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[012:4] Die Aspekte des
Problems. Pädagogik als Erziehungswissenschaft befindet sich damit – wie jede
andere Wissenschaft auch – in Distanz zur gesellschaftlichen Wirklichkeit.
Insofern ihr Verfahren zweckrational, analysierend und aufklärend ist, ist
sie auch kritisch. Gesellschaftskritik ist daher eine ihrer Funktionen. Im
Begriff
›Bildungswert‹
ist diese Funktion zu einer pädagogischen Kategorie geworden. Der
Begriff besagt, daß die Formen und Inhalte der Kultur nicht schon durch ihr
bloßes Dasein pädagogische Dignität haben. Die pädagogische Kritik geht von
der Frage aus, ob das gesellschaftlich Gegebene pädagogisch zulässig ist, d.
h. ob es wert ist, im Erziehungsvorgang vertreten zu sein. Diese Kritik
geschieht im Namen der erstrebten Mündigkeit der heranwachsenden Generation, im Namen eines Postulates also, das die Erziehungswissenschaft nicht aus sich hat, sondern das
ihr im Selbstverständnis einer demokratischen Gesellschaft vorgegeben ist.
Hier ist die Stelle, an der die pädagogische Sicht der Gesellschaft in
Ressentiment und Ideologie umschlagen kann und häufig umgeschlagen ist. Dies
ist immer dann der Fall, wenn Mündigkeit und Vernünftigkeit des Menschen vor
der Gesellschaft nicht in Schutz genommen werden und die Erziehungstheorie
dem Kriterium der Rationalität nicht genügt (→ Pädagogik). Das liegt z. B. in der – ausgesprochenen oder unausgesprochenen –
Meinung vor, das soziale Feld einer Agrargesellschaft habe von vornherein
die größere erzieherische Potenz und im Hinblick auf die Humanität den
höheren Wert. Insofern eine solche Position gerade dem Zwang erliegt, den
sie als Erziehungstheorie aufklären sollte, ist sie selbst Gegenstand der
kritischen Analyse durch die Erziehungswissenschaft.b√
[012:5] Die Bedingung dafür, daß die explizite pädagogische Kritik der Gesellschaft im Namen der erstrebten Mündigkeit der
heranwachsenden Generation geschieht, istb√ die
›mündige Gesellschaft‹
, d. h. eine Gesellschaft, die die Kritik an sich selbst als ein
wesentliches Merkmal ihrer selbst zuläßt (→ b√ Erziehungsphilosophie). Daß diese Kritik stattfindet, ist abhängig
von der Rolle, die der Begriff
›Individualität‹
spielt. Mit ihm begannen am Ende der Aufklärung (Pietismus, Sturm und Drang) Analyse und Differenzierung des
Seelenlebens und entstand die
›Innerlichkeit‹
als Gegenstück zu den äußeren sozialen Tatsachen. Damit wurde der
Begriff Individualität zu einer sozialen und pädagogischen Kategorie. Die
Spontaneität des Individuums ist nun nicht mehr prinzipiell im Unrecht, wenn
sie der Gesellschaft widerspricht. Das Widersprechen-Können hervorzubringen wird Aufgabe der Erziehung; diese Aufgabe zu klären und zu sichern Amt der
Erziehungswissenschaft. Damit wird die Pädagogik b√zur Sachwalterin der Autonomie in der heranwachsenden Generation.
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[012:6] Wenn die Pädagogik
nicht nur den Vorgang kontinuierlicher Tradierung der Kultur zu sichern, sondern auch die Fähigkeit, diese Kultur zu
verändern, zu entwickeln hat, dann ist sie – der Möglichkeit
nach – ein produktiver Faktor innerhalb einer
›dynamischen‹
Gesellschaft. Sie hat nicht nur teil am gesellschaftlichen
Fortschritt, sondern ist für ihn mitverantwortlich. Es ergibt
sich damit ein Zusammenhang zwischen pädagogischer Reform und Gesellschaftsreform.
Pädagogische Reform-Theorien holen seit Rousseau (Emile und contrat social) und Fichte
(Reden an die Deutsche Nation)
nicht mehr nur auf dem Felde der Erziehung Entwicklungen nach,
die andere Bereiche der Gesellschaft schon durchlaufen haben,
sondern entwickeln zugleich mit ihren Erziehungsprogrammen
vorwegnehmende gesellschaftliche und |b 103|politische Ideen. Das eindrucksvollste Beispiel dafür ist die preußische Schulreform zu Beginn des 19. Jhs.b√
Dennoch bleibt für viele Orte der Pädagogik richtig, was F. Paulsen meinte,
daß nämlich die Pädagogik, trotz des progressiven
Selbstverständnisses ihrer Theorie, in der Regel dem
gesellschaftlichen Wandel nachhinke. Die → Schule als eine Stätte
kultureller Tradition erschwert zumindest ein beständiges, mit
den gesellschaftlichen Veränderungen Schritt haltendes Umstellen
und befördert das Festhalten an älteren
Gesellschaftsvorstellungen, wenngleich Gegenbeispiele nicht
selten sind (Pädagogische Reformbewegung, Landerziehungsheime im ersten Drittel unseres
Jahrhunderts). Abgesehen hiervon besteht eine positive
Korrelation zwischen dem pädagogisch
›Richtigen‹
und dem gesellschaftlich
›Besseren‹
, und zwar insofern, als die Realisierung des pädagogisch
›Richtigen‹
gesellschaftliche Bedingungen voraussetzt, die sie
ermöglichen. Dieser Zusammenhang tritt in Geschichte und Problem
der politischen Bildung besonders deutlich hervor. Sie droht fruchtlos zu
bleiben, wenn der Stil politischer Auseinandersetzungen sie
nicht stützt, d. h. wenn die Anschauung, die der politische
Umgang der Erwachsenen miteinander für die Jugend darstellt, den
Forderungen nicht entspricht, die in der → politischen Bildung gestellt werden (z. B. die sog.
›Bewältigung der
Vergangenheit‹
). Zudem wird, besonders durch die modernen Informationsmethoden (Massenmedien), die
außerpädagogische gesellschaftliche Realität immer stärker zu
einem unmittelbaren Erziehungsfaktor, so daß schon aus diesem
Grunde der Begriff einer
›richtigen‹
Erziehung nicht mehr ohne den Begriff
›besserer‹
gesellschaftlicher Bedingungen gedacht werden kann. Das
›pädagogisch
Richtige‹
erweist sich also als ein Begriff von hoher
gesellschaftlicher und politischer Aktualität, der allerdings
gerade deshalb zur Ideologie hin abgleiten kann.
[012:7] Die Pädagogik bringt mit der erzieherischen Erfahrung immer schon mehr als nur das
Erzieherische zur Sprache. Nahezu alles, |a1 a2 106|was
innerhalb einer Gesellschaft wirksam ist, taucht in irgendeiner Form im
Erziehungsprozeß auf; im Heranwachsenden selbst als Vorstellungen,
Verhaltensweisen, Attitüden; in den erzieherischen Institutionen als
Inhalte, Struk|b 104|turen, Normierungen; mit den
erziehenden Personen als Haltungen, Wertungen, Zielvorstellungen.
[012:8] Wenn daher die Pädagogik als Erziehungswissenschaft diese
Wirklichkeit analysiert, analysiert sie damit immer auch die
gesellschaftliche Situation. Beschreibung, Deutung und Kritik einer
Erziehungslage ist damit immer auch Beschreibung, Deutung und Kritik der
Gesellschaftslage. Das war in den Theorien Pestalozzis, Humboldts und Schleiermachers der Fall und zeigt sich heute in der Erziehungswissenschaft
allenthalben, am konsequentesten im Werk Th. Litts. Die alte Verschränkung von
Sozialtheorie und Pädagogik ist damit wiederhergestellt, freilich
auf der Ebene analytisch-kritischer Reflexion.
[012:9] Pädagogische Probleme der
gegenwärtigen Gesellschaft. Der Situation in der sich die pädagogische Theorie heute befindet,
entspricht eine völlig neuartige Struktur des Feldes pädagogischer Aufgaben,
eine veränderte Erziehungswirklichkeit. In den vorindustriellen Epochen
konnten die erziehenden Generationen darauf vertrauen, daß, wenn nur die
familiäre Erziehungssituation normal war (→ Familie), keine ernsthaften Schwierigkeiten für das Heranwachsen und
Hineinwachsen in die Gesellschaft auftauchten. Selbst die Schule war
entbehrlich, soweit nicht das Bedürfnis nach einem besonderen sozialen
Status bestand. Die Wirklichkeit der Lebensordnung sicherte die
Verwirklichung des geltenden Begriffes von Menschenwürde. In der aufgeklärten industriellen Gesellschaft ist
das nicht mehr der Fall: die Einheit der Lebensordnung ist einer dynamischen
Pluralität heterogener Ordnungen gewichen, die die Verwirklichung des
Begriffs von Menschenwürde, das Mündigwerden, nicht mehr ohne weiteres
sichern können. Die →
Familie – auch wenn sie
völlig intakt ist – kann nicht entfernt das leisten, wozu sie früher
imstande war; und das nichtb√, weil sie etwa
›schlechter‹
geworden ist, sondern weil neue Leistungsforderungen entstanden sind.
Deshalb setzte das ein, was man Pädagogisierung der Gesellschaft genannt hat: immer neue Institutionen und Maßnahmen wurden und werden nötig, um das
Hineinwachsen in die Gesellschaft relativ gefahrlos zu ermöglichen und
gleichzeitig das Mündigwerden nicht zu vereiteln. Unter solchen Bedingungen
kann die Erziehung nicht mehr als ein gegen den
›Ernst‹
des Erwachsenendaseins fest abgeschlossener Vorgang betrachtet
werden. Zur
»erzieherisch bedeutsamen Wirklichkeit«
ist alles zu rechnen, was den Heranwachsenden
berührt und auf seine Entwicklung Einfluß nimmt.
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[012:10] In der pädagogischen Analyse
der gegenwärtigen Gesellschaft erscheint diese daher als Komplex
besonderer Chancen des |b 105|Mündigwerdens wie
auch als Gefährdung und Bedrohung der pädagogischen Aufgabe (→ Sozialpädagogik, → Sozialpädagogische Einrichtungen).
[012:11] Die Merkmale der modernen Gesellschaft, auf die auch die pädagogische
Analyse allenthalben trifft, lassen sich in den beiden Begriffen Industrialisierung und Demokratisierung (Strzelewicz) zusammenfassend formulieren. Im
einzelnen bedeutet das: Verstädterung, Leistungsgesellschaft,
Mobilität, Konfliktreichtum und Ausweitung des Informationshorizontes.
Durch alles hindurch zieht sich aber der sog. Pluralismus, in dem das
vielleicht entscheidende pädagogische Problem sich
andeutet. Neben dem Pluralismus der Konfessionen, Weltanschauungen und
Ideologien ist es vor allem der der sozialen Rollen, der das Feld strukturiert, in dem die Erziehung geschieht. Und hierin wiederum wirft
allem Anschein nach nicht das konfliktreiche Nebeneinander von
Berufs-, Familien-, Konfessions-Rolle, sondern der Dualismus von Arbeit und Freizeit die am schwersten wiegenden Fragen auf. Das gilt besonders,
seit die Familie keine verläßliche Vermittlerfunktion zwischen beiden
Bereichen mehr ausübt; die Jugend entzieht sich in der Freizeit der Familie und bildet eigene,
nicht mehr familienorientierte Verhaltensweisen und Institutionen
aus (Film, Party, Diskussion, Jugendtourismus), andererseits dringen
die Konsumgüter der Freizeit (Presse, Rundfunk, Fernsehen,
Ferienindustrie) in die Familien ein und modifizieren dort das Verhaltenb√.
[012:12] Die Verstädterung
erscheint in der Erziehungspraxis b√als grundlegende Veränderung des pädagogischen Feldes. Der Erziehungs-
und Spielraum des Kindes ist verengt auf Wohnung, Kinderzimmer, umgrenzten
Spielplatz und Schule. Die Familie repräsentiert nicht mehr das Ganze b√gesellschaftlichen Lebens; ihre pädagogischen Leistungen sind zwar
noch fundamental für den ganzen Prozeß des Heranwachsens, bleiben indessen
partiell. Die städtischen Ballungen haben die Struktur der Öffentlichkeit, die Formen der Kommunikation und Information (Massenmedien) und
damit die pädagogischen Probleme der Erfahrung und des Kenntniserwerbs
verändert. Die unmittelbaren, im Umgang mit Dingen, Ereignissen und Menschen
zu gewinnenden Erfahrungen nehmen ab zugunsten der in Presse, Funk und
Fernsehen als Information vermittelten und präparierten Erfahrung, einer
Erfahrung aus zweiter Hand (Gehlen);
eine wirksame Kontrolle des eigenen Handelns durch Anschauung seiner Folgen
schrumpft immer mehr auf die begrenzten Möglichkeiten zusammen, die Familie,
Schule und Sozialpädagogik zur Verfü|a1 a2 108|gung
stellen können; die Erfahrung des einzelnen erreicht nicht mehr die ganze
Wirklichkeit der Gesellschaft.
|b 106|
[012:13] Aus dem in der modernen Gesellschaft wirksamen Leistungsprinzip ergeben sich
pädagogisch nicht weniger weitreichende Probleme. Nicht mehr Geburt,
Standes- oder Klassenzugehörigkeit sollen den Status des einzelnen
bestimmen, sondern seine besondere Leistungsfähigkeit. So entsteht schon in der Erziehung eine Wettbewerbssituation, in der
die Individualität herausgefordert wird. Das hierbei bestimmende Prinzip der Chancengleichheit bricht sich jedoch an den faktisch vorhandenen sozialen Schichtungen;
Leistung ist nicht einfach die Qualität eines einzelnen, sondern bereits das
Produkt vieler außer ihm liegender sozialer Faktoren, über die er nicht
verfügen kann. b√Damit ändert sich das Verhältnis von Elternhaus und Schule; die
Bedeutung schulbegleitender und berufsbegleitender pädagogischer
Institutionen, vor allem des zweiten Bildungsweges und der → Erwachsenenbildung, wächst. Hier wirkt sich
nicht nur aus, daß die gegenwärtige Gesellschaft eine auf b√Produktion abgestellte Gesellschaft ist, sondern auch das Pendant, daß
es sich bei ihr um eine Konsumgesellschaft handelt (H.
Schelsky). Konsum als ein Zeichen für Status gilt auch als ein Zeichen für
Leistung. Die entsprechenden Phänomene bleiben nicht etwa auf die erwachsene
Generation beschränkt, sondern charakterisieren auch und insbesondere die Heranwachsenden. Der Verbrauch geschieht weitgehend in der Freizeit, so daß ein bisher
durch freie Muße gekennzeichneter Zeitraum unter die Bestimmung
einschlägiger Produktionszweige (Vergnügungs-, Erholungs- und Kulturgewerbe)
gerät. Die von Marx behauptete Entfremdung durch die Produktionsverhältnisse wird ergänzt von der Entfremdung
des Menschen in den Konsumverhältnissen (J.
Habermas). Die Freizeit wird zum pädagogischen Problem,
insofern auch in ihr und durch sie die Mündigkeit des Menschen bedroht werden kann, etwa dadurch, daß die
Lebensprobleme b√der Heranwachsenden diesen verhüllt statt aufgewiesen werden.
[012:14] Erzieherisch besonders bedeutungsvoll ist der dynamische Charakter
der modernen Gesellschaft, ihre Mobilität. Die Erziehung kann nicht mehr auf bestimmte,
eindeutig festgelegte Positionen ausgerichtet werden. Sozialer Aufstieg und
|b 107|Abstieg eines einzelnen wie ganzer Gruppen
verändern für die Betroffenen den Komplex von Fähigkeiten und Haltungen, der
ihnen zugemutet wird; das gleiche gilt für die horizontale Fluktuation vom
Land in die Stadt, von einem zum anderen Arbeitsort. Die Gesellschaft ist in
ständiger Bewegung und droht jeden Augenblick, die genossene Erziehung als
veraltet hinter sich zurückzulassen. Jeder hat die Freiheit der Wahl in einer relativ
großen |a1 a2 109|Variationsbreite, im Hinblick auf berufliche Entscheidungen, Wohnort und -art,
Freundes- und Bekanntenkreis, Parteien und Gruppen, erst recht in allen
Sachen des intimen Bereichs. Diese Freiheit aber ist sowohl ein Gewinn wie
eine Belastung. Oft stellt sich das Belastende dieser Situation erst nach
Jahren heraus und erfordert nachholende pädagogische Maßnahmen, z. B. wenn
das starre Festhalten an einer einmal erreichten Position oder – umgekehrt –
unsteter Wechsel zu Schädigungen und Krisen im Leben des einzelnen
führt.
[012:15] Mit der Mobilität der Gesellschaft ist ein
akuter Konfliktreichtum verknüpft.
Zunächst scheint die Nivellierungstendenz der modernen Gesellschaft
durch Annäherung der oberen und unteren Einkommensgrenzen,
Angleichung des Konsums der verschiedenen sozialen Schichten, gleiche
Bildungschancen usw. die Konflikte zu vermindern. Es entstehen aber neue Differenzen, in
denen nicht minder Herrschaftsverhältnisse wirksam
werden, Rivalitäten auftauchen, Diskrepanzen zur
Sprache kommen, und dies im Hinblick sowohl auf die Unterschiede
der sozialen Positionen wie auch auf die der Ideologien und Weltanschauungen. Wenn es auch richtig sein mag, daß konfliktfreie
Gesellschaften nicht möglich sind (Dahrendorf), so ist doch die Anzahl
der Konfliktmöglichkeiten in der modernen Gesellschaft erheblich
und für die Lebensführung des einzelnen merklich angestiegen. Die von Pädagogen häufig erhobene Klage
über den
›Verlust der Geborgenheit‹
bezieht sich im wesentlichen auf diesen Sachverhalt. Die Konflikte jedoch lassen sich nicht eliminieren,
höchstens unterdrücken. Einer sich demokratisch verstehenden
Gesellschaft aber muß alles daran gelegen sein, sie auszutragen.
Die pädagogische Kritik kann deshalb nicht gegen diese Konflikte
polemisieren, sondern trägt die Verantwortung dafür, daß die
heranwachsende Generation die |b 108|Bewältigung von sozialen Konfliktenb√erlernt; ihre Kritik richtet sich gegen die Unterdrückung
von Konflikten durch bestimmte gesellschaftliche Praktiken. Die
Schwierigkeit, vor der die Erziehungspraxis steht, liegt darin,
daß die traditionellen Erziehungsräume → Familie und → Schule relativ konfliktarm b√sind. Sie können deshalb nur begrenzt Fähigkeiten
hervorbringen, die erst die gesellschaftliche Ernstsituation
auszeichnen. Um so wichtiger werden die indirekten
Erziehungswirkungen, die beispielsweise von dem Stil ausgehen,
in dem die erwachsende Generation politische Konflikte austrägt. Besonders die politische Bildung ist weitgehend von solchen Einflüssen abhängig. Es ist
deshalb legitim, wenn die Pädagogik im Namen einer vernünftigen
Erziehung nicht nur die industriellen und kommerziellen, sondern
auch die politischen Usancen der Gesellschaft einer Kritik
unterzieht.
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[012:16] Während noch bis ins 18. Jh. die Kenntnis der Bibel und – für eine
kleinere Schicht – einiger klassischer Texte, im wesentlichen aber die durch
persönliche Erfahrung erreichbare soziale Wirklichkeit ausreichte, ist eine
zweckvolle Orientierung und Lebensbewältigung heute ohne ein gewisses Maß an
technischem, institutionellem, politischem, wirtschaftlichem Wissen, das
aber nur noch begrenzt anschaulich werden kann, nicht mehr denkbar,
demzufolge weitet sich der
Informationshorizont aus. Zudem hat die veränderte Struktur der Informationsmittel neue Probleme geschaffen: Vom gedruckten Wort der Presse gehen andere
Wirkungen aus als von den traditionellen Druckerzeugnissen, erst recht von
Rundfunk, Fernsehen und Film. Wo rationale Orientierung nötig wäre, wird die
Information häufig begleitet von einer nur schwer kontrollierbaren
Mobilisierung der Emotionen; damit wird gerade das erschwert, was doch
erreicht werden sollte. Die pädagogischen Probleme liegen nicht nur in der
Erweiterung der Information, sondern auch in der Aufnahme der neuen
Informationsmittel in den Erziehungsprozeß.
[012:17] Die pädagogische Analyse der
Gesellschaft führt zu einigen pädagogischen Postulaten, über die – trotz aller
Verschiedenheit der Positionen – weitgehend Einigkeit besteht:
Sicherung des pädagogischen Raumes gegen die entfremdenden Zugriffe,
Sicherung der Beweglichkeit und der Variations- und
Experimentiermöglichkeiten in diesem Raume; Durchlässigkeit seiner
Grenzen für vorwegnehmende Ernsterfahrungen; Erziehung zur Selbsttätigkeit, zur Wahlfähigkeit und zur Konfliktbewältigung; |b 109|vielfältige Information und
Aufklärung, Erziehung zum kritischen Umgang mit den
Informationsmitteln (→ politische Bildung); erhöhte Information und
Aufklärung auch der erziehenden Generation im Hinblick auf die
Probleme der Erziehungsaufgabe.
[012:18] Trotz der Plausibilität dieser Postulate
hat aber die moderne Gesellschaft in ihren Mitgliedern eine hohe
Erziehungsunsicherheit erzeugt. Wo bürgerliche Familien noch die
Normensicherheit einer patriarchalischen Erziehung bewahren, handelt
es sich um ein Nachhinken in der gesellschaftlichen Entwicklung, und
es kann hier eine Lösung des Problems kaum erhofft werden,
ebensowenig wie von der pädagogischen Resignation, die in
›angepaßteren‹
Familien herrscht. Die pluralistische Struktur der modernen
Gesellschaft offenbart sich hier in einem praktisch-pädagogischen Debakel, das nur
durch die Erziehungspraxis selbst, durch eine Entscheidungen wagende und sich der
Kritik stellende Autorität der Erziehenden zu überwinden möglich scheint (→ Erziehungb√).
[012:19] Sozialvorstellungen der
Pädagogik. Sofern die Pädagogik eine eigene kritische Sicht auf die Gesellschaft
ausgebildet hat, ist sie |a1 a2 111|damit doch nicht frei
von vorwissenschaftlichen sozialtheoretischen Elementen und Entscheidungen.
Das gilt sowohl für die Praxis wie für die wissenschaftliche Theorie. Schon
die Basis ihrer Kritik, der mündige Mensch – in einem demokratisch
organisierten Gemeinwesen bzw. einer technischen Zivilisation –, enthält
eine solche Vorentscheidung. Viele pädagogische Institutionen, Theorien,
Begriffe und Modelle unterscheiden sich deshalb nicht nur durch die angewandte Methode, unterschiedliche Akzente, unterschiedliche Kategorien, sondern durch
die Verschiedenheit der Sozialvorstellungen, die sie enthalten. Diese
Eigentümlichkeit hat ihren Grund in der Sache: Erziehung konstituiert immer
auch ein soziales Verhältnis bzw. geschieht in vorgegebenen
Sozialverhältnissen; ihre soziale Form ist nicht nur eine Bedingung ihrer
Verwirklichung, sondern auch eine Bedingung ihrer Theorie, sofern diese
Theorie zu Entwürfen für die Erziehungspraxis führen und eine Kritik der
Wirklichkeit leisten soll.
[012:20] In der Praxis tauchen diese Sozialvorstellungen als
Selbstauslegung der Erziehenden oder indirekt als Methoden,
Organisationsformen, Erziehungsstile, Bildungspläne auf. So werden in
gruppenunterrichtlichen Verfahren – pädagogisch die spätere soziale
Wirklichkeit vorwegnehmend – andere gesellschaftliche Praktiken eingeübt als
im Frontalunterricht. Die |b 110|Forderung einer 6jährigen Grundschule z. B. enthält eine von den Verfechtern der 4jährigen Grundschule abweichende Vorstellung über die Probleme der sozialen Schichtung.
Auch der angestrebte Grad von Intimität einer
›Klassengemeinschaft‹
oder
›Schulgemeinde‹
eine musisch oder pragmatisch orientierte Unterrichtsarbeit, die
Zusammenstellung eines Lesebuchesb√ enthalten gesellschaftliche
Leitbilder und politische Entscheidungen. Solche
Leitbilder und Entscheidungen sind der Erziehung als einem sozialen
Geschehen strukturimmanent.
[012:21] Aufgabe der Erziehungswissenschaft ist es, diese Abhängigkeiten
aufzudecken, in das Bewußtsein zu heben und nach Maßgabe des
Mündigkeitsprinzips zu kritisieren. Dabei unterlaufen auch ihr immer wieder
jene vorwissenschaftlichen Meinungen, zu deren Aufklärung und Kritik sie
sich berufen fühlt. Die Konzeption einer
›autonomen‹
Erziehung und z. B. der ihr entsprechenden Theorie, aus dem gesellschaftlichen
Streit der Meinungen und Konfessionen geboren, dachte – in der Kritik gegen
eine unbehagliche Gegenwart – das pädagogisch
›Richtige‹
und
›Eigentliche‹
im Zusammenhang mit einer vorgestellten idealliberalen
Gesellschaftsverfassung.
[012:22] Das Verständnis der Erziehung als eines geschichtlichen Phänomens (→ Historische Pädagogik) veranlaßt die Erziehungswissenschaft, die Ursprünge der gegenwärtigen
Erziehungssituation |a1 a2 112|und ihrer Auslegung
aufzusuchen, die in der Gegenwart gültigen Traditionen zu bestimmen. Da die
so aufgewiesenen Ursprünge nicht nur die Erziehungsarbeit, sondern auch die
Gesellschaft im ganzen betreffen, gehen auch an dieser Stelle
sozialtheoretische Vorentscheidungen in die wissenschaftliche Theorie von
der Erziehung mit ein; so etwa, wenn die mit der Aufklärung in die Gesellschafts- und Erziehungspraxis eingedrungene Rationalität
nicht in die Reihe verbindlicher Traditionen mit aufgenommen wird oder
andererseits bestimmte Merkmale der industriellen oder demokratischen
Gesellschaft zur alleinigen Basis für die Konstruktion einer
Erziehungstheorie gewählt werden. – Sind in diesen Fällen die
Sozialvorstellungen verdeckt und schwer zu erkennen, so liegen sie offen
zutage in jenen Systemen, die in ausdrücklicher Bindung an bestimmte
Soziallehren – etwa der Kirchen oder Parteien – entwickelt werden. Sie kennzeichnen in Systemen jeder Art nicht nur
häufig deren Ansatz, sondern kehren in den Problemen und expliziten
Begriffen wieder; so in den Urteilen über den pluralistischen Charakter der
modernen Industriegesellschaft, in den Ausdeutungen der pädagogischen
Autorität, in den Konzeptionen des
»pädagogischen
Bezuges«
und der |b 111|
»Erziehungsgemeinschaft«
, der Schule als einer vor der Gesellschaft verschlossenen oder ihr gegenüber
offenen Institution. – Sowenig die Erziehungswissenschaft solche Vorentscheidungen vermeiden
kann, sosehr ist sie doch gehalten, diese der Kritik zugänglich zu machen.
Diese besondere, durch den Gegenstand
›Erziehung‹
gebotene Verschränkung macht es erforderlich, daß die
Erziehungswissenschaft die wissenssoziologische Frage an sich selbst in ihre Forschung mit aufnimmt.b√