Bewertung und Kontrolle abweichenden Verhaltens – Aporien bürgerlich-liberaler Pädagogik [Textkritische interaktive Ansicht mit a als Leittext]
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CD1D2Bewertung und Kontrolle abweichenden Verhaltens – Aporien bürgerlich-liberaler Pädagogikb

(Unbearbeitete Fassung der Antrittsvorlesung an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am 26. 1. 1970)

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[044:1] In einer kürzlich erschienenen Untersuchung zu Fragen der Erziehung jugendlicher Strafgefangener im nordrhein-westfälischen Jugendstrafvollzug heißt es:
»Die soziale Integration jugendlicher Rechtsbrecher hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn es der Erziehung im Jugendstrafvollzug gelingt, sie vor ihrer Entlassung zu re-individualisieren, d. h. sie aus allen Gruppenzwängen zu befreien und sie in ihr Recht als eigenverantwortliche Persönlichkeiten einzusetzen.«
1
|b 22|1G. Deimling: Theorie und Praxis des Jugendstrafvollzugs aus pädagogischer Sicht. Darmstadt/Berlin 1969, S. 296.
Es heißt weiter, der Jugendliche
»erkennt rückblickend, daß seine Straftat das Ergebnis einer vielleicht unbeabsichtigten, jedenfalls aber von ihm nicht verantworteten Anpassung an Gruppenzwänge ist, die die Freientwicklung seiner Person behindert, und er entdeckt schließlich, daß sich hinter dem vermeintlichen Nonkonformismus seines ehemals abweichenden Verhaltens eine besondere Art des Konformismus verbirgt«
.
[044:2] In diesen Sätzen kommt ein bemerkenswertes Mißverständnis zum Ausdruck: abweichendes Verhalten, in diesem Fall von der Art der Jugend-Delinquenz, wird als Konformismus bestimmt, als zwanghafte Unterwerfung unter Gruppennormen – und die pädagogische Perspektive ergibt sich aus der Orientierung am Individualitätsbegriff. Darin steckt – so müssen wir interpretieren – die empirische Annah|D2 133|me, daß für jugendliche Delinquenten die individualistische Orientierung nicht nur ein pädagogisch zweckmäßiges Mittel der sogenannten Resozialisierung ist, sondern zugleich eine realistische Chance späterer Lebensbewältigung darstellt. Nun gibt es freilich Theorien, die wenigstens die eine Hälfte der Annahme nahelegen, nämlich daß das
»Verlernen«
von kriminellem Verhalten damit zusammenhängt, daß D2der Jugendliche sich aus dem Orientierungshorizont gruppenspezifischer krimineller Normen löst; diese |C D1 130|Theorien aber versuchen explizit nur die Entstehung von Jugendkriminalität zu erklären, nicht aber die Wirkung pädagogisch korrigierender Kontrollen. Indessen ist es nicht diese Ungenauigkeit und nicht hinreichend begründete Hoffnung des Verfassers, die hier besonders be|b 8|merkenswert wäre, |a 242|sondern vielmehr die Tatsache, daß es sich um ein systematisch erzeugtes Mißverständnis handelt, das an Entscheidungen hängt, welche vor der Wahl empirisch erklärender Theorien den Erkenntnisgang bestimmen: es handelt sich um ein Stereotyp bürgerlich-liberaler Pädagogik.
[044:3] Die zitierten Sätze also, so lautet meine These, sind nicht zufällige Einzelerscheinungen in einer Spezial-Untersuchung, sondern sie enthalten das Interpretationsmuster, nach dem innerhalb der deutschen Pädagogik verfahren wird, wenn Phänomene abweichenden Verhaltens, hier auf der Skala zwischen
»Verwahrlosung«
und
»Kriminalität«
, zum wissenschaftlichen und praktischen Gegenstand werden. Dieses Interpretationsmuster ist nicht erst neuester Herkunft; es hat seine Geschichte, die die Geschichte der Pädagogik in der bürgerlichen Gesellschaft von Rousseau bis auf unsere Tage ist. Es ist liberal, da es jener Reihe von Erziehungstheorien zugehört, die sich nicht ausdrücklich der Befestigung bestehender Herrschaftsverhältnisse und Ungleichheiten verschrieben haben, sondern die an deren Aufhebung interessiert sind.

I.

[044:4] Der Ausgangspunkt dieses erziehungstheoretischen Denkens kann in der Entgegensetzung von pädagogischen Normen einerseits und den in der Gesellschaft tatsächlich geltenden CD1D2andererseits gesehen werden2
|b 22|2Vgl. dazu Roeder: Erziehung und Gesellschaft. Ein Beitrag zur Problemgeschichte unter besonderer Berücksichtigung des Werkes von Lorenz von Stein. Weinheim/Berlin 1968, S. 313 f.
.
|D2 134|
[044:5] Die völlige und utopische Isolierung des
»Emile«
ist die nachdrücklichste Darstellung dieses Problems. In seiner gesellschaftlichen Existenz tritt der homme dem citoyen gegenüber, ein Widerspruch, der sich in der Reflexion auf seine Bedingungen als Entfremdung darstellt.
»Wer in der bürgerlichen Ordnung den Naturgefühlen den Vorrang einräumen will, der weiß nichtbD2 was er will. Stets im |C D1 131|Widerspruch mit sich selbst ... wird er nie ein echter Mensch noch ein echter Bürger sein.«
3
|b 22|3
J. J. Rousseau: Emil oder über die Erziehung. Aus dem Französischen übersetzt von H. Denhardt. Leipzig o. J., S. 20.
Vgl. dazu auch die Interpretation in M. Rang: Rousseaus Lehre vom Menschen. Göttingen 1959, S. 34.
[044:6] Vor dem Hintergrund eines so formulierten Grundwiderspruchs erscheinen die speziellen pädagogischen Probleme, die sich auf Phänomene abweichenden Verhaltens beziehen, marginal. Aber hätte nicht dennoch der Anfang vielversprechend sein können, da doch die Verschränkung von
»Natur«
und
»Ge|a 243|sellschaft«
und die Auffassung des Erziehungsvorganges in Kategorien der Entfremdung wenigstens formal ein Verständnis dissozial-abweichenden Verhaltens im Zusammenhang seiner gesellschaftlichen Genese zuläßt? An Schleiermacher, der versucht hat, politisch-soziale Elemente ausdrücklich seinem systematischen Erziehungsdenken zu integrieren4
|b 22|4Vgl. dazu P. M. Roeder, a. a. O., S. 105 ff.
, zeigt sich, warum |b 9|eine solche Vermutung nicht viel für sich hat: Die Analyse der Erziehungsvorgänge ist nämlich eine Analyse derjenigen Probleme, vor denen das Bürgertum im Augenblick seiner Emanzipation steht. In der Erziehungstheorie Schleiermachers bedeutet das zweierlei:
[044:7] 1. Ein Schlüsselproblem für die auf die aktuelle Erziehungssituation sich richtende Kritik ist die Funktion der aristokratischen Herrschaftseliten. Ihnen gegenüber wird die bürgerliche Gesellschaft als ein Ganzes gesehen, dessen Selbständigkeit als die Selbständigkeit ihrer Individuen sich nur im Abbau jener Herrschaftsansprüche entfalten kann. Entfremdung ist demnach jene pädagogische Heteronomie zu nennen, die – vermittelt durch die staatlich repräsentierten pädagogischen Herrschaftansprüche jener |D2 135|Eliten – den Bürger an der Entfaltung seiner Individualität hindert.
»Wenn die Staatsregierung meint, daß die politische Gesinnung nur bei wenigen zu sein brauche, und daß die Masse gewöhnt werden müsse, diesen mechanisch zu folgen, d. h. wenn die Regierung vorherrschend aristokratisch ist, so ist natürlich, daß sie sich auch darum, ob in der Masse politische Gesinnung entwickelt werde oder nicht, gar nicht bekümmert. Wenn sie von diesem Gesichtspunkt ausgeht, so ist auch natürlich, daß die Idee die sein muß, daß die Regierung in den Händen jener kleinen Anzahl bleibe, sei diese nun durch die Geburt bestimmt oder anderswie; dann aber liegt |C D1 132|darin allzu leicht ein Bestreben, die Masse zu hindern, daß nicht etwa das jüngere Geschlecht mit einer solchen Gesinnung bekannt gemacht werde und zu solchen Fertigkeiten gelange, die zum Herrschen tüchtig machen. Es wird also die Absicht der Regierung sein, die Masse bloß auf der Stufe mechanischer Fertigkeiten festzuhalten.«
5
|b 22| 5
Fr. Schleiermacher: Pädagogische Schriften Bd. I, Vorlesungen aus dem Jahre 1826, hrsg. von E. Weniger, S. 119
, ferner auch Bd. II S. 162 ff.
[044:8] Der Normbegriff von Sozialität, von dem her diese Kritik vorgetragen wird, wird als freie Wechselwirkung der ihre Vernunft entfaltenden bürgerlichen Individuen gedacht. Dissozialität kann deshalb nur erscheinen als Unterdrückung dieser Entfaltung durch politische Institutionen, die der bürgerlichen Gesellschaft entgegenwirken – oder als die Stufe einer überhaupt noch nicht entwickelten bürgerlichen Vernunft bei der
»niedersten Volksklasse«
. Dieser gegenüber wird der herrschaftskritische Gedankengang von Schleiermacher jedoch nicht wiederholt: die
»niederste Volksklasse«
bleibt legitimer|a 244|weise ein Objekt von Bevormundung, zwar nicht durch den Staat, aber durch die bürgerlichen Assoziationen.
[044:9] 2. Da die Gesellschaft als bürgerliche Gesellschaft – wenn auch von Schleiermacher nicht so entschieden behauptet wie von HumboldtD2 – als das pädagogisch herstellbare Produkt der freien Wechselwirkung der Individuen erscheint, kann unter ihren Bedingungen Dissoziali|b 10|tät nur als ein aufzubessernder Mangel erscheinen, der wesentlich das einzelne Individuum betrifft. Die materiellen und damit auch kollektiven Bedingungen solcher |D2 136|Wechselwirkung werden von Schleiermacher nicht diskutiert; im Unterschied zu den pädagogischen Vorstellungen der Frühsozialisten ist die
»soziale Frage«
nicht sein Gegenstand. Insofern, als er nämlich nur einen Teil – den bürgerlichen – der sozialen Realität erfaßt, bleiben auch seine Auffassungsweisen der pädagogischen Realität abstrakt
»in dem doppelten Sinne, daß materielle Momente und die Tatsachen der Herrschaft und des innergesellschaftlichen Konflikts (mit Ausnahme des Konflikts zwischen Adel und Bürgertum, K. M.) weitgehend ausgeklammert sind«
6
|b 22| 6P. M. Roeder, a. a. O., S. 111.
.
[044:10] Pestalozzi scheint in seinem Versuch, die Erziehungssituation der Dissozialen zu begreifen, einen Schritt in der Analyse weitergegan|C D1 133|gen zu sein. Für ihn erscheint die Gruppe der extrem verarmten Abhängigen nicht nur als Modifikation im Rahmen der bürgerlichen Erziehungstheorie mit allgemeinem Anspruch, sondern gleichsam als der Prototyp entfremdeten Daseins. Sie ist ein extremes Exempel für das Fehlen von Freiheit und Gleichheit und deren pädagogische FolgenD27
|b 22|7Vgl. dazu H. Worm: Pestalozzi und Freud. Diss. Frankfurt a.M. 1970.
. So heißt es ironisch in seiner
»Predigt an die Franzosen«
:
»In dieser Welt ist folgen und rechttun Euere Pflicht. Der arme und gemeine Mensch muß auf den Himmel achten ... Ihr solltet hingegen nicht glauben an Freyheit und Gleichheit, denn da sowohl der Himmel als die Hölle royalistisch regiert werden, weder unter den Engeln noch unter den Teufeln keine Freyheit und keine Gleichheit, so begreifet Ihr, daß es für Euch – Ihr möget nun am End in Himmel kommen oder in die Hölle müssen – in allen Fällen besser ist, Ihr gewöhnt Euch in diesem kurzen Aufenthalt in der Welt nicht an eine Ordnung der Dinge, die Euch in Ewigkeit doch nie zuteil wird.«
8
|b 22|8J. H. Pestalozzi: Sämtliche Werke. Hrsg. von bBuchenau u. a., Berlin 1927 ff., Bd. I, S. 45.
[044:11] Das Problem der Dissozialität löst sich für Pestalozzi eben nicht mit den bürgerlichen Freiheiten, wenn nicht zugleich das sozialpolitische Problem der besonderen Lage der untersten Volksklassen in die Überlegungen mit eingeht. Sein Begriff der
»Individuallage«
als eines fundamentalen Aspektes pädago|a 245|gischer Analyse doku|D2 137|mentiert diesen Versuch, noch unterhalb der bürgerlichen Erziehungstheorie gesellschaftspolitische und pädagogische Betrachtungsweise zu vermittelnD2 9
|b 22|9Vgl. dazu P. M. Roeder, a. a. O., S. 327, und H. Worm, a. a. O.
. Es deutet sich darin mindestens die Ahnung an, daß dissoziales Verhalten dort, wo es als Merkmal kollektiver sozial deprivierter Lagen auftaucht, in anderen Kategorien als denen bürgerlicher Pädagogik begriffen werden muß.
[044:12] Indessen ist die deutsche Pädagogik kaum über diese Ahnung hinausgekommen. Zum einen wirkten ihr Vorstellungen entgegen, die von einer naiven Identifikation von
»Verwahrlosung«
und
»Proletariat«
ausgingen, und – in ihrer konservativen Ausprägung – die|b 11|ser sozialen Gruppe im ganzen gegenüber die pädagogische Aufgabe lediglich als Disziplinierungsfunktion bestimmten. Das hat seine Parallele in der auch von Liberalen – z. B. von Humboldt – ausgesprochenen Meinung, daß das Proletariat, da ihm Vernunft und Willen zur Sittlichkeit ohnehin fehlten, notwendig der Reli|C D1 134|gion bedürfe, um überhaupt in die bürgerliche Gesellschaft integriert werden zu können. Zum anderen galten die Wertorientierungen des Bürgertums und damit auch dessen Herrschaftsanspruch derart ungebrochen, daß ein anderer Bezugsrahmen gar nicht auftauchte – wie wir an Schleiermacher gesehen haben.
[044:13] Dieses Verhältnis der bürgerlichen Gesellschaft zu ihren Subgruppen wiederholte sich nun in der pädagogischen Praxis wie in der pädagogischen Theorie: Die Erziehungstheorie befaßte sich im wesentlichen mit den Problemen des Bildungswesens und damit mit der Gesamtbevölkerung nur insofern sie dem bürgerlichen Selbstverständnis integrierbar war. Die pädagogischen Reaktionen auf Dissozialität wurden – wie Schleiermacher empfohlen hatte – den
»bürgerlichen Assoziationen«
, insbesondere aber den Kirchen überlassen. Die in Pestalozzis Begriff der
»Individuallage«
aufgeschienene Ahnung verdämmerte wieder. Es blieb jedoch das Interpretationsmuster, das in seinem bürgerlichen Bestandteil die Re-Integration von abweichenden Individuen in den normativen Horizont der bürgerlichen Gesellschaft betreibt und in seinem libera|D2 138|len diese Aufgabe ausschließlich am Begriff der Individualität orientiert.

II.

[044:14] Die systematische Stilisierung der pädagogischen Probleme, die sich mit den Phänomenen dissozial-abweichenden Verhaltens ergeben und ihre vorgängige Bewertung unter dem Aspekt der bürgerlichen Lebenspraxis wäre nicht derart bemerkenswert, wenn solche Theorien sich nur auf die abweichenden Ju|a 246|gendlichen der bürgerlichen Jugend bezogen hätten. Das war aber und ist nicht der Fall. Nach wie vor entstammen diejenigen Kinder und Jugendlichen, die vorwiegend – im 19. Jahrhundert nahezu ausschließlich – einer resozialisierenden Erziehungspraxis in entsprechenden Institutionen unterworfen werden, den unteren sozialen Schichten. Zwar verfügen wir nicht über eine Gesamtstatistik, die über die soziale Herkunft aller Jugendlichen Auskunft geben könnte, die in der BRD in Erziehungsheimen und Jugendstrafanstalten untergebracht sind; aus vielen Einzeluntersuchungen aber läßt sich erschließen, daß der Anteil der Unterschicht-Jungen auf ca. 75 %, der der Unterschicht-Mädchen auf ca. 80 % geschätzt werden darfD210
|b 22|10Vgl. dazu K. Mollenhauer: Gesellschaftliche Bedingungen der Sozialpädagogik. In: Erziehung und Emanzipation. München CD11970.
.
Das Stereotyp, nach dem im |b 12|19. Jahrhundert Proletarisierung und Verwahrlosung nahezu gleichbedeutend, mindestens aber als unmittelbar zusammenhängend gedacht wurden, ist also nicht schlechterdings falsch. Tatsächlich scheint es so zu sein, daß die Lebensbedingungen der Unterschicht eine Sozialisationspraxis begünstigen, die der Entstehung dissozialer Verhaltensweisen förderlich ist. Bei solcher Formulierung aber ist zu bedenken, daß der Begriff bDissozialität selbst ein Moment von Bewertung enthält, deren Kriterien der betroffenen Bevölkerungsgruppe durchaus fremd sein können. Das gleiche gilt dann auch für die pädagogischen Behandlungsstrategien, die sich an jene Bewertung anschließen und mit ihr begründet werden. Unsere Frage ist, ob die vorherrschen|D2 139|den Bewertungs- und Behandlungsstrategien in Theorie und Praxis geeignet sind, den besonderen Problemen der Dissozialität als eines vorwiegend unterschichtsspezifischen Verhaltenssyndroms angemessen zu begegnen. Meine Antwort und damit zugleich meine zweite These lautet: Das beschriebene, der bürgerlich-liberalen Erziehungstheorie entstammende Interpretationsmuster spielt nach wie vor eine derart dominierende Rolle, daß – am Erfahrungs- und Interpretationshorizont der betroffenen Gruppen, wie auch an der intendierten Effektivität gemessen – die relative Wirkungslosigkeit der einschlägigen pädagogischen Institutionen unter anderem auf dieses Muster zurückgeführt werden muß.
[044:15] Ich werde deshalb im folgenden und im Anschluß an jenes Interpretationsmuster drei Merkmale der pädagogischen Orientierung im Bereich der Resozialisierung abweichender Jugendlicher diskutieren, die praktisch folgenreich sind: den durch die Wertorientierung der bürgerlichen Pädagogik entstehenden
»Stigmatisierungseffekt«
, das Konzept der totalen Institutionalisierung und die Orientierung an einem formalen Arbeitsbegriff.
[044:16] 1. Der Stigmatisierungseffekt. In einem pädagogischen Text aus dem Jahre 1928, 1949 zum zweiten Mal und in der Folge in mehreren Auflagen wieder ver|a 247|öffentlicht, der innerhalb der Erziehungswissenschaft bis in die jüngste Zeit zu den entscheidenden, die sozialpädagogische Diskussion begründenden Texten gerechnet wurde, finden sich die folgenden Sätze:
»In manchen Städten gibt es jetzt die Häuser der unverträglichen asozialen Familien, die wegen ihres unausstehlichen Betragens exmittiert wurden und nun irgendwo am Rande der Stadt untergebracht werden, wahre Brutstätten von Zank und Verbrechen. Wenn es zu toll wird, müssen Schutzleute kommen und Frieden stiften; ein Teil der Insassen bevölkert immer wieder die Gefängnisse und ist ein Attrak|C D1 136|tionszentrum für alle schlechten Elemente der Stadt. In dieser Brutluft der Gemeinheit, die ohne alle |b 13|erzieherischen Kräfte gelassen ist, wächst die neue Jugend auf.«
11
|b 22|11H. Nohl: Pädagogik aus dreißig Jahren. Frankfurt a.M. 1949, S. 185.
. Das sind gewiß keine theoretischen Sätze; an ihnen zeigt sich aber etwas Allgemeines: die Furcht des Bürgers vor dem, was er für eine Bedrohung seiner eige|D2 140|nen Vernunft hält.
»Unausstehliches Betragen«
,
»Brutstätten von Zank«
,
»unverträglich«
,
»Brutluft der Gemeinheit«
– das sind Bewertungen, deren positiver Abdruck wesentliche Bestandteile der bürgerlichen Lebensweise skizziert: gesittetes Betragen, Selbstbeherrschung, distanziertes Verhalten usw. In der Terminologie der einschlägigen Untersuchungen aus dem Bereich der Sozialisationsforschung hieße das: Aufschub von Triebbefriedigung, an der Zukunft orientierte Zeitperspektive, rationales Planungsverhalten, individualistische Wertorientierung, antizipierendes Rollenverhalten, Aufstiegsmotivation u. ä. Das ist ein Verhaltenssyndrom, dessen Entstehung Norbert Elias in umfangreichen und detaillierten historisch-psychologischen Untersuchungen als den
»Prozeß der Zivilisation«
der bürgerlichen Gesellschaft beschrieben hat. Er schreibt:
»Es handelt sich bei dieser oft beobachteten, geschichtlichen Rationalisierung in der Tat nicht darum, daß im Laufe der Geschichte viele, einzelne Menschen, ohne Zusammenhang miteinander, gleichsam aufgrund einer Art von prästabilierter Harmonie, zur selben Zeit von
innen
her ein neues Organ oder eine neue Substanz entwickeln, einen
Verstand
oder eine
Ratio
, die bisher noch nicht da war. Es ändert sich die Art, in der die Menschen miteinander zu leben gehalten sind; deshalb ändert sich ihr Verhalten; deshalb ändert sich ihr Bewußtsein und ihr Triebhaushalt als Ganzes. Die
Umstände
, die sich ändern, sind nichts, was gleichsam von
außen
an den Menschen herankommt, die
Umstände
, die sich ändern, sind die Beziehungen zwischen den Menschen selbst.«
12
|b 22| 12N. Elias: Der Prozeß der Zivilisation. Bd. II, Basel 1939, S. 377.
Vor dem Hintergrund dieser Tatsache, daß es sich bei der Entstehung der bürgerlichen Lebensweise um eine große moralisch-geschichtliche Anstrengung handelt, ist es nicht überraschend – wenngleich alles andere als legitim –, wenn auch die Pädagogik solche Identifikationen übernimmt und mit ihren negativen Bewertungen dasjenige abzu|a 248|wehren versucht, was als fremdes Verhalten, als asozial, als materiell sich darstellende Unvernunft bedrohlich erfahren wird. Die in den Untersuchungen Dörners zur Sozialgeschichte der |C D1 137|Psychiatrie13
|b 22|13K. Dörner: Bürger und Irre. Frankfurt a.M. 1969.
nachgewiesene Ausgrenzung der |D2 141|Geisteskranken aus der bürgerlichen Gesellschaft mit den Mitteln administrativer Verdrängung hat ihre genaue Parallele in der Behandlung von dissozialen Jugendlichen. Die Bedrohung, die sie und ihre Herkunftsgruppe darstellt, wird neutralisiert durch ein bis in individuelle Interaktionen hinein nachweisbares Muster, das in der Interaktionstheorie Goffmans
»Stigmatisierung«
genannt wirdD214
|b 22|14E. Goffman: Stigma über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt a.M. 1967.
. Gemessen an der bürgerlichen Wertorientierung er|b 14|scheint nicht nur der einzelne delinquente Jugendliche, sondern erscheinen die Verhaltenseigentümlichkeiten der sozialen Gruppe, der er angehört, als Makel, als Stigma. Kraft der materiellen Überlegenheit und mit Hilfe der öffentlichen Institutionen von Jugendgerichtsbarkeit und Jugendhilfe wird die Stigmatisierung für den Betroffenen zu seiner Definition als eines abweichlerischen Individuums. Diese Definition wird
»Teil seiner öffentlichen Identität«
15
|b 22|15A. Cohen: Abweichung und Kontrolle. München 1968, S. 180.
,
»dissoziales Verhalten verdichtet sich, wie man sagen könnte, zur Rolle des Dissozialen; sie ist Produkt einer self-fulfilling-prophecy«
16
|b 22|16
H. Thiersch: Stigmatisierung und Verfestigung des abweichenden Verhaltens. In: Zeitschrift f. Päd. 1969, S. 378.
Für das folgende vgl. besonders E. Goffman: Asylums. Penguin Books 1968.
.
[044:17] Im Anschluß an die interaktionstheoretischen Überlegungen Goffmans können wir drei Aspekte der sozialen Stigmatisierung von dissozialen Jugendlichen formulieren, die aus dem Festhalten der Pädagogik an ihrem bürgerlichen Bezugsrahmen folgen und die für die entsprechende Erziehungspraxis charakteristisch sind:
  1. 1.
    [044:18] Das abweichende Individuum wird als dissozial, z. B.
    »verwahrlost«
    , klassifiziert und erleidet damit jene stigmatisierende Rollenzuschreibung.
  2. 2.
    [044:19] Es wird Prozeduren der Diagnose unterworfen, in denen solche Rollenzuschreibung institutionalisiert wird und zugleich einen Schein der Rechtfertigung erhält.
  3. |D2 142|
  4. 3.
    [044:20] Es wird einem Sozialisationssystem, z. B. dem Erziehungsheim, zugewiesen, wodurch der Makel noch einmal verstärkt und er gleichsam öffentlich diskriminiert wird. Zudem reproduziert das Erziehungsheim zu einem D2beträchtlichen Teil gerade jene Sozialisationsbedingungen von Ärmlichkeit, Zwang und Restriktion, die |C D1 138|in dem Herkunftsmilieu die Entstehung von Dissozialität begünstigt haben und Anlaß für die soziale Stigmatisierung gewesen sind.
|a 249|
[044:21] Das gravierendste Dilemma ergibt sich aber aus einem Widerspruch der Erwartungen, der mit den Grundlagen der pädagogischen Orientierung zusammenhängt. Auf der einen Seite wird der dissoziale Jugendliche durch den Vorgang der Stigmatisierung aus dem Horizont bürgerlicher Lebenserwartung und Identifizierungschancen ausgegrenzt und einer Beeinflussungsstrategie unterworfen, die ihn aus den restriktiven Bedingungen seiner sozialen Herkunft nicht befreit, sondern ihm dort allenfalls eine materielle Überlebenschance vermittelt. Andererseits werden ihm sowohl in den persönlichen Interaktionen mit Sozialpädagogen und Sozialarbeitern, im Zusammenhang desselben Stigmatisierungsaktes die Wert- und Normorientierung des bürgerlichen Selbstverständnisses nahegebracht, in der Erwartung, daß eine Integration in diesen Orientierungshorizont erfolgt. Beide Erwartungen widersprechen sich. Was der Jugendliche hört, ist ein individualistischer Appell an seine Integrationsbereit|b 15|schaft; was er materiell erfährt, ist, daß dieser Weg nicht die Chance darstellt, die seinem Lernen offenstünde. Die Struktur dieser Situation ist in ihren formalen Elementen derjenigen ähnlich, die Haley im Zusammenhang von Interaktionsanalysen bei schizophrenen Patienten zur Deutung verwendet: Wenn eine Mutter zu ihrem Kind sagt:
»Komm auf meinen Schoß!«
– und wenn sie diese Aufforderung in einem Ton sagt, der anzeigt, daß sie am liebsten hätte, das Kind würde der Aufforderung nicht folgen, dann sieht sich das Kind zwei widersprechenden Botschaften gegenüber.
»Das Kind kann diese inkongruenten Wünsche durch keine kongruente Reaktion befriedigen ... . Die einzige Art, auf die das Kind inkongruenten Wünschen begegnen kann, ist, auf eine inkongruente Weise zu reagieren: es wird zu ihr (der Mutter) hingehen und dieses Verhalten mit einer Äußerung qualifizieren, die ausdrückt, daß es nicht zu ihr hingegangen ist.«
17
|b 22|17J. Haley: Die Interaktion von Schizophrenen. In: G. Bateson u. a.: Schizophrenie und Familie. Beiträge zu einer neuen Theorie. Frankfurt a.M. 1969, S. 107
[044:22] Der jugendliche Dissoziale befindet sich in einer ähnlichen Lage wie das Kind. Wenn es zutrifft, daß jene Doppelbindung an widersprechende Informationen mindestens starke Verhaltensstörungen mitverursacht, dann liegt es nahe, zu prüfen, ob die Vermutung |C D1 139|zutreffend ist, daß die soziale Stigmatisierung des dissozialen Jugendlichen kein Weg zur Resozialisierung ist, sondern allenfalls von einer Relegalisierung die Rede sein kann, im übrigen aber die vorgefundene Lage solcher Gruppen lediglich bestätigt und bestärkt wird.
[044:23] 2. Die totale Institutionalisierung. Die pädagogische Orientierung am Individualitätskonzept hat eine Form der Institutionalisierung in der Behandlung dissozialer Kinder und Jugendlicher hervorgebracht, die auf den ersten Blick das genaue Gegenteil jenes Konzeptes zu sein scheint: die Kasernierung der |a 250|abweichenden Individuen zum Zwecke ihrer allmählichen Integration. Die Anstaltsgründungen, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders unter der Trägerschaft der Kirchen häuften, entwickelten dort, wo sie pädagogisch begründet wurden – z.B. bei einigen Vertretern des württembergischen Pietismus, bei Völter und Wichern – eine Grundvorstellung, die heute noch, wenn auch nicht theoretisch ungebrochen, aber doch in der Praxis der Heimerziehung gilt. Diese Vorstellung enthält folgende Annahmen: Der Zögling ist, wie das bürgerliche Individuum auch, seiner Möglichkeit nach imstande, seine Individualität derart auszubilden, daß er an der freien Wechselwirkung der Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft teilnehmen kann. Seine deprivierte Lage, seine Verhaltensstörungen oder Defizite müssen daher rühren, daß entweder in seiner hereditären Ausstattung oder in seinem Milieu jene Mängel ihren Grund haben. Da kein Zweifel besteht, daß |b 16|auch der Verwahrloste die bürgerlichen Orientierungen wird übernehmen können, wenn nur die entgegenstehenden Einflüsse suspendiert |D2 144|werden, muß man ihn also isolieren und die Merkmale des Erziehungsfeldes so arrangieren, daß die schädlichen Bestandteile seiner Natur keine Chance haben. Die Institutionen, die auf dieser Basis entstanden sind, können als totale Institutionen bezeichnet werden – ich schließe mich darin den Analysen Goffmans in seinem Buch
»Asylums«
an –b sofern sie 1. alle Aspekte des Lebens am gleichen Ort und unter einer einzigen Autorität vereinigen, 2. alle oder doch nahezu alle Aktivitäten nur in einer definierten Gruppe von Gleichbehandelten möglich sind und 3. alle Phasen des Tages in einem nahezu lückenlosen Plan geregelt sindD218
|b 22|18E. Goffman: Asylums, S. 17.
.
D2
[044:25] Untersuchungen von Jugendstrafanstalten und Erziehungsheimen konkretisieren diese allgemeine Charakterisierung und protokol|C D1 140|lieren vor allem diejenigen Verhaltensmerkmale, die als Wirkung der totalen Institutionalisierung zu vermuten sind. In einer Längsschnittuntersuchung, die Th. Hofmann an jugendlichen Strafgefangenen für die Dauer ihrer Haft durchführte, kommt er zu dem Ergebnis, daß als Folge der Behandlung die Leistungsfähigkeit der Jugendlichen abnimmt, ihr Desinteresse an Problemen, die außerhalb der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung liegen, größer wird, individuelle Unterschiede sich nivellieren, Regressionserscheinungen häufiger werden und Unselbständigkeit und Initiativelosigkeit zunehmen. Untersuchungen aus dem Bereich der Heimerziehung berichten über gleichsinnige, wenn auch nicht so detaillierte Ergebnisse. Dennoch heißt es bei Hofmann zusammenfassend:
»Wir kommen auf Grund unserer Untersuchungen zu dem Ergebnis, daß die Durchführung der Jugendstrafe keinen Sinn hat, solange in der Jugendstrafanstalt nicht die Voraussetzungen dafür gegeben sind, den Gefangenen vor schlechten Gewohnheiten und Fehlhaltungen zu bewahren, die negativen Einflüsse in der |a 251|Gemeinschaft zu neutralisieren, und den straffälligen Jugendlichen mehr als bis|D2 145|her im Beruf, in der Schule und in der freien Zeit zu fördern.«
19
|b 22|19
Th. Hofmann: Jugend im Gefängnis. München 1967. S. 173.
Vgl. ferner H. Wenzel: Untersuchung württembergischer Fürsorgeheime für männliche Jugendliche und Heranwachsende. Stuttgart 1969, L. Pongratz - H.-O. Hübner: Lebensbewährung nach öffentlicher Erziehung, Darmstadt 1959.
Ein merkwürdiger Widerspruch: Das Resultat der Untersuchungen zeigte, daß die Erziehung in der totalen Institution das nahezu präzise Gegenteil von dem bewirkt, was nach dem Individualitätskonzept bürgerlicher Pädagogik erreicht werden müßte. Diese von Hofmann selbst beigebrachte Information aber veranlaßt ihn weder zu einer Kritik des Konzepts noch zu einer prinzipiellen Revision der pädagogischen Strategie totaler Institutionalisierung, sondern nur zu deren modifizierender Intensivierung.
[044:26] 3. Die Orientierung an einem formalen Arbeitsbegriff. Das Das Scheitern am Arbeitsplatz – in der Sprache der Erziehungsfürsorge häufig als |b 17|
»Arbeitsbummelei«
oder
»Arbeitsscheu«
bezeichnet – ist eine der auffälligsten Prognosemerkmale für zu erwartende Dissozialität. Es bleibt eine sehr häufige Begleiterscheinung von Dissozialität und korreliert überdies signifikant mit dem Merkmal der Rückfälligkeit. Es verwundert deshalb nicht, wenn der Arbeit eine besondere pädagogische Bedeutung in der Behandlung jugendlicher Dissozialität beigemessen wird. In einer Vollzugsordnung heißt es:
»Arbeit ist die Grundlage eines geordneten und wirksamen Strafvollzugs. Sie soll, soweit erforderlich, die Arbeitsgesinnung des Gefangenen wecken, ihn an regelmäßiges, auf Arbeit aufgebautes Leben gewöhnen sowie körperliche und seelische Schäden ausschließen.«
20
|b 23|20Zit. nach Th. Hofmann, a. a. O., S. 161.
Eine Befragung von Jugendstrafvollzugsbeamten ergab:
»Unter
Erziehung
wird allgemein die
Disziplinierung
des Gefangenen und seine Gewöhnung an Stetigkeit und Ausdauer in der Arbeit verstanden.«
30 % der Befragten vertraten sogar die Meinung,
»daß die Beschäftigung mit Arbeiten, die nicht der Berufsausbildung dienen, das geeignete
Erziehungsmittel
sei.«
In die gleichen Richtungen tendieren die Meinungen der sogenannten Arbeitserzieher in Erziehungsheimen. Die Autoren solcher Unter|D2 146|suchungen kritisieren zwar die Rigidität dieser Erziehungsvorstellungen21
|b 23|21
G. Deimling, a. a. O., S. 286.
, die Verwechslung von Ursache und Symptom22
|b 23|22H. Wenzel, a. a. O., S. 273.
, die Funktionslosigkeit des in den heiminternen Arbeitszusammenhängen Gelernten für die spätere Lebensbewältigung – kurz: sie kritisieren die nachweisbare Wirkungslosigkeit der gegenwärtig praktizierten Formen von Arbeitserziehung; an dem Konzept selbst aber halten sie fest.
|a 252|
[044:27] Sie befinden sich damit in Übereinstimmung mit der pädagogisch-theoretischen Überlieferung, für die eine merkwürdige Projektion der Bedeutung bürgerlich-geschäftiger Arbeit auf die durch Überlebenszwang und funktionale Disziplinierung diktierte manuelle Arbeit der unteren sozialen Schichten charakteristisch ist. Diese Projektion bewirkt, daß die erzieherische Bedeutung von Arbeit in einer Reihe formalisierter Arbeitstugenden erscheint, die durch Gewöhnung an Arbeit überhaupt hervorgebracht werden sollen. Hinzu kommt, daß die merkantilistische Tradition besonders in den Einrichtungen zur Behandlung dissozialer Jugendlicher im 19. Jahrhundert ungebrochen übernommen und für die bürgerliche Gesellschaft funktionalisiert wurde. 1756 heißt es bei Justi:
»Ein Land kann nur nach der Massen glücklich seyn, als die Unterthanen ihren Fleiß anstrengen, die zur Nothdurft und Bequemlichkeit des menschlichen Lebens erforderlichen Güter durch die Landwirtschaft, die Manufaktur und die Commercien zu gewinnen. Zeigt aber das gesamte Volk wenig Lust zu arbeiten, dann kann der Zustand des gemeinen Wesens nicht anders als schlecht seynD2«
23
|b 23|23Zit. nach W. Klafki / G. Kiel / J. Schwerdtfeger: Die Arbeits- und Wirtschaftswelt im Unterricht der Volksschule und des Gymnasiums. Heidelberg 1964, S. 7.
. Die Entwicklung der Industrieschulen bis ins |b 18|19. Jahrhundert hinein folgt dieser Maxime, und die Waisenhäuser, Besserungs- und Rettungsanstalten und schließlich die Fürsorgeerziehung des 20. Jahrhunderts setzen die Tradition fort, die sich im Bereich der Schulerziehung noch einmal ausdrücklich im formali|D2 147|sierten Arbeitsbegriff der
»Arbeitsschule«
Kerschensteiners dokumentiert.
[044:28] Der Satz
»Arbeit erzieht«
kann für die Behandlung jugendlicher Dissozialer nur durch die Orientierung an der Verwertbarkeit ihrer Arbeitskraft gerechtfertigt werden. Diese Orientierung aber zwingt die Erziehungseinrichtungen zu einem überproportionalen Anteil niederer, unqualifizierter Tätigkeiten und reproduziert damit diejenigen Merkmale der Arbeit, die sich im Lichte bürgerlich-liberaler Erziehungstheorie gegen die expliziten Intentionen richten: Zwang, Fremdbestimmung, Deindividuation, kommunikatives Handeln verhindernd. Die pädagogische Theorie und ihre schlechte Praxis verschleiern damit die Tatsache, daß der Satz
»Arbeit erzieht«
in unserem Zusammenhang nicht pädagogisch legitimiert werden kann, sondern im materiellen Interesse der bürgerlichen Gesellschaft sein Motiv hat, statt sich an den Lernbedürfnissen der
»dissozialen«
Subjekte zu orientieren.
|a 253|

III.

[044:29] Das Dilemma der pädagogischen Konzeption, bei der – wie es im Eingangszitat hieß – die
»Re-Individuation«
von Dissozialen und damit auch die Integration in den bürgerlich-ökonomischen Verwertungszusammenhang der entscheidende Gedanke ist, dokumentiert sich nicht nur in den Widersprüchen von Theorie und Ideologie, sondern auch in den sogenannten Erfolgsstatistiken. In der Heimerziehung müssen wir für mindestens ca. 33 % Erfolglosigkeit konstatieren, im Jugendstrafvollzug für mindestens ca. 65 %. Und auch das gilt nur, wenn wir einen relativ ärmlichen Begriff von Erziehungserfolg verwenden, nämlich das Ausbleiben von Handlungen, die mit Jugendstrafe bedroht sind. Vergleiche mit anderen Län|C D1 143|dern, auch mit sogenannten vorbeugenden Formen offener Gruppenerziehung, ergeben ein ähnliches BildD224
|b 23|24G. Iben: Von der Schutzaufsicht zur Erziehungsbeistandsschaft – Idee und Wirklichkeit einer sozialpädagogischen Maßnahme. Weinheim 1968, S. 98ff.
.
|D2 148|
[044:30] Allerdings gibt es einige Ausnahmen. Sie sind in der Regel alle von der gleichen Art: offene Einrichtungen mit einem Minimum an Zwangselementen, intensiver therapeutischer Betreuung kleiner Gruppen, ohne oder mit einem Minimum an Arbeitszwang. Die Zahl solcher Einrichtungen ist aber so gering, daß sie noch nicht einmal 1 % der betroffenen Jugendlichen erreichen, obwohl aus den wissenschaftlich gut kontrollierten Projekten wie der Camp Elliot Study, der Pilot Intensive Counseling Organisation oder der Highfields Study hervorgeht, daß ihr Erfolg – auch an menschlicheren |b 19|Kriterien als denen der Straffälligkeit gemessen – mit großer Wahrscheinlichkeit besser istD225
|b 23|25Vgl. dazu Herbert C. Quay (Ed.), Juvenile Delinquency, Princeton / New Jersey 1967; ferner K. Klüwer: Dissoziale Jugendliche in der Industriegesellschaft. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, Heft 4, 1965; St. Quensel: Kann die Jugendstrafanstalt resozialisieren? Wege zum Menschen, Heft 5, 1968, S. 174 ff.; E. Künzel / T. Moser: Gespräche mit Eingeschlossenen. Frankfurt a.M. 1969.D2
.
[044:31] An therapeutisch orientierten Erziehungseinrichtungen jedoch zeigt sich etwas Auffallendes: einerseits entstanden aus der begründeten Vermutung, daß ein therapeutisches Milieu und therapeutische Kommunikationsformen den Erziehungsbedürfnissen eher entsprechen könnten, war aber andererseits auch ein Motiv wirksam, das in der Diskussion um die Heimerziehung seit mehr als einem Jahrzehnt eine Rolle spielt und sich vom Individualitätskonzept leiten läßt: die Differenzierung nach individuellen Merkmalen der Lern- bzw. Resozialisierungsfähigkeit. Auf diese Weise entstand für die therapeutischen Einrichtungen ein Auslesemerkmal, das für unseren Zusammenhang von Interesse ist. Als unverzichtbare Auslesegesichtspunkte werden nämlich die fol|a 254|genden genannt: Es muß sich um neurotische Störungen handeln, es muß eine durchschnittliche Intelligenz vorhanden sein,
»es muß soviel emotionale Ansprechbarkeit, innere Verarbeitungsfähigkeit und Bereitschaft bestehen, daß die Psychotherapie auch als Chance zur Nachreifung genutzt |C D1 144|werden kannD2«
26
|b 23|26
A. Leber: Das psychotherapeutische Heim. In: Pädagogische Psychologie der Bildungsinstitutionen Bd. I, hrsg. von K. Bremm, München/Basel 1969
; vgl. dazu auch K. Hartmann: Theoretische und empirische Beiträge zur Verwahrlosungsforschung. Berlin 1970, S. 127.
. Damit sind Auslesegesichtspunkte formu|D2 149|liert, die mit großer Wahrscheinlichkeit einen Probandenkreis definieren, der vorwiegend den mittleren sozialen Schichten entstammt. Die Formulierung der pädagogischen Aufgabe als Re-Individualisierung oder Re-Integration mag hier angemessen sein.
[044:32] Der größte Teil der Dissozialen aber wächst unter Familienbedingungen auf, deren pathogene und kriminogene Struktur u. a. durch die besonders nachdrückliche Wirkung extremer, durch die soziale Position definierbarer Faktoren erklärt werden muß. Die Familiensituation dieser Bevölkerungsgruppe – die nicht re-integriert werden kann, weil sie an den Lebenschancen der bürgerlichen Gesellschaft noch gar nicht teilhatte – zeichnet sich, wie in vielen Untersuchungen immer wieder bestätigt werden konnte, durch gravierende Mängel im expressiven Bereich aus, durch Häufung ehelicher Konflikte, abwesende Väter, Vernachlässigung der Kinder bei gleichzeitiger überstarker Bindung der Mutter an das Kind, durch Kommunikationsdefizite im sprachlichen Bereich, durch Inkonsistenz von Normen und tatsächlichem Verhalten, mangelnde Identifikationsmöglichkeiten der Kinder – das heißt durch Merkmale, denen nur ein pädagogisches Konzept angemessen zu sein scheint, das seine Fragen und Strategien strikt aus der sozialen Situation der Betroffenen heraus zu formulieren versuchtD227
|b 23|27Vgl. dazu die bisher letzte deutschsprachige Zusammenfassung der Forschungsergebnisse bei T. Moser: Jugendkriminalität und Gesellschaftsstruktur, Diss. Frankfurt a.M. 1970, wie auch die Arbeit von K. Hartmann, a. a. O. Zur besonderen Situation krimineller Jugendlicher in der Unterschicht vgl. u. a. W. B. Miller: Die Kultur der Unterschicht als ein Entstehungsmilieu für Bandendelinquenz. In: F. Sack/R. König (Hrsg.): Kriminalsoziologie. Frankfurt a.M. 1968.
. Dabei scheint tatsächlich – und darin hat das bürgerlich-liberale Erziehungskonzept mindestens formal recht – die Familie der notwendige Ausgangspunkt der Analyse zu sein, allerdings |b 20|in der Erscheinung, in der sie sich jeweils konkret an ihrem materiellen Ort innerhalb der Gesellschaft darstellt.
[044:33] Die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, lassen sich gegenwärtig nur vermutungsweise skizzieren. Die Forderung, den Ausgangs|C D1 145|punkt der Analyse in dem materiell-gesellschaftlichen Ort der |D2 150|Familie zu nehmen, ergibt sich aus dem Vorwiegen der individual-genetisch auf die Familie zurückführbaren Be|a 255|ziehungsprobleme delinquenter bzw. dissozialer Probanden. Im Anschluß an diese Feststellung liegt es für die Ebene der theoretischen und empirischen Forschungsaufgaben nahe, drei Ansätze auszuarbeiten, die über die Aporien der bisherigen Dissozialitäts-Pädagogik hinausführen könnten:
[044:34] 1. Wir benötigen eine ätiologische bzw. ökologische Theorie, die die Variablen der objektiven Arbeitssituation der Probanden und ihrer Eltern ausdrücklich in den Erklärungszusammenhang miteinbezieht. Die allgemeinen Hinweise auf den Zusammenhang von sozialer Position und Dissozialität sind kaum ausreichend, sie verweisen allenfalls auf eine Spur, bei deren Verfolgung präzisere Aussagen erhofft werden können. Die gegenwärtig aussichtsreichste Station auf diesem Weg scheint die Bestimmung der Bedeutsamkeit der Arbeitssituation insbesondere im Hinblick auf die Prägung kommunikativer Kompetenzen zu sein. Wenn es zutrifft, daß aus dem je geltenden System der Arbeitsteilung das
»faktische Substrat des Rollenhandelns«
28
|b 23|28U. Oevermann: Sprache und soziale Herkunft. Ein Beitrag zur Analyse schichtenspezifischer Sozialisationsprozesse und ihrer Bedeutung für den Schulerfolg. Institut für Bildungsforschung in der Max-Planck-Gesellschaft. Studien und Berichte Bd. 18, Berlin 1970, S. 208 ff.
abgeleitet werden kann; wenn es ferner zutrifft, daß mit der sozialen Position, sofern sie unterschiedliche Arbeitssituationen impliziert, zugleich jenes faktische Substrat variiert; wenn es schließlich zutrifft, daß die Sozialisationswirkungen des Arbeitsplatzes zu den entscheidenden Komponenten der Genese eines allgemeinen kommunikativen Kodes gehören; und wenn endlich angenommen werden darf, daß mit der größeren Belastung durch die Arbeitssituation in den unteren sozialen Straten eine geringere Belastbarkeit der dadurch sozial geschädigten Individuen korrespondiert – dann erscheint die differenzierte Ermittlung der Interaktion zwischen den objektiven Variablen des Rollensubstrats und den subjektiven Variablen des Verwahrlosungs- oder Dissozia|D2 151|litäts-Syndroms eine unabweisliche Grundlage für die Konstruktion angemessener pädagogischer Strategien zu sein.
[044:35] 2. Das bisher am besten gesicherte Resultat der Dissozialitätsforschung betrifft das Gewicht der familiären Faktoren. Nicht nur der |C D1 146|umfassende Literaturbericht von Moser, sondern auch der jüngste Beitrag zur Verwahrlosungsforschung von K. Hartmann belegen das. Diese Arbeiten zeigen indessen aber auch, daß das Verfahren der Addition von prognosefähigen Einzelfaktoren an sein Ende gekommen ist, sofern die ermittelten Variablen nicht in eine Kommunika|b 21|tionstheorie integriert werden. Im Rahmen einer solchen Theorie, deren Ansätze sich beispielsweise bei Oevermann, Watzlawick, Lorenzer u. a. finden29
|b 23|29U. Oevermann, a. a. O., A. Lorenzer: Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vor|a 256|arbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse. Frankfurt a.M. 1970. P. Watzlawick / J. H. Beavin / Don D. Jackson: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Bern/Stuttgart 1969.b.
, wäre Dissozialität unter anderem als ein Kommunikations-Kode |a 256|zu bestimmen bzw. als Form verzerrter Kommunikation, die primär nicht an den Dimensionen bürgerlich-funktionaler Tugenden (
»mangelhafte Arbeitsbindung«
,
»Schwänzen«
,
»Bummeln«
,
»Weglaufen«
,
»Schlechter Umgang«
u. ä.) gemessen werden dürfte, sondern an der kommunikativen Bedeutsamkeit, die einzelne diagnostizierte Verhaltensmerkmale und Inhalte im subkulturellen Kontext des Herkunftsmilieus haben. Von einer solchen Theorie aber sind wir noch weit entferntb. Erst dann wird es aber möglich sein, die Ursachen-Forschung unmittelbar in den Dienst pädagogischer Intervention-Strategien zu stellen. Kurz: es handelt sich im Grunde um die triviale Konsequenz aus der trivialen Einsicht, daß nicht nur die Korrektur, sondern schon die Entstehung von Dissozialität ein pädagogisches Problem ist und daß beides nur im Rahmen bestimmter Kommunikationsgemeinschaften bestimmbar ist.
[044:36] 3. Eine solche kommunikationstheoretische Betrachtung – wie sie übrigens in der amerikanischen sogenannten
»Schizophrenie«
-Forschung erfolgreich angewendet wurde30
|b 23|30G. Bateson u. a.: Schizophrenie und Familie. Frankfurt a. M. 1969.
– impliziert jedoch, wird sie in pädagogischer Absicht vorgenommen, einen Begriff von |D2 152|kommunikativen Grundqualifikationen, um den Begriff von Dissozialität nicht in der Beliebigkeit relativierender Deskriptionen verschwimmen zu lassen. Die Bestimmung von
»Dissozialität«
als eines Kodes verzerrter Kommunikation setzt ein Begriff kommunikativer Kompetenz voraus, wie er ansatzweise von Goffman, Erikson, Habermas, Oevermann u. a. in einem Katalog von
»Grundqualifikationen des Rollenhandelns«
entwickelt wurde. Auf die |C D1 147|Ebene pädagogischer Interventions-Strategien übertragen, sind jene Grundqualifikationen dem verwandt, was etwa in der Diskussion um die Heimerziehung
»therapeutisch orientiertes Erziehungsmilieu«
genannt wird. Die Operationalisierung der Handlungsmerkmale eines solchen
»Milieus«
– so hoffen wir – könnte dann in einem kommunikationstheoretischen Kontext vorgenommen werden, in dem die Komponente der Sozialstruktur, der Dissozialitätsmerkmale und des pädagogischen Handlungsfeldes im Sinne einer neuorientierten pädagogischen Strategie verarbeitet sind. Vielleicht wäre es dann auch möglich, für die hier interessierende Population einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden, das der Parson-Schüler McKinley am Schluß einer einschlägigen Untersuchung mit den folgenden Sätzen charakterisiert:
»Die Moral dieser Geschichte ist ziemlich einfach. Sie besagt, daß Marx vielleicht teilweise recht hatte. Ausbeutung führt zu Entfremdung und rebellischer Gegenaggression. Sein Blickpunkt auf Ausbeutung |b 22|war aber zu |a 257|eng ökonomisch und die von ihm vorausgesagte Gegenaggression zu eng politisch. Vielleicht, und dies wäre wichtiger, ist die Ausbeutung in einer hochindustrialisierten und differenzierten Gesellschaft emotionaler und moralischer Natur, und entfremdete und aggressive Reaktion ist ähnlicher Art – Familienzerstörung, Verbrechen, politische Apathie.«
D2 31
|b 23|31
D. G. McKinley: Social Class and Family Life. New York 1964. S. 226
CD1
CD1D2
D.
D2
abweichender Verhaltens-Aporien
b
*
*Antrittsvorlesung an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am 26.1.1970.
bCD1D2
ø
CD1D2
ø
bD2
Persönlichkeit
b
,
b
,
D2
Abweichendes
D2
sich
D2
ø
D2
Es
b
I
CD1D2
Normen
b
P. M. Roeder,
b
,
D2
313f.
bD2
,
D2
»Wer in der bürgerlichen Ordnung den Naturgefühlen den Vorrang einräumen will, der weiß nicht, was er will. Stets im |C D1 131|Widerspruch mit sich selbst ... wird er nie ein echter Mensch noch ein echter Bürger sein.«
b
,
b
,
b
,
D2
(J.J. Rousseau: Emil oder über Erziehung. Aus dem Französischen übersetzt von H. Denhardt. Leipzig o. J., S. 20
. Vgl. dazu auch die Interpretation in M. Rang, Rousseaus Lehre vom Menschen, Göttingen 1959, S. 34.)
D2
3
D2
105ff.
D2
müssen
D2
wird
D2
4
b
,
b
ø
D2
1
b
;
b
ø
D2
162ff.
CD1
legitimerweise
CD1D2
bürgerrechtliche
D2
,
D2
5
D2
.
D2
6
b
,
bCD1D2
a. M.
D2
ø
D2
7
b
,
b
, hrsg.
b
A.
D2
1927ff.
CD1
beesonderen
D2
.
D2
8
D2
ø
D2
ø
CD1D2

I

[044:4] Der Ausgangspunkt dieses erziehungstheoretischen Denkens kann in der Entgegensetzung von pädagogischen Normen einerseits und den in der Gesellschaft tatsächlich geltenden Normen andererseits gesehen werden2
2Vgl. dazu P. M. Roeder, Erziehung und Gesellschaft. Ein Beitrag zur Problemgeschichte unter besonderer Berücksichtigung des Werkes von Lorenz von Stein, Weinheim/Berlin 1968, S. 313f.
.
|D2 134|
[044:5] Die völlige und utopische Isolierung des
»Emile«
ist die nachdrücklichste Darstellung dieses Problems. In seiner gesellschaftlichen Existenz tritt der homme dem citoyen gegenüber, ein Widerspruch, der sich in der Reflexion auf seine Bedingungen als Entfremdung darstellt.
»Wer in der bürgerlichen Ordnung den Naturgefühlen den Vorrang einräumen will, der weiß nicht, was er will. Stets im |C D1 131|Widerspruch mit sich selbst ... wird er nie ein echter Mensch noch ein echter Bürger sein.«
(J.J. Rousseau: Emil oder über Erziehung. Aus dem Französischen übersetzt von H. Denhardt. Leipzig o. J., S. 20
. Vgl. dazu auch die Interpretation in M. Rang, Rousseaus Lehre vom Menschen, Göttingen 1959, S. 34.)
[044:6] Vor dem Hintergrund eines so formulierten Grundwiderspruchs erscheinen die speziellen pädagogischen Probleme, die sich auf Phänomene abweichenden Verhaltens beziehen, marginal. Aber hätte nicht dennoch der Anfang vielversprechend sein können, da doch die Verschränkung von
»Natur«
und
»Ge|a 243|sellschaft«
und die Auffassung des Erziehungsvorganges in Kategorien der Entfremdung wenigstens formal ein Verständnis dissozial-abweichenden Verhaltens im Zusammenhang seiner gesellschaftlichen Genese zuläßt? An Schleiermacher, der versucht hat, politisch-soziale Elemente ausdrücklich seinem systematischen Erziehungsdenken zu integrieren
3Vgl. dazu P. M. Roeder, a. a. O., S. 105ff.
, zeigt sich, warum |b 9|eine solche Vermutung nicht viel für sich hat: Die Analyse der Erziehungsvorgänge ist nämlich eine Analyse derjenigen Probleme, vor denen das Bürgertum im Augenblick seiner Emanzipation steht. In der Erziehungstheorie Schleiermachers bedeutet das zweierlei:
[044:7] 1. Ein Schlüsselproblem für die auf die aktuelle Erziehungssituation sich richtende Kritik ist die Funktion der aristokratischen Herrschaftseliten. Ihnen gegenüber wird die bürgerliche Gesellschaft als ein Ganzes gesehen, dessen Selbständigkeit als die Selbständigkeit ihrer Individuen sich nur im Abbau jener Herrschaftsansprüche entfalten kann. Entfremdung ist demnach jene pädagogische Heteronomie zu nennen, die – vermittelt durch die staatlich repräsentierten pädagogischen Herrschaftansprüche jener |D2 135|Eliten – den Bürger an der Entfaltung seiner Individualität hindert.
»Wenn die Staatsregierung meint, daß die politische Gesinnung nur bei wenigen zu sein brauche, und daß die Masse gewöhnt werden müssen, diesen mechanisch zu folgen, d. h. wenn die Regierung vorherrschend aristokratisch ist, so ist natürlich, daß sie sich auch darum, ob in der Masse politische Gesinnung entwickelt wird oder nicht, gar nicht bekümmert. Wenn sie von diesem Gesichtspunkt ausgeht, so ist auch natürlich, daß die Idee die sein muß, daß die Regierung in den Händen jener kleinen Anzahl bleibe, sei diese nun durch die Geburt bestimmt oder anderswie; dann aber liegt |C D1 132|darin allzu leicht ein Bestreben, die Masse zu hindern, daß nicht etwa das jüngere Geschlecht mit einer solchen Gesinnung bekannt gemacht werde und zu solchen Fertigkeiten gelange, die zum Herrschen tüchtig machen. Es wird also die Absicht der Regierung sein, die Masse bloß auf der Stufe mechanischer Fertigkeiten festzuhalten.«
4
Fr. Schleiermacher, Pädagogische Schriften 1, Vorlesungen aus dem Jahre 1826, hrsg. von E. Weniger, S. 119
; ferner auch II S. 162ff.
[044:8] Der Normbegriff von Sozialität, von dem her diese Kritik vorgetragen wird, wird als freie Wechselwirkung der ihre Vernunft entfaltenden bürgerlichen Individuen gedacht. Dissozialität kann deshalb nur erscheinen als Unterdrückung dieser Entfaltung durch politische Institutionen, die der bürgerlichen Gesellschaft entgegenwirken – oder als die Stufe einer überhaupt noch nicht entwickelten bürgerlichen Vernunft bei der
»niedersten Volksklasse«
. Dieser gegenüber wird der herrschaftskritische Gedankengang von Schleiermacher jedoch nicht wiederholt: die
»niederste Volksklasse«
bleibt legitimerweise ein Objekt von Bevormundung, zwar nicht durch den Staat, aber durch die bürgerlichen Assoziationen.
[044:9] 2. Da die Gesellschaft als bürgerrechtliche Gesellschaft – wenn auch von Schleiermacher nicht so entschieden behauptet wie von Humboldt, – als das pädagogisch herstellbare Produkt der freien Wechselwirkung der Individuen erscheint, kann unter ihren Bedingungen Dissoziali|b 10|tät nur als ein aufzubessernder Mangel erscheinen, der wesentlich das einzelne Individuum betrifft. Die materiellen und damit auch kollektiven Bedingungen solcher |D2 136|Wechselwirkung werden von Schleiermacher nicht diskutiert; im Unterschied zu den pädagogischen Vorstellungen der Frühsozialisten ist die
»soziale Frage«
nicht sein Gegenstand. Insofern, als er nämlich nur einen Teil – den bürgerlichen – der sozialen Realität erfaßt, bleiben auch seine Auffassungsweisen der pädagogischen Realität abstrakt
»in dem doppelten Sinne, daß materielle Momente und die Tatsachen der Herrschaft und des innergesellschaftlichen Konflikts (mit Ausnahme des Konflikts zwischen Adel und Bürgertum, K. M.) weitgehend ausgeklammert sind«
5P. M. Roeder, a. a. O., S. 111.
.
[044:10] Pestalozzi scheint in seinem Versuch, die Erziehungssituation der Dissozialen zu begreifen, einen Schritt in der Analyse weitergegan|C D1 133|gen zu sein. Für ihn erscheint die Gruppe der extrem verarmten Abhängigen nicht nur als Modifikation im Rahmen der bürgerlichen Erziehungstheorie mit allgemeinem Anspruch, sondern gleichsam als der Prototyp entfremdeten Daseins. Sie ist ein extremes Exempel für das Fehlen von Freiheit und Gleichheit und deren pädagogische Folgen.
6Vgl. dazu H. Worm, Pestalozzi und Freud. Diss. Frankfurt a. M. 1970.
So heißt es ironisch in seiner
»Predigt an die Franzosen«
:
»In dieser Welt ist folgen und rechttun Euere Pflicht. Der arme und gemeine Mensch muß auf den Himmel achten ... Ihr solltet hingegen nicht glauben an Freyheit und Gleichheit, denn da sowohl der Himmel als die Hölle royalistisch regiert werden, weder unter den Engeln noch unter den Teufeln keine Freyheit und keine Gleichheit, so begreifet Ihr, daß es für Euch – Ihr möget nun am End in Himmel kommen oder in die Hölle müssen – in allen Fällen besser ist, Ihr gewöhnt Euch in diesem kurzen Aufenthalt in der Welt nicht an eine Ordnung der Dinge, die Euch in Ewigkeit doch nie zuteil wird.«
7J. H. Pestalozzi, Sämtliche Werke, hrsg. von A. Buchenau u. a., Berlin 1927ff., Bd. I, S. 45.
[044:11] Das Problem der Dissozialität löst sich für Pestalozzi eben nicht mit den bürgerlichen Freiheiten, wenn nicht zugleich das sozialpolitische Problem der beesonderen Lage der untersten Volksklassen in die Überlegungen mit eingeht. Sein Begriff der
»Individuallage«
als eines fundamentalen Aspektes pädago|a 245|gischer Analyse doku|D2 137|mentiert diesen Versuch, noch unterhalb der bürgerlichen Erziehungstheorie gesellschaftspolitische und pädagogische Betrachtungsweise zu vermitteln.
8Vgl. dazu P. M. Roeder, a. a. O., S. 327, und H. Worm, a. a. O.
Es deutet sich darin mindestens die Ahnung an, daß dissoziales Verhalten dort, wo es als Merkmal kollektiver sozial deprivierter Lagen auftaucht, in anderen Kategorien als denen bürgerlicher Pädagogik begriffen werden muß.
[044:12] Indessen ist die deutsche Pädagogik kaum über diese Ahnung hinausgekommen. Zum einen wirkten ihr Vorstellungen entgegen, die von einer naiven Identifikation von
»Verwahrlosung«
und
»Proletariat«
ausgingen und – in ihrer konservativen Ausprägung – die|b 11|ser sozialen Gruppe im ganzen gegenüber die pädagogische Aufgabe lediglich als Disziplinierungsfunktion bestimmten. Das hat seine Parallele in der auch von Liberalen – z. B. von Humboldt – ausgesprochenen Meinung, daß das Proletariat, da ihm Vernunft und Willen zur Sittlichkeit ohnehin fehlten, notwendig der Reli|C D1 134|gion bedürfe, um überhaupt in die bürgerliche Gesellschaft integriert werden zu können. Zum anderen galten die Wertorientierungen des Bürgertums und damit auch dessen Herrschaftsanspruch derart ungebrochen, daß ein anderer Bezugsrahmen gar nicht auftauchte – wie wir an Schleiermacher gesehen haben.
[044:13] Dieses Verhältnis der bürgerlichen Gesellschaft zu ihren Subgruppen wiederholte sich nun in der pädagogischen Praxis wie in der pädagogischen Theorie: Die Erziehungstheorie befaßte sich im wesentlichen mit den Problemen des Bildungswesens und damit mit der Gesamtbevölkerung nur insofern sie dem bürgerlichen Selbstverständnis integrierbar war. Die pädagogischen Reaktionen auf Dissozialität wurden – wie Schleiermacher empfohlen hatte – den
»bürgerlichen Assoziationen«
, insbesondere aber den Kirchen überlassen. Die in Pestalozzis Begriff der
»Individuallage«
aufgeschienene Ahnung verdämmerte wieder. Es blieb jedoch das Interpretationsmuster, das in seinem bürgerlichen Bestandteil die Re-Integration von abweichenden Individuen in den normativen Horizont der bürgerlichen Gesellschaft betreibt und in seinem libera|D2 138|len diese Aufgabe ausschließlich am Begriff der Individualität orientiert.
b
II
D2
ergeben,
b
etwa 75 Prozent
D2
ca. 75%
b
etwa 80 Prozent
CD1
weerden
D2
.
D2
9
b
, in
b
, 3. Aufl.
CD1
³
D2
ø
b
der
b
Gruppe
D2
ø
CD1D2
[044:14a] Die systematische Stilisierung der pädagogischen Probleme, die sich mit den Phänomenen dissozial-abweichenden Verhaltens ergeben, und ihre vorgängige Bewertung unter dem Aspekt der bürgerlichen Lebenspraxis wäre nicht derart bemerkenswert, wenn solche Theorien sich nur auf die abweichenden Ju|a 246|gendlichen der bürgerlichen Jugend bezogen hätten. Das war aber und ist nicht der Fall. Nach wie vor entstammen diejenigen Kinder und Jugendlichen, die vorwiegend – im 19. Jahrhundert nahezu ausschließlich – einer resozialisierenden Erziehungspraxis in entsprechenden Institutionen unterworfen werden, den unteren sozialen Schichten. Zwar verfügen wir nicht über eine Gesamtstatistik, die über die soziale Herkunft aller Jugendlichen Auskunft geben könnte, die in der BRD in Erziehungsheimen und Jugendstrafanstalten untergebracht sind; aus vielen Einzeluntersuchungen aber läßt sich erschließen, daß der Anteil der Unterschicht-Jungen auf etwa 75 Prozentca. 75%, der der Unterschicht-Mädchen auf etwa 80 Prozent geschätzt weerden darf.
9Vgl. dazu K. Mollenhauer: Gesellschaftliche Bedingungen der Sozialpädagogik, in: Erziehung und Emanzipation, 3. Aufl. München ³1970.
|C D1 135|
[044:14b] Das Stereotyp, nach dem im |b 12|19. Jahrhundert Proletarisierung und Verwahrlosung nahezu gleichbedeutend, mindestens aber als unmittelbar zusammenhängend gedacht wurden, ist also nicht schlechterdings falsch. Tatsächlich scheint es so zu sein, daß die Lebensbedingungen der Unterschicht eine Sozialisationspraxis begünstigen, die der Entstehung dissozialer Verhaltensweisen förderlich ist. Bei solcher Formulierung aber ist zu bedenken, daß der Begriff der Dissozialität selbst ein Moment von Bewertung enthält, deren Kriterien der betroffenen Bevölkerungsgruppe durchaus fremd sein können. Das gleiche gilt dann auch für die pädagogischen Behandlungsstrategien, die sich an jene Bewertung anschließen und mit ihr begründet werden. Unsere Frage ist, ob die vorherrschen|D2 139|den Bewertungs- und Behandlungsstrategien in Theorie und Praxis geeignet sind, den besonderen Problemen der Dissozialität als eines vorwiegend unterschichtsspezifischen Verhaltenssyndroms angemessen zu begegnen. Meine Antwort und damit zugleich meine zweite These lautet: Das beschriebene, der bürgerlich-liberalen Erziehungstheorie entstammende Interpretationsmuster spielt nach wie vor eine derart dominierende Rolle, daß – am Erfahrungs- und Interpretationshorizont der betroffenen Gruppe wie auch an der intendierten Effektivität gemessen – die relative Wirkungslosigkeit der einschlägigen pädagogischen Institutionen unter anderem auf dieses Muster zurückgeführt werden muß.
CD1D2
[044:14a] Die systematische Stilisierung der pädagogischen Probleme, die sich mit den Phänomenen dissozial-abweichenden Verhaltens ergeben, und ihre vorgängige Bewertung unter dem Aspekt der bürgerlichen Lebenspraxis wäre nicht derart bemerkenswert, wenn solche Theorien sich nur auf die abweichenden Ju|a 246|gendlichen der bürgerlichen Jugend bezogen hätten. Das war aber und ist nicht der Fall. Nach wie vor entstammen diejenigen Kinder und Jugendlichen, die vorwiegend – im 19. Jahrhundert nahezu ausschließlich – einer resozialisierenden Erziehungspraxis in entsprechenden Institutionen unterworfen werden, den unteren sozialen Schichten. Zwar verfügen wir nicht über eine Gesamtstatistik, die über die soziale Herkunft aller Jugendlichen Auskunft geben könnte, die in der BRD in Erziehungsheimen und Jugendstrafanstalten untergebracht sind; aus vielen Einzeluntersuchungen aber läßt sich erschließen, daß der Anteil der Unterschicht-Jungen auf etwa 75 Prozentca. 75%, der der Unterschicht-Mädchen auf etwa 80 Prozent geschätzt weerden darf.
9Vgl. dazu K. Mollenhauer: Gesellschaftliche Bedingungen der Sozialpädagogik, in: Erziehung und Emanzipation, 3. Aufl. München ³1970.
|C D1 135|
[044:14b] Das Stereotyp, nach dem im |b 12|19. Jahrhundert Proletarisierung und Verwahrlosung nahezu gleichbedeutend, mindestens aber als unmittelbar zusammenhängend gedacht wurden, ist also nicht schlechterdings falsch. Tatsächlich scheint es so zu sein, daß die Lebensbedingungen der Unterschicht eine Sozialisationspraxis begünstigen, die der Entstehung dissozialer Verhaltensweisen förderlich ist. Bei solcher Formulierung aber ist zu bedenken, daß der Begriff der Dissozialität selbst ein Moment von Bewertung enthält, deren Kriterien der betroffenen Bevölkerungsgruppe durchaus fremd sein können. Das gleiche gilt dann auch für die pädagogischen Behandlungsstrategien, die sich an jene Bewertung anschließen und mit ihr begründet werden. Unsere Frage ist, ob die vorherrschen|D2 139|den Bewertungs- und Behandlungsstrategien in Theorie und Praxis geeignet sind, den besonderen Problemen der Dissozialität als eines vorwiegend unterschichtsspezifischen Verhaltenssyndroms angemessen zu begegnen. Meine Antwort und damit zugleich meine zweite These lautet: Das beschriebene, der bürgerlich-liberalen Erziehungstheorie entstammende Interpretationsmuster spielt nach wie vor eine derart dominierende Rolle, daß – am Erfahrungs- und Interpretationshorizont der betroffenen Gruppe wie auch an der intendierten Effektivität gemessen – die relative Wirkungslosigkeit der einschlägigen pädagogischen Institutionen unter anderem auf dieses Muster zurückgeführt werden muß.
[044:15] Ich werde deshalb im folgenden und im Anschluß an jenes Interpretationsmuster drei Merkmale der pädagogischen Orientierung im Bereich der Resozialisierung abweichender Jugendlicher diskutieren, die praktisch folgenreich sind: den durch die Wertorientierung der bürgerlichen Pädagogik entstehenden
»Stigmatisierungseffekt«
, das Konzept der totalen Institutionalisierung und die Orientierung an einem formalen Arbeitsbegriff.
CD1
1. Der Stigmatisierungseffekt. In
D2
1. Der Stigmatisierungseffekt.
In
D2
jetzt
D2
erzieherische
b
,
b
,
bCD1
a. M.
D2
(Pädagogik aus dreißig Jahren. Frankfurt a. M. 1949, S. 185.)
b
ø
D2
10
b
,
b
ø
CD1D2
.
D2
11
b
,
b
,
bCD1D2
a. M.
D2
darstellen
D2
.
D2
12
b
,
b
,
bCD1D2
a. M.
D2
ø
D2
13
b
,
b
,
CD1D2
.
D2
14
b
,
b
,
bD2
für Pädagogik
b
,
b
,
D2
z.B.
D2
z.B.
b
es
D2
sehr
b
gravierende
CD1D2
die
D2
zusammenhängen
D2
Anderseits
D2
wird
D2
ø
D2
»hört«
D2
Leben
bCD1D2
ø
CD1
zur
D2
15
b
, in:
b
,
b
,
bCD1
a. M.
D2
mit verursacht
b
Relegalisierung
CD1D2
Relegalisierung
CD1
2. Die totale Institutionalisierung. Die
D2
2. Die totale Institutionalisierung.
Die
bCD1
z. B.
D2
Völtern
D2
ø
D2
bürgerliche Orientierung
b
,
D2
sie
D2
.
D2
16
b
,
D2
ø
D2
ø
D2
  1. 1.
    [044:24] alle Aspekte des Lebens am gleichen Ort und unter einer einzigen Autorität vereinigen,
  2. 2.
    [044:23a] alle oder doch nahezu alle Aktivitäten nur in einer definierten Gruppe von Gleichbehandelten möglich sind und
  3. 3.
    [044:23#b] alle Phasen des Tages in einem nahezu lückenlosen Plan geregelt sind.
D2
17
b
,
b
,
b
,
D2
Untersuchungen
b
,
bD2
;
b
und
D2
/
b
,
D2
ø
CD1
3. Die Orientierung an einem formalen Arbeitsbegriff. Das
D2
3. Die Orientierung an einem formalen Arbeitsbegriff.
Das
D2
ø
D2
18
b
30 Prozent
D2
30%
D2
19
D2
20
D2
Sie
b
gegenwärtigen
D2
.
D2
21
b
, G. Kiel und J. Schwerdtfeger
D2
/G. Kiel/J. Schwerdtfeger
b
,
b
,
D2
ø
CD1D2

II

[044:14a] Die systematische Stilisierung der pädagogischen Probleme, die sich mit den Phänomenen dissozial-abweichenden Verhaltens ergeben, und ihre vorgängige Bewertung unter dem Aspekt der bürgerlichen Lebenspraxis wäre nicht derart bemerkenswert, wenn solche Theorien sich nur auf die abweichenden Ju|a 246|gendlichen der bürgerlichen Jugend bezogen hätten. Das war aber und ist nicht der Fall. Nach wie vor entstammen diejenigen Kinder und Jugendlichen, die vorwiegend – im 19. Jahrhundert nahezu ausschließlich – einer resozialisierenden Erziehungspraxis in entsprechenden Institutionen unterworfen werden, den unteren sozialen Schichten. Zwar verfügen wir nicht über eine Gesamtstatistik, die über die soziale Herkunft aller Jugendlichen Auskunft geben könnte, die in der BRD in Erziehungsheimen und Jugendstrafanstalten untergebracht sind; aus vielen Einzeluntersuchungen aber läßt sich erschließen, daß der Anteil der Unterschicht-Jungen auf etwa 75 Prozentca. 75%, der der Unterschicht-Mädchen auf etwa 80 Prozent geschätzt weerden darf.
9Vgl. dazu K. Mollenhauer: Gesellschaftliche Bedingungen der Sozialpädagogik, in: Erziehung und Emanzipation, 3. Aufl. München ³1970.
|C D1 135|
[044:14b] Das Stereotyp, nach dem im |b 12|19. Jahrhundert Proletarisierung und Verwahrlosung nahezu gleichbedeutend, mindestens aber als unmittelbar zusammenhängend gedacht wurden, ist also nicht schlechterdings falsch. Tatsächlich scheint es so zu sein, daß die Lebensbedingungen der Unterschicht eine Sozialisationspraxis begünstigen, die der Entstehung dissozialer Verhaltensweisen förderlich ist. Bei solcher Formulierung aber ist zu bedenken, daß der Begriff der Dissozialität selbst ein Moment von Bewertung enthält, deren Kriterien der betroffenen Bevölkerungsgruppe durchaus fremd sein können. Das gleiche gilt dann auch für die pädagogischen Behandlungsstrategien, die sich an jene Bewertung anschließen und mit ihr begründet werden. Unsere Frage ist, ob die vorherrschen|D2 139|den Bewertungs- und Behandlungsstrategien in Theorie und Praxis geeignet sind, den besonderen Problemen der Dissozialität als eines vorwiegend unterschichtsspezifischen Verhaltenssyndroms angemessen zu begegnen. Meine Antwort und damit zugleich meine zweite These lautet: Das beschriebene, der bürgerlich-liberalen Erziehungstheorie entstammende Interpretationsmuster spielt nach wie vor eine derart dominierende Rolle, daß – am Erfahrungs- und Interpretationshorizont der betroffenen Gruppe wie auch an der intendierten Effektivität gemessen – die relative Wirkungslosigkeit der einschlägigen pädagogischen Institutionen unter anderem auf dieses Muster zurückgeführt werden muß.
[044:15] Ich werde deshalb im folgenden und im Anschluß an jenes Interpretationsmuster drei Merkmale der pädagogischen Orientierung im Bereich der Resozialisierung abweichender Jugendlicher diskutieren, die praktisch folgenreich sind: den durch die Wertorientierung der bürgerlichen Pädagogik entstehenden
»Stigmatisierungseffekt«
, das Konzept der totalen Institutionalisierung und die Orientierung an einem formalen Arbeitsbegriff.
[044:16] 1. Der Stigmatisierungseffekt. In1. Der Stigmatisierungseffekt.
In einem pädagogischen Text aus dem Jahre 1928, 1949 zum zweiten Mal und in der Folge in mehreren Auflagen wieder ver|a 247|öffentlicht, der innerhalb der Erziehungswissenschaft bis in die jüngste Zeit zu den entscheidenden, die sozialpädagogische Diskussion begründenden Texten gerechnet wurde, finden sich die folgenden Sätze:
»In manchen Städten gibt es jetzt Häuser der unverträglichen asozialen Familien, die wegen ihres unausstehlichen Betragens exmittiert wurden und nun irgendwo am Rande der Stadt untergebracht werden, wahre Brutstätten von Zank und Verbrechen. Wenn es zu toll wird, müssen Schutzleute kommen und Frieden stiften; ein Teil der Insassen bevölkert immer wieder die Gefängnisse und ist ein Attrak|C D1 136|tionszentrum für alle schlechten Elemente der Stadt. In dieser Brutluft der Gemeinheit, die ohne alle |b 13| erzieherische Kräfte gelassen ist, wächst die neue Jugend auf.«
(Pädagogik aus dreißig Jahren. Frankfurt a. M. 1949, S. 185.)
. Das sind gewiß keine theoretischen Sätze; an ihnen zeigt sich aber etwas Allgemeines: die Furcht des Bürgers vor dem, was er für eine Bedrohung seiner eige|D2 140|nen Vernunft hält.
»Unausstehliches Betragen«
,
»Brutstätten von Zank«
,
»unverträglich«
,
»Brutluft der Gemeinheit«
– das sind Bewertungen, deren positiver Abdruck wesentliche Bestandteile der bürgerlichen Lebensweise skizziert: gesittetes Betragen, Selbstbeherrschung, distanziertes Verhalten usw. In der Terminologie der einschlägigen Untersuchungen aus dem Bereich der Sozialisationsforschung hieße das: Aufschub von Triebbefriedigung, an der Zukunft orientierte Zeitperspektive, rationales Planungsverhalten, individualistische Wertorientierung, antizipierendes Rollenverhalten, Aufstiegsmotivation u. ä. Das ist ein Verhaltenssyndrom, dessen Entstehung Norbert Elias in umfangreichen und detaillierten historisch-psychologischen Untersuchungen als den
»Prozeß der Zivilisation«
der bürgerlichen Gesellschaft beschrieben hat. Er schreibt:
»Es handelt sich bei dieser oft beobachteten, geschichtlichen Rationalisierung in der Tat nicht darum, daß im Laufe der Geschichte viele, einzelne Menschen , ohne Zusammenhang miteinander, gleichsam aufgrund einer Art prästabilierter Harmonie, zur selben Zeit von
innen
her ein neues Organ oder eine neue Substanz entwickeln, einen
Verstand
oder eine
Ratio
, die bisher noch nicht da war. Es ändert sich die Art, in der die Menschen miteinander zu leben gehalten sind; deshalb ändert sich ihr Verhalten; deshalb ändert sich ihr Bewußtsein und ihr Triebhaushalt als Ganzes. Die
Umstände
, die sich ändern, sind nichts, was gleichsam von
außen
an den Menschen herankommt, die
Umstände
, die sich ändern, sind die Beziehungen zwischen den Menschen selbst.«
10N. Elias, Der Prozeß der Zivilisation II, Basel 1939. S. 377.
Vor dem Hintergrund dieser Tatsache, daß es sich bei der Entstehung der bürgerlichen Lebensweise um eine große moralisch-geschichtliche Anstrengung handelt, ist es nicht überraschend – wenngleich alles andere als legitim –, wenn auch die Pädagogik solche Identifikationen übernimmt und mit ihren negativen Bewertungen dasjenige abzu|a 248|wehren versucht, was als fremdes Verhalten, als asozial, als materiell sich darstellende Unvernunft bedrohlich erfahren wird. Die in den Untersuchungen Dörners zur Sozialgeschichte der |C D1 137|Psychiatrie
11K. Dörner, Bürger und Irre, Frankfurt a. M. 1969.
nachgewiesene Ausgrenzung der |D2 141|Geisteskranken aus der bürgerlichen Gesellschaft mit den Mitteln administrativer Verdrängung hat ihre genaue Parallele in der Behandlung von dissozialen Jugendlichen. Die Bedrohung, die sie und ihre Herkunftsgruppe darstellen, wird neutralisiert durch ein bis in individuelle Interaktionen hinein nachweisbares Muster, das in der Interaktionstheorie Goffmans
»Stigmatisierung«
genannt wird.
12E. Goffman, Stigma über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt a. M. 1967.
Gemessen an der bürgerlichen Wertorientierung er|b 14|scheint nicht nur der einzelne delinquente Jugendliche, sondern erscheinen die Verhaltenseigentümlichkeiten der sozialen Gruppe, der er angehört, als Makel, als Stigma. Kraft der materiellen Überlegenheit und mit Hilfe der öffentlichen Institutionen von Jugendgerichtsbarkeit und Jugendhilfe wird die Stigmatisierung für den Betroffenen zu seiner Definition als eines abweichlerischen Individuums. Diese Definition wird
»Teil seiner öffentlichen Identität«
13A. Cohen, Abweichung und Kontrolle, München 1968. S. 180.
,
»dissoziales Verhalten verdichtet sich, wie man sagen könnte, zur Rolle des Dissozialen; sie ist Produkt einer self-fulfilling-prophecy«
14
H. Thiersch, Stigmatisierung und Verfestigung des abweichenden Verhaltens, Zeitschrift für Pädagogik 1969, S. 378.
Für das folgende vgl. besonders E. Goffman, Asylums, Penguin Books 1968.
.
[044:17] Im Anschluß an die interaktionstheoretischen Überlegungen Goffmans können wir drei Aspekte der sozialen Stigmatisierung von dissozialen Jugendlichen formulieren, die aus dem Festhalten der Pädagogik an ihrem bürgerlichen Bezugsrahmen folgen und die für die entsprechende Erziehungspraxis charakteristisch sind:
  1. 1.
    [044:18] Das abweichende Individuum wird als dissozial, z.B.
    »verwahrlost«
    , klassifiziert und erleidet damit jene stigmatisierende Rollenzuschreibung.
  2. 2.
    [044:19] Es wird Prozeduren der Diagnose unterworfen, in denen solche Rollenzuschreibung institutionalisiert wird und zugleich einen Schein der Rechtfertigung erhält.
  3. |D2 142|
  4. 3.
    [044:20] Es wird einem Sozialisationssystem, z.B. dem Erziehungsheim, zugewiesen, wodurch der Makel noch einmal verstärkt und es gleichsam öffentlich diskriminiert wird. Zudem reproduziert das Erziehungsheim zu einem sehr beträchtlichen Teil gerade jene Sozialisationsbedingungen von Ärmlichkeit, Zwang und Restriktion, die |C D1 138|in dem Herkunftsmilieu die Entstehung von Dissozialität begünstigt haben und Anlaß für die soziale Stigmatisierung gewesen sind.
|a 249|
[044:21] Das gravierende Dilemma ergibt sich aber aus einem Widerspruch der Erwartungen, die mit den Grundlagen der pädagogischen Orientierung zusammenhängen. Auf der einen Seite wird der dissoziale Jugendliche durch den Vorgang der Stigmatisierung aus dem Horizont bürgerlicher Lebenserwartung und Identifizierungschancen ausgegrenzt und einer Beeinflussungsstrategie unterworfen, die ihn aus den restriktiven Bedingungen seiner sozialen Herkunft nicht befreit, sondern ihm dort allenfalls eine materielle Überlebenschance vermittelt. Anderseits wird ihm sowohl in den persönlichen Interaktionen mit Sozialpädagogen und Sozialarbeitern, im Zusammenhang desselben Stigmatisierungsaktes die Wert- und Normorientierung des bürgerlichen Selbstverständnisses nahegebracht in der Erwartung, daß eine Integration in diesen Orientierungshorizont erfolgt. Beide Erwartungen widersprechen sich. Was der Jugendliche
»hört«
, ist ein individualistischer Appell an seine Integrationsbereit|b 15|schaft; was er materiell erfährt, ist, daß dieser Weg nicht die Chance darstellt, die seinem Leben offenstünde. Die Struktur dieser Situation ist in ihren formalen Elementen derjenigen ähnlich, die Haley im Zusammenhang von Interaktionsanalysen bei schizophrenen Patienten zur Deutung verwendet: Wenn eine Mutter zu ihrem Kind sagt:
»Komm auf meinen Schoß!«
– und wenn sie diese Aufforderung in einem Ton sagt, der anzeigt, daß sie am liebsten hätte, das Kind würde der Aufforderung nicht folgen, dann sieht sich das Kind zwei widersprechenden Botschaften gegenüber.
»Das Kind kann diese inkongruenten Wünsche durch keine kongruente Reaktion befriedigen ... Die einzige Art, auf die das Kind inkongruenten Wünschen begegnen kann, ist, auf eine inkongruente Weise zu reagieren: es wird zu ihr (der Mutter) hingehen und dieses Verhalten mit einer Äußerung qualifizieren, die ausdrückt, daß es nicht zur ihr hingegangen ist.«
15J. Haley: Die Interaktion von Schizophrenen, in: G. Bateson u. a., Schizophrenie und Familie. Beiträge zu einer neuen Theorie, Frankfurt a. M. 1969, S. 107
[044:22] Der jugendliche Dissoziale befindet sich in einer ähnlichen Lage wie das Kind. Wenn es zutrifft, daß jene Doppelbindung an widersprechende Informationen mindestens starke Verhaltensstörungen mit verursacht, dann liegt es nahe, zu prüfen, ob die Vermutung |C D1 139|zutreffend ist, daß die soziale Stigmatisierung des dissozialen Jugendlichen kein Weg zur Resozialisierung ist, sondern allenfalls von einer RelegalisierungRelegalisierung die Rede sein kann, im übrigen aber die vorgefundene Lage solcher Gruppen lediglich bestätigt und bestärkt wird.
[044:23] 2. Die totale Institutionalisierung. Die2. Die totale Institutionalisierung.
Die
pädagogische Orientierung am Individualitätskonzept hat eine Form der Institutionalisierung in der Behandlung dissozialer Kinder und Jugendlicher hervorgebracht, die auf den ersten Blick das genaue Gegenteil jenes Konzeptes zu sein scheint: die Kasernierung der |a 250|abweichenden Individuen zum Zwecke ihrer allmählichen Integration. Die Anstaltsgründungen, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders unter der Trägerschaft der Kirchen häuften, entwickelten dort, wo sie pädagogisch begründet wurden – z. B. bei einigen Vertretern des württembergischen Pietismus, bei Völtern und Wichern – eine Grundvorstellung, die heute noch, wenn auch nicht theoretisch ungebrochen, aber doch in der Praxis der Heimerziehung gilt. Diese Vorstellung enthält folgende Annahmen: Der Zögling ist, wie das bürgerliche Individuum auch seiner Möglichkeit nach imstande, seine Individualität derart auszubilden, daß er an der freien Wechselwirkung der Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft teilnehmen kann. Seine deprivierte Lage, seine Verhaltensstörungen oder Defizite müssen daher rühren, daß entweder in seiner hereditären Ausstattung oder in seinem Milieu jene Mängel ihren Grund haben. Da kein Zweifel besteht, daß |b 16|auch der Verwahrloste die bürgerliche Orientierung wird übernehmen können, wenn nur die entgegenstehenden Einflüsse suspendiert |D2 144|werden, muß man ihn also isolieren und die Merkmale des Erziehungsfeldes so arrangieren, daß die schädlichen Bestandteile seiner Natur keine Chance haben. Die Institutionen, die auf dieser Basis entstanden sind, können als totale Institutionen bezeichnet werden – ich schließe mich darin den Analysen Goffmans in seinem Buch
»Asylums«
an –, sofern sie
  1. 1.
    [044:24] alle Aspekte des Lebens am gleichen Ort und unter einer einzigen Autorität vereinigen,
  2. 2.
    [044:23a] alle oder doch nahezu alle Aktivitäten nur in einer definierten Gruppe von Gleichbehandelten möglich sind und
  3. 3.
    [044:23#b] alle Phasen des Tages in einem nahezu lückenlosen Plan geregelt sind.
[044:25] Untersuchungen von Jugendstrafanstalten und Erziehungsheimen konkretisieren diese allgemeine Charakterisierung und protokol|C D1 140|lieren vor allem diejenigen Verhaltensmerkmale, die als Wirkung der totalen Institutionalisierung zu vermuten sind. In einer Längsschnittuntersuchung, die Th. Hofmann an jugendlichen Strafgefangenen für die Dauer ihrer Haft durchführte, kommt er zu dem Ergebnis, daß als Folge der Behandlung die Leistungsfähigkeit der Jugendlichen abnimmt, ihr Desinteresse an Problemen, die außerhalb der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung liegen, größer wird, individuelle Unterschiede sich nivellieren, Regressionserscheinungen häufiger werden und Unselbständigkeit und Initiativelosigkeit zunehmen. Untersuchungen aus dem Bereich der Heimerziehung berichten über gleichsinnige, wenn auch nicht so detaillierte Ergebnisse. Dennoch heißt es bei Hofmann zusammenfassend:
»Wir kommen auf Grund unserer Untersuchungen zu dem Ergebnis, daß die Durchführung der Jugendstrafe keinen Sinn hat, solange in der Jugendstrafanstalt nicht die Voraussetzungen dafür gegeben sind, den Gefangenen vor schlechten Gewohnheiten und Fehlhaltungen zu bewahren, die negativen Einflüsse in der |a 251|Gemeinschaft zu neutralisieren, und den straffälligen Jugendlichen mehr als bis|D2 145|her im Beruf, in der Schule und in der freien Zeit zu fördern.«
17
Th. Hofmann, Jugend im Gefängnis, München 1967. S. 173.
Vgl. ferner H. Wenzel, Untersuchungen württembergischer Fürsorgeheime für männliche Jugendliche und Heranwachsende, Stuttgart 1969 ; L. Pongratz und /H.-O. Hübner, Lebensbewährung nach öffentlicher Erziehung, Darmstadt 1959
Ein merkwürdiger Widerspruch: Das Resultat der Untersuchungen zeigte, daß die Erziehung in der totalen Institution das nahezu präzise Gegenteil von dem bewirkt, was nach dem Individualitätskonzept bürgerlicher Pädagogik erreicht werden müßte. Diese von Hofmann selbst beigebrachte Information aber veranlaßt ihn weder zu einer Kritik des Konzepts noch zu einer prinzipiellen Revision der pädagogischen Strategie totaler Institutionalisierung, sondern nur zu deren modifizierender Intensivierung.
[044:26] 3. Die Orientierung an einem formalen Arbeitsbegriff. Das3. Die Orientierung an einem formalen Arbeitsbegriff.
Das Das Scheitern am Arbeitsplatz – in der Sprache der Erziehungsfürsorge häufig als |b 17|
»Arbeitsbummelei«
oder
»Arbeitsscheu«
bezeichnet – ist eine der auffälligsten Prognosemerkmale für zu erwartende Dissozialität. Es bleibt eine sehr häufige Begleiterscheinung von Dissozialität und korreliert überdies signifikant mit dem Merkmal der Rückfälligkeit. Es verwundert deshalb nicht, wenn Arbeit eine besondere pädagogische Bedeutung in der Behandlung jugendlicher Dissozialität beigemessen wird. In einer Vollzugsordnung heißt es:
»Arbeit ist die Grundlage eines geordneten und wirksamen Strafvollzugs. Sie soll, soweit erforderlich, die Arbeitsgesinnung des Gefangenen wecken, ihn an regelmäßiges, auf Arbeit aufgebautes Leben gewöhnen sowie körperliche und seelische Schäden ausschließen.«
18Zit. nach Th. Hofmann, a. a. O., S. 161.
Eine Befragung von Jugendstrafvollzugsbeamten ergab:
»Unter
Erziehung
wird allgemein die
Disziplinierung
des Gefangenen und seine Gewöhnung an Stetigkeit und Ausdauer in der Arbeit verstanden.«
30 Prozent30% der Befragten vertraten sogar die Meinung,
»daß die Beschäftigung mit Arbeiten, die nicht der Berufsausbildung dienen, das geeignete
Erziehungsmittel
sei.«
In die gleichen Richtungen tendieren die Meinungen der sogenannten Arbeitserzieher in Erziehungsheimen. Die Autoren solcher Unter|D2 146|suchungen kritisieren zwar die Rigidität dieser Erziehungsvorstellungen
19
G. Deimling, a. a. O., S. 286.
, die Verwechslung von Ursache und Symptom
20H. Wenzel, a. a. O., S. 273.
, die Funktionslosigkeit des in den heiminternen Arbeitszusammenhängen Gelernten für die spätere Lebensbewältigung – kurz: Sie kritisieren die nachweisbare Wirkungslosigkeit der gegenwärtigen praktizierten Formen von Arbeitserziehung; an dem Konzept selbst aber halten sie fest.
|a 252|
[044:27] Sie befinden sich damit in Übereinstimmung mit der pädagogisch-theoretischen Überlieferung, für die eine merkwürdige Projektion der Bedeutung bürgerlich-geschäftiger Arbeit auf die durch Überlebenszwang und funktionale Disziplinierung diktierte manuelle Arbeit der unteren sozialen Schichten charakteristisch ist. Diese Projektion bewirkt, daß die erzieherische Bedeutung von Arbeit in einer Reihe formalisierter Arbeitstugenden erscheint, die durch Gewöhnung an Arbeit überhaupt hervorgebracht werden sollen. Hinzu kommt, daß die merkantilistische Tradition besonders in den Einrichtungen zur Behandlung dissozialer Jugendlicher im 19. Jahrhundert ungebrochen übernommen und für die bürgerliche Gesellschaft funktionalisiert wurde. 1756 heißt es bei Justi:
»Ein Land kann nur nach der Massen glücklich seyn, als die Unterthanen ihren Fleiß anstrengen, die zur Nothdurft und Bequemlichkeit des menschlichen Lebens erforderlichen Güter durch die Landwirtschaft, die Manufaktur und die Commercien zu gewinnen. Zeigt aber das gesamte Volk wenig Lust zu arbeiten, dann kann der Zustand des gemeinen Wesens nicht anders als schlecht seyn.«
21Zit. nach W. Klafki , G. Kiel und J. Schwerdtfeger/G. Kiel/J. Schwerdtfeger, Die Arbeits- und Wirtschaftswelt im Unterricht der Volksschule und des Gymnasiums, Heidelberg 1964, S. 7.
Die Entwicklung der Industrieschulen bis ins |b 18|19. Jahrhundert hinein folgt dieser Maxime, und die Waisenhäuser, Besserungs- und Rettungsanstalten und schließlich die Fürsorgeerziehung des 20. Jahrhunderts setzen die Tradition fort, die sich im Bereich der Schulerziehung noch einmal ausdrücklich im formali|D2 147|sierten Arbeitsbegriff der
»Arbeitsschule«
Kerschensteiners dokumentiert.
[044:28] Der Satz
»Arbeit erzieht«
kann für die Behandlung jugendlicher Dissozialer nur durch die Orientierung an der Verwertbarkeit ihrer Arbeitskraft gerechtfertigt werden. Diese Orientierung aber zwingt die Erziehungseinrichtungen zu einem überproportionalen Anteil niederer, unqualifizierter Tätigkeiten und reproduziert damit diejenigen Merkmale der Arbeit, die sich im Lichte bürgerlich-liberaler Erziehungstheorie gegen die expliziten Intentionen richten: Zwang, Fremdbestimmung, Deindividuation, kommunikatives Handeln verhindernd. Die pädagogische Theorie und ihre schlechte Praxis verschleiern damit die Tatsache, daß der Satz
»Arbeit erzieht«
in unserem Zusammenhang nicht pädagogisch legitimiert werden kann, sondern im materiellen Interesse der bürgerlichen Gesellschaft sein Motiv hat, statt sich an den Lernbedürfnissen der
»dissozialen«
Subjekte zu orientieren.
bCD1D2
III
b
etwa 33 Prozent
CD1D2
ca. 33%
b
etwa 65 Prozent
D2
65%
D2
.
D2
22
b
,
D2
Erziehungsbeistandschaft
b
,
CD1
98 ff.
D2
98ff..
D2
ø
D2
ø
D2
aber ist
b
1 Prozent
D2
1%
D2
.
D2
23
b
Hg.
CD1D2
Princeton/New Jersey
b
,
b
, in
b
1965, H. 4
b
,
b
1968, H. 5
D2
174ff.
b
und
b
,
b
,
CD1
Frankurt a. M.
bD2
Frankfurt a. M.
D2
.
D2
ø
D2
Einerseits
D2
therapeutische
D2
.
D2
24
b
,
b
, in
b
ø
b
,
b
,
D2
ø
D2
ø
D2
.
D2
25
b
,
b
ø
bCD1D2
a. M.
D2
a. a. O.
CD1
F. Sack / R. König
CD1D2
a. M.
b
ø
D2
ø
D2
Forschungsaufgabe
CD1D2
[044:29] Das Dilemma der pädagogischen Konzeption, bei der – wie es im Eingangszitat hieß – die
»Re-Individuation«
von Dissozialen und damit auch die Integration in den bürgerlich-ökonomischen Verwertungszusammenhang der entscheidende Gedanke ist, dokumentiert sich nicht nur in den Widersprüchen von Theorie und Ideologie, sondern auch in den sogenannten Erfolgsstatistiken. In der Heimerziehung müssen wir für mindestens etwa 33 Prozentca. 33% Erfolglosigkeit konstatieren, im Jugendstrafvollzug für mindestens etwa 65 Prozent65%. Und auch das gilt nur, wenn wir einen relativ ärmlichen Begriff von Erziehungserfolg verwenden, nämlich das Ausbleiben von Handlungen, die mit Jugendstrafe bedroht sind. Vergleiche mit anderen Län|C D1 143|dern, auch mit sogenannten vorbeugenden Formen offener Gruppenerziehung, ergeben ein ähnliches Bild.
22G. Iben, Von der Schutzaufsicht zur Erziehungsbeistandschaft – Idee und Wirklichkeit einer sozialpädagogischen Maßnahme, Weinheim 1968, S. 98 ff. 98ff..
|D2 148|
[044:30] Allerdings gibt es einige Ausnahmen. Sie sind in der Regel alle von der gleichen Art: offene Einrichtungen mit einem Minimum an Zwangselementen, intensiver therapeutischer Betreuung kleiner Gruppen ohne oder mit einem Minimum an Arbeitszwang. Die Zahl solcher Einrichtungen aber ist so gering, daß sie noch nicht einmal 1 Prozent1% der betroffenen Jugendlichen erreichen, obwohl aus den wissenschaftlich gut kontrollierten Projekten wie der Camp Elliot Study, der Pilot Intensive Counseling Organisation oder der Highfields Study hervorgeht, daß ihr Erfolg – auch an menschlicheren |b 19|Kriterien als denen der Straffälligkeit gemessen – mit großer Wahrscheinlichkeit besser ist.
23Vgl. dazu Herbert C. Quay (Hg.), Juvenile Delinquency, Princeton/New Jersey 1967; ferner K. Klüwer, Dissoziale Jugendliche in der Industriegesellschaft, in: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 1965, H. 4; St. Quensel, Kann die Jugendstrafanstalt resozialisieren? Wege zum Menschen, 1968, H. 5, S. 174ff.; E. Künzel und T. Moser, Gespräche mit Eingeschlossenen, Frankurt a. M.Frankfurt a. M. 1969. .
[044:31] An therapeutisch orientierten Erziehungseinrichtungen jedoch zeigt sich etwas Auffallendes: Einerseits entstanden aus der begründeten Vermutung, daß ein therapeutisches Milieu und therapeutische Kommunikationsformen den Erziehungsbedürfnissen eher entsprechen könnten, war aber andererseits auch ein Motiv wirksam, das in der Diskussion um die Heimerziehung seit mehr als einem Jahrzehnt eine Rolle spielt und sich vom Individualitätskonzept leiten läßt: die Differenzierung nach individuellen Merkmalen der Lern- bzw. Resozialisierungsfähigkeit. Auf diese Weise entstand für die therapeutische Einrichtungen ein Auslesemerkmal, das für unseren Zusammenhang von Interesse ist. Als unverzichtbare Auslesegesichtspunkte werden nämlich die fol|a 254|genden genannt: Es muß sich um neurotische Störungen handeln, es muß eine durchschnittliche Intelligenz vorhanden sein,
»es muß soviel emotionale Ansprechbarkeit, innere Verarbeitungsfähigkeit und Bereitschaft bestehen, daß die Psychotherapie auch als Chance zur Nachreifung genutzt |C D1 144|werden kann.«
24
A. Leber, Das psychotherapeutische Heim, in: Pädagogische Psychologie der Bildungsinstitutionen I, hrsg. von K. Bremm, München/Basel 1969
.
Damit sind Auslesegesichtspunkte formu|D2 149|liert, die mit großer Wahrscheinlichkeit einen Probandenkreis definieren, der vorwiegend den mittleren sozialen Schichten entstammt. Die Formulierung der pädagogischen Aufgabe als Re-Individualisierung oder Re-Integration mag hier angemessen sein.
[044:32] Der größte Teil der Dissozialen aber wächst unter Familienbedingungen auf, deren pathogene und kriminogene Struktur u. a. durch die besonders nachdrückliche Wirkung extremer, durch die soziale Position definierbarer Faktoren erklärt werden muß. Die Familiensituation dieser Bevölkerungsgruppe – die nicht re-integriert werden kann, weil sie an den Lebenschancen der bürgerlichen Gesellschaft noch gar nicht teilhatte – zeichnet sich, wie in vielen Untersuchungen immer wieder bestätigt werden konnte, durch gravierende Mängel im expressiven Bereich aus, durch Häufung ehelicher Konflikte, abwesende Väter, Vernachlässigung der Kinder bei gleichzeitiger überstarker Bindung der Mutter an das Kind, durch Kommunikationsdefizite im sprachlichen Bereich, durch Inkonsistenz von Normen und tatsächlichem Verhalten, mangelnde Identifikationsmöglichkeiten der Kinder – das heißt durch Merkmale, denen nur ein pädagogisches Konzept angemessen zu sein scheint, das seine Fragen und Strategien strikt aus der sozialen Situation der Betroffenen heraus zu formulieren versucht.
25Vgl. dazu die bisher letzte deutschsprachige Zusammenfassung der Forschungsergebnisse bei T. Moser, Jugendkriminalität und Gesellschaftsstruktur, Frankfurt a. M. 1970, wie auch die Arbeit von K. Hartmann, a. a. O.
Dabei scheint tatsächlich – und darin hat das bürgerlich-liberale Erziehungskonzept mindestens formal recht – die Familie der notwendige Ausgangspunkt der Analyse zu sein, allerdings |b 20|in der Erscheinung, in der sie sich jeweils konkret an ihrem materiellen Ort innerhalb der Gesellschaft darstellt.
[044:33] Die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, lassen sich gegenwärtig nur vermutungsweise skizzieren. Die Forderung, den Ausgangs|C D1 145|punkt der Analyse in dem materiell-gesellschaftlichen Ort der |D2 150|Familie zu nehmen, ergibt sich aus dem Vorwiegen der individual-genetisch auf die Familie zurückführbaren Be|a 255|ziehungsprobleme delinquenter bzw. dissozialer Probanden. Im Anschluß an diese Feststellung liegt es für die Ebene der theoretischen und empirischen Forschungsaufgabe nahe, drei Ansätze auszuarbeiten, die über die Aporien der bisherigen Dissozialitäts-Pädagogik hinausführen könnten:
D2
mit einbezieht
D2
26
b
,
b
ø
D2
208ff.
D2
Strategien
D2
27
b
;
b
,
b
,
bCD1D2
a. M.
b
Watzlawick, J. H. Beavin und Don
D2
Watzlawick/J. H. Beavin/Don
b
,
b
,
b
K. Mollenhauer, Theorien zum Erziehungsprozeß, München 1972
b
30
30Ansätze dazu bei K. Mollenhauer, a. a. O.
D2
Ursachenforschung
D2
Interventionsstrategien
D2
Es
b
31
D2
28
b
,
b
,
bD2
einen
CD1D2
Goffmann
D2
Interventionsstrategien
b
Dissozialisationsmerkmale
CD1D2
ø
D2
.
b
32
D2
29
b
,
b
,
b
,
CD1
.
CD1D2
[044:34] 1. Wir benötigen eine ätiologische bzw. ökologische Theorie, die die Variablen der objektiven Arbeitssituation der Probanden und ihrer Eltern ausdrücklich in den Erklärungszusammenhang mit einbezieht. Die allgemeinen Hinweise auf den Zusammenhang von sozialer Position und Dissozialität sind kaum ausreichend, sie verweisen allenfalls auf eine Spur, bei deren Verfolgung präzisere Aussagen erhofft werden können. Die gegenwärtig aussichtsreichste Station auf diesem Weg scheint die Bestimmung der Bedeutsamkeit der Arbeitssituation insbesondere im Hinblick auf die Prägung kommunikativer Kompetenzen zu sein. Wenn es zutrifft, daß aus dem je geltenden System der Arbeitsteilung das
»faktische Substrat des Rollenhandelns«
26U. Oevermann, Sprache und soziale Herkunft. Ein Beitrag zur Analyse schichtenspezifischer Sozialisationsprozesse und ihrer Bedeutung für den Schulerfolg. Institut für Bildungsforschung in der Max-Planck-Gesellschaft. Studien und Berichte 18, Berlin 1970, S. 208ff.
abgeleitet werden kann; wenn es ferner zutrifft, daß mit der sozialen Position, sofern sie unterschiedliche Arbeitssituationen impliziert, zugleich jenes faktische Substrat variiert; wenn es schließlich zutrifft, daß die Sozialisationswirkungen des Arbeitsplatzes zu den entscheidenden Komponenten der Genese eines allgemeinen kommunikativen Kodes gehören; und wenn endlich angenommen werden darf, daß mit der größeren Belastung durch die Arbeitssituation in den unteren sozialen Strategien eine geringere Belastbarkeit der dadurch sozial geschädigten Individuen korrespondiert – dann erscheint die differenzierte Ermittlung der Interaktion zwischen den objektiven Variablen des Rollensubstrats und den subjektiven Variablen des Verwahrlosungs- oder Dissozia|D2 151|litäts-Syndroms eine unabweisliche Grundlage für die Konstruktion angemessener pädagogischer Strategien zu sein.
[044:35] 2. Das bisher am besten gesicherte Resultat der Dissozialitätsforschung betrifft das Gewicht der familiären Faktoren. Nicht nur der |C D1 146|umfassende Literaturbericht von Moser, sondern auch der jüngste Beitrag zur Verwahrlosungsforschung von K. Hartmann belegen das. Diese Arbeiten zeigen indessen aber auch, daß das Verfahren der Addition von prognosefähigen Einzelfaktoren an sein Ende gekommen ist, sofern die ermittelten Variablen nicht in eine Kommunika|b 21|tionstheorie integriert werden. Im Rahmen einer solchen Theorie, deren Ansätze sich beispielsweise bei Oevermann, Watzlawick, Lorenzer u. a. finden
27U. Oevermann, a. a. O.; A. Lorenzer, Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1970. P. Watzlawick, J. H. Beavin und DonWatzlawick/J. H. Beavin/Don D. Jackson, Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, Bern/Stuttgart 1969. K. Mollenhauer, Theorien zum Erziehungsprozeß, München 1972.
, wäre Dissozialität unter anderem als ein Kommunikations-Kode |a 256|zu bestimmen bzw. als Form verzerrter Kommunikation, die primär nicht an den Dimensionen bürgerlich-funktionaler Tugenden (
»mangelhafte Arbeitsbindung«
,
»Schwänzen«
,
»Bummeln«
,
»Weglaufen«
,
»Schlechter Umgang«
u. ä.) gemessen werden dürfte, sondern an der kommunikativen Bedeutsamkeit, die einzelne diagnostizierte Verhaltensmerkmale und Inhalte im subkulturellen Kontext des Herkunftsmilieus haben. Von einer solchen Theorie aber sind wir noch weit entfernt30
30Ansätze dazu bei K. Mollenhauer, a. a. O.
. Erst dann wird es aber möglich sein, die Ursachenforschung unmittelbar in den Dienst pädagogischer Interventionsstrategien zu stellen. Kurz: Es handelt sich im Grunde um die triviale Konsequenz aus der trivialen Einsicht, daß nicht nur die Korrektur, sondern schon die Entstehung von Dissozialität ein pädagogisches Problem ist und daß beides nur im Rahmen bestimmter Kommunikationsgemeinschaften bestimmbar ist.
[044:36] 3. Eine solche kommunikationstheoretische Betrachtung – wie sie übrigens in der amerikanischen sogenannten
»Schizophrenie«
-Forschung erfolgreich angewendet wurde
3128G. Bateson u. a., Schizophrenie und Familie, Frankfurt a. M. 1969.
– impliziert jedoch, wird sie in pädagogischer Absicht vorgenommen, einen Begriff von |D2 152|kommunikativen Grundqualifikationen, um den Begriff von Dissozialität nicht in der Beliebigkeit relativierender Deskriptionen verschwimmen zu lassen. Die Bestimmung von
»Dissozialität«
als eines Kodes verzerrter Kommunikation setzt einen Begriff kommunikativer Kompetenz voraus, wie er ansatzweise von Goffmann, Erikson, Habermas, Oevermann u. a. in einem Katalog von
»Grundqualifikationen des Rollenhandelns«
entwickelt wurde. Auf die |C D1 147|Ebene pädagogischer Interventionsstrategien übertragen, sind jene Grundqualifikationen dem verwandt, was etwa in der Diskussion um die Heimerziehung
»therapeutisch orientiertes Erziehungsmilieu«
genannt wird. Die Operationalisierung der Handlungsmerkmale eines solchen
»Milieus«
– so hoffen wir – könnte dann in einem kommunikationstheoretischen Kontext vorgenommen werden, in dem die Komponente der Sozialstruktur, der Dissozialisationsmerkmale und des pädagogischen Handlungsfeldes im Sinne einer neuorientierten pädagogischen Strategie verarbeitet sind. Vielleicht wäre es dann auch möglich, für die hier interessierende Population einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden, das der Parson-Schüler McKinley am Schluß einer einschlägigen Untersuchung mit den folgenden Sätzen charakterisiert:
»Die Moral dieser Geschichte ist ziemlich einfach. Sie besagt, daß Marx vielleicht teilweise recht hatte. Ausbeutung führt zu Entfremdung und rebellischer Gegenaggression. Sein Blickpunkt auf Ausbeutung |b 22|war aber zu |a 257|eng ökonomisch und die von ihm vorausgesagte Gegenaggression zu eng politisch. Vielleicht, und dies wäre wichtiger, ist die Ausbeutung in einer hochindustrialisierten und differenzierten Gesellschaft emotionaler und moralischer Natur, und entfremdete und aggressive Reaktion ist ähnlicher Art – Familienzerstörung, Verbrechen, politische Apathie«
.
3229
D. G. McKinley, Social Class and Family Life, New York 1964, S. 226
.
CD1D2
|a 253|

III

[044:29] Das Dilemma der pädagogischen Konzeption, bei der – wie es im Eingangszitat hieß – die
»Re-Individuation«
von Dissozialen und damit auch die Integration in den bürgerlich-ökonomischen Verwertungszusammenhang der entscheidende Gedanke ist, dokumentiert sich nicht nur in den Widersprüchen von Theorie und Ideologie, sondern auch in den sogenannten Erfolgsstatistiken. In der Heimerziehung müssen wir für mindestens etwa 33 Prozentca. 33% Erfolglosigkeit konstatieren, im Jugendstrafvollzug für mindestens etwa 65 Prozent65%. Und auch das gilt nur, wenn wir einen relativ ärmlichen Begriff von Erziehungserfolg verwenden, nämlich das Ausbleiben von Handlungen, die mit Jugendstrafe bedroht sind. Vergleiche mit anderen Län|C D1 143|dern, auch mit sogenannten vorbeugenden Formen offener Gruppenerziehung, ergeben ein ähnliches Bild.
22G. Iben, Von der Schutzaufsicht zur Erziehungsbeistandschaft – Idee und Wirklichkeit einer sozialpädagogischen Maßnahme, Weinheim 1968, S. 98 ff. 98ff..
|D2 148|
[044:30] Allerdings gibt es einige Ausnahmen. Sie sind in der Regel alle von der gleichen Art: offene Einrichtungen mit einem Minimum an Zwangselementen, intensiver therapeutischer Betreuung kleiner Gruppen ohne oder mit einem Minimum an Arbeitszwang. Die Zahl solcher Einrichtungen aber ist so gering, daß sie noch nicht einmal 1 Prozent1% der betroffenen Jugendlichen erreichen, obwohl aus den wissenschaftlich gut kontrollierten Projekten wie der Camp Elliot Study, der Pilot Intensive Counseling Organisation oder der Highfields Study hervorgeht, daß ihr Erfolg – auch an menschlicheren |b 19|Kriterien als denen der Straffälligkeit gemessen – mit großer Wahrscheinlichkeit besser ist.
23Vgl. dazu Herbert C. Quay (Hg.), Juvenile Delinquency, Princeton/New Jersey 1967; ferner K. Klüwer, Dissoziale Jugendliche in der Industriegesellschaft, in: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 1965, H. 4; St. Quensel, Kann die Jugendstrafanstalt resozialisieren? Wege zum Menschen, 1968, H. 5, S. 174ff.; E. Künzel und T. Moser, Gespräche mit Eingeschlossenen, Frankurt a. M.Frankfurt a. M. 1969. .
[044:31] An therapeutisch orientierten Erziehungseinrichtungen jedoch zeigt sich etwas Auffallendes: Einerseits entstanden aus der begründeten Vermutung, daß ein therapeutisches Milieu und therapeutische Kommunikationsformen den Erziehungsbedürfnissen eher entsprechen könnten, war aber andererseits auch ein Motiv wirksam, das in der Diskussion um die Heimerziehung seit mehr als einem Jahrzehnt eine Rolle spielt und sich vom Individualitätskonzept leiten läßt: die Differenzierung nach individuellen Merkmalen der Lern- bzw. Resozialisierungsfähigkeit. Auf diese Weise entstand für die therapeutische Einrichtungen ein Auslesemerkmal, das für unseren Zusammenhang von Interesse ist. Als unverzichtbare Auslesegesichtspunkte werden nämlich die fol|a 254|genden genannt: Es muß sich um neurotische Störungen handeln, es muß eine durchschnittliche Intelligenz vorhanden sein,
»es muß soviel emotionale Ansprechbarkeit, innere Verarbeitungsfähigkeit und Bereitschaft bestehen, daß die Psychotherapie auch als Chance zur Nachreifung genutzt |C D1 144|werden kann.«
24
A. Leber, Das psychotherapeutische Heim, in: Pädagogische Psychologie der Bildungsinstitutionen I, hrsg. von K. Bremm, München/Basel 1969
.
Damit sind Auslesegesichtspunkte formu|D2 149|liert, die mit großer Wahrscheinlichkeit einen Probandenkreis definieren, der vorwiegend den mittleren sozialen Schichten entstammt. Die Formulierung der pädagogischen Aufgabe als Re-Individualisierung oder Re-Integration mag hier angemessen sein.
[044:32] Der größte Teil der Dissozialen aber wächst unter Familienbedingungen auf, deren pathogene und kriminogene Struktur u. a. durch die besonders nachdrückliche Wirkung extremer, durch die soziale Position definierbarer Faktoren erklärt werden muß. Die Familiensituation dieser Bevölkerungsgruppe – die nicht re-integriert werden kann, weil sie an den Lebenschancen der bürgerlichen Gesellschaft noch gar nicht teilhatte – zeichnet sich, wie in vielen Untersuchungen immer wieder bestätigt werden konnte, durch gravierende Mängel im expressiven Bereich aus, durch Häufung ehelicher Konflikte, abwesende Väter, Vernachlässigung der Kinder bei gleichzeitiger überstarker Bindung der Mutter an das Kind, durch Kommunikationsdefizite im sprachlichen Bereich, durch Inkonsistenz von Normen und tatsächlichem Verhalten, mangelnde Identifikationsmöglichkeiten der Kinder – das heißt durch Merkmale, denen nur ein pädagogisches Konzept angemessen zu sein scheint, das seine Fragen und Strategien strikt aus der sozialen Situation der Betroffenen heraus zu formulieren versucht.
25Vgl. dazu die bisher letzte deutschsprachige Zusammenfassung der Forschungsergebnisse bei T. Moser, Jugendkriminalität und Gesellschaftsstruktur, Frankfurt a. M. 1970, wie auch die Arbeit von K. Hartmann, a. a. O.
Dabei scheint tatsächlich – und darin hat das bürgerlich-liberale Erziehungskonzept mindestens formal recht – die Familie der notwendige Ausgangspunkt der Analyse zu sein, allerdings |b 20|in der Erscheinung, in der sie sich jeweils konkret an ihrem materiellen Ort innerhalb der Gesellschaft darstellt.
[044:33] Die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, lassen sich gegenwärtig nur vermutungsweise skizzieren. Die Forderung, den Ausgangs|C D1 145|punkt der Analyse in dem materiell-gesellschaftlichen Ort der |D2 150|Familie zu nehmen, ergibt sich aus dem Vorwiegen der individual-genetisch auf die Familie zurückführbaren Be|a 255|ziehungsprobleme delinquenter bzw. dissozialer Probanden. Im Anschluß an diese Feststellung liegt es für die Ebene der theoretischen und empirischen Forschungsaufgabe nahe, drei Ansätze auszuarbeiten, die über die Aporien der bisherigen Dissozialitäts-Pädagogik hinausführen könnten:
[044:34] 1. Wir benötigen eine ätiologische bzw. ökologische Theorie, die die Variablen der objektiven Arbeitssituation der Probanden und ihrer Eltern ausdrücklich in den Erklärungszusammenhang mit einbezieht. Die allgemeinen Hinweise auf den Zusammenhang von sozialer Position und Dissozialität sind kaum ausreichend, sie verweisen allenfalls auf eine Spur, bei deren Verfolgung präzisere Aussagen erhofft werden können. Die gegenwärtig aussichtsreichste Station auf diesem Weg scheint die Bestimmung der Bedeutsamkeit der Arbeitssituation insbesondere im Hinblick auf die Prägung kommunikativer Kompetenzen zu sein. Wenn es zutrifft, daß aus dem je geltenden System der Arbeitsteilung das
»faktische Substrat des Rollenhandelns«
26U. Oevermann, Sprache und soziale Herkunft. Ein Beitrag zur Analyse schichtenspezifischer Sozialisationsprozesse und ihrer Bedeutung für den Schulerfolg. Institut für Bildungsforschung in der Max-Planck-Gesellschaft. Studien und Berichte 18, Berlin 1970, S. 208ff.
abgeleitet werden kann; wenn es ferner zutrifft, daß mit der sozialen Position, sofern sie unterschiedliche Arbeitssituationen impliziert, zugleich jenes faktische Substrat variiert; wenn es schließlich zutrifft, daß die Sozialisationswirkungen des Arbeitsplatzes zu den entscheidenden Komponenten der Genese eines allgemeinen kommunikativen Kodes gehören; und wenn endlich angenommen werden darf, daß mit der größeren Belastung durch die Arbeitssituation in den unteren sozialen Strategien eine geringere Belastbarkeit der dadurch sozial geschädigten Individuen korrespondiert – dann erscheint die differenzierte Ermittlung der Interaktion zwischen den objektiven Variablen des Rollensubstrats und den subjektiven Variablen des Verwahrlosungs- oder Dissozia|D2 151|litäts-Syndroms eine unabweisliche Grundlage für die Konstruktion angemessener pädagogischer Strategien zu sein.
[044:35] 2. Das bisher am besten gesicherte Resultat der Dissozialitätsforschung betrifft das Gewicht der familiären Faktoren. Nicht nur der |C D1 146|umfassende Literaturbericht von Moser, sondern auch der jüngste Beitrag zur Verwahrlosungsforschung von K. Hartmann belegen das. Diese Arbeiten zeigen indessen aber auch, daß das Verfahren der Addition von prognosefähigen Einzelfaktoren an sein Ende gekommen ist, sofern die ermittelten Variablen nicht in eine Kommunika|b 21|tionstheorie integriert werden. Im Rahmen einer solchen Theorie, deren Ansätze sich beispielsweise bei Oevermann, Watzlawick, Lorenzer u. a. finden
27U. Oevermann, a. a. O.; A. Lorenzer, Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1970. P. Watzlawick, J. H. Beavin und DonWatzlawick/J. H. Beavin/Don D. Jackson, Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, Bern/Stuttgart 1969. K. Mollenhauer, Theorien zum Erziehungsprozeß, München 1972.
, wäre Dissozialität unter anderem als ein Kommunikations-Kode |a 256|zu bestimmen bzw. als Form verzerrter Kommunikation, die primär nicht an den Dimensionen bürgerlich-funktionaler Tugenden (
»mangelhafte Arbeitsbindung«
,
»Schwänzen«
,
»Bummeln«
,
»Weglaufen«
,
»Schlechter Umgang«
u. ä.) gemessen werden dürfte, sondern an der kommunikativen Bedeutsamkeit, die einzelne diagnostizierte Verhaltensmerkmale und Inhalte im subkulturellen Kontext des Herkunftsmilieus haben. Von einer solchen Theorie aber sind wir noch weit entfernt30
30Ansätze dazu bei K. Mollenhauer, a. a. O.
. Erst dann wird es aber möglich sein, die Ursachenforschung unmittelbar in den Dienst pädagogischer Interventionsstrategien zu stellen. Kurz: Es handelt sich im Grunde um die triviale Konsequenz aus der trivialen Einsicht, daß nicht nur die Korrektur, sondern schon die Entstehung von Dissozialität ein pädagogisches Problem ist und daß beides nur im Rahmen bestimmter Kommunikationsgemeinschaften bestimmbar ist.
[044:36] 3. Eine solche kommunikationstheoretische Betrachtung – wie sie übrigens in der amerikanischen sogenannten
»Schizophrenie«
-Forschung erfolgreich angewendet wurde
3128G. Bateson u. a., Schizophrenie und Familie, Frankfurt a. M. 1969.
– impliziert jedoch, wird sie in pädagogischer Absicht vorgenommen, einen Begriff von |D2 152|kommunikativen Grundqualifikationen, um den Begriff von Dissozialität nicht in der Beliebigkeit relativierender Deskriptionen verschwimmen zu lassen. Die Bestimmung von
»Dissozialität«
als eines Kodes verzerrter Kommunikation setzt einen Begriff kommunikativer Kompetenz voraus, wie er ansatzweise von Goffmann, Erikson, Habermas, Oevermann u. a. in einem Katalog von
»Grundqualifikationen des Rollenhandelns«
entwickelt wurde. Auf die |C D1 147|Ebene pädagogischer Interventionsstrategien übertragen, sind jene Grundqualifikationen dem verwandt, was etwa in der Diskussion um die Heimerziehung
»therapeutisch orientiertes Erziehungsmilieu«
genannt wird. Die Operationalisierung der Handlungsmerkmale eines solchen
»Milieus«
– so hoffen wir – könnte dann in einem kommunikationstheoretischen Kontext vorgenommen werden, in dem die Komponente der Sozialstruktur, der Dissozialisationsmerkmale und des pädagogischen Handlungsfeldes im Sinne einer neuorientierten pädagogischen Strategie verarbeitet sind. Vielleicht wäre es dann auch möglich, für die hier interessierende Population einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden, das der Parson-Schüler McKinley am Schluß einer einschlägigen Untersuchung mit den folgenden Sätzen charakterisiert:
»Die Moral dieser Geschichte ist ziemlich einfach. Sie besagt, daß Marx vielleicht teilweise recht hatte. Ausbeutung führt zu Entfremdung und rebellischer Gegenaggression. Sein Blickpunkt auf Ausbeutung |b 22|war aber zu |a 257|eng ökonomisch und die von ihm vorausgesagte Gegenaggression zu eng politisch. Vielleicht, und dies wäre wichtiger, ist die Ausbeutung in einer hochindustrialisierten und differenzierten Gesellschaft emotionaler und moralischer Natur, und entfremdete und aggressive Reaktion ist ähnlicher Art – Familienzerstörung, Verbrechen, politische Apathie«
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3229
D. G. McKinley, Social Class and Family Life, New York 1964, S. 226
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