Gesellschaft in pädagogischer Sicht [Textkritische interaktive Ansicht mit a1 als Leittext]
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[012:1] Gesellschaft in pädagogischer Sicht. Zur Geschichte des Problems. Daß es so etwas geben könne wie eine Betrachtung und Beurteilung der Gesellschaft von der Pädagogik her und daß eine solche Betrachtung und Beurteilung nicht nur sinnvoll, sondern im Interesse der heranwachsenden jungen Menschen und der Gesellschaft notwendig sei, diese Meinung ist – historisch gesehen – noch nicht alt. Wo es keine explizite pädagogische Theorie gibt, kann es auch diese Meinung nicht geben. Was sich etwa bei sog. primitiven Gesellschaften an
pädagogischer Theorie
findet, sind in Maximenb formulierte Handlungsanweisun|a1 a2 103|gen, von denen her aber prinzipiell keine Distanz zum sozialen System gewonnen werden kann.
[012:2] Dort, wo ein Gemeinwesen spezialistische Arbeitsteilungen ausbildet, also auch ein besonderer Lehr- und Erziehungsstand entsteht, wird der Erziehungsvorgang auch von einer explizierten Theorie begleitet. Diese Theorie tritt aber zunächst nicht für sich auf, sie entwickelt kein eigenes kritisches Organ im Hinblick auf die Gesellschaft, sondern bleibt in philosophischen, sozialtheoretischen Systemen gebunden. Diese Systeme sind der Gesellschaft konform, oder sie sind bloß utopisch. Das war von der Antike an bis in das 18. Jh. hinein der Fall. Die Utopien (Platon, Morus, Campanella) sind zwar aus kritischer Distanz zur Gesellschaft entworfen, Erziehung und Erziehungstheorie spielen in ihrem Zusammenhang aber genau die Rolle, die sie in der jeweils gegebenen sozialen Situation auch spielen; sie werden im utopischen Entwurf allenfalls noch weniger als ein Kulturgebiet, das eine
eigene Sicht
auszubilden imstande ist, entwickelt.
[012:3] Die Lage der Erziehungstheorie änderte sich prinzipiell mit J. J. Rousseau. Er unterzieht im Namen der Erziehung, d. h. eines Begriffs von menschenwürdigem Heranwachsen, die Gesellschaft und ihre Institutionen der Kritik. Aufschluß über das, was der Mensch zum Erwachsenwerden braucht, erhofft man sich jetzt nicht mehr von der gesellschaftlichen Konvention oder einem vorgegebenen (philosophischen) System, sondern von der Analyse der
natürlichen
Entwicklung, von dem an solcher Entwicklung orientierten pädagogischen Umgang mit dem Kinde, von der Einsicht in die mit den pädagogischen Begriffen
Mündigkeit
,
Humanität
oder
Bildung
erfaßten Phänomene. So erscheint die Gesellschaft erstmalig
in pädagogischer Sicht
:
Rousseau kritisiert die naturfremde und erziehungsfeindliche Rokoko-Gesellschaft; Pestalozzi befragt die einfachen und elementaren sozialen Institutionen auf ihren pädagogischen Sinn und Wert; Humboldts Konzeption der |b 101|Bildungstheorie ist gegen den absolutistischen Staat gerichtet und enthält bereits Elemente einer liberal-demokratischen Erziehungstheorie; diese treten bei Schleiermacher, der in systematischem Zusammenhang Gesichtspunkte zur pädagogischen Beurteilung der Gesellschaft entwickelt, noch deutlicher hervor. Im Funktionszusammenhang der Kultur ist die Pädagogik ein Bereich eigener Dignität, der von sich aus Fragen an die Gesellschaft zu stellen nicht nur imstande ist, sondern dem auch von einer sich liberal verstehenden Gesellschaft dieses Recht ausdrücklich zuerkannt wird. Die Versuche, dieses Recht wieder aufzuheben, an denen es im 19. und 20. Jh. bnicht fehlt, müssen nach dieser Interpretation restaurativ bzw. reaktionär oder totalitär genannt werden.
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[012:4] Die Aspekte des Problems. Pädagogik als Erziehungswissenschaft befindet sich damit – wie jede andere Wissenschaft auch – in Distanz zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Insofern ihr Verfahren zweckrational, analysierend und aufklärend ist, ist sie auch kritisch. Gesellschaftskritik ist daher eine ihrer Funktionen. Im Begriff
Bildungswert
ist diese Funktion zu einer pädagogischen Kategorie geworden. Der Begriff besagt, daß die Formen und Inhalte der Kultur nicht schon durch ihr bloßes Dasein pädagogische Dignität haben. Die pädagogische Kritik geht von der Frage aus, ob das gesellschaftlich Gegebene pädagogisch zulässig ist, d. h. ob es wert ist, im Erziehungsvorgang vertreten zu sein. Diese Kritik geschieht im Namen der erstrebten Mündigkeit der heranwachsenden Generation, im Namen eines Postulates also, das die Erziehungswissenschaft nicht aus sich hat, sondern das ihr im Selbstverständnis einer demokratischen Gesellschaft vorgegeben ist. Hier ist die Stelle, an der die pädagogische Sicht der Gesellschaft in Ressentiment und Ideologie umschlagen kann und häufig umgeschlagen ist. Dies ist immer dann der Fall, wenn Mündigkeit und Vernünftigkeit des Menschen vor der Gesellschaft nicht in Schutz genommen werden und die Erziehungstheorie dem Kriterium der Rationalität nicht genügt (→ Pädagogik). Das liegt z. B. in der – ausgesprochenen oder unausgesprochenen – Meinung vor, das soziale Feld einer Agrargesellschaft habe von vornherein die größere erzieherische Potenz und im Hinblick auf die Humanität den höheren Wert. Insofern eine solche Position gerade dem Zwang erliegt, den sie als Erziehungstheorie aufklären sollte, ist sie selbst Gegenstand der kritischen Analyse durch die Erziehungswissenschaft.b
[012:5] Die Bedingung dafür, daß die explizite pädagogische Kritik der Gesellschaft im Namen der erstrebten Mündigkeit der heranwachsenden Generation geschieht, istb die
mündige Gesellschaft
, d. h. eine Gesellschaft, die die Kritik an sich selbst als ein wesentliches Merkmal ihrer selbst zuläßt (→ b Erziehungsphilosophie). Daß diese Kritik stattfindet, ist abhängig von der Rolle, die der Begriff
Individualität
spielt.
Mit ihm begannen am Ende der Aufklärung (Pietismus, Sturm und Drang) Analyse und Differenzierung des Seelenlebens und entstand die
Innerlichkeit
als Gegenstück zu den äußeren sozialen Tatsachen. Damit wurde der Begriff Individualität zu einer sozialen und pädagogischen Kategorie. Die Spontaneität des Individuums ist nun nicht mehr prinzipiell im Unrecht, wenn sie der Gesellschaft widerspricht. Das Widersprechen-Können hervorzubringen wird Aufgabe der Erziehung; diese Aufgabe zu klären und zu sichern Amt der Erziehungswissenschaft. Damit wird die Pädagogik bzur Sachwalterin der Autonomie in der heranwachsenden Generation.
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[012:6] Wenn die Pädagogik nicht nur den Vorgang kontinuierlicher Tradierung der Kultur zu sichern, sondern auch die Fähigkeit, diese Kultur zu verändern, zu entwickeln hat, dann ist sie – der Möglichkeit nach – ein produktiver Faktor innerhalb einer
dynamischen
Gesellschaft
. Sie hat nicht nur teil am gesellschaftlichen Fortschritt, sondern ist für ihn mitverantwortlich. Es ergibt sich damit ein Zusammenhang zwischen pädagogischer Reform und Gesellschaftsreform.
Pädagogische Reform-Theorien holen seit Rousseau (Emile und contrat social) und Fichte (Reden an die Deutsche Nation) nicht mehr nur auf dem Felde der Erziehung Entwicklungen nach, die andere Bereiche der Gesellschaft schon durchlaufen haben, sondern entwickeln zugleich mit ihren Erziehungsprogrammen vorwegnehmende gesellschaftliche und |b 103|politische Ideen. Das eindrucksvollste Beispiel dafür ist die preußische Schulreform zu Beginn des 19. Jhs.b Dennoch bleibt für viele Orte der Pädagogik richtig, was F. Paulsen meinte, daß nämlich die Pädagogik, trotz des progressiven Selbstverständnisses ihrer Theorie, in der Regel dem gesellschaftlichen Wandel nachhinke. Die → Schule als eine Stätte kultureller Tradition erschwert zumindest ein beständiges, mit den gesellschaftlichen Veränderungen Schritt haltendes Umstellen und befördert das Festhalten an älteren Gesellschaftsvorstellungen, wenngleich Gegenbeispiele nicht selten sind (Pädagogische Reformbewegung, Landerziehungsheime im ersten Drittel unseres Jahrhunderts). Abgesehen hiervon besteht eine positive Korrelation zwischen dem pädagogisch
Richtigen
und dem gesellschaftlich
Besseren
, und zwar insofern, als die Realisierung des pädagogisch
Richtigen
gesellschaftliche Bedingungen voraussetzt, die sie ermöglichen. Dieser Zusammenhang tritt in Geschichte und Problem der politischen Bildung besonders deutlich hervor. Sie droht fruchtlos zu bleiben, wenn der Stil politischer Auseinandersetzungen sie nicht stützt, d. h. wenn die Anschauung, die der politische Umgang der Erwachsenen miteinander für die Jugend darstellt, den Forderungen nicht entspricht, die in der politischen Bildung gestellt werden (z. B. die sog.
Bewältigung der Vergangenheit
). Zudem wird, besonders durch die modernen Informationsmethoden (Massenmedien), die außerpädagogische gesellschaftliche Realität immer stärker zu einem unmittelbaren Erziehungsfaktor, so daß schon aus diesem Grunde der Begriff einer
richtigen
Erziehung nicht mehr ohne den Begriff
besserer
gesellschaftlicher Bedingungen gedacht werden kann. Das
pädagogisch Richtige
erweist sich also als ein Begriff von hoher gesellschaftlicher und politischer Aktualität, der allerdings gerade deshalb zur Ideologie hin abgleiten kann.
[012:7] Die Pädagogik bringt mit der erzieherischen Erfahrung immer schon mehr als nur das Erzieherische zur Sprache. Nahezu alles, |a1 a2 106|was innerhalb einer Gesellschaft wirksam ist, taucht in irgendeiner Form im Erziehungsprozeß auf; im Heranwachsenden selbst als Vorstellungen, Verhaltensweisen, Attitüden; in den erzieherischen Institutionen als Inhalte, Struk|b 104|turen, Normierungen; mit den erziehenden Personen als Haltungen, Wertungen, Zielvorstellungen.
[012:8] Wenn daher die Pädagogik als Erziehungswissenschaft diese Wirklichkeit analysiert, analysiert sie damit immer auch die gesellschaftliche Situation. Beschreibung, Deutung und Kritik einer Erziehungslage ist damit immer auch Beschreibung, Deutung und Kritik der Gesellschaftslage. Das war in den Theorien Pestalozzis, Humboldts und Schleiermachers der Fall und zeigt sich heute in der Erziehungswissenschaft allenthalben, am konsequentesten im Werk Th. Litts. Die alte Verschränkung von Sozialtheorie und Pädagogik ist damit wiederhergestellt, freilich auf der Ebene analytisch-kritischer Reflexion.
[012:9] Pädagogische Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft. Der Situation in der sich die pädagogische Theorie heute befindet, entspricht eine völlig neuartige Struktur des Feldes pädagogischer Aufgaben, eine veränderte Erziehungswirklichkeit. In den vorindustriellen Epochen konnten die erziehenden Generationen darauf vertrauen, daß, wenn nur die familiäre Erziehungssituation normal war (→ Familie), keine ernsthaften Schwierigkeiten für das Heranwachsen und Hineinwachsen in die Gesellschaft auftauchten. Selbst die Schule war entbehrlich, soweit nicht das Bedürfnis nach einem besonderen sozialen Status bestand. Die Wirklichkeit der Lebensordnung sicherte die Verwirklichung des geltenden Begriffes von Menschenwürde. In der aufgeklärten industriellen Gesellschaft ist das nicht mehr der Fall: die Einheit der Lebensordnung ist einer dynamischen Pluralität heterogener Ordnungen gewichen, die die Verwirklichung des Begriffs von Menschenwürde, das Mündigwerden, nicht mehr ohne weiteres sichern können. Die Familie – auch wenn sie völlig intakt ist – kann nicht entfernt das leisten, wozu sie früher imstande war; und das nichtb, weil sie etwa
schlechter
geworden ist, sondern weil neue Leistungsforderungen entstanden sind. Deshalb setzte das ein, was man Pädagogisierung der Gesellschaft genannt hat: immer neue Institutionen und Maßnahmen wurden und werden nötig, um das Hineinwachsen in die Gesellschaft relativ gefahrlos zu ermöglichen und gleichzeitig das Mündigwerden nicht zu vereiteln. Unter solchen Bedingungen kann die Erziehung nicht mehr als ein gegen den
Ernst
des Erwachsenendaseins fest abgeschlossener Vorgang betrachtet werden. Zur
»erzieherisch bedeutsamen Wirklichkeit«
ist alles zu rechnen, was den Heranwachsenden berührt und auf seine Entwicklung Einfluß nimmt.
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[012:10] In der pädagogischen Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft erscheint diese daher als Komplex besonderer Chancen des |b 105|Mündigwerdens wie auch als Gefährdung und Bedrohung der pädagogischen Aufgabe (→ Sozialpädagogik, → Sozialpädagogische Einrichtungen).
[012:11] Die Merkmale der modernen Gesellschaft, auf die auch die pädagogische Analyse allenthalben trifft, lassen sich in den beiden Begriffen Industrialisierung und Demokratisierung (Strzelewicz) zusammenfassend formulieren. Im einzelnen bedeutet das: Verstädterung, Leistungsgesellschaft, Mobilität, Konfliktreichtum und Ausweitung des Informationshorizontes. Durch alles hindurch zieht sich aber der sog. Pluralismus, in dem das vielleicht entscheidende pädagogische Problem sich andeutet. Neben dem Pluralismus der Konfessionen, Weltanschauungen und Ideologien ist es vor allem der der sozialen Rollen, der das Feld strukturiert, in dem die Erziehung geschieht. Und hierin wiederum wirft allem Anschein nach nicht das konfliktreiche Nebeneinander von Berufs-, Familien-, Konfessions-Rolle, sondern der Dualismus von Arbeit und Freizeit die am schwersten wiegenden Fragen auf. Das gilt besonders, seit die Familie keine verläßliche Vermittlerfunktion zwischen beiden Bereichen mehr ausübt; die Jugend entzieht sich in der Freizeit der Familie und bildet eigene, nicht mehr familienorientierte Verhaltensweisen und Institutionen aus (Film, Party, Diskussion, Jugendtourismus), andererseits dringen die Konsumgüter der Freizeit (Presse, Rundfunk, Fernsehen, Ferienindustrie) in die Familien ein und modifizieren dort das Verhaltenb.
[012:12] Die Verstädterung erscheint in der Erziehungspraxis bals grundlegende Veränderung des pädagogischen Feldes. Der Erziehungs- und Spielraum des Kindes ist verengt auf Wohnung, Kinderzimmer, umgrenzten Spielplatz und Schule. Die Familie repräsentiert nicht mehr das Ganze bgesellschaftlichen Lebens; ihre pädagogischen Leistungen sind zwar noch fundamental für den ganzen Prozeß des Heranwachsens, bleiben indessen partiell. Die städtischen Ballungen haben die Struktur der Öffentlichkeit, die Formen der Kommunikation und Information (Massenmedien) und damit die pädagogischen Probleme der Erfahrung und des Kenntniserwerbs verändert. Die unmittelbaren, im Umgang mit Dingen, Ereignissen und Menschen zu gewinnenden Erfahrungen nehmen ab zugunsten der in Presse, Funk und Fernsehen als Information vermittelten und präparierten Erfahrung, einer Erfahrung aus zweiter Hand (Gehlen); eine wirksame Kontrolle des eigenen Handelns durch Anschauung seiner Folgen schrumpft immer mehr auf die begrenzten Möglichkeiten zusammen, die Familie, Schule und Sozialpädagogik zur Verfü|a1 a2 108|gung stellen können; die Erfahrung des einzelnen erreicht nicht mehr die ganze Wirklichkeit der Gesellschaft.
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[012:13] Aus dem in der modernen Gesellschaft wirksamen Leistungsprinzip ergeben sich pädagogisch nicht weniger weitreichende Probleme. Nicht mehr Geburt, Standes- oder Klassenzugehörigkeit sollen den Status des einzelnen bestimmen, sondern seine besondere Leistungsfähigkeit. So entsteht schon in der Erziehung eine Wettbewerbssituation, in der die Individualität herausgefordert wird. Das hierbei bestimmende Prinzip der Chancengleichheit bricht sich jedoch an den faktisch vorhandenen sozialen Schichtungen; Leistung ist nicht einfach die Qualität eines einzelnen, sondern bereits das Produkt vieler außer ihm liegender sozialer Faktoren, über die er nicht verfügen kann. bDamit ändert sich das Verhältnis von Elternhaus und Schule; die Bedeutung schulbegleitender und berufsbegleitender pädagogischer Institutionen, vor allem des zweiten Bildungsweges und der → Erwachsenenbildung, wächst. Hier wirkt sich nicht nur aus, daß die gegenwärtige Gesellschaft eine auf bProduktion abgestellte Gesellschaft ist, sondern auch das Pendant, daß es sich bei ihr um eine Konsumgesellschaft handelt (H. Schelsky). Konsum als ein Zeichen für Status gilt auch als ein Zeichen für Leistung. Die entsprechenden Phänomene bleiben nicht etwa auf die erwachsene Generation beschränkt, sondern charakterisieren auch und insbesondere die Heranwachsenden. Der Verbrauch geschieht weitgehend in der Freizeit, so daß ein bisher durch freie Muße gekennzeichneter Zeitraum unter die Bestimmung einschlägiger Produktionszweige (Vergnügungs-, Erholungs- und Kulturgewerbe) gerät. Die von Marx behauptete Entfremdung durch die Produktionsverhältnisse wird ergänzt von der Entfremdung des Menschen in den Konsumverhältnissen (J. Habermas). Die Freizeit wird zum pädagogischen Problem, insofern auch in ihr und durch sie die Mündigkeit des Menschen bedroht werden kann, etwa dadurch, daß die Lebensprobleme bder Heranwachsenden diesen verhüllt statt aufgewiesen werden.
[012:14] Erzieherisch besonders bedeutungsvoll ist der dynamische Charakter der modernen Gesellschaft, ihre Mobilität. Die Erziehung kann nicht mehr auf bestimmte, eindeutig festgelegte Positionen ausgerichtet werden. Sozialer Aufstieg und |b 107|Abstieg eines einzelnen wie ganzer Gruppen verändern für die Betroffenen den Komplex von Fähigkeiten und Haltungen, der ihnen zugemutet wird; das gleiche gilt für die horizontale Fluktuation vom Land in die Stadt, von einem zum anderen Arbeitsort. Die Gesellschaft ist in ständiger Bewegung und droht jeden Augenblick, die genossene Erziehung als veraltet hinter sich zurückzulassen. Jeder hat die Freiheit der Wahl in einer relativ großen |a1 a2 109|Variationsbreite, im Hinblick auf berufliche Entscheidungen, Wohnort und -art, Freundes- und Bekanntenkreis, Parteien und Gruppen, erst recht in allen Sachen des intimen Bereichs. Diese Freiheit aber ist sowohl ein Gewinn wie eine Belastung. Oft stellt sich das Belastende dieser Situation erst nach Jahren heraus und erfordert nachholende pädagogische Maßnahmen, z. B. wenn das starre Festhalten an einer einmal erreichten Position oder – umgekehrt – unsteter Wechsel zu Schädigungen und Krisen im Leben des einzelnen führt.
[012:15] Mit der Mobilität der Gesellschaft ist ein akuter Konfliktreichtum verknüpft. Zunächst scheint die Nivellierungstendenz der modernen Gesellschaft durch Annäherung der oberen und unteren Einkommensgrenzen, Angleichung des Konsums der verschiedenen sozialen Schichten, gleiche Bildungschancen usw. die Konflikte zu vermindern. Es entstehen aber neue Differenzen, in denen nicht minder Herrschaftsverhältnisse wirksam werden, Rivalitäten auftauchen, Diskrepanzen zur Sprache kommen, und dies im Hinblick sowohl auf die Unterschiede der sozialen Positionen wie auch auf die der Ideologien und Weltanschauungen. Wenn es auch richtig sein mag, daß konfliktfreie Gesellschaften nicht möglich sind (Dahrendorf), so ist doch die Anzahl der Konfliktmöglichkeiten in der modernen Gesellschaft erheblich und für die Lebensführung des einzelnen merklich angestiegen. Die von Pädagogen häufig erhobene Klage über den
Verlust der Geborgenheit
bezieht sich im wesentlichen auf diesen Sachverhalt.
Die Konflikte jedoch lassen sich nicht eliminieren, höchstens unterdrücken. Einer sich demokratisch verstehenden Gesellschaft aber muß alles daran gelegen sein, sie auszutragen. Die pädagogische Kritik kann deshalb nicht gegen diese Konflikte polemisieren, sondern trägt die Verantwortung dafür, daß die heranwachsende Generation die |b 108|Bewältigung von sozialen Konfliktenberlernt; ihre Kritik richtet sich gegen die Unterdrückung von Konflikten durch bestimmte gesellschaftliche Praktiken. Die Schwierigkeit, vor der die Erziehungspraxis steht, liegt darin, daß die traditionellen Erziehungsräume → Familie und → Schule relativ konfliktarm bsind. Sie können deshalb nur begrenzt Fähigkeiten hervorbringen, die erst die gesellschaftliche Ernstsituation auszeichnen. Um so wichtiger werden die indirekten Erziehungswirkungen, die beispielsweise von dem Stil ausgehen, in dem die erwachsende Generation politische Konflikte austrägt. Besonders die politische Bildung ist weitgehend von solchen Einflüssen abhängig. Es ist deshalb legitim, wenn die Pädagogik im Namen einer vernünftigen Erziehung nicht nur die industriellen und kommerziellen, sondern auch die politischen Usancen der Gesellschaft einer Kritik unterzieht.
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[012:16] Während noch bis ins 18. Jh. die Kenntnis der Bibel und – für eine kleinere Schicht – einiger klassischer Texte, im wesentlichen aber die durch persönliche Erfahrung erreichbare soziale Wirklichkeit ausreichte, ist eine zweckvolle Orientierung und Lebensbewältigung heute ohne ein gewisses Maß an technischem, institutionellem, politischem, wirtschaftlichem Wissen, das aber nur noch begrenzt anschaulich werden kann, nicht mehr denkbar, demzufolge weitet sich der Informationshorizont aus. Zudem hat die veränderte Struktur der Informationsmittel neue Probleme geschaffen: Vom gedruckten Wort der Presse gehen andere Wirkungen aus als von den traditionellen Druckerzeugnissen, erst recht von Rundfunk, Fernsehen und Film. Wo rationale Orientierung nötig wäre, wird die Information häufig begleitet von einer nur schwer kontrollierbaren Mobilisierung der Emotionen; damit wird gerade das erschwert, was doch erreicht werden sollte. Die pädagogischen Probleme liegen nicht nur in der Erweiterung der Information, sondern auch in der Aufnahme der neuen Informationsmittel in den Erziehungsprozeß.
[012:17] Die pädagogische Analyse der Gesellschaft führt zu einigen pädagogischen Postulaten, über die – trotz aller Verschiedenheit der Positionen – weitgehend Einigkeit besteht: Sicherung des pädagogischen Raumes gegen die entfremdenden Zugriffe, Sicherung der Beweglichkeit und der Variations- und Experimentiermöglichkeiten in diesem Raume; Durchlässigkeit seiner Grenzen für vorwegnehmende Ernsterfahrungen; Erziehung zur Selbsttätigkeit, zur Wahlfähigkeit und zur Konfliktbewältigung; |b 109|vielfältige Information und Aufklärung, Erziehung zum kritischen Umgang mit den Informationsmitteln (→ politische Bildung); erhöhte Information und Aufklärung auch der erziehenden Generation im Hinblick auf die Probleme der Erziehungsaufgabe.
[012:18] Trotz der Plausibilität dieser Postulate hat aber die moderne Gesellschaft in ihren Mitgliedern eine hohe Erziehungsunsicherheit erzeugt. Wo bürgerliche Familien noch die Normensicherheit einer patriarchalischen Erziehung bewahren, handelt es sich um ein Nachhinken in der gesellschaftlichen Entwicklung, und es kann hier eine Lösung des Problems kaum erhofft werden, ebensowenig wie von der pädagogischen Resignation, die in
angepaßteren
Familien herrscht. Die pluralistische Struktur der modernen Gesellschaft offenbart sich hier in einem praktisch-pädagogischen Debakel, das nur durch die Erziehungspraxis selbst, durch eine Entscheidungen wagende und sich der Kritik stellende Autorität der Erziehenden zu überwinden möglich scheint (→ Erziehungb).
[012:19] Sozialvorstellungen der Pädagogik. Sofern die Pädagogik eine eigene kritische Sicht auf die Gesellschaft ausgebildet hat, ist sie |a1 a2 111|damit doch nicht frei von vorwissenschaftlichen sozialtheoretischen Elementen und Entscheidungen. Das gilt sowohl für die Praxis wie für die wissenschaftliche Theorie. Schon die Basis ihrer Kritik, der mündige Mensch – in einem demokratisch organisierten Gemeinwesen bzw. einer technischen Zivilisation –, enthält eine solche Vorentscheidung. Viele pädagogische Institutionen, Theorien, Begriffe und Modelle unterscheiden sich deshalb nicht nur durch die angewandte Methode, unterschiedliche Akzente, unterschiedliche Kategorien, sondern durch die Verschiedenheit der Sozialvorstellungen, die sie enthalten. Diese Eigentümlichkeit hat ihren Grund in der Sache: Erziehung konstituiert immer auch ein soziales Verhältnis bzw. geschieht in vorgegebenen Sozialverhältnissen; ihre soziale Form ist nicht nur eine Bedingung ihrer Verwirklichung, sondern auch eine Bedingung ihrer Theorie, sofern diese Theorie zu Entwürfen für die Erziehungspraxis führen und eine Kritik der Wirklichkeit leisten soll.
[012:20] In der Praxis tauchen diese Sozialvorstellungen als Selbstauslegung der Erziehenden oder indirekt als Methoden, Organisationsformen, Erziehungsstile, Bildungspläne auf. So werden in gruppenunterrichtlichen Verfahren – pädagogisch die spätere soziale Wirklichkeit vorwegnehmend – andere gesellschaftliche Praktiken eingeübt als im Frontalunterricht. Die |b 110|Forderung einer 6jährigen Grundschule z. B. enthält eine von den Verfechtern der 4jährigen Grundschule abweichende Vorstellung über die Probleme der sozialen Schichtung. Auch der angestrebte Grad von Intimität einer
Klassengemeinschaft
oder
Schulgemeinde
eine musisch oder pragmatisch orientierte Unterrichtsarbeit, die Zusammenstellung eines Lesebuchesb enthalten gesellschaftliche Leitbilder und politische Entscheidungen. Solche Leitbilder und Entscheidungen sind der Erziehung als einem sozialen Geschehen strukturimmanent.
[012:21] Aufgabe der Erziehungswissenschaft ist es, diese Abhängigkeiten aufzudecken, in das Bewußtsein zu heben und nach Maßgabe des Mündigkeitsprinzips zu kritisieren. Dabei unterlaufen auch ihr immer wieder jene vorwissenschaftlichen Meinungen, zu deren Aufklärung und Kritik sie sich berufen fühlt. Die Konzeption einer
autonomen
Erziehung und z. B. der ihr entsprechenden Theorie, aus dem gesellschaftlichen Streit der Meinungen und Konfessionen geboren, dachte – in der Kritik gegen eine unbehagliche Gegenwart – das pädagogisch
Richtige
und
Eigentliche
im Zusammenhang mit einer vorgestellten idealliberalen Gesellschaftsverfassung.
[012:22] Das Verständnis der Erziehung als eines geschichtlichen Phänomens (→ Historische Pädagogik) veranlaßt die Erziehungswissenschaft, die Ursprünge der gegenwärtigen Erziehungssituation |a1 a2 112|und ihrer Auslegung aufzusuchen, die in der Gegenwart gültigen Traditionen zu bestimmen. Da die so aufgewiesenen Ursprünge nicht nur die Erziehungsarbeit, sondern auch die Gesellschaft im ganzen betreffen, gehen auch an dieser Stelle sozialtheoretische Vorentscheidungen in die wissenschaftliche Theorie von der Erziehung mit ein; so etwa, wenn die mit der Aufklärung in die Gesellschafts- und Erziehungspraxis eingedrungene Rationalität nicht in die Reihe verbindlicher Traditionen mit aufgenommen wird oder andererseits bestimmte Merkmale der industriellen oder demokratischen Gesellschaft zur alleinigen Basis für die Konstruktion einer Erziehungstheorie gewählt werden. – Sind in diesen Fällen die Sozialvorstellungen verdeckt und schwer zu erkennen, so liegen sie offen zutage in jenen Systemen, die in ausdrücklicher Bindung an bestimmte Soziallehren – etwa der Kirchen oder Parteien – entwickelt werden. Sie kennzeichnen in Systemen jeder Art nicht nur häufig deren Ansatz, sondern kehren in den Problemen und expliziten Begriffen wieder; so in den Urteilen über den pluralistischen Charakter der modernen Industriegesellschaft, in den Ausdeutungen der pädagogischen Autorität, in den Konzeptionen des
»pädagogischen Bezuges«
und der |b 111|
»Erziehungsgemeinschaft«
, der Schule als einer vor der Gesellschaft verschlossenen oder ihr gegenüber offenen Institution. Sowenig die Erziehungswissenschaft solche Vorentscheidungen vermeiden kann, sosehr ist sie doch gehalten, diese der Kritik zugänglich zu machen. Diese besondere, durch den Gegenstand
Erziehung
gebotene Verschränkung macht es erforderlich, daß die Erziehungswissenschaft die wissenssoziologische Frage an sich selbst in ihre Forschung mit aufnimmt.b
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    [012:23] Brezinka, W. Erziehung als Lebenshilfe. 1957
    [012:24] Flitner, A. Soziologische Jugendforschung. 1963
    [012:25] Heitger, M. Bildung und moderne Gesellschaft. 1963
    [012:33] Mannheim, K. Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus. 5. Aufl. 1958
    [012:34] Mitscherlich, A. Auf dem Wege zur vaterlosen Gesellschaft. 1963
    [012:35] Muchow, H. H. Sexualreife und Sexualstruktur der Jugend. 1959
    [012:36] Roessler, W. Jugend im Erziehungsfeld. 1957
    [012:37] Schelsky, H. Schule und Erziehung in der industriellen Gesellschaft. 3. Aufl. 1961
    [012:38] Tenbruck, F. H. Jugend und Gesellschaft. 1962
b
Zur Geschichte des Problems.
b
Pädagogik
b
»pädagogischer Theorie«
b
ø
b
,
b
idealen Postulaten oder sozialen Rechtfertigungs-Systemen
b
Platon
b
Morus
b
Campanella
b
Erziehung
b
eher
b
»eigene«
Sicht
b
Erziehungstheorie
b
vom menschenwürdigen
b
»natürlichen«
b
» Mündigkeit «
b
»Humanität«
b
»Bildung«
b
in
»pädagogischer Sicht«
b
Rousseau
b
Bildungstheorie
b
liberalen-demokratischen
b
deren systematischen Zusammenhang und
b
Kultur
b
ø
b
und durch den das bürgerlich-liberale Postulat realisiert werden soll. Am radikalsten wurde dieser Ansatz von Fichte vorgetragen.
b
diese Intentionen
b
– zunächst als Eingrenzung der liberalen Positionen im Bildungswesen, später als offen pädagogischer Klassenkampf
»von oben«
b
aus dem Kontext der Geschichte der bürgerlichen Klassengesellschaft interpretiert werden
b
[012:3a] Die Lage der Erziehungstheorie änderte sich prinzipiell mit J. J. Rousseau. Er unterzieht im Namen der Erziehung, d. h. eines Begriffs vom menschenwürdigen Heranwachsen, die Gesellschaft und ihre Institutionen der Kritik. Aufschluß über das, was der Mensch zum Erwachsenwerden braucht, erhofft man sich jetzt nicht mehr von der gesellschaftlichen Konvention oder einem vorgegebenen (philosophischen) System, sondern von der Analyse der
»natürlichen«
Entwicklung, von dem an solcher Entwicklung orientierten pädagogischen Umgang mit dem Kinde, von der Einsicht in die mit den pädagogischen Begriffen
» Mündigkeit «
,
»Humanität«
oder
»Bildung«
erfaßten Phänomene. So erscheint die Gesellschaft erstmalig in
»pädagogischer Sicht«
:
[012:3b] Rousseau kritisiert die naturfremde und erziehungsfeindliche Rokoko-Gesellschaft; Pestalozzi befragt die einfachen und elementaren sozialen Institutionen auf ihren pädagogischen Sinn und Wert; Humboldts Konzeption der |b 101|Bildungstheorie ist gegen den absolutistischen Staat gerichtet und enthält bereits Elemente einer liberalen-demokratischen Erziehungstheorie; diese treten bei Schleiermacher, der deren systematischen Zusammenhang und Gesichtspunkte zur pädagogischen Beurteilung der Gesellschaft entwickelt, noch deutlicher hervor. Im Funktionszusammenhang der Kultur ist die Pädagogik ein Bereich eigener Dignität, der von sich aus Fragen an die Gesellschaft zu stellen imstande ist und durch den das bürgerlich-liberale Postulat realisiert werden soll. Am radikalsten wurde dieser Ansatz von Fichte vorgetragen. Die Versuche, diese Intentionen wieder aufzuheben, an denen es im 19. und 20. Jh. – zunächst als Eingrenzung der liberalen Positionen im Bildungswesen, später als offen pädagogischer Klassenkampf
»von oben«
nicht fehlt, müssen aus dem Kontext der Geschichte der bürgerlichen Klassengesellschaft interpretiert werden.
b
Die Aspekte des Problems.
b
»Bildungswert«
b
Mündigkeit
b
Postulats
b
Pädagogik
b
Ein anderer Fall von Ideologisierung der Kate|b 102|gorie
»Bildungswert«
liegt in der Struktur des Erziehungssystems selbst vor, in der tendenziellen Subsumption des
»Bildungswertes«
unter die Wertgesetze und Wertnormen der kapitalistischen Tauschgesellschaft; was für die Bildung wertvoll ist, bestimmt sich dann nicht mehr an den kritischen Fragen an diese Gesellschaft, sondern nur noch von ihren ökonomischen Verwertungsinteressen her.
b
explizit
b
deshalb
b
»mündige Gesellschaft«
b
Pädagogik,
b
denjenigen Kategorien, mit denen Vorgänge realer Emanzipation in bestimmten historischen Lagen gefaßt werden müssen. Zur Zeit der bürgerlichen Revolution waren das im Kontext pädagogischer Theorie die Begriffe
»Individualität«
und
»Selbsttätigkeit«
.
b
ihnen
b
Aufklärung
b
»Innerlichkeit«
b
Können
b
Erziehung
b
– ihrem möglichen Begriffe nach –
b
ø
b
Kultur
b
»dynamischen«
Gesellschaft
b
pädagogischer Reform
b
Gesellschaftsreform
b
, zwischen der politischen Emanzipation gesellschaftlicher Gruppen und der Emanzipation der Individuen im Bildungsprozeß.
b
Rousseau
b
Contrat
b
Fichte
b
preußische Schulreform
b
; diese ist durch ihr Scheitern aber zugleich auch ein Beispiel für die Ohnmacht liberal-pädagogischer Theorien angesichts politischer Entwicklungen, die, da in ihnen politische Emanzipation verhindert wurde, auch die pädagogische nicht zulassen konnte.
b
So
b
entschiedene Schulreform und Einheitsschule, sozialistische Reformbewegung
b
»Richtigen«
b
»Besseren«
b
»Richtigen«
b
politischen Bildung
b
ø
b
»Bewältigung der Vergangenheit«
b
, oder wenn die pädagogischen Institutionen den Erwerb politisch-kritischer Kenntnisse verhindern oder erschweren.
b
»richtigen«
b
»besserer«
b
»pädagogisch Richtige«
b
[012:6a] Wenn die Pädagogik nicht nur den Vorgang kontinuierlicher Tradierung der Kultur zu sichern, sondern auch die Fähigkeit, diese Kultur zu verändern, zu entwickeln hat, dann ist sie – der Möglichkeit nach – ein produktiver Faktor innerhalb einer
»dynamischen«
Gesellschaft
. Sie hat nicht nur teil am gesellschaftlichen Fortschritt, sondern ist für ihn mitverantwortlich. Es ergibt sich damit ein Zusammenhang zwischen pädagogischer Reform und Gesellschaftsreform, zwischen der politischen Emanzipation gesellschaftlicher Gruppen und der Emanzipation der Individuen im Bildungsprozeß.
[012:6b] Pädagogische Reform-Theorien holen seit Rousseau (Emile und Contrat social) und Fichte (Reden an die Deutsche Nation) nicht mehr nur auf dem Felde der Erziehung Entwicklungen nach, die andere Bereiche der Gesellschaft schon durchlaufen haben, sondern entwickeln zugleich mit ihren Erziehungsprogrammen vorwegnehmende gesellschaftliche und |b 103|politische Ideen. Das eindrucksvollste Beispiel dafür ist die preußische Schulreform zu Beginn des 19. Jhs.; diese ist durch ihr Scheitern aber zugleich auch ein Beispiel für die Ohnmacht liberal-pädagogischer Theorien angesichts politischer Entwicklungen, die, da in ihnen politische Emanzipation verhindert wurde, auch die pädagogische nicht zulassen konnte. So bleibt für viele Orte der Pädagogik richtig, was F. Paulsen meinte, daß nämlich die Pädagogik, trotz des progressiven Selbstverständnisses ihrer Theorie, in der Regel dem gesellschaftlichen Wandel nachhinke. Die → Schule als eine Stätte kultureller Tradition erschwert zumindest ein beständiges, mit den gesellschaftlichen Veränderungen Schritt haltendes Umstellen und befördert das Festhalten an älteren Gesellschaftsvorstellungen, wenngleich Gegenbeispiele nicht selten sind (entschiedene Schulreform und Einheitsschule, sozialistische Reformbewegung, Landerziehungsheime im ersten Drittel unseres Jahrhunderts). Abgesehen hiervon besteht eine positive Korrelation zwischen dem pädagogisch
»Richtigen«
und dem gesellschaftlich
»Besseren«
, und zwar insofern, als die Realisierung des pädagogisch
»Richtigen«
gesellschaftliche Bedingungen voraussetzt, die sie ermöglichen. Dieser Zusammenhang tritt in Geschichte und Problem der politischen Bildung besonders deutlich hervor. Sie droht fruchtlos zu bleiben, wenn der Stil politischer Auseinandersetzungen sie nicht stützt, d. h. wenn die Anschauung, die der politische Umgang der Erwachsenen miteinander für die Jugend darstellt, den Forderungen nicht entspricht, die in der politischen Bildung gestellt werden (z. B. die sog.
»Bewältigung der Vergangenheit«
), oder wenn die pädagogischen Institutionen den Erwerb politisch-kritischer Kenntnisse verhindern oder erschweren. Zudem wird, besonders durch die modernen Informationsmethoden (Massenmedien), die außerpädagogische gesellschaftliche Realität immer stärker zu einem unmittelbaren Erziehungsfaktor, so daß schon aus diesem Grunde der Begriff einer
»richtigen«
Erziehung nicht mehr ohne den Begriff
»besserer«
gesellschaftlicher Bedingungen gedacht werden kann. Das
»pädagogisch Richtige«
erweist sich also als ein Begriff von hoher gesellschaftlicher und politischer Aktualität, der allerdings gerade deshalb zur Ideologie hin abgleiten kann.
b
Pädagogik
b
Pestalozzis
b
Humboldts
b
Schleiermachers
b
, wurde nach dem Ersten Weltkrieg vor allem von S. Bernfeld geleistet und stellt heute, auf den gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext bezogen, die wichtigste Aufgabe der Erziehungswissenschaft dar
b
Pädagogische Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft.
b
Familie in pädagogischer Sicht
b
Begriffs
b
ø
b
etwa
b
ø
b
»schlechter«
b
Immer
b
»Ernst«
b
ø
b
Merkmale
b
Industrialisierung
b
Demokratisierung
b
Strzelewicz
b
Verstädterung, Leistungsgesellschaft, Mobilität
b
die Heterogenität der sozialen Handlungsfelder
b
sind
b
die
b
die
b
strukturieren
b
Dualismus von Arbeit und Freizeit
b
Familie
b
Jugend
b
(→ Freizeitpädagogik)
b
[012:10-11] In der pädagogischen Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft erscheint diese daher als Komplex besonderer Chancen des |b 105|Mündigwerdens wie auch als Gefährdung und Bedrohung der pädagogischen Aufgabe (→ Sozialpädagogik). Die Merkmale der modernen Gesellschaft, auf die auch die pädagogische Analyse allenthalben trifft, lassen sich in den beiden Begriffen Industrialisierung und Demokratisierung (Strzelewicz ) zusammenfassend formulieren. Im einzelnen bedeutet das: Verstädterung, Leistungsgesellschaft, Mobilität, Konfliktreichtum und Ausweitung des Informationshorizontes. Durch alles hindurch zieht sich die Heterogenität der sozialen Handlungsfelder. Neben dem Pluralismus der Konfessionen, Weltanschauungen und Ideologien sind es vor allem die sozialen Rollen, die das Feld strukturieren, in dem die Erziehung geschieht. Und hierin wiederum wirft allem Anschein nach nicht das konfliktreiche Nebeneinander von Berufs-, Familien-, Konfessions-Rolle, sondern der Dualismus von Arbeit und Freizeit die am schwersten wiegenden Fragen auf. Das gilt besonders, seit die Familie keine verläßliche Vermittlerfunktion zwischen beiden Bereichen mehr ausübt; die Jugend entzieht sich in der Freizeit der Familie und bildet eigene, nicht mehr familienorientierte Verhaltensweisen und Institutionen aus (Film, Party, Diskussion, Jugendtourismus), andererseits dringen die Konsumgüter der Freizeit (Presse, Rundfunk, Fernsehen, Ferienindustrie) in die Familien ein und modifizieren dort das Verhalten (→ Freizeitpädagogik).
b
der letzten 150 Jahre
b
des
b
Öffentlichkeit
b
Gehlen
b
Leistungsfähigkeit
b
Individualität
b
Chancengleichheit
b
Leistung wird damit zur entscheidenden Transmissionskategorie, durch die ökonomische Qualifikationserwartungen eher als Prinzipien sozialer Gerechtigkeit in das pädagogische Feld hineingetragen werden.
b
Zweiten
b
Mehrwert-
b
, die über den Verbrauch Bedürfnisse produziert, absorbiert und ideologisiert.
b
, und zwar sowohl über die Prestige-Erwartungen der Erziehenden wie auch unmittelbar.
b
Entfremdung
b
Mündigkeit
b
und Interessen
b
Die Freiheit der Wahl ist größer geworden
b
Das alles jedoch gilt nur komparativ, als Veränderung im geschichtlichen Verlauf. Nach wie vor sind die Unterschiede in den Mobilitätschancen beträchtlich. Nur ein sehr kleiner Teil der Arbeiterschicht hat tatsächlich einen Lebens- und Entscheidungsspielraum, der dem bürgerlich-mittelständischen auch nur annähernd vergleichbar wäre. Es ist aber dieser Konflikt und nicht die angebliche Tatsache großer Mobilitätschancen, der den Keim der pädagogischen Problematik ausmacht.
b
Annäherung der
b
Bildungschancen
b
Es zeigt sich aber, daß durch die in ihrer Art unverminderten Antagonismen, insbesondere von Anspruch und Wirklichkeit, Herrschaftsverhältnisse sich fortsetzen, Ungleichheiten offensichtlich werden, Toleranzgrenzen des gesellschaftlichen Systems massiv zum Vorschein
b
,
b
, politisch-pädadagogische Haltungen und kritische Theoreme.
b
Dahrendorf
b
ø
b
, und das heißt zunächst einmal die Thematisierung,
b
bzw. auf konfliktreiche Auseinandersetzungen nicht vorbereitet
b
erwachsene
b
politische Bildung
b
[012:15a] Das alles jedoch gilt nur komparativ, als Veränderung im geschichtlichen Verlauf. Nach wie vor sind die Unterschiede in den Mobilitätschancen beträchtlich. Nur ein sehr kleiner Teil der Arbeiterschicht hat tatsächlich einen Lebens- und Entscheidungsspielraum, der dem bürgerlich-mittelständischen auch nur annähernd vergleichbar wäre. Es ist aber dieser Konflikt und nicht die angebliche Tatsache großer Mobilitätschancen, der den Keim der pädagogischen Problematik ausmacht.
[012:15b] Zunächst scheint die Nivellierungstendenz der modernen Gesellschaft durch Annäherung der oberen und unteren Einkommensgrenzen, Angleichung des Konsums der verschiedenen sozialen Schichten, Annäherung der Bildungschancen usw. die Konflikte zu vermindern. Es zeigt sich aber, daß durch die in ihrer Art unverminderten Antagonismen, insbesondere von Anspruch und Wirklichkeit, Herrschaftsverhältnisse sich fortsetzen, Ungleichheiten offensichtlich werden, Toleranzgrenzen des gesellschaftlichen Systems massiv zum Vorschein kommen, und dies im Hinblick sowohl auf die Unterschiede der sozialen Positionen wie auch auf die der Ideologien, Weltanschauungen, politisch-pädadagogische Haltungen und kritische Theoreme. Wenn es auch richtig sein mag, daß konfliktfreie Gesellschaften nicht möglich sind (Dahrendorf ), so ist doch die Anzahl der Konfliktmöglichkeiten in der modernen Gesellschaft erheblich und für die Lebensführung des einzelnen merklich angestiegen. Die Konflikte jedoch lassen sich nicht eliminieren, höchstens unterdrücken. Einer sich demokratisch verstehenden Gesellschaft aber muß alles daran gelegen sein, sie auszutragen. Die pädagogische Kritik kann deshalb nicht gegen diese Konflikte polemisieren, sondern trägt die Verantwortung dafür, daß die heranwachsende Generation die |b 108|Bewältigung von sozialen Konflikten, und das heißt zunächst einmal die Thematisierung, erlernt; ihre Kritik richtet sich gegen die Unterdrückung von Konflikten durch bestimmte gesellschaftliche Praktiken. Die Schwierigkeit, vor der die Erziehungspraxis steht, liegt darin, daß die traditionellen Erziehungsräume → Familie und → Schule relativ konfliktarm bzw. auf konfliktreiche Auseinandersetzungen nicht vorbereitet sind. Sie können deshalb nur begrenzt Fähigkeiten hervorbringen, die erst die gesellschaftliche Ernstsituation auszeichnen. Um so wichtiger werden die indirekten Erziehungswirkungen, die beispielsweise von dem Stil ausgehen, in dem die erwachsene Generation politische Konflikte austrägt. Besonders die politische Bildung ist weitgehend von solchen Einflüssen abhängig. Es ist deshalb legitim, wenn die Pädagogik im Namen einer vernünftigen Erziehung nicht nur die industriellen und kommerziellen, sondern auch die politischen Usancen der Gesellschaft einer Kritik unterzieht.
b
weitet sich der Informationshorizont aus
b
Informationsmittel
b
Selbsttätigkeit
b
Wahlfähigkeit
b
Konfliktbewältigung
b
Politische
b
, Erziehung zur Fähigkeit eines reflektierten, aber parteinehmenden politischen Handelns in Richtung auf Abbau und Kontrolle von Herrschaft.
b
»angepaßteren«
b
Die Antagonismen der kapitalistischen Gesellschaft offenbaren
b
ein Entscheidungen wagendes, experimentierendes und sich der Kritik stellendes Erziehungshandeln
b
, Theorie der Erziehung
b
[012:17-18] Die pädagogische Analyse der Gesellschaft führt zu einigen pädagogischen Postulaten, über die – trotz aller Verschiedenheit der Positionen – weitgehend Einigkeit besteht: Sicherung des pädagogischen Raumes gegen die entfremdenden Zugriffe, Sicherung der Beweglichkeit und der Variations- und Experimentiermöglichkeiten in diesem Raume; Durchlässigkeit seiner Grenzen für vorwegnehmende Ernsterfahrungen; Erziehung zur Selbsttätigkeit, zur Wahlfähigkeit und zur Konfliktbewältigung; |b 109|vielfältige Information und Aufklärung, Erziehung zum kritischen Umgang mit den Informationsmitteln (→ Politische Bildung); erhöhte Information und Aufklärung auch der erziehenden Generation im Hinblick auf die Probleme der Erziehungsaufgabe, Erziehung zur Fähigkeit eines reflektierten, aber parteinehmenden politischen Handelns in Richtung auf Abbau und Kontrolle von Herrschaft. Trotz der Plausibilität dieser Postulate hat aber die moderne Gesellschaft in ihren Mitgliedern eine hohe Erziehungsunsicherheit erzeugt. Wo bürgerliche Familien noch die Normensicherheit einer patriarchalischen Erziehung bewahren, handelt es sich um ein Nachhinken in der gesellschaftlichen Entwicklung, und es kann hier eine Lösung des Problems kaum erhofft werden, ebensowenig wie von der pädagogischen Resignation, die in
»angepaßteren«
Familien herrscht. Die Antagonismen der kapitalistischen Gesellschaft offenbaren sich hier in einem praktisch-pädagogischen Debakel, das nur durch die Erziehungspraxis selbst, durch ein Entscheidungen wagendes, experimentierendes und sich der Kritik stellendes Erziehungshandeln zu überwinden möglich scheint (→ Erziehung, Theorie der Erziehung).
b
Sozialvorstellungen der Pädagogik.
b
angewandten Methoden
b
integrierten Gesamtschule
b
einer vertikalen Gliederung des Bildungssystems
b
»Klassengemeinschaft«
b
»Schulgemeinde«
b
, die Konzepte einer proletarisch-solidarischen Erziehungspraxis
b
»autonomen«
b
»Richtige«
b
»Eigentliche«
b
ø
b
Aufklärung
b
Kirchen
b
Parteien
b
Schule
b
ø
b
»Erziehung«
b
interessenkritische
b
Es gehört damit konstitutiv zu ihrer Aufgabe, nach der gesellschaftlichen Funktion ihrer Begriffe, Modelle und Theoreme zu fragen und deren Ort – dem kritischen Prinzip folgend, nach dem sie begonnen hat – im Prozeß der politischen Emanzipation zu bestimmen.
a2
und
b
[012:26] Bernfeld, S. Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. 1925.
[012:27] Bourdieu, P. u. J.-C. Passeron. Die Illusion der Chancengleichheit. 1971.
[012:28] Friedeburg, L. v. (Hrsg.) Jugend in der modernen Gesellschaft. 1965.
[012:29] Goldschmidt, D. u. a. Erziehungswissenschaft als Gesellschaftswissenschaft. 1969.
[012:30] Habermas, J. Theorie und Praxis. 1971.
[012:31] Hentig, H. v. Spielraum und Ernstfall. 1969.
[012:32] Illich, I. Entschulung der Gesellschaft. 1970.
a2
Sozialstruktur
b
[012:39] Mollenhauer, K. Erziehung und Emanzipation. 5. Aufl. 1971.
[012:40] Theorien zum Erziehungsprozeß. 1972.
[012:41] Deutscher Bildungsrat. Strukturplan für das Bildungswesen. 1970.
[012:42] Ortmann, H. Arbeiterfamilie und sozialer Aufstieg. 1971.
[012:43] Roeder, P. M. Erziehung und Gesellschaft. 1968.
[012:44] Vogel, M. R. Erziehung im Gesellschaftssystem. 1970.