt’ ich, also hat mein Bruder gesehen, daß ich die Tabletten geschluckt habe, hat meine Mutter geholt. Damals hatt’ ich ja, hatte meine Mutter noch ’n Kind gekriegt, das war mein jüngster Bruder, der war, glaub’ ich, gerade 4 oder 5 Jahre alt, der jüngste jetzt. ... Und meine Mutter hat ja meinen kleinen Bruder bißchen ausgeführt, ... in’ Spielplatz, das war in der Nähe. ... Und dann, als mein Bruder gesehen hat, daß ich Tabletten genommen habe, hat mein Bruder meine Mutter geholt, dann hat sie – mein Vater hat immer Geschichten erzählt, daß ich angeblich in den Toiletten mit deutschen Jungs rumgemacht habe, aber das stimmte gar nicht. Mein Bruder hat gesagt, das stimmt gar nicht, also ich war immer bei meinem Bruder. Und dann hat mein Vater meinen Bruder auch geschimpft, und dann hatt’ ich die Nase voll, ich hab gesagt: Ich will nicht mehr weiterleben! Hab ich Tabletten genommen, ich hatte meinem Bruder auch erzählt davon, und dann, was mein Vater für Märchen zu meiner Mutter erzählt hat, mit den Jungen da – dann hat meine Mutter mich auch halt, als ich Tabletten genommen hab, ... dann hat meine Mutter gesagt: Du bist ’ne alte, was weiß ich, Hure und so. Hat mein Bruder dann alles in dieser Sekunde erzählt, er hat gesagt: das stimmt alles nicht, sie traut sich nicht, dir die Wahrheit zu sagen. Meine Mutter wollt’ das aber nicht glauben, und dann in dem Moment ist mein Vater einen trinken gegangen in ’ne Kneipe, ist mein Bruder schnell hingefahren, hat meinen Vater geholt ... Und dann ist mein Vater gekommen, ham se mich zum Hausarzt gebracht.«
(29/16/w)
A
und dann in dem Moment
A
.
A
z. B.
A
Es
A
noch
A
wo
A
,
A
(Dux 1989)
A
die
A
[129:68-69] Es fällt auf, daß es dem Mädchen noch nicht gut gelingt, die verschiedenen Handlungen der beteiligten Personen in der Erzählung zeitlich aufeinander abzustimmen; man weiß beim ersten Lesen nicht so richtig, was vorher und was gleichzeitig passiert ist, wer wann dies oder jenes erzählt hat und zu welchem Zeitpunkt sich dies oder jenes ereignet hat. Erst nach mehrmaligem Lesen läßt sich das Geschehen rekonstruieren. Die Erzählerin reiht Handlungen, die sich parallel zur selben Zeit ereignen, aneinander, so als würden sie zeitlich nacheinander erfolgen (
»Hat mein Bruder in dieser Sekunde dann alles erzählt. Meine Mutter wollt’ das aber nicht glauben, und dann in dem Moment ist mein Vater einen trin|A 34|ken gegangen ..., ist mein Bruder schnell hingefahren ... hat meinen Vater geholt.«
). Alles geschieht zur selben Zeit und doch zeitlich nacheinander. Nun könnte man dies mit den sprachlichen Schwierigkeiten des Mädchens begründen, ihr fehlen solche adverbialen Bestimmungen der Zeit, welche Zeitrelationen verdeutlichen, wie z. B. während, bevor, zur gleichen Zeit, vorher, nachher. Sie verwendet nur ungenaue zeitliche Bestimmungswörter wie
»und dann«
,
»damals«
,
»da«
,
»in dieser Sekunde«
. Es scheint aber eher ein Entwicklungsproblem zu sein. Bei der ersten Gruppe wurden Zeitverläufe beschränkt auf eine Handlungsabfolge beschrieben, in ihrer Vorstellung schien es noch keine parallel verlaufenden Geschehensabläufe zu geben. Für die Jugendlichen, die sich diesem zweiten Typ zuordnen lassen, existieren neben den eigenen Handlungen auch andere, von ihnen unabhängige Geschehensabläufe, die sich zeitgleich ereignen. Sie können sie aber noch nicht zeitlich koordinieren. Das Mädchen, das hier prototypisch für die ganze Gruppe steht, scheint sich auf einer Entwicklungsstufe zu befinden, wo das Individuum in seinen Vorstellungen noch nicht in der Lage ist, zwei Handlungen in ihrer Gleichzeitigkeit zu denken bzw. darzustellen, es gibt noch keine von dem Geschehen abstrahierte Zeitvorstellung, in der verschiedene Handlungsverläufe aufeinander bezogen werden könnten. Die Erzählweise folgt einer
»zentrierten Handlungslogik«
(Dux 1989): Verschiedene Handlungsabläufe, in die mehrere Personen verwoben sind, die zum Teil parallel verlaufen und aufeinander Bezug nehmen, werden von der Position eines der Beteiligten beschrieben. Einen dem Geschehen übergeordneten und wechselnden Betrachterstandpunkt gibt es nicht. Das Mädchen versetzt sich in ihre damalige Notsituation und beschreibt sie allein aus ihrer Perspektive. Das Muster der
»institutionalisierten Zeit«
ist der entgegengesetzte Fall: die eigene |a 120|Perspektive fehlt und wird gleichsam der eines abstrakten Anderen geopfert.
A
z. T.
A
. Ein Jugendlicher teilt beispielsweise folgendes mit
A
ich
A
z. B.
A
meine
A
»Naja – weil jedes Mal, wenn ich da zu Hause war, dann gab’s irgendwie immer Streit wegen irgendwelchen Sachen! Und wenn’s so Kleinigkeiten waren. Ich mein’, meine Mutter, die hat Brustkrebs, und die hat auch nicht mehr viel von ihrem Leben zu erwarten, kann ich auch verstehen. Aber deswegen muß sie sich nicht gleich ganz verkriechen und so. Mit meinem Vater ist es auch nicht so ganz einfach, der hat krankhafte Eifersucht. Das ist schon schlimm, also wenn’s nach mir geht, würd’ ich den sofort in’ne Klapse einweisen. Naja, mein Vater, der hält eh nicht viel von mir, der meint, ich wäre zu dumm und so. Aber ich hab mir gesagt, ich geh’ arbeiten, und dann kann ich ihm wenigstens beweisen: ich hab was gelernt, und du nicht! ... Naja, eine Zeit hab ich ziemlich intensiv über meine Eltern nachgedacht. In letzter Zeit träum’ ich auch sehr viel von ihr (Mutter). Aber mehr so die grausigen Sachen. Da hab ich z. B. schon den eigenen Kopf von meiner Mutter in der Hand gehalten! Und |A 35|– ach – aber jetzt geht’s eigentlich so, find’ ich. Also ich find’, ich muß mich jetzt mehr auf die Arbeit konzentrieren, das ist wichtiger. Weil es geht jetzt im Endeffekt um meine Zukunft, weil ich hab mich sechs Jahre – oder besser gesagt, fünfeinhalb – mehr um meine Eltern gekümmert als um mich selbst. Weil, um mich hat sich keiner gekümmert! Die waren entweder nie da, oder es gab nur Streit und waren weg.«
(47/17/m)
A
Das zeigt sich auch in der Schilderung von Tagesabläufen:
A
[129:73]
»Ja, wenn ich aufsteh’, denk ich erstmal: Scheiße, heute ist Schule, so in der Art, und dann erstmal fertigmachen für die Schule, dann hab ich irgendwie keine Lust mehr zu frühstücken oder sowas. Dann geh’ ich sofort zur Schule. Dann in der Schule wird es bißchen langweilig manchmal, immer das Gleiche zu tun, ist auch anstrengend jetzt in der Berufsschule, und dann, wenn ich wieder zurückkomme, dann wird’s zu Hause auch bißchen anstrengend, und wenn ich denn manchmal weggehe, ... also hab ich bißchen Ablenkung. Immer zu Hause zu bleiben, da wird man irgendwie verrückt. ... Abends muß man um halb elf hier ins Bett, im Bett sein. Manchmal streiten wir uns wegen dem Fernseher abends so, also mit der Gruppe klappt das nicht so gut. ... Ja, die eine will das gucken, die andere will doch das andere gucken.«
(29/16/w)
[129:74]
»Wenn ich dann morgens aufsteh’, koch’ ich mir meinen Tee, dann lieg’ ich noch ’ne Stunde im Bett, und dann werd’ ich so langsam wach und krieg’ Bock auf irgendwas. Ja, und dann mach’ ich auch meistens ’n bißchen Yoga, und dann krieg’ ich noch mehr Bock auf irgendwelche geistigen Arbeiten (lacht), und dann hab ich auch Bock, irgendwie zu schreiben oder so, irgendwie über irgendwelche Themen, ne.«
(28/19/m)
A
z. B.
A
»Wir sind jetzt fast ein Jahr zusammen, und wir wollen noch länger zusammen bleiben. Und wir glauben auch, daß es klappt. Und wir lassen uns nicht von außen beeinflussen, von den Erziehern, das fand ich also ziemlich erniedrigend, daß die kommen und sagen, hör mal zu, der steht doch sowieso nicht auf deinem Niveau, der ist doch etwas tiefer, laß ihn doch hängen, es bringt nichts mit euch beiden. ... |A 36||a 121|Wenn, dann muß ich das selber für mich rauskriegen, ob es stimmt, was die sagen. Aber das können die doch gar nicht beurteilen. Wenn er arbeiten geht und ich arbeiten gehe, dann ist es ... also, ich find’s besser, wenn man zwei verschiedene Arbeiten hat, als wenn z. B. beide im Büro wären. Das wäre überhaupt nichts. ... Und manche sehen das hier nicht ein. Die Erzieher, was die gesagt haben, das fand ich echt total daneben, oh, ich fand das so gemein.«
(20/16/w)
A
[129:77] Bei einem Jungen sehen die Zukunftsvorstellungen folgendermaßen aus:
[129:78]
»So ein normales Verhältnis irgendwie würd’ ich, glaub’ ich, auch nicht mehr schaffen. Immer regelmäßig arbeiten, sowas könnt’ ich, glaub’ ich, auch nicht. Ich muß irgendwas machen, wo ich nicht regelmäßig arbeiten muß. Wo ich halt, wenn ich Bock habe, hingehe und wenn ich keinen Bock habe, daß ich dann kurzfristig anrufen kann und sage: Heute mal nicht. ... Oder ich muß halt irgendwas Lockeres machen, mich sponsorn lassen oder so. Aber das Problem ist halt, ich hab schon mal so’n Vertrag angeboten bekommen, mit Skateboard und so. Weil die halt wissen, daß ich fahre. ... Und nach ’ner gewissen Zeit, daß es mehr Publicity ist, daß man selber als Publicity-Gegenstand ausgestellt wird. Z. B. würde ich wieder als Hardcore-Skater dargestellt werden.«
(21/18/m)
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die
A
stehen
A
Wir werden diese Frage später noch diskutieren. Um Mißdeutungen zu vermeiden, soll aber hier schon darauf hingewiesen werden, daß die in den Zitaten von uns (!) vorgenommenen Stilisierungen (denn die individuellen Fälle decken sich nicht immer vollständig mit den
»Mustern«
) auch eine Art von Einseitigkeit der Selbstdeutungen der Jugendlichen dokumentieren
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Fall
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25%
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ø
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Ein Jugendlicher z. B. sagt zur Zeit im Kindergarten:
A
.
A
Ein Jugendlicher z. B. sagt zur Zeit im Kindergarten:
»Ou! Tja, das ist schwer. Also da war ich, glaub’ ich, von vier bis fünf. Sind wir spazieren gegangen, auch zusammen was gemacht. Mein Bruder kam ja ein’ Tag später rein. Wir sind zusammen eingeschult worden. War ja vorher auch schon im Vorschulkindergarten. Zweimal im Kindergarten. War langweilig das zweite Mal. ... Ich weiß nur noch, daß ich mal im Kindergarten Geburtstag hatte. Denn war ja bei uns so Sitte, so auf’n Stuhl. Und die Jugendlichen durften mich mit Stuhl hochhe|a 122|ben. ... da bin ich eine Woche auf Sonderschule gekommen. Dann waren wir schwimmen, haben wir auch schon gemacht. Mein Djako (Schwimmabzeichen) in der Sonderschule gemacht. Einer mußte sich ja freiwillig melden, ne. Waren ja mehrere. Fragte ein Direktor oder was er war: Wer hat Lust auf den Stuhl? Alle haben sich gemeldet. Außer ich, ne. Er hatte mich drangenommen. Auf’n Stuhl, dann kamen noch drei, vier Stühle drunter. Hat er mir erstmal gratuliert. Da hab ich Schiß gehabt, weil ich Höhenangst hatte.«
(22/17/m)
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ø
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Zu seiner Schulzeit sagt er folgendes:
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Zu seiner Schulzeit sagt er folgendes:
»Nur Schreckliches. Wir haben uns nur geprügelt. Der hat angefangen, da hab ich zurückgeschlagen. Ich hab nur einen Zahn verloren ... Wenn ich Schule geschwänzt habe, bin ich meistens zum Wald gegangen, nur rumgegangen, Scheiße bauen, Bäume ausreißen. Da bin ich aber geflitzt, weil ein Wildschwein kam.«
(22/17/m)
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ø
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Auch andere wissen von der Schulzeit wenig zu berichten, was auf die Institution bezogen ist:
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Auch andere wissen von der Schulzeit wenig zu berichten, was auf die Institution bezogen ist:
»An die Schultüte kann ich mich noch erinnern, aber sonst? Nö. Da war ich noch bei meinen Pflegeeltern, glaub’ ich, so genau weiß ich das nicht ... Was hab ich damals gemacht? Wir ham draußen gespielt, mit den Autos da, und was weiß ich. Oder wir sind in Scheunen vom Bauern gegangen, ins Heu reinfallen lassen oder so. Dann ham wir auch so einige Einbrüche gemacht, mal ’n bißchen Alkohol rausgeholt und so.«
(12/18/m)
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z. B.
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dich
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»Ich dachte, das wär’ hier nicht öffentliches Gericht. Meinte ich, was sind das für Leute? Ja, das sind Praktikanten. Ich hab mich immer kaputtgelacht. Die sahen ja schlimmer aus als ich. Die sahen ja verbrechermäßig aus. Und der Richter: Wie alt bist du? Hab ich gesagt. Wann bist du geboren? Stimmt das wie, wie du heißt? Ich sage, ja. Ich sag’ ihm, daß ich von Geburt so alt bin. Sag’ ihm, daß ich von Geburt auch so heiße. Immer Gericht verarscht. Eine viertel oder halbe Stunde später mein|a 123|te dieser Rechtsanwalt – ich hatte keinen Anwalt, ne: Das war das erste Mal, lassen wir ihn davonkommen! Meinte der Richter ganz blöd – da hätte ich mich allerdings aufregen können, ne: Wenn ich Sie noch einmal erwische, dann sieht das gar nicht so gut für dich aus! Ja, ja, laber mal, ich so gedacht. Tschau, geh mal schön. Bin ich rausgegangen.«
(22/17/m)
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»Und dann bin ich auch abgehauen einmal, mit’m Fahrrad, ... hab ich Streit gehabt mit so’m Jungen, mein Rennrad geschnappt, dann bin ich per Autobahn gleich zurückgefahren nach X. ... Da ham mir noch 20, 30 Kilometer gefehlt auf diesem Schild – steht ja 130, ne. ... Dann hab ich gesagt: och Scheiße, ich hab keinen Bock mehr. ... Und dann sind se, das waren Anhalter, mit mir dann aus der Ausfahrt runter, und ich wollte das gar nicht. ... Dann, ja, ham se mich zur nächsten Tankstelle, die Erzieher angerufen, wo ich war, aus dem Heim da, ne? Dann ist ’n Erzieher gekommen, hat mich da wieder abgeholt. Erst mal wieder zurückgefahren, erst mal geduscht. Weil, ich mußt’ ja mal pinkeln auch mal auf dem Fahrrad. Na, hab ich nicht extra angehalten, sondern ich bin gefahren und hab dabei gepinkelt, ne.«
(33/15/m)
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[129:92] Ein Junge erinnert sich an seine Kindheit:
»Ich bin damals in die Regentonne gefallen bei unseren Nachbarn. Da war ich ein paar Stunden da drinne. Überall haben sie mich gesucht und so, und dann haben sie mich wiedergefunden.«
(18/17/m)
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Eine Jugendliche berichtet:
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Eine Jugendliche berichtet:
»Und, ja, diese Cousins wurden halt innerhalb von zwei Jahren auch zwei Jahre alt, logisch, ne? Ja, und die ham dann immer zu Weihnachten halt immer ihre Süßigkeiten gekriegt, und die hatte dann halt jeder für sich alleine. Na, seit dem Tag an hab ich gemerkt, daß das auch für mich dann besser kommt, wenn ich für mich die Sachen behalte, weil ich hab ja dann mehr, ne! ... Also ich hab ’ne Puppe gekriegt, und die ham ’n LKW gekriegt, so ’n Truck, so ’n Modelltruck, ne. Und das fand ich ja natürlich völlig genial, so’n Modelltruck. Na, und da hab ich, bin ich einfach zu P. hin und meinte so: Du, laß mich doch mal tauschen! Er so: Ja, aber nicht lange! Ich so mir den Truck genommen, ihm die Puppe in die Hand gedrückt und weg damit, das Zimmer abgeschlossen! (lacht) Naja, gut, und den hab ich dann auch behalten. ... Äh (lacht), ich muß da ganz ehrlich zu sa|A 39|gen, vor zwei Jahren, da war ich ja noch 17 und alle drei Cousins 15, und da war ich mit einem von den dreien ’ne ganz kurze Zeit zusammen, aber das ist daran gescheitert, daß ich nie wußte, welchen ich denn nun habe. Weil, irgendwie bin ich da immer so’n bißchen durcheinandergeraten! ... Das waren Drillinge!«
(50/19/w)
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Wieder ein anderer Jugendlicher beschreibt seine Kindheit so:
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Wieder ein anderer Jugendlicher beschreibt seine Kindheit so:
»Meine Onkels, die waren auch erst 16, 17, also: Skateboard, Karton draufgenagelt und mich reingesetzt und angefahren. Oder irgendwie beim Fußballspielen in ’n Riesenmüllcontainer eingesperrt, ja, und dann ham se Fußball gespielt und mich natürlich auch rausgeholt. ... Wo ich meinen ersten Hund hatte, an den erinner’ ich mich auch noch. ... Immer wenn’s irgendwie Ärger gab, dann bin ich immer bei dem Hund in die Hütte reingekrochen, und keiner konnte was machen!«
(3/18/m)
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[129:97] Ein Heranwachsender nennt als das wichtigste Ereignis während der Grundschulzeit folgendes:
»Da standen wir vorn auf der Treppe. Und ich ganz hinten. Und dann Fotos gemacht, da war ich natürlich nicht drauf, weil ich der Kleinste war.«
(18/17/m)
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Die Anekdote, diese biographische Mischung aus Wahrheit und Dichtung, scheint der eigentliche Motor ihrer Erzählung zu sein.
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ihnen
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von ihnen
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denkbar
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[129:98-99] Wie schon im Zusammenhang der Chronologie von Lebenslaufdaten nützen auch hier die Nachfragen der Interviewer wenig. Sie |a 124|werden teils übergangen, teils bleiben sie mit dem Hinweis darauf, sich nicht erinnern zu können, unbeantwortet, teils werden sie geradezu unwillig abgewehrt, als
»stressig«
empfunden. Zu einem geordneten Nachvollzug ihrer Lebensgeschichte sind sie aufgrund der häufigen Brüche und Wechsel in ihrem Leben nicht in der Lage. Befragt man sie zu einem Lebensabschnitt, dann können sie je nach Erlebnisdichte eine Reihe kurzer Episoden beschreiben; unangenehm in Erinnerung gebliebene Lebensetappen werden, wenn überhaupt, dann stark verkürzt abgehandelt.Die Anekdote, diese biographische Mischung aus Wahrheit und Dichtung, scheint der eigentliche Motor ihrer Erzählung zu sein. Vor einer ständig wechselnden Kulisse werden auf der Vorderbühne immer gleichartige Sketches inszeniert. Die Anekdote scheint deshalb das geeignete Erzählmittel zu sein, mit dessen Hilfe erlebte Diskontinuität in positive Momente gewendet werden kann und die Darstellung der bruchstückhaften Vergangenheit in Form einer Selbststilisierung als Held der Unbeständigkeit gelingt. Veränderungen scheint es dabei nur in der Außenwelt, Bewegung nur zwischen Personen zu geben. Das Selbst bleibt in ihrer Wahrnehmung zwangsläufig unverändert, und zwar deshalb, so läßt sich vermuten, weil ihnen die nötige Selbstdistanz fehlt, um eine sensible Innenwelt zu konturieren. Dadurch kann Lebenszeit von ihnen nicht als Entwicklungszeit wahrgenommen werden. Veränderungen sind gleichsam nur auf der Außenseite der Persönlichkeit denkbar, nämlich in der Dimension von Interessen und Tätigkeiten. Für einen Fünfzehnjährigen z. B. scheint Therapie eher ein
»netter«
Zeitvertreib gewesen zu sein. Mit der Frage, ob er sich im Hinblick auf seine früheren sozialen Schwierigkeiten verändert habe, scheint er überfordert zu sein. Therapie hat für ihn eher den Charakter einer ausgefüllten Freizeit:
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»Und dann konnt’ ich da kokeln, konnt’ ich da auf meiner Therapeutin reiten, so’n Gurt anlegen und dann hinten so: schneller, und so! Im Matsch rum, und das war ganz nett da. Da ... hab ich dann auch vier Jahre Therapie gekriegt. (I: Aber hat das was für dich gebracht, diese Therapie? Daß es dir besser ging?) Also ich glaube nicht. Außer, daß meine Freizeit dann bißchen besser war, ne. Daß ich nicht mehr so rumgegammelt habe, sondern daß ich was zu tun hatte. Nee, ansonsten glaub’ ich nicht.«
(33/15/m)
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»Sanitäter will ich werden, aber ich weiß noch nicht, wie ... Die Ideen kommen später noch«
(6/15/m).
»Fliesenleger oder Schreiner, aber das interessiert mich noch nicht«
(7/13/m).
»Ich will Millionär werden«
oder
»Flugzeugbauer – meine Mutter hat da wohl Beziehungen zum Flughafen.«
(12/18/m)
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