Pestalozzi, 1782/1927,
S.
287. [Klaus-Peter Horn]
Editorische Anmerkung
Pestalozzi, 1782/1927,
S.
287. [Klaus-Peter Horn]
Editorische Anmerkung
Mollenhauer nutzt bei diesem Verweis den
Titel der Tübinger Dissertation von Wenzel, allerdings
ergänzt um die Angaben zur Verlagsfassung. Die
bibliografische Angabe der Verlagsausgabe lautet: H.
Wenzel: Fürsorgeheime in pädagogischer Kritik. Eine
Untersuchung in Heimen für männliche Jugendliche und
Heranwachsende. Stuttgart 1970. [Klaus-Peter Horn]
Editorische Anmerkung
Die Verlagsveröffentlichung der Dissertation
von Wenzel umfasst jedoch nur knapp 240 Druckseiten,
siehe auch den Kommentar zu Absatz
044:30. [Klaus-Peter Horn]
Editorische Anmerkung
Mollenhauer nutzt bei diesem Verweis den
Titel der Tübinger Dissertation von Wenzel, allerdings
ergänzt um die Angaben zur Verlagsfassung. Die
bibliografische Angabe der Verlagsausgabe lautet: H.
Wenzel: Fürsorgeheime in pädagogischer Kritik. Eine
Untersuchung in Heimen für männliche Jugendliche und
Heranwachsende. Stuttgart 1970. [Klaus-Peter Horn]
Editorische Anmerkung
Die Verlagsveröffentlichung der Dissertation
von Wenzel umfasst jedoch nur knapp 240 Druckseiten,
siehe auch den Kommentar zu Absatz
044:30. [Klaus-Peter Horn]
Editorische Anmerkung
In der Fassung 013-D2 wurde der in
allen anderen Fassungen in der vorhergehenden
Fußnote vorhandene Literaturverweis auf Hartmann, 1970
gelöscht, in Fußnote 25 aber die Angabe a. a. O.
stehengelassen. [Klaus-Peter Horn]
Editorische Anmerkung
In der Fassung 013-D2 wurde der in
allen anderen Fassungen in der vorhergehenden
Fußnote vorhandene Literaturverweis auf Hartmann, 1970
gelöscht, in Fußnote 25 aber die Angabe a. a. O.
stehengelassen. [Klaus-Peter Horn]
Editorische Anmerkung
Siehe Habermas,
1968. [Klaus-Peter Horn]
Editorische Anmerkung
Siehe Habermas,
1968. [Klaus-Peter Horn]
Editorische Anmerkung
In der Fassung 013-D2 wurde der in
allen anderen Fassungen in der vorhergehenden
Fußnote vorhandene Literaturverweis auf Hartmann, 1970
gelöscht, in Fußnote 25 aber die Angabe a. a. O.
stehengelassen. [Klaus-Peter Horn]
Editorische Anmerkung
Siehe Habermas,
1968. [Klaus-Peter Horn]
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CD1D2√Bewertung und Kontrolle abweichenden Verhaltens – Aporien bürgerlich-liberaler Pädagogikb√
(Unbearbeitete Fassung der Antrittsvorlesung an
der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am 26. 1.
1970)
|C D1 [128]|
|C D1 129|
[044:1] In einer kürzlich erschienenen Untersuchung zu Fragen der Erziehung jugendlicher Strafgefangener im
nordrhein-westfälischen Jugendstrafvollzug heißt es:
»Die soziale Integration jugendlicher Rechtsbrecher
hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn es der Erziehung im
Jugendstrafvollzug gelingt, sie vor ihrer Entlassung zu
re-individualisieren, d. h. sie aus allen
Gruppenzwängen zu befreien und sie in ihr Recht als
eigenverantwortliche Persönlichkeiten einzusetzen.«
1
|b 22|1G. Deimling: Theorie und Praxis des Jugendstrafvollzugs aus
pädagogischer Sicht. Darmstadt/Berlin 1969, S. 296.
Es heißt weiter, der Jugendliche
»erkennt rückblickend, daß seine Straftat das
Ergebnis einer vielleicht unbeabsichtigten, jedenfalls aber von ihm
nicht verantworteten Anpassung an Gruppenzwänge ist, die die
Freientwicklung seiner Person behindert, und er entdeckt
schließlich, daß sich hinter dem vermeintlichen Nonkonformismus
seines ehemals abweichenden Verhaltens eine besondere Art des
Konformismus verbirgt«
.
[044:2] In diesen Sätzen kommt ein bemerkenswertes Mißverständnis zum
Ausdruck: abweichendes Verhalten, in diesem Fall von der Art der Jugend-Delinquenz, wird als
Konformismus bestimmt, als zwanghafte Unterwerfung unter Gruppennormen – und
die pädagogische Perspektive ergibt sich aus der Orientierung am
Individualitätsbegriff. Darin steckt – so müssen wir interpretieren – die
empirische Annah|D2 133|me, daß für jugendliche
Delinquenten die individualistische Orientierung nicht nur ein pädagogisch
zweckmäßiges Mittel der sogenannten Resozialisierung ist, sondern zugleich
eine realistische Chance späterer Lebensbewältigung darstellt. Nun gibt es
freilich Theorien, die wenigstens die eine Hälfte der Annahme nahelegen,
nämlich daß das
»Verlernen«
von kriminellem Verhalten
damit zusammenhängt, daß D2√der Jugendliche sich aus dem Orientierungshorizont gruppenspezifischer krimineller Normen
löst; diese |C D1 130|Theorien aber versuchen
explizit nur die Entstehung von Jugendkriminalität zu
erklären, nicht aber die Wirkung pädagogisch korrigierender Kontrollen.
Indessen ist es nicht diese Ungenauigkeit und nicht hinreichend begründete
Hoffnung des Verfassers, die hier besonders be|b 8|merkenswert wäre, |a 242|sondern vielmehr die Tatsache,
daß es sich um ein systematisch erzeugtes Mißverständnis handelt,
das an Entscheidungen hängt, welche vor der Wahl empirisch erklärender
Theorien den Erkenntnisgang bestimmen: es handelt sich um ein Stereotyp bürgerlich-liberaler Pädagogik.
[044:3] Die zitierten Sätze also, so lautet meine These, sind nicht
zufällige Einzelerscheinungen in einer Spezial-Untersuchung, sondern sie
enthalten das Interpretationsmuster, nach dem innerhalb der deutschen
Pädagogik verfahren wird, wenn Phänomene abweichenden Verhaltens, hier auf
der Skala zwischen
»Verwahrlosung«
und
»Kriminalität«
, zum wissenschaftlichen und praktischen Gegenstand
werden. Dieses Interpretationsmuster ist nicht erst neuester Herkunft; es
hat seine Geschichte, die die Geschichte der Pädagogik in der bürgerlichen
Gesellschaft von Rousseau bis
auf unsere Tage ist. Es ist liberal, da es jener Reihe von
Erziehungstheorien zugehört, die sich nicht ausdrücklich der Befestigung
bestehender Herrschaftsverhältnisse und Ungleichheiten verschrieben haben,
sondern die an deren Aufhebung interessiert sind.
I.
[044:4] Der Ausgangspunkt dieses erziehungstheoretischen Denkens
kann in der Entgegensetzung von pädagogischen Normen einerseits und
den in der Gesellschaft tatsächlich geltenden CD1D2√andererseits gesehen werden2
|b 22|2Vgl. dazu Roeder: Erziehung und Gesellschaft. Ein Beitrag zur
Problemgeschichte unter besonderer Berücksichtigung des
Werkes von Lorenz von Stein. Weinheim/Berlin 1968, S. 313 f.
.
|D2 134|
[044:5] Die völlige und utopische Isolierung des
»Emile«
ist die nachdrücklichste Darstellung dieses Problems.
In seiner gesellschaftlichen Existenz tritt der homme dem citoyen gegenüber, ein Widerspruch, der sich in der
Reflexion auf seine Bedingungen als Entfremdung darstellt.
»Wer in der
bürgerlichen Ordnung den Naturgefühlen den Vorrang
einräumen will, der weiß nichtbD2√ was er will. Stets im |C D1 131|Widerspruch mit sich selbst ... wird er
nie ein echter Mensch noch ein echter Bürger
sein.«
3
|b 22|3
J. J.
Rousseau: Emil oder über die Erziehung. Aus dem
Französischen übersetzt von H. Denhardt. Leipzig o. J., S. 20.
Vgl. dazu auch die Interpretation in M. Rang: Rousseaus Lehre vom Menschen. Göttingen 1959, S. 34.
[044:6] Vor dem Hintergrund eines so formulierten Grundwiderspruchs
erscheinen die speziellen pädagogischen Probleme, die sich auf
Phänomene abweichenden Verhaltens beziehen, marginal. Aber hätte
nicht dennoch der Anfang vielversprechend sein können, da doch die
Verschränkung von
»Natur«
und
»Ge|a 243|sellschaft«
und die Auffassung
des Erziehungsvorganges in Kategorien der Entfremdung wenigstens
formal ein Verständnis dissozial-abweichenden Verhaltens im
Zusammenhang seiner gesellschaftlichen Genese zuläßt? An Schleiermacher, der versucht hat, politisch-soziale Elemente ausdrücklich seinem systematischen Erziehungsdenken zu integrieren4
|b 22|4Vgl. dazu P. M. Roeder, a.
a. O., S. 105 ff.
, zeigt sich, warum |b 9|eine solche
Vermutung nicht viel für sich hat: Die Analyse der
Erziehungsvorgänge ist nämlich eine Analyse derjenigen Probleme, vor
denen das Bürgertum im Augenblick seiner Emanzipation steht. In der
Erziehungstheorie Schleiermachers bedeutet das zweierlei:
[044:7] 1. Ein Schlüsselproblem für die auf die aktuelle
Erziehungssituation sich richtende Kritik ist die Funktion der
aristokratischen Herrschaftseliten. Ihnen gegenüber wird die
bürgerliche Gesellschaft als ein Ganzes gesehen, dessen
Selbständigkeit als die Selbständigkeit ihrer Individuen sich nur im
Abbau jener Herrschaftsansprüche entfalten kann. Entfremdung ist
demnach jene pädagogische Heteronomie zu nennen, die – vermittelt
durch die staatlich repräsentierten pädagogischen
Herrschaftansprüche jener |D2 135|Eliten – den
Bürger an der Entfaltung seiner Individualität hindert.
»Wenn die Staatsregierung meint, daß die
politische Gesinnung nur bei wenigen zu sein brauche, und
daß die Masse gewöhnt werden müsse, diesen mechanisch zu folgen, d. h. wenn die
Regierung vorherrschend aristokratisch ist, so ist
natürlich, daß sie sich auch darum, ob in der Masse
politische Gesinnung entwickelt werde oder nicht, gar nicht bekümmert. Wenn sie von diesem
Gesichtspunkt ausgeht, so ist auch natürlich, daß die Idee
die sein muß, daß die Regierung in den Händen jener kleinen
Anzahl bleibe, sei diese nun durch die Geburt bestimmt oder
anderswie; dann aber liegt |C D1 132|darin
allzu leicht ein Bestreben, die Masse zu hindern, daß nicht
etwa das jüngere Geschlecht mit einer solchen Gesinnung
bekannt gemacht werde und zu solchen Fertigkeiten gelange,
die zum Herrschen tüchtig machen. Es wird also die Absicht
der Regierung sein, die Masse bloß auf der Stufe
mechanischer Fertigkeiten festzuhalten.«
5
|b 22|5
Fr. Schleiermacher: Pädagogische Schriften Bd. I, Vorlesungen aus dem Jahre 1826, hrsg. von E.
Weniger, S.
119
, ferner auch Bd. II S. 162 ff.
[044:8] Der Normbegriff von Sozialität, von dem her diese Kritik
vorgetragen wird, wird als freie Wechselwirkung der ihre Vernunft
entfaltenden bürgerlichen Individuen gedacht. Dissozialität kann
deshalb nur erscheinen als Unterdrückung dieser Entfaltung durch
politische Institutionen, die der bürgerlichen Gesellschaft
entgegenwirken – oder als die Stufe einer überhaupt noch nicht
entwickelten bürgerlichen Vernunft bei der
»niedersten Volksklasse«
. Dieser gegenüber wird der
herrschaftskritische Gedankengang von Schleiermacher jedoch nicht
wiederholt: die
»niederste Volksklasse«
bleibt legitimer|a 244|weise ein Objekt von Bevormundung, zwar nicht durch den Staat, aber
durch die bürgerlichen Assoziationen.
[044:9] 2. Da die Gesellschaft als bürgerliche Gesellschaft – wenn auch von Schleiermacher nicht so entschieden
behauptet wie von HumboldtD2√ – als das pädagogisch herstellbare Produkt der freien
Wechselwirkung der Individuen erscheint, kann unter ihren
Bedingungen Dissoziali|b 10|tät nur als ein
aufzubessernder Mangel erscheinen, der wesentlich das einzelne
Individuum betrifft. Die materiellen und damit auch kollektiven
Bedingungen solcher |D2 136|Wechselwirkung werden
von Schleiermacher
nicht diskutiert; im Unterschied zu den pädagogischen Vorstellungen
der Frühsozialisten ist die
»soziale Frage«
nicht
sein Gegenstand. Insofern, als er nämlich nur einen Teil – den
bürgerlichen – der sozialen Realität erfaßt, bleiben auch seine
Auffassungsweisen der pädagogischen Realität abstrakt
»in dem doppelten Sinne, daß materielle
Momente und die Tatsachen der Herrschaft und des
innergesellschaftlichen Konflikts (mit Ausnahme des Konflikts zwischen
Adel und Bürgertum, K. M.) weitgehend
ausgeklammert sind«
6
|b 22|6P. M. Roeder, a. a.
O., S.
111.
.
[044:10] Pestalozzi scheint in seinem Versuch, die
Erziehungssituation der Dissozialen zu begreifen, einen Schritt in
der Analyse weitergegan|C D1 133|gen zu sein. Für
ihn erscheint die Gruppe der extrem verarmten Abhängigen nicht nur
als Modifikation im Rahmen der bürgerlichen Erziehungstheorie mit
allgemeinem Anspruch, sondern gleichsam als der Prototyp
entfremdeten Daseins. Sie ist ein extremes Exempel für das Fehlen
von Freiheit und Gleichheit und deren pädagogische FolgenD2√7
|b 22|7Vgl. dazu H. Worm: Pestalozzi und Freud. Diss. Frankfurt a.M. 1970.
. So heißt es ironisch in seiner
»Predigt an
die Franzosen«
:
»In dieser Welt ist folgen und rechttun
Euere Pflicht. Der arme und gemeine Mensch muß auf den
Himmel achten ... Ihr solltet hingegen nicht glauben an
Freyheit und Gleichheit, denn da sowohl der Himmel als die
Hölle royalistisch regiert werden, weder unter den Engeln
noch unter den Teufeln keine Freyheit und keine Gleichheit,
so begreifet Ihr, daß es für Euch – Ihr möget nun am End in
Himmel kommen oder in die Hölle müssen – in allen Fällen
besser ist, Ihr gewöhnt Euch in diesem kurzen Aufenthalt in
der Welt nicht an eine Ordnung der Dinge, die Euch in
Ewigkeit doch nie zuteil wird.«
8
|b 22|8J. H. Pestalozzi: Sämtliche Werke. Hrsg. von b√Buchenau u. a., Berlin 1927 ff., Bd. I, S.
45.
[044:11] Das Problem der Dissozialität löst sich für Pestalozzi eben nicht
mit den bürgerlichen Freiheiten, wenn nicht zugleich das
sozialpolitische Problem der besonderen Lage der untersten Volksklassen in die Überlegungen mit
eingeht. Sein Begriff der
»Individuallage«
als eines fundamentalen Aspektes pädago|a 245|gischer Analyse doku|D2 137|mentiert diesen
Versuch, noch unterhalb der bürgerlichen Erziehungstheorie
gesellschaftspolitische und pädagogische Betrachtungsweise zu vermittelnD2√9
|b 22|9Vgl. dazu P. M. Roeder, a.
a. O., S.
327, und H. Worm, a. a. O.
. Es deutet sich darin mindestens die Ahnung an, daß
dissoziales Verhalten dort, wo es als Merkmal kollektiver sozial
deprivierter Lagen auftaucht, in anderen Kategorien als denen
bürgerlicher Pädagogik begriffen werden muß.
[044:12] Indessen ist die deutsche Pädagogik kaum über diese Ahnung
hinausgekommen. Zum einen wirkten ihr Vorstellungen entgegen, die
von einer naiven Identifikation von
»Verwahrlosung«
und
»Proletariat«
ausgingen, und – in ihrer konservativen Ausprägung – die|b 11|ser sozialen Gruppe im ganzen gegenüber die pädagogische
Aufgabe lediglich als Disziplinierungsfunktion bestimmten. Das hat
seine Parallele in der auch von Liberalen – z. B. von Humboldt –
ausgesprochenen Meinung, daß das Proletariat, da ihm Vernunft und
Willen zur Sittlichkeit ohnehin fehlten, notwendig der Reli|C D1 134|gion bedürfe, um überhaupt in die
bürgerliche Gesellschaft integriert werden zu können. Zum anderen
galten die Wertorientierungen des Bürgertums und damit auch dessen
Herrschaftsanspruch derart ungebrochen, daß ein anderer Bezugsrahmen
gar nicht auftauchte – wie wir an Schleiermacher gesehen haben.
[044:13] Dieses Verhältnis der bürgerlichen Gesellschaft zu ihren
Subgruppen wiederholte sich nun in der pädagogischen Praxis wie in
der pädagogischen Theorie: Die Erziehungstheorie befaßte sich im
wesentlichen mit den Problemen des Bildungswesens und damit mit der
Gesamtbevölkerung nur insofern sie dem bürgerlichen
Selbstverständnis integrierbar war. Die pädagogischen Reaktionen auf
Dissozialität wurden – wie Schleiermacher empfohlen hatte – den
»bürgerlichen Assoziationen«
, insbesondere aber den Kirchen
überlassen. Die in Pestalozzis Begriff der
»Individuallage«
aufgeschienene Ahnung verdämmerte wieder. Es
blieb jedoch das Interpretationsmuster, das in seinem bürgerlichen
Bestandteil die Re-Integration von abweichenden Individuen in den
normativen Horizont der bürgerlichen Gesellschaft betreibt und in
seinem libera|D2 138|len diese Aufgabe
ausschließlich am Begriff der Individualität orientiert.
II.
[044:14] Die systematische Stilisierung der pädagogischen
Probleme, die sich mit den Phänomenen
dissozial-abweichenden Verhaltens ergeben und ihre vorgängige Bewertung unter dem
Aspekt der bürgerlichen Lebenspraxis wäre nicht
derart bemerkenswert, wenn solche Theorien sich
nur auf die abweichenden Ju|a 246|gendlichen der bürgerlichen Jugend
bezogen hätten. Das war aber und ist nicht der
Fall. Nach wie vor entstammen diejenigen Kinder
und Jugendlichen, die vorwiegend – im 19.
Jahrhundert nahezu ausschließlich – einer
resozialisierenden Erziehungspraxis in
entsprechenden Institutionen unterworfen werden,
den unteren sozialen Schichten. Zwar verfügen wir
nicht über eine Gesamtstatistik, die über die
soziale Herkunft aller Jugendlichen Auskunft geben
könnte, die in der BRD in Erziehungsheimen und
Jugendstrafanstalten untergebracht sind; aus
vielen Einzeluntersuchungen aber läßt sich
erschließen, daß der Anteil der
Unterschicht-Jungen auf ca. 75 %, der der Unterschicht-Mädchen auf ca. 80 % geschätzt werden darfD2√10
|b 22|10Vgl. dazu K.
Mollenhauer: Gesellschaftliche Bedingungen der Sozialpädagogik. In: Erziehung und Emanzipation. München CD1√1970.
.Das Stereotyp, nach dem im |b 12|19. Jahrhundert
Proletarisierung und Verwahrlosung nahezu
gleichbedeutend, mindestens aber als unmittelbar
zusammenhängend gedacht wurden, ist also nicht
schlechterdings falsch. Tatsächlich scheint es so
zu sein, daß die Lebensbedingungen der
Unterschicht eine Sozialisationspraxis
begünstigen, die der Entstehung dissozialer
Verhaltensweisen förderlich ist. Bei solcher
Formulierung aber ist zu bedenken, daß der Begriff b√Dissozialität selbst ein Moment von
Bewertung enthält, deren Kriterien der betroffenen
Bevölkerungsgruppe durchaus fremd sein können. Das
gleiche gilt dann auch für die pädagogischen
Behandlungsstrategien, die sich an jene Bewertung
anschließen und mit ihr begründet werden. Unsere
Frage ist, ob die vorherrschen|D2 139|den Bewertungs- und Behandlungsstrategien
in Theorie und Praxis geeignet sind, den
besonderen Problemen der Dissozialität als eines
vorwiegend unterschichtsspezifischen
Verhaltenssyndroms angemessen zu begegnen. Meine
Antwort und damit zugleich meine zweite These
lautet: Das beschriebene, der bürgerlich-liberalen
Erziehungstheorie entstammende
Interpretationsmuster spielt nach wie vor eine
derart dominierende Rolle, daß – am Erfahrungs-
und Interpretationshorizont der betroffenen Gruppen, wie auch an der intendierten Effektivität
gemessen – die relative Wirkungslosigkeit der
einschlägigen pädagogischen Institutionen unter
anderem auf dieses Muster zurückgeführt werden
muß.
[044:15] Ich werde deshalb im folgenden und im Anschluß
an jenes Interpretationsmuster drei Merkmale der
pädagogischen Orientierung im Bereich der
Resozialisierung abweichender Jugendlicher diskutieren,
die praktisch folgenreich sind: den durch die
Wertorientierung der bürgerlichen Pädagogik entstehenden
»Stigmatisierungseffekt«
, das
Konzept der totalen Institutionalisierung und die
Orientierung an einem formalen Arbeitsbegriff.
[044:16] 1. Der Stigmatisierungseffekt.
In einem pädagogischen Text aus dem Jahre 1928, 1949 zum
zweiten Mal und in der Folge in mehreren Auflagen wieder ver|a 247|öffentlicht, der innerhalb der
Erziehungswissenschaft bis in die jüngste Zeit zu den
entscheidenden, die sozialpädagogische Diskussion begründenden
Texten gerechnet wurde, finden sich die folgenden Sätze:
»In manchen Städten
gibt es jetzt die Häuser der unverträglichen asozialen Familien,
die wegen ihres unausstehlichen Betragens exmittiert
wurden und nun irgendwo am Rande der Stadt untergebracht
werden, wahre Brutstätten von Zank und Verbrechen. Wenn
es zu toll wird, müssen Schutzleute kommen und Frieden
stiften; ein Teil der Insassen bevölkert immer wieder
die Gefängnisse und ist ein Attrak|C D1 136|tionszentrum für alle schlechten Elemente
der Stadt. In dieser Brutluft der Gemeinheit, die ohne
alle |b 13|erzieherischen Kräfte gelassen ist, wächst die neue Jugend
auf.«
11
|b 22|11H. Nohl: Pädagogik aus dreißig Jahren. Frankfurt a.M. 1949, S. 185.
. Das sind gewiß keine theoretischen Sätze; an ihnen zeigt
sich aber etwas Allgemeines: die Furcht des Bürgers vor dem, was
er für eine Bedrohung seiner eige|D2 140|nen
Vernunft hält.
»Unausstehliches Betragen«
,
»Brutstätten von Zank«
,
»unverträglich«
,
»Brutluft der
Gemeinheit«
– das sind Bewertungen, deren positiver
Abdruck wesentliche Bestandteile der bürgerlichen Lebensweise
skizziert: gesittetes Betragen, Selbstbeherrschung,
distanziertes Verhalten usw. In der Terminologie der
einschlägigen Untersuchungen aus dem Bereich der
Sozialisationsforschung hieße das: Aufschub von
Triebbefriedigung, an der Zukunft orientierte Zeitperspektive,
rationales Planungsverhalten, individualistische
Wertorientierung, antizipierendes Rollenverhalten,
Aufstiegsmotivation u. ä. Das ist ein Verhaltenssyndrom, dessen
Entstehung Norbert
Elias in umfangreichen und detaillierten
historisch-psychologischen Untersuchungen als den
»Prozeß der Zivilisation«
der bürgerlichen
Gesellschaft beschrieben hat. Er schreibt:
»Es handelt sich bei dieser oft
beobachteten, geschichtlichen Rationalisierung in der
Tat nicht darum, daß im Laufe der Geschichte viele,
einzelne Menschen, ohne Zusammenhang miteinander, gleichsam
aufgrund einer Art von prästabilierter Harmonie, zur selben Zeit von
›innen‹
her ein neues Organ oder
eine neue Substanz entwickeln, einen
›Verstand‹
oder eine
›Ratio‹
,
die bisher noch nicht da war. Es ändert sich die Art, in
der die Menschen miteinander zu leben gehalten sind;
deshalb ändert sich ihr Verhalten; deshalb ändert sich
ihr Bewußtsein und ihr Triebhaushalt als Ganzes. Die
›Umstände‹
, die sich ändern, sind
nichts, was gleichsam von
›außen‹
an
den Menschen herankommt, die
›Umstände‹
, die sich ändern, sind die Beziehungen
zwischen den Menschen selbst.«
12
|b 22|12N. Elias:Der Prozeß der Zivilisation. Bd. II, Basel 1939,S.
377.
Vor dem Hintergrund dieser Tatsache, daß es sich bei der
Entstehung der bürgerlichen Lebensweise um eine große
moralisch-geschichtliche Anstrengung handelt, ist es nicht
überraschend – wenngleich alles andere als legitim –, wenn auch
die Pädagogik solche Identifikationen übernimmt und mit ihren
negativen Bewertungen dasjenige abzu|a 248|wehren versucht, was als fremdes Verhalten, als asozial, als
materiell sich darstellende Unvernunft bedrohlich erfahren wird.
Die in den Untersuchungen Dörners zur Sozialgeschichte der |C D1 137|Psychiatrie13
|b 22|13K. Dörner: Bürger und Irre. Frankfurt a.M. 1969.
nachgewiesene Ausgrenzung der
|D2 141|Geisteskranken aus der bürgerlichen
Gesellschaft mit den Mitteln administrativer Verdrängung hat
ihre genaue Parallele in der Behandlung von dissozialen
Jugendlichen. Die Bedrohung, die sie und ihre Herkunftsgruppe darstellt, wird neutralisiert durch ein bis in individuelle
Interaktionen hinein nachweisbares Muster, das in der
Interaktionstheorie Goffmans
»Stigmatisierung«
genannt wirdD2√14
|b 22|14E. Goffman:Stigma über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt a.M. 1967.
. Gemessen an der bürgerlichen Wertorientierung er|b 14|scheint nicht nur der einzelne
delinquente Jugendliche, sondern erscheinen die
Verhaltenseigentümlichkeiten der sozialen Gruppe, der er
angehört, als Makel, als Stigma. Kraft der materiellen
Überlegenheit und mit Hilfe der öffentlichen Institutionen von
Jugendgerichtsbarkeit und Jugendhilfe wird die Stigmatisierung
für den Betroffenen zu seiner Definition als eines
abweichlerischen Individuums. Diese Definition wird
»Teil seiner öffentlichen
Identität«
15
|b 22|15A. Cohen: Abweichung und Kontrolle. München 1968,S.
180.
,
»dissoziales Verhalten verdichtet sich,
wie man sagen könnte, zur Rolle des
Dissozialen; sie ist Produkt einer self-fulfilling-prophecy«
16
|b 22|16
H. Thiersch: Stigmatisierung und Verfestigung des
abweichenden Verhaltens. In: Zeitschrift f. Päd. 1969, S. 378.
Für das folgende vgl. besonders E. Goffman: Asylums. Penguin Books 1968.
.
[044:17] Im Anschluß an die interaktionstheoretischen
Überlegungen Goffmans können wir drei Aspekte der sozialen
Stigmatisierung von dissozialen Jugendlichen formulieren, die
aus dem Festhalten der Pädagogik an ihrem bürgerlichen
Bezugsrahmen folgen und die für die entsprechende
Erziehungspraxis charakteristisch sind:
1.
[044:18] Das abweichende Individuum wird als dissozial, z. B.
»verwahrlost«
, klassifiziert und erleidet
damit jene stigmatisierende Rollenzuschreibung.
2.
[044:19] Es wird Prozeduren der Diagnose unterworfen, in
denen solche Rollenzuschreibung institutionalisiert wird und
zugleich einen Schein der Rechtfertigung erhält.
|D2 142|
3.
[044:20] Es wird einem Sozialisationssystem, z. B. dem Erziehungsheim, zugewiesen, wodurch der Makel
noch einmal verstärkt und er gleichsam öffentlich diskriminiert wird. Zudem
reproduziert das Erziehungsheim zu einem D2√beträchtlichen Teil gerade jene
Sozialisationsbedingungen von Ärmlichkeit, Zwang und
Restriktion, die |C D1 138|in dem
Herkunftsmilieu die Entstehung von Dissozialität begünstigt
haben und Anlaß für die soziale Stigmatisierung gewesen
sind.
|a 249|
[044:21] Das gravierendste Dilemma ergibt sich aber aus einem Widerspruch der
Erwartungen, der mit den Grundlagen der pädagogischen Orientierung zusammenhängt. Auf der einen Seite wird der dissoziale Jugendliche
durch den Vorgang der Stigmatisierung aus dem Horizont
bürgerlicher Lebenserwartung und Identifizierungschancen
ausgegrenzt und einer Beeinflussungsstrategie unterworfen, die
ihn aus den restriktiven Bedingungen seiner sozialen Herkunft
nicht befreit, sondern ihm dort allenfalls eine materielle
Überlebenschance vermittelt. Andererseitswerden ihm sowohl in den persönlichen Interaktionen mit
Sozialpädagogen und Sozialarbeitern, im Zusammenhang desselben
Stigmatisierungsaktes die Wert- und Normorientierung des
bürgerlichen Selbstverständnisses nahegebracht, in der Erwartung, daß eine Integration in diesen
Orientierungshorizont erfolgt. Beide Erwartungen widersprechen
sich. Was der Jugendliche hört, ist ein individualistischer Appell an seine
Integrationsbereit|b 15|schaft; was er
materiell erfährt, ist, daß dieser Weg nicht die Chance
darstellt, die seinem Lernen offenstünde. Die Struktur dieser Situation ist in ihren
formalen Elementen derjenigen ähnlich, die Haley im
Zusammenhang von Interaktionsanalysen bei schizophrenen
Patienten zur Deutung verwendet: Wenn eine Mutter zu ihrem Kind
sagt:
»Komm auf meinen Schoß!«
– und wenn sie
diese Aufforderung in einem Ton sagt, der anzeigt, daß sie am
liebsten hätte, das Kind würde der Aufforderung nicht folgen,
dann sieht sich das Kind zwei widersprechenden Botschaften
gegenüber.
»Das Kind kann diese inkongruenten
Wünsche durch keine kongruente Reaktion befriedigen ... . Die einzige Art, auf die das Kind inkongruenten
Wünschen begegnen kann, ist, auf eine inkongruente Weise
zu reagieren: es wird zu ihr (der Mutter) hingehen und
dieses Verhalten mit einer Äußerung qualifizieren, die
ausdrückt, daß es nicht zuihr hingegangen ist.«
17
|b 22|17J. Haley: Die
Interaktion von Schizophrenen. In: G. Bateson u. a.: Schizophrenie und Familie. Beiträge zu einer
neuen Theorie. Frankfurt a.M. 1969, S. 107
[044:22] Der jugendliche Dissoziale befindet sich in einer
ähnlichen Lage wie das Kind. Wenn es zutrifft, daß jene
Doppelbindung an widersprechende Informationen mindestens starke
Verhaltensstörungen mitverursacht, dann liegt es nahe, zu prüfen, ob die Vermutung |C D1 139|zutreffend ist, daß die soziale
Stigmatisierung des dissozialen Jugendlichen kein Weg zur
Resozialisierung ist, sondern allenfalls von einer Relegalisierung die Rede sein kann, im übrigen aber die vorgefundene Lage
solcher Gruppen lediglich bestätigt und bestärkt wird.
[044:23] 2. Die totale
Institutionalisierung. Die pädagogische Orientierung am Individualitätskonzept hat
eine Form der Institutionalisierung in der Behandlung
dissozialer Kinder und Jugendlicher hervorgebracht, die auf den
ersten Blick das genaue Gegenteil jenes Konzeptes zu sein
scheint: die Kasernierung der |a 250|abweichenden Individuen zum Zwecke ihrer allmählichen
Integration. Die Anstaltsgründungen, die sich in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders unter der Trägerschaft der
Kirchen häuften, entwickelten dort, wo sie pädagogisch begründet
wurden – z.B. bei einigen Vertretern des württembergischen Pietismus,
bei Völter und Wichern – eine Grundvorstellung, die heute noch,
wenn auch nicht theoretisch ungebrochen, aber doch in der Praxis
der Heimerziehung gilt. Diese Vorstellung enthält folgende
Annahmen: Der Zögling ist, wie das bürgerliche Individuum auch, seiner Möglichkeit nach imstande, seine Individualität
derart auszubilden, daß er an der freien Wechselwirkung der
Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft teilnehmen kann.
Seine deprivierte Lage, seine Verhaltensstörungen oder Defizite
müssen daher rühren, daß entweder in seiner hereditären
Ausstattung oder in seinem Milieu jene Mängel ihren Grund haben.
Da kein Zweifel besteht, daß |b 16|auch der
Verwahrloste die bürgerlichen Orientierungen wird übernehmen können, wenn nur die entgegenstehenden
Einflüsse suspendiert |D2 144|werden, muß man
ihn also isolieren und die Merkmale des Erziehungsfeldes so
arrangieren, daß die schädlichen Bestandteile seiner Natur keine
Chance haben. Die Institutionen, die auf dieser Basis entstanden
sind, können als totale Institutionen bezeichnet werden
– ich schließe mich darin den Analysen Goffmans in seinem Buch
»Asylums«
an –b√ sofern sie 1. alle Aspekte des Lebens am
gleichen Ort und unter einer einzigen Autorität
vereinigen, 2. alle oder doch nahezu alle
Aktivitäten nur in einer definierten Gruppe von
Gleichbehandelten möglich sind und 3. alle Phasen des Tages in einem nahezu lückenlosen
Plan geregelt sindD2√18
|b 22|18E. Goffman: Asylums, S. 17.
.
D2√
[044:25] Untersuchungen von Jugendstrafanstalten und
Erziehungsheimen konkretisieren diese allgemeine
Charakterisierung und protokol|C D1 140|lieren
vor allem diejenigen Verhaltensmerkmale, die als Wirkung der
totalen Institutionalisierung zu vermuten sind. In einer
Längsschnittuntersuchung, die Th. Hofmann an
jugendlichen Strafgefangenen für die Dauer ihrer Haft
durchführte, kommt er zu dem Ergebnis, daß als Folge der
Behandlung die Leistungsfähigkeit der Jugendlichen abnimmt, ihr
Desinteresse an Problemen, die außerhalb der unmittelbaren
Bedürfnisbefriedigung liegen, größer wird, individuelle
Unterschiede sich nivellieren, Regressionserscheinungen häufiger
werden und Unselbständigkeit und Initiativelosigkeit zunehmen.
Untersuchungen aus dem Bereich der Heimerziehung berichten über
gleichsinnige, wenn auch nicht so detaillierte Ergebnisse.
Dennoch heißt es bei Hofmann zusammenfassend:
»Wir kommen auf Grund unserer
Untersuchungen zu dem Ergebnis, daß die Durchführung der
Jugendstrafe keinen Sinn hat, solange in der
Jugendstrafanstalt nicht die Voraussetzungen dafür
gegeben sind, den Gefangenen vor schlechten Gewohnheiten
und Fehlhaltungen zu bewahren, die negativen Einflüsse
in der |a 251|Gemeinschaft zu
neutralisieren, und den straffälligen Jugendlichen mehr
als bis|D2 145|her im Beruf, in der
Schule und in der freien Zeit zu fördern.«
19
|b 22|19
Th. Hofmann: Jugend im Gefängnis. München 1967. S. 173.
Vgl. ferner H. Wenzel:Untersuchung württembergischer Fürsorgeheime für männliche
Jugendliche und Heranwachsende. Stuttgart 1969,L. Pongratz - H.-O. Hübner: Lebensbewährung nach öffentlicher Erziehung,
Darmstadt 1959.
Ein merkwürdiger Widerspruch: Das Resultat der
Untersuchungen zeigte, daß die Erziehung in der totalen
Institution das nahezu präzise Gegenteil von dem bewirkt, was
nach dem Individualitätskonzept bürgerlicher Pädagogik erreicht
werden müßte. Diese von Hofmann selbst beigebrachte Information aber
veranlaßt ihn weder zu einer Kritik des Konzepts noch zu einer
prinzipiellen Revision der pädagogischen Strategie totaler
Institutionalisierung, sondern nur zu deren modifizierender
Intensivierung.
[044:26] 3. Die Orientierung an einem formalen
Arbeitsbegriff. Das Das Scheitern am Arbeitsplatz – in der Sprache der
Erziehungsfürsorge häufig als |b 17|
»Arbeitsbummelei«
oder
»Arbeitsscheu«
bezeichnet – ist eine der auffälligsten Prognosemerkmale für zu erwartende
Dissozialität. Es bleibt eine sehr häufige Begleiterscheinung
von Dissozialität und korreliert überdies signifikant mit dem
Merkmal der Rückfälligkeit. Es verwundert deshalb nicht, wenn der Arbeit eine besondere pädagogische Bedeutung in der
Behandlung jugendlicher Dissozialität beigemessen wird. In einer
Vollzugsordnung heißt es:
»Arbeit ist die Grundlage eines
geordneten und wirksamen Strafvollzugs. Sie soll, soweit
erforderlich, die Arbeitsgesinnung des Gefangenen
wecken, ihn an regelmäßiges, auf Arbeit aufgebautes
Leben gewöhnen sowie körperliche und seelische Schäden
ausschließen.«
20
|b 23|20Zit. nach Th.
Hofmann, a. a. O., S.
161.
Eine Befragung von Jugendstrafvollzugsbeamten ergab:
»Unter
›Erziehung‹
wird allgemein die
›Disziplinierung‹
des Gefangenen und seine Gewöhnung an Stetigkeit und
Ausdauer in der Arbeit verstanden.«
30 % der Befragten vertraten sogar die Meinung,
»daß die Beschäftigung mit Arbeiten, die
nicht der Berufsausbildung dienen, das
geeignete
›Erziehungsmittel‹
sei.«
In die gleichen Richtungen tendieren die Meinungen der
sogenannten Arbeitserzieher in Erziehungsheimen. Die Autoren
solcher Unter|D2 146|suchungen kritisieren zwar die Rigidität dieser Erziehungsvorstellungen21
|b 23|21
G. Deimling, a. a. O.,
S.
286.
, die Verwechslung von Ursache und Symptom22
|b 23|22H. Wenzel, a. a. O.,
S.
273.
, die Funktionslosigkeit des in den
heiminternen Arbeitszusammenhängen Gelernten für die spätere
Lebensbewältigung – kurz: sie kritisieren die nachweisbare Wirkungslosigkeit der gegenwärtig praktizierten Formen von Arbeitserziehung; an dem Konzept
selbst aber halten sie fest.
|a 252|
[044:27] Sie befinden sich damit in Übereinstimmung mit der
pädagogisch-theoretischen Überlieferung, für die eine
merkwürdige Projektion der Bedeutung bürgerlich-geschäftiger
Arbeit auf die durch Überlebenszwang und funktionale
Disziplinierung diktierte manuelle Arbeit der unteren sozialen
Schichten charakteristisch ist. Diese Projektion bewirkt, daß
die erzieherische Bedeutung von Arbeit in einer Reihe
formalisierter Arbeitstugenden erscheint, die durch Gewöhnung an
Arbeit überhaupt hervorgebracht werden sollen. Hinzu kommt, daß
die merkantilistische Tradition besonders in den Einrichtungen
zur Behandlung dissozialer Jugendlicher im 19. Jahrhundert
ungebrochen übernommen und für die bürgerliche Gesellschaft
funktionalisiert wurde. 1756 heißt es bei Justi:
»Ein Land kann nur nach der Massen
glücklich seyn, als die Unterthanen ihren Fleiß
anstrengen, die zur Nothdurft und Bequemlichkeit des
menschlichen Lebens erforderlichen Güter durch die
Landwirtschaft, die Manufaktur und die Commercien zu
gewinnen. Zeigt aber das gesamte Volk wenig Lust zu
arbeiten, dann kann der Zustand des gemeinen Wesens
nicht anders als schlecht seynD2√«
23
|b 23|23Zit. nach W.
Klafki / G. Kiel / J.
Schwerdtfeger: Die Arbeits- und Wirtschaftswelt im
Unterricht der Volksschule und des Gymnasiums. Heidelberg 1964, S. 7.
. Die Entwicklung der Industrieschulen bis ins |b 18|19. Jahrhundert hinein folgt dieser
Maxime, und die Waisenhäuser, Besserungs- und Rettungsanstalten
und schließlich die Fürsorgeerziehung des 20. Jahrhunderts
setzen die Tradition fort, die sich im Bereich der
Schulerziehung noch einmal ausdrücklich im formali|D2 147|sierten Arbeitsbegriff der
»Arbeitsschule«
Kerschensteiners
dokumentiert.
[044:28] Der Satz
»Arbeit erzieht«
kann für
die Behandlung jugendlicher Dissozialer nur durch die
Orientierung an der Verwertbarkeit ihrer Arbeitskraft
gerechtfertigt werden. Diese Orientierung aber zwingt die
Erziehungseinrichtungen zu einem überproportionalen Anteil
niederer, unqualifizierter Tätigkeiten und reproduziert damit
diejenigen Merkmale der Arbeit, die sich im Lichte
bürgerlich-liberaler Erziehungstheorie gegen die expliziten
Intentionen richten: Zwang, Fremdbestimmung, Deindividuation,
kommunikatives Handeln verhindernd. Die pädagogische Theorie und
ihre schlechte Praxis verschleiern damit die Tatsache, daß der
Satz
»Arbeit erzieht«
in unserem Zusammenhang
nicht pädagogisch legitimiert werden kann, sondern im
materiellen Interesse der bürgerlichen Gesellschaft sein Motiv
hat, statt sich an den Lernbedürfnissen der
»dissozialen«
Subjekte zu orientieren.
|a 253|
III.
[044:29] Das Dilemma der pädagogischen Konzeption, bei
der – wie es im Eingangszitat hieß – die
»Re-Individuation«
von Dissozialen
und damit auch die Integration in den
bürgerlich-ökonomischen Verwertungszusammenhang der
entscheidende Gedanke ist, dokumentiert sich nicht nur
in den Widersprüchen von Theorie und Ideologie, sondern
auch in den sogenannten Erfolgsstatistiken. In der
Heimerziehung müssen wir für mindestens ca. 33 % Erfolglosigkeit konstatieren, im
Jugendstrafvollzug für mindestens ca. 65 %. Und auch das gilt nur, wenn wir einen relativ
ärmlichen Begriff von Erziehungserfolg verwenden,
nämlich das Ausbleiben von Handlungen, die mit
Jugendstrafe bedroht sind. Vergleiche mit anderen Län|C D1 143|dern, auch mit sogenannten
vorbeugenden Formen offener Gruppenerziehung, ergeben
ein ähnliches BildD2√24
|b 23|24G. Iben: Von der Schutzaufsicht zur Erziehungsbeistandsschaft – Idee und Wirklichkeit einer
sozialpädagogischen Maßnahme. Weinheim 1968, S. 98ff.
.
|D2 148|
[044:30] Allerdings gibt es einige Ausnahmen. Sie sind
in der Regel alle von der gleichen Art: offene
Einrichtungen mit einem Minimum an Zwangselementen,
intensiver therapeutischer Betreuung kleiner Gruppen, ohne oder mit einem Minimum an Arbeitszwang. Die
Zahl solcher Einrichtungen ist aber so gering, daß sie noch nicht einmal 1 % der betroffenen Jugendlichen erreichen, obwohl
aus den wissenschaftlich gut kontrollierten Projekten
wie der Camp Elliot
Study, der Pilot
Intensive Counseling Organisation oder der
Highfields Study
hervorgeht, daß ihr Erfolg – auch an menschlicheren |b 19|Kriterien als denen der
Straffälligkeit gemessen – mit großer Wahrscheinlichkeit
besser istD2√25
|b 23|25Vgl. dazu
Herbert C. Quay (Ed.), Juvenile Delinquency, Princeton / New Jersey 1967; ferner K. Klüwer: Dissoziale Jugendliche in der Industriegesellschaft. In: Praxis der Kinderpsychologie und
Kinderpsychiatrie, Heft 4, 1965; St. Quensel: Kann die Jugendstrafanstalt
resozialisieren? Wege zum Menschen, Heft 5, 1968, S. 174 ff.; E. Künzel / T. Moser: Gespräche mit Eingeschlossenen.Frankfurt a.M. 1969.D2√
.
[044:31] An therapeutisch orientierten
Erziehungseinrichtungen jedoch zeigt sich etwas
Auffallendes: einerseits entstanden aus der begründeten Vermutung, daß ein
therapeutisches Milieu und therapeutische
Kommunikationsformen den Erziehungsbedürfnissen eher
entsprechen könnten, war aber andererseits auch ein
Motiv wirksam, das in der Diskussion um die
Heimerziehung seit mehr als einem Jahrzehnt eine Rolle
spielt und sich vom Individualitätskonzept leiten läßt:
die Differenzierung nach individuellen Merkmalen der
Lern- bzw. Resozialisierungsfähigkeit. Auf diese Weise
entstand für die therapeutischen Einrichtungen ein Auslesemerkmal, das für unseren
Zusammenhang von Interesse ist. Als unverzichtbare
Auslesegesichtspunkte werden nämlich die fol|a 254|genden genannt: Es muß sich um
neurotische Störungen handeln, es muß eine
durchschnittliche Intelligenz vorhanden sein,
»es muß soviel emotionale
Ansprechbarkeit, innere Verarbeitungsfähigkeit und
Bereitschaft bestehen, daß die Psychotherapie auch
als Chance zur Nachreifung genutzt |C D1 144|werden kannD2√«
26
|b 23|26
A. Leber: Das psychotherapeutische Heim. In: Pädagogische Psychologie der
Bildungsinstitutionen Bd. I, hrsg. von K. Bremm, München/Basel 1969
; vgl. dazu auch K. Hartmann: Theoretische und empirische Beiträge zur Verwahrlosungsforschung. Berlin 1970, S.
127.
. Damit sind Auslesegesichtspunkte formu|D2 149|liert, die mit großer
Wahrscheinlichkeit einen Probandenkreis definieren, der
vorwiegend den mittleren sozialen Schichten entstammt.
Die Formulierung der pädagogischen Aufgabe als
Re-Individualisierung oder Re-Integration mag hier
angemessen sein.
[044:32] Der größte Teil der Dissozialen aber wächst
unter Familienbedingungen auf, deren pathogene und
kriminogene Struktur u. a. durch die besonders
nachdrückliche Wirkung extremer, durch die soziale
Position definierbarer Faktoren erklärt werden muß. Die
Familiensituation dieser Bevölkerungsgruppe – die nicht
re-integriert werden kann, weil sie an den
Lebenschancen der bürgerlichen Gesellschaft noch gar
nicht teilhatte – zeichnet sich, wie in vielen
Untersuchungen immer wieder bestätigt werden konnte,
durch gravierende Mängel im expressiven Bereich aus,
durch Häufung ehelicher Konflikte, abwesende Väter,
Vernachlässigung der Kinder bei gleichzeitiger
überstarker Bindung der Mutter an das Kind, durch
Kommunikationsdefizite im sprachlichen Bereich, durch
Inkonsistenz von Normen und tatsächlichem Verhalten,
mangelnde Identifikationsmöglichkeiten der Kinder – das
heißt durch Merkmale, denen nur ein pädagogisches
Konzept angemessen zu sein scheint, das seine Fragen und
Strategien strikt aus der sozialen Situation der
Betroffenen heraus zu formulieren versuchtD2√27
|b 23|27Vgl. dazu die bisher letzte deutschsprachige
Zusammenfassung der Forschungsergebnisse bei T. Moser: Jugendkriminalität und
Gesellschaftsstruktur, Diss. Frankfurt a.M. 1970, wie auch die Arbeit von K. Hartmann, a. a. O.Zur besonderen Situation
krimineller Jugendlicher in der Unterschicht vgl.
u. a. W. B.
Miller: Die Kultur der Unterschicht als ein
Entstehungsmilieu für Bandendelinquenz. In: F. Sack/R. König (Hrsg.): Kriminalsoziologie. Frankfurt a.M. 1968.
. Dabei scheint tatsächlich – und darin hat das
bürgerlich-liberale Erziehungskonzept mindestens formal
recht – die Familie der notwendige Ausgangspunkt der
Analyse zu sein, allerdings |b 20|in
der Erscheinung, in der sie sich jeweils
konkret an ihrem materiellen Ort innerhalb der
Gesellschaft darstellt.
[044:33] Die Konsequenzen, die sich daraus ergeben,
lassen sich gegenwärtig nur vermutungsweise skizzieren.
Die Forderung, den Ausgangs|C D1 145|punkt der Analyse in dem materiell-gesellschaftlichen
Ort der |D2 150|Familie zu nehmen,
ergibt sich aus dem Vorwiegen der individual-genetisch
auf die Familie zurückführbaren Be|a 255|ziehungsprobleme delinquenter bzw. dissozialer
Probanden. Im Anschluß an diese Feststellung liegt es
für die Ebene der theoretischen und empirischen Forschungsaufgaben nahe, drei Ansätze auszuarbeiten, die über die
Aporien der bisherigen Dissozialitäts-Pädagogik
hinausführen könnten:
[044:34] 1. Wir benötigen eine ätiologische bzw.
ökologische Theorie, die die Variablen der objektiven
Arbeitssituation der Probanden und ihrer Eltern
ausdrücklich in den Erklärungszusammenhang miteinbezieht. Die allgemeinen Hinweise auf den Zusammenhang
von sozialer Position und Dissozialität sind kaum
ausreichend, sie verweisen allenfalls auf eine Spur, bei
deren Verfolgung präzisere Aussagen erhofft werden
können. Die gegenwärtig aussichtsreichste Station auf
diesem Weg scheint die Bestimmung der Bedeutsamkeit der
Arbeitssituation insbesondere im Hinblick auf die
Prägung kommunikativer Kompetenzen zu sein. Wenn es
zutrifft, daß aus dem je geltenden System der
Arbeitsteilung das
»faktische Substrat des
Rollenhandelns«
28
|b 23|28U. Oevermann: Sprache und soziale Herkunft. Ein Beitrag
zur Analyse schichtenspezifischer
Sozialisationsprozesse und ihrer Bedeutung für den
Schulerfolg. Institut für Bildungsforschung in der
Max-Planck-Gesellschaft. Studien und Berichte Bd. 18, Berlin 1970, S. 208 ff.
abgeleitet werden kann; wenn es ferner zutrifft,
daß mit der sozialen Position, sofern sie
unterschiedliche Arbeitssituationen impliziert, zugleich
jenes faktische Substrat variiert; wenn es schließlich
zutrifft, daß die Sozialisationswirkungen des
Arbeitsplatzes zu den entscheidenden Komponenten der
Genese eines allgemeinen kommunikativen Kodes gehören;
und wenn endlich angenommen werden darf, daß mit der
größeren Belastung durch die Arbeitssituation in den
unteren sozialen Straten eine geringere Belastbarkeit der dadurch sozial
geschädigten Individuen korrespondiert – dann erscheint
die differenzierte Ermittlung der Interaktion zwischen
den objektiven Variablen des Rollensubstrats und den
subjektiven Variablen des Verwahrlosungs- oder
Dissozia|D2 151|litäts-Syndroms
eine unabweisliche Grundlage für die Konstruktion
angemessener pädagogischer Strategien zu sein.
[044:35] 2. Das bisher am besten gesicherte Resultat
der Dissozialitätsforschung betrifft das Gewicht der
familiären Faktoren. Nicht nur der |C D1 146|umfassende Literaturbericht von Moser, sondern auch
der jüngste Beitrag zur Verwahrlosungsforschung von
K. Hartmann
belegen das. Diese Arbeiten zeigen indessen aber auch,
daß das Verfahren der Addition von prognosefähigen
Einzelfaktoren an sein Ende gekommen ist, sofern die
ermittelten Variablen nicht in eine Kommunika|b 21|tionstheorie integriert werden.
Im Rahmen einer solchen Theorie, deren Ansätze sich
beispielsweise bei Oevermann, Watzlawick,
Lorenzer u. a. finden29
|b 23|29U. Oevermann,
a. a. O.,A. Lorenzer: Sprachzerstörung und Rekonstruktion.
Vor|a 256|arbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse. Frankfurt a.M. 1970.P. Watzlawick / J. H.
Beavin / Don D. Jackson: Menschliche Kommunikation. Formen,
Störungen, Paradoxien. Bern/Stuttgart 1969.b√.
, wäre Dissozialität unter anderem als
ein Kommunikations-Kode |a 256|zu
bestimmen bzw. als Form verzerrter Kommunikation, die
primär nicht an den Dimensionen bürgerlich-funktionaler
Tugenden (
»mangelhafte
Arbeitsbindung«
,
»Schwänzen«
,
»Bummeln«
,
»Weglaufen«
,
»Schlechter
Umgang«
u. ä.) gemessen werden dürfte, sondern an
der kommunikativen Bedeutsamkeit, die einzelne
diagnostizierte Verhaltensmerkmale und Inhalte im
subkulturellen Kontext des Herkunftsmilieus haben. Von
einer solchen Theorie aber sind wir noch weit entferntb√. Erst dann wird es aber möglich sein, die Ursachen-Forschung unmittelbar in den Dienst pädagogischer Intervention-Strategien zu stellen. Kurz: es handelt sich im Grunde um die triviale Konsequenz
aus der trivialen Einsicht, daß nicht nur die Korrektur,
sondern schon die Entstehung von Dissozialität ein
pädagogisches Problem ist und daß beides nur im Rahmen
bestimmter Kommunikationsgemeinschaften bestimmbar
ist.
[044:36] 3. Eine solche kommunikationstheoretische
Betrachtung – wie sie übrigens in der amerikanischen
sogenannten
»Schizophrenie«
-Forschung erfolgreich angewendet wurde30
|b 23|30G. Bateson u. a.: Schizophrenie und Familie. Frankfurt a. M. 1969.
–
impliziert jedoch, wird sie in pädagogischer Absicht
vorgenommen, einen Begriff von |D2 152|kommunikativen Grundqualifikationen, um den Begriff
von Dissozialität nicht in der Beliebigkeit
relativierender Deskriptionen verschwimmen zu lassen.
Die Bestimmung von
»Dissozialität«
als eines Kodes verzerrter Kommunikation setzt ein Begriff kommunikativer Kompetenz voraus, wie er
ansatzweise von Goffman, Erikson, Habermas,
Oevermann u. a. in einem Katalog von
»Grundqualifikationen des
Rollenhandelns«
entwickelt wurde. Auf die |C D1 147|Ebene pädagogischer Interventions-Strategien übertragen, sind jene Grundqualifikationen dem
verwandt, was etwa in der Diskussion um die
Heimerziehung
»therapeutisch
orientiertes Erziehungsmilieu«
genannt wird. Die
Operationalisierung der Handlungsmerkmale eines solchen
»Milieus«
– so hoffen wir –
könnte dann in einem kommunikationstheoretischen Kontext
vorgenommen werden, in dem die Komponente der
Sozialstruktur, der Dissozialitätsmerkmale und des pädagogischen Handlungsfeldes im Sinne
einer neuorientierten pädagogischen Strategie
verarbeitet sind. Vielleicht wäre es dann auch möglich,
für die hier interessierende Population einen Ausweg aus
dem Dilemma zu finden, das der Parson-Schüler McKinley am Schluß einer
einschlägigen Untersuchung mit den folgenden Sätzen
charakterisiert:
»Die Moral dieser Geschichte ist
ziemlich einfach. Sie besagt, daß Marx
vielleicht teilweise recht hatte. Ausbeutung führt
zu Entfremdung und rebellischer Gegenaggression.
Sein Blickpunkt auf Ausbeutung |b 22|war aber zu |a 257|eng
ökonomisch und die von ihm vorausgesagte
Gegenaggression zu eng politisch. Vielleicht, und
dies wäre wichtiger, ist die Ausbeutung in einer
hochindustrialisierten und differenzierten
Gesellschaft emotionaler und moralischer Natur,
und entfremdete und aggressive Reaktion ist
ähnlicher Art – Familienzerstörung, Verbrechen,
politische Apathie.«
D2√31
|b 23|31
D. G. McKinley: Social Class and Family Life. New York 1964.S.
226
CD1√
CD1D2
D.
D2
abweichender Verhaltens-Aporien
b
*
*Antrittsvorlesung an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität
Frankfurt am 26.1.1970.
bCD1D2
ø
CD1D2
ø
bD2
Persönlichkeit
b
,
b
,
D2
Abweichendes
D2
sich
D2
ø
D2
Es
b
I
CD1D2
Normen
b
P. M. Roeder,
b
,
D2
313f.
bD2
,
D2
»Wer in der
bürgerlichen Ordnung den Naturgefühlen den Vorrang
einräumen will, der weiß nicht, was er will. Stets im |C D1 131|Widerspruch mit sich selbst ... wird er
nie ein echter Mensch noch ein echter Bürger
sein.«
b
,
b
,
b
,
D2
(J.J. Rousseau: Emil
oder
über die[Sandra Berkefeld]
über Erziehung. Aus dem Französischen übersetzt
von H. Denhardt. Leipzig o. J., S.
20
. Vgl. dazu auch die Interpretation in M. Rang, Rousseaus Lehre vom Menschen, Göttingen 1959, S. 34.)
D2
3
D2
105ff.
D2
müsse[Sandra Berkefeld]
müssen
D2
wird
D2
4
b
,
b
ø
D2
1
b
;
b
ø
D2
162ff.
CD1
legitimerweise
CD1D2
bürgerrechtliche
D2
,
D2
5
D2
.
D2
6
b
,
bCD1D2
a. M.
D2
ø
D2
7
b
,
b
, hrsg.
b
A.
D2
1927ff.
CD1
besonderen[Sandra Berkefeld]
beesonderen
D2
.
D2
8
D2
ø
D2
ø
CD1D2
I
[044:4] Der Ausgangspunkt dieses erziehungstheoretischen Denkens
kann in der Entgegensetzung von pädagogischen Normen einerseits und
den in der Gesellschaft tatsächlich geltenden Normen andererseits gesehen werden2
2Vgl. dazu P. M. Roeder, Erziehung und Gesellschaft. Ein Beitrag zur
Problemgeschichte unter besonderer Berücksichtigung des
Werkes von Lorenz von Stein, Weinheim/Berlin 1968, S. 313f.
.
|D2 134|
[044:5] Die völlige und utopische Isolierung des
»Emile«
ist die nachdrücklichste Darstellung dieses Problems.
In seiner gesellschaftlichen Existenz tritt der homme dem citoyen gegenüber, ein Widerspruch, der sich in der
Reflexion auf seine Bedingungen als Entfremdung darstellt.
»Wer in der
bürgerlichen Ordnung den Naturgefühlen den Vorrang
einräumen will, der weiß nicht, was er will. Stets im |C D1 131|Widerspruch mit sich selbst ... wird er
nie ein echter Mensch noch ein echter Bürger
sein.«
(J.J. Rousseau: Emil
oder
über die[Sandra Berkefeld]
über Erziehung. Aus dem Französischen übersetzt
von H. Denhardt. Leipzig o. J., S.
20
. Vgl. dazu auch die Interpretation in M. Rang, Rousseaus Lehre vom Menschen, Göttingen 1959, S. 34.)
[044:6] Vor dem Hintergrund eines so formulierten Grundwiderspruchs
erscheinen die speziellen pädagogischen Probleme, die sich auf
Phänomene abweichenden Verhaltens beziehen, marginal. Aber hätte
nicht dennoch der Anfang vielversprechend sein können, da doch die
Verschränkung von
»Natur«
und
»Ge|a 243|sellschaft«
und die Auffassung
des Erziehungsvorganges in Kategorien der Entfremdung wenigstens
formal ein Verständnis dissozial-abweichenden Verhaltens im
Zusammenhang seiner gesellschaftlichen Genese zuläßt? An Schleiermacher, der versucht hat, politisch-soziale Elemente ausdrücklich seinem systematischen Erziehungsdenken zu integrieren
3Vgl. dazu P. M. Roeder, a.
a. O., S. 105ff.
, zeigt sich, warum |b 9|eine solche
Vermutung nicht viel für sich hat: Die Analyse der
Erziehungsvorgänge ist nämlich eine Analyse derjenigen Probleme, vor
denen das Bürgertum im Augenblick seiner Emanzipation steht. In der
Erziehungstheorie Schleiermachers bedeutet das zweierlei:
[044:7] 1. Ein Schlüsselproblem für die auf die aktuelle
Erziehungssituation sich richtende Kritik ist die Funktion der
aristokratischen Herrschaftseliten. Ihnen gegenüber wird die
bürgerliche Gesellschaft als ein Ganzes gesehen, dessen
Selbständigkeit als die Selbständigkeit ihrer Individuen sich nur im
Abbau jener Herrschaftsansprüche entfalten kann. Entfremdung ist
demnach jene pädagogische Heteronomie zu nennen, die – vermittelt
durch die staatlich repräsentierten pädagogischen
Herrschaftansprüche jener |D2 135|Eliten – den
Bürger an der Entfaltung seiner Individualität hindert.
»Wenn die Staatsregierung meint, daß die
politische Gesinnung nur bei wenigen zu sein brauche, und
daß die Masse gewöhnt werden
müsse[Sandra Berkefeld]
müssen, diesen mechanisch zu folgen, d. h. wenn die
Regierung vorherrschend aristokratisch ist, so ist
natürlich, daß sie sich auch darum, ob in der Masse
politische Gesinnung entwickelt wird oder nicht, gar nicht bekümmert. Wenn sie von diesem
Gesichtspunkt ausgeht, so ist auch natürlich, daß die Idee
die sein muß, daß die Regierung in den Händen jener kleinen
Anzahl bleibe, sei diese nun durch die Geburt bestimmt oder
anderswie; dann aber liegt |C D1 132|darin
allzu leicht ein Bestreben, die Masse zu hindern, daß nicht
etwa das jüngere Geschlecht mit einer solchen Gesinnung
bekannt gemacht werde und zu solchen Fertigkeiten gelange,
die zum Herrschen tüchtig machen. Es wird also die Absicht
der Regierung sein, die Masse bloß auf der Stufe
mechanischer Fertigkeiten festzuhalten.«
4
Fr. Schleiermacher, Pädagogische Schriften 1, Vorlesungen aus dem Jahre 1826, hrsg. von E.
Weniger, S.
119
; ferner auch II S. 162ff.
[044:8] Der Normbegriff von Sozialität, von dem her diese Kritik
vorgetragen wird, wird als freie Wechselwirkung der ihre Vernunft
entfaltenden bürgerlichen Individuen gedacht. Dissozialität kann
deshalb nur erscheinen als Unterdrückung dieser Entfaltung durch
politische Institutionen, die der bürgerlichen Gesellschaft
entgegenwirken – oder als die Stufe einer überhaupt noch nicht
entwickelten bürgerlichen Vernunft bei der
»niedersten Volksklasse«
. Dieser gegenüber wird der
herrschaftskritische Gedankengang von Schleiermacher jedoch nicht
wiederholt: die
»niederste Volksklasse«
bleibt legitimerweise ein Objekt von Bevormundung, zwar nicht durch den Staat, aber
durch die bürgerlichen Assoziationen.
[044:9] 2. Da die Gesellschaft als bürgerrechtliche Gesellschaft – wenn auch von Schleiermacher nicht so entschieden
behauptet wie von Humboldt, – als das pädagogisch herstellbare Produkt der freien
Wechselwirkung der Individuen erscheint, kann unter ihren
Bedingungen Dissoziali|b 10|tät nur als ein
aufzubessernder Mangel erscheinen, der wesentlich das einzelne
Individuum betrifft. Die materiellen und damit auch kollektiven
Bedingungen solcher |D2 136|Wechselwirkung werden
von Schleiermacher
nicht diskutiert; im Unterschied zu den pädagogischen Vorstellungen
der Frühsozialisten ist die
»soziale Frage«
nicht
sein Gegenstand. Insofern, als er nämlich nur einen Teil – den
bürgerlichen – der sozialen Realität erfaßt, bleiben auch seine
Auffassungsweisen der pädagogischen Realität abstrakt
»in dem doppelten Sinne, daß materielle
Momente und die Tatsachen der Herrschaft und des
innergesellschaftlichen Konflikts (mit Ausnahme des Konflikts zwischen
Adel und Bürgertum, K. M.)
Klaus Mollenhauer
weitgehend
ausgeklammert sind«
5P. M. Roeder, a. a.
O., S.
111.
.
[044:10] Pestalozzi scheint in seinem Versuch, die
Erziehungssituation der Dissozialen zu begreifen, einen Schritt in
der Analyse weitergegan|C D1 133|gen zu sein. Für
ihn erscheint die Gruppe der extrem verarmten Abhängigen nicht nur
als Modifikation im Rahmen der bürgerlichen Erziehungstheorie mit
allgemeinem Anspruch, sondern gleichsam als der Prototyp
entfremdeten Daseins. Sie ist ein extremes Exempel für das Fehlen
von Freiheit und Gleichheit und deren pädagogische Folgen.
6Vgl. dazu H. Worm, Pestalozzi und Freud. Diss. Frankfurt a. M. 1970.
So heißt es ironisch in seiner
»Predigt an
die Franzosen«
:
»In dieser Welt ist folgen und rechttun
Euere Pflicht. Der arme und gemeine Mensch muß auf den
Himmel achten ... Ihr solltet hingegen nicht glauben an
Freyheit und Gleichheit, denn da sowohl der Himmel als die
Hölle royalistisch regiert werden, weder unter den Engeln
noch unter den Teufeln keine Freyheit und keine Gleichheit,
so begreifet Ihr, daß es für Euch – Ihr möget nun am End in
Himmel kommen oder in die Hölle müssen – in allen Fällen
besser ist, Ihr gewöhnt Euch in diesem kurzen Aufenthalt in
der Welt nicht an eine Ordnung der Dinge, die Euch in
Ewigkeit doch nie zuteil wird.«
7J. H. Pestalozzi, Sämtliche Werke, hrsg. von A. Buchenau u. a., Berlin 1927ff., Bd.
11[]
I, S.
45.
[044:11] Das Problem der Dissozialität löst sich für Pestalozzi eben nicht
mit den bürgerlichen Freiheiten, wenn nicht zugleich das
sozialpolitische Problem der
besonderen[Sandra Berkefeld]
beesonderen Lage der untersten Volksklassen in die Überlegungen mit
eingeht. Sein Begriff der
»Individuallage«
Pestalozzi, 1782/1927,
S.
287. [Klaus-Peter Horn]
als eines fundamentalen Aspektes pädago|a 245|gischer Analyse doku|D2 137|mentiert diesen
Versuch, noch unterhalb der bürgerlichen Erziehungstheorie
gesellschaftspolitische und pädagogische Betrachtungsweise zu vermitteln.
8Vgl. dazu P. M. Roeder, a.
a. O., S.
327, und H. Worm, a. a. O.
Es deutet sich darin mindestens die Ahnung an, daß
dissoziales Verhalten dort, wo es als Merkmal kollektiver sozial
deprivierter Lagen auftaucht, in anderen Kategorien als denen
bürgerlicher Pädagogik begriffen werden muß.
[044:12] Indessen ist die deutsche Pädagogik kaum über diese Ahnung
hinausgekommen. Zum einen wirkten ihr Vorstellungen entgegen, die
von einer naiven Identifikation von
»Verwahrlosung«
und
»Proletariat«
ausgingen und – in ihrer konservativen Ausprägung – die|b 11|ser sozialen Gruppe im ganzen gegenüber die pädagogische
Aufgabe lediglich als Disziplinierungsfunktion bestimmten. Das hat
seine Parallele in der auch von Liberalen – z. B. von Humboldt –
ausgesprochenen Meinung, daß das Proletariat, da ihm Vernunft und
Willen zur Sittlichkeit ohnehin fehlten, notwendig der Reli|C D1 134|gion bedürfe, um überhaupt in die
bürgerliche Gesellschaft integriert werden zu können. Zum anderen
galten die Wertorientierungen des Bürgertums und damit auch dessen
Herrschaftsanspruch derart ungebrochen, daß ein anderer Bezugsrahmen
gar nicht auftauchte – wie wir an Schleiermacher gesehen haben.
[044:13] Dieses Verhältnis der bürgerlichen Gesellschaft zu ihren
Subgruppen wiederholte sich nun in der pädagogischen Praxis wie in
der pädagogischen Theorie: Die Erziehungstheorie befaßte sich im
wesentlichen mit den Problemen des Bildungswesens und damit mit der
Gesamtbevölkerung nur insofern sie dem bürgerlichen
Selbstverständnis integrierbar war. Die pädagogischen Reaktionen auf
Dissozialität wurden – wie Schleiermacher empfohlen hatte – den
»bürgerlichen Assoziationen«
, insbesondere aber den Kirchen
überlassen. Die in Pestalozzis Begriff der
»Individuallage«
aufgeschienene Ahnung verdämmerte wieder. Es
blieb jedoch das Interpretationsmuster, das in seinem bürgerlichen
Bestandteil die Re-Integration von abweichenden Individuen in den
normativen Horizont der bürgerlichen Gesellschaft betreibt und in
seinem libera|D2 138|len diese Aufgabe
ausschließlich am Begriff der Individualität orientiert.
b
II
D2
ergeben,
b
etwa 75 Prozent
D2
ca. 75%
b
etwa 80 Prozent
CD1
werden[Sandra Berkefeld]
weerden
D2
.
D2
9
b
, in
b
, 3. Aufl.
CD1
³
D2
ø
b
der
b
Gruppe
D2
ø
CD1D2
[044:14a] Die systematische Stilisierung der pädagogischen
Probleme, die sich mit den Phänomenen
dissozial-abweichenden Verhaltens ergeben, und ihre vorgängige Bewertung unter dem
Aspekt der bürgerlichen Lebenspraxis wäre nicht
derart bemerkenswert, wenn solche Theorien sich
nur auf die abweichenden Ju|a 246|gendlichen der bürgerlichen Jugend
bezogen hätten. Das war aber und ist nicht der
Fall. Nach wie vor entstammen diejenigen Kinder
und Jugendlichen, die vorwiegend – im 19.
Jahrhundert nahezu ausschließlich – einer
resozialisierenden Erziehungspraxis in
entsprechenden Institutionen unterworfen werden,
den unteren sozialen Schichten. Zwar verfügen wir
nicht über eine Gesamtstatistik, die über die
soziale Herkunft aller Jugendlichen Auskunft geben
könnte, die in der BRD in Erziehungsheimen und
Jugendstrafanstalten untergebracht sind; aus
vielen Einzeluntersuchungen aber läßt sich
erschließen, daß der Anteil der
Unterschicht-Jungen auf etwa 75 Prozentca. 75%, der der Unterschicht-Mädchen auf etwa 80 Prozent geschätzt
werden[Sandra Berkefeld]
weerden darf.
9Vgl. dazu K.
Mollenhauer: Gesellschaftliche Bedingungen der Sozialpädagogik, in: Erziehung und Emanzipation, 3. Aufl. München ³1970.
|C D1 135|
[044:14b] Das Stereotyp, nach dem im |b 12|19. Jahrhundert
Proletarisierung und Verwahrlosung nahezu
gleichbedeutend, mindestens aber als unmittelbar
zusammenhängend gedacht wurden, ist also nicht
schlechterdings falsch. Tatsächlich scheint es so
zu sein, daß die Lebensbedingungen der
Unterschicht eine Sozialisationspraxis
begünstigen, die der Entstehung dissozialer
Verhaltensweisen förderlich ist. Bei solcher
Formulierung aber ist zu bedenken, daß der Begriff der Dissozialität selbst ein Moment von
Bewertung enthält, deren Kriterien der betroffenen
Bevölkerungsgruppe durchaus fremd sein können. Das
gleiche gilt dann auch für die pädagogischen
Behandlungsstrategien, die sich an jene Bewertung
anschließen und mit ihr begründet werden. Unsere
Frage ist, ob die vorherrschen|D2 139|den Bewertungs- und Behandlungsstrategien
in Theorie und Praxis geeignet sind, den
besonderen Problemen der Dissozialität als eines
vorwiegend unterschichtsspezifischen
Verhaltenssyndroms angemessen zu begegnen. Meine
Antwort und damit zugleich meine zweite These
lautet: Das beschriebene, der bürgerlich-liberalen
Erziehungstheorie entstammende
Interpretationsmuster spielt nach wie vor eine
derart dominierende Rolle, daß – am Erfahrungs-
und Interpretationshorizont der betroffenen Gruppe wie auch an der intendierten Effektivität
gemessen – die relative Wirkungslosigkeit der
einschlägigen pädagogischen Institutionen unter
anderem auf dieses Muster zurückgeführt werden
muß.
CD1D2
[044:14a] Die systematische Stilisierung der pädagogischen
Probleme, die sich mit den Phänomenen
dissozial-abweichenden Verhaltens ergeben, und ihre vorgängige Bewertung unter dem
Aspekt der bürgerlichen Lebenspraxis wäre nicht
derart bemerkenswert, wenn solche Theorien sich
nur auf die abweichenden Ju|a 246|gendlichen der bürgerlichen Jugend
bezogen hätten. Das war aber und ist nicht der
Fall. Nach wie vor entstammen diejenigen Kinder
und Jugendlichen, die vorwiegend – im 19.
Jahrhundert nahezu ausschließlich – einer
resozialisierenden Erziehungspraxis in
entsprechenden Institutionen unterworfen werden,
den unteren sozialen Schichten. Zwar verfügen wir
nicht über eine Gesamtstatistik, die über die
soziale Herkunft aller Jugendlichen Auskunft geben
könnte, die in der BRD in Erziehungsheimen und
Jugendstrafanstalten untergebracht sind; aus
vielen Einzeluntersuchungen aber läßt sich
erschließen, daß der Anteil der
Unterschicht-Jungen auf etwa 75 Prozentca. 75%, der der Unterschicht-Mädchen auf etwa 80 Prozent geschätzt
werden[Sandra Berkefeld]
weerden darf.
9Vgl. dazu K.
Mollenhauer: Gesellschaftliche Bedingungen der Sozialpädagogik, in: Erziehung und Emanzipation, 3. Aufl. München ³1970.
|C D1 135|
[044:14b] Das Stereotyp, nach dem im |b 12|19. Jahrhundert
Proletarisierung und Verwahrlosung nahezu
gleichbedeutend, mindestens aber als unmittelbar
zusammenhängend gedacht wurden, ist also nicht
schlechterdings falsch. Tatsächlich scheint es so
zu sein, daß die Lebensbedingungen der
Unterschicht eine Sozialisationspraxis
begünstigen, die der Entstehung dissozialer
Verhaltensweisen förderlich ist. Bei solcher
Formulierung aber ist zu bedenken, daß der Begriff der Dissozialität selbst ein Moment von
Bewertung enthält, deren Kriterien der betroffenen
Bevölkerungsgruppe durchaus fremd sein können. Das
gleiche gilt dann auch für die pädagogischen
Behandlungsstrategien, die sich an jene Bewertung
anschließen und mit ihr begründet werden. Unsere
Frage ist, ob die vorherrschen|D2 139|den Bewertungs- und Behandlungsstrategien
in Theorie und Praxis geeignet sind, den
besonderen Problemen der Dissozialität als eines
vorwiegend unterschichtsspezifischen
Verhaltenssyndroms angemessen zu begegnen. Meine
Antwort und damit zugleich meine zweite These
lautet: Das beschriebene, der bürgerlich-liberalen
Erziehungstheorie entstammende
Interpretationsmuster spielt nach wie vor eine
derart dominierende Rolle, daß – am Erfahrungs-
und Interpretationshorizont der betroffenen Gruppe wie auch an der intendierten Effektivität
gemessen – die relative Wirkungslosigkeit der
einschlägigen pädagogischen Institutionen unter
anderem auf dieses Muster zurückgeführt werden
muß.
[044:15] Ich werde deshalb im folgenden und im Anschluß
an jenes Interpretationsmuster drei Merkmale der
pädagogischen Orientierung im Bereich der
Resozialisierung abweichender Jugendlicher diskutieren,
die praktisch folgenreich sind: den durch die
Wertorientierung der bürgerlichen Pädagogik entstehenden
»Stigmatisierungseffekt«
, das
Konzept der totalen Institutionalisierung und die
Orientierung an einem formalen Arbeitsbegriff.
CD1
1. Der Stigmatisierungseffekt.
In
D2
1. Der
Stigmatisierungseffekt. In
D2
jetzt
D2
erzieherischen[Sandra Berkefeld]
erzieherische
b
,
b
,
bCD1
a. M.
D2
(Pädagogik aus dreißig Jahren. Frankfurt a. M.
1949, S. 185.)
b
ø
D2
10
b
,
b
ø
CD1D2
.
D2
11
b
,
b
,
bCD1D2
a. M.
D2
darstellen
D2
.
D2
12
b
,
b
,
bCD1D2
a. M.
D2
ø
D2
13
b
,
b
,
CD1D2
.
D2
14
b
,
b
,
bD2
für Pädagogik
b
,
b
,
D2
z.B.
D2
z.B.
b
es
D2
sehr
b
gravierende
CD1D2
die
D2
zusammenhängen
D2
Andererseits[Sandra Berkefeld]
Anderseits
D2
wird
D2
ø
D2
»hört«
D2
Leben
bCD1D2
ø
CD1
zu[Lisa-Katharina Heyhusen]
zur
D2
15
b
, in:
b
,
b
,
bCD1
a. M.
D2
mit verursacht
b
Relegalisierung
CD1D2
Relegalisierung
CD1
2. Die totale
Institutionalisierung. Die
D2
2. Die totale Institutionalisierung.
Die
bCD1
z. B.
D2
Völter[Sandra Berkefeld]
Völtern
D2
ø
D2
bürgerliche Orientierung
b
,
D2
ø [Klaus-Peter Horn]
sie
D2
.
D2
16
b
,
D2
ø
D2
ø
D2
1.
[044:24]
sie alle[Klaus-Peter Horn]
alle Aspekte des Lebens am gleichen Ort und
unter einer einzigen Autorität vereinigen,
2.
[044:23a] alle oder doch nahezu alle
Aktivitäten nur in einer definierten Gruppe von
Gleichbehandelten möglich sind und
3.
[044:23#b] alle Phasen des Tages in einem nahezu lückenlosen
Plan geregelt sind.
D2
17
b
,
b
,
b
,
D2
Untersuchung[Sandra Berkefeld]
Untersuchungen
b
,
bD2
;
b
und
D2
/
b
,
D2
ø
CD1
3. Die Orientierung an einem formalen
Arbeitsbegriff. Das
D2
3. Die Orientierung an einem formalen
Arbeitsbegriff. Das
D2
ø
D2
18
b
30 Prozent
D2
30%
D2
19
D2
20
D2
Sie
b
gegenwärtigen
D2
.
D2
21
b
, G. Kiel und J. Schwerdtfeger
D2
/G. Kiel/J. Schwerdtfeger
b
,
b
,
D2
ø
CD1D2
II
[044:14a] Die systematische Stilisierung der pädagogischen
Probleme, die sich mit den Phänomenen
dissozial-abweichenden Verhaltens ergeben, und ihre vorgängige Bewertung unter dem
Aspekt der bürgerlichen Lebenspraxis wäre nicht
derart bemerkenswert, wenn solche Theorien sich
nur auf die abweichenden Ju|a 246|gendlichen der bürgerlichen Jugend
bezogen hätten. Das war aber und ist nicht der
Fall. Nach wie vor entstammen diejenigen Kinder
und Jugendlichen, die vorwiegend – im 19.
Jahrhundert nahezu ausschließlich – einer
resozialisierenden Erziehungspraxis in
entsprechenden Institutionen unterworfen werden,
den unteren sozialen Schichten. Zwar verfügen wir
nicht über eine Gesamtstatistik, die über die
soziale Herkunft aller Jugendlichen Auskunft geben
könnte, die in der BRD in Erziehungsheimen und
Jugendstrafanstalten untergebracht sind; aus
vielen Einzeluntersuchungen aber läßt sich
erschließen, daß der Anteil der
Unterschicht-Jungen auf etwa 75 Prozentca. 75%, der der Unterschicht-Mädchen auf etwa 80 Prozent geschätzt
werden[Sandra Berkefeld]
weerden darf.
9Vgl. dazu K.
Mollenhauer: Gesellschaftliche Bedingungen der Sozialpädagogik, in: Erziehung und Emanzipation, 3. Aufl. München ³1970.
|C D1 135|
[044:14b] Das Stereotyp, nach dem im |b 12|19. Jahrhundert
Proletarisierung und Verwahrlosung nahezu
gleichbedeutend, mindestens aber als unmittelbar
zusammenhängend gedacht wurden, ist also nicht
schlechterdings falsch. Tatsächlich scheint es so
zu sein, daß die Lebensbedingungen der
Unterschicht eine Sozialisationspraxis
begünstigen, die der Entstehung dissozialer
Verhaltensweisen förderlich ist. Bei solcher
Formulierung aber ist zu bedenken, daß der Begriff der Dissozialität selbst ein Moment von
Bewertung enthält, deren Kriterien der betroffenen
Bevölkerungsgruppe durchaus fremd sein können. Das
gleiche gilt dann auch für die pädagogischen
Behandlungsstrategien, die sich an jene Bewertung
anschließen und mit ihr begründet werden. Unsere
Frage ist, ob die vorherrschen|D2 139|den Bewertungs- und Behandlungsstrategien
in Theorie und Praxis geeignet sind, den
besonderen Problemen der Dissozialität als eines
vorwiegend unterschichtsspezifischen
Verhaltenssyndroms angemessen zu begegnen. Meine
Antwort und damit zugleich meine zweite These
lautet: Das beschriebene, der bürgerlich-liberalen
Erziehungstheorie entstammende
Interpretationsmuster spielt nach wie vor eine
derart dominierende Rolle, daß – am Erfahrungs-
und Interpretationshorizont der betroffenen Gruppe wie auch an der intendierten Effektivität
gemessen – die relative Wirkungslosigkeit der
einschlägigen pädagogischen Institutionen unter
anderem auf dieses Muster zurückgeführt werden
muß.
[044:15] Ich werde deshalb im folgenden und im Anschluß
an jenes Interpretationsmuster drei Merkmale der
pädagogischen Orientierung im Bereich der
Resozialisierung abweichender Jugendlicher diskutieren,
die praktisch folgenreich sind: den durch die
Wertorientierung der bürgerlichen Pädagogik entstehenden
»Stigmatisierungseffekt«
, das
Konzept der totalen Institutionalisierung und die
Orientierung an einem formalen Arbeitsbegriff.
[044:16] 1. Der Stigmatisierungseffekt.
In1. Der
Stigmatisierungseffekt. In einem pädagogischen Text aus dem Jahre 1928, 1949 zum
zweiten Mal und in der Folge in mehreren Auflagen
wiederver[Klaus-Peter Horn]
wieder ver|a 247|öffentlicht, der innerhalb der
Erziehungswissenschaft bis in die jüngste Zeit zu den
entscheidenden, die sozialpädagogische Diskussion begründenden
Texten gerechnet wurde, finden sich die folgenden Sätze:
»In manchen Städten
gibt es jetzt Häuser der unverträglichen asozialen Familien,
die wegen ihres unausstehlichen Betragens exmittiert
wurden und nun irgendwo am Rande der Stadt untergebracht
werden, wahre Brutstätten von Zank und Verbrechen. Wenn
es zu toll wird, müssen Schutzleute kommen und Frieden
stiften; ein Teil der Insassen bevölkert immer wieder
die Gefängnisse und ist ein Attrak|C D1 136|tionszentrum für alle schlechten Elemente
der Stadt. In dieser Brutluft der Gemeinheit, die ohne
alle |b 13|
erzieherischen[Sandra Berkefeld]
erzieherische Kräfte gelassen ist, wächst die neue Jugend
auf.«
(Pädagogik aus dreißig Jahren. Frankfurt a. M.
1949, S. 185.)
. Das sind gewiß keine theoretischen Sätze; an ihnen zeigt
sich aber etwas Allgemeines: die Furcht des Bürgers vor dem, was
er für eine Bedrohung seiner eige|D2 140|nen
Vernunft hält.
»Unausstehliches Betragen«
,
»Brutstätten von Zank«
,
»unverträglich«
,
»Brutluft der
Gemeinheit«
– das sind Bewertungen, deren positiver
Abdruck wesentliche Bestandteile der bürgerlichen Lebensweise
skizziert: gesittetes Betragen, Selbstbeherrschung,
distanziertes Verhalten usw. In der Terminologie der
einschlägigen Untersuchungen aus dem Bereich der
Sozialisationsforschung hieße das: Aufschub von
Triebbefriedigung, an der Zukunft orientierte Zeitperspektive,
rationales Planungsverhalten, individualistische
Wertorientierung, antizipierendes Rollenverhalten,
Aufstiegsmotivation u. ä. Das ist ein Verhaltenssyndrom, dessen
Entstehung Norbert
Elias in umfangreichen und detaillierten
historisch-psychologischen Untersuchungen als den
»Prozeß der Zivilisation«
der bürgerlichen
Gesellschaft beschrieben hat. Er schreibt:
»Es handelt sich bei dieser oft
beobachteten, geschichtlichen Rationalisierung in der
Tat nicht darum, daß im Laufe der Geschichte viele,
einzelne Menschen
ø[Klaus-Peter Horn]
, ohne Zusammenhang miteinander, gleichsam
aufgrund einer Art prästabilierter Harmonie, zur selben Zeit von
›innen‹
her ein neues Organ oder
eine neue Substanz entwickeln, einen
›Verstand‹
oder eine
›Ratio‹
,
die bisher noch nicht da war. Es ändert sich die Art, in
der die Menschen miteinander zu leben gehalten sind;
deshalb ändert sich ihr Verhalten; deshalb ändert sich
ihr Bewußtsein und ihr Triebhaushalt als Ganzes. Die
›Umstände‹
, die sich ändern, sind
nichts, was gleichsam von
›außen‹
an
den Menschen herankommt, die
›Umstände‹
, die sich ändern, sind die Beziehungen
zwischen den Menschen selbst.«
10N. Elias,
Über den Prozeß[]
Der Prozeß der Zivilisation II, Basel 1939.S.
377.
Vor dem Hintergrund dieser Tatsache, daß es sich bei der
Entstehung der bürgerlichen Lebensweise um eine große
moralisch-geschichtliche Anstrengung handelt, ist es nicht
überraschend – wenngleich alles andere als legitim –, wenn auch
die Pädagogik solche Identifikationen übernimmt und mit ihren
negativen Bewertungen dasjenige abzu|a 248|wehren versucht, was als fremdes Verhalten, als asozial, als
materiell sich darstellende Unvernunft bedrohlich erfahren wird.
Die in den Untersuchungen Dörners zur Sozialgeschichte der |C D1 137|Psychiatrie
11K. Dörner, Bürger und Irre, Frankfurt a. M. 1969.
nachgewiesene Ausgrenzung der
|D2 141|Geisteskranken aus der bürgerlichen
Gesellschaft mit den Mitteln administrativer Verdrängung hat
ihre genaue Parallele in der Behandlung von dissozialen
Jugendlichen. Die Bedrohung, die sie und ihre Herkunftsgruppe darstellen, wird neutralisiert durch ein bis in individuelle
Interaktionen hinein nachweisbares Muster, das in der
Interaktionstheorie Goffmans
»Stigmatisierung«
genannt wird.
12E. Goffman,
Stigma. Über[Sandra Berkefeld]
Stigma über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt a. M. 1967.
Gemessen an der bürgerlichen Wertorientierung er|b 14|scheint nicht nur der einzelne
delinquente Jugendliche, sondern erscheinen die
Verhaltenseigentümlichkeiten der sozialen Gruppe, der er
angehört, als Makel, als Stigma. Kraft der materiellen
Überlegenheit und mit Hilfe der öffentlichen Institutionen von
Jugendgerichtsbarkeit und Jugendhilfe wird die Stigmatisierung
für den Betroffenen zu seiner Definition als eines
abweichlerischen Individuums. Diese Definition wird
»Teil seiner öffentlichen
Identität«
13A. Cohen, Abweichung und Kontrolle, München 1968.S.
180.
,
»dissoziales Verhalten verdichtet sich,
wie man sagen könnte, zur Rolle des
Dissozialen; sie ist Produkt einer self-fulfilling-prophecy«
14
H. Thiersch, Stigmatisierung und Verfestigung des
abweichenden Verhaltens, Zeitschrift für Pädagogik 1969, S. 378.
Für das folgende vgl. besonders E. Goffman, Asylums, Penguin Books 1968.
.
[044:17] Im Anschluß an die interaktionstheoretischen
Überlegungen Goffmans können wir drei Aspekte der sozialen
Stigmatisierung von dissozialen Jugendlichen formulieren, die
aus dem Festhalten der Pädagogik an ihrem bürgerlichen
Bezugsrahmen folgen und die für die entsprechende
Erziehungspraxis charakteristisch sind:
1.
[044:18] Das abweichende Individuum wird als dissozial, z.B.
»verwahrlost«
, klassifiziert und erleidet
damit jene stigmatisierende Rollenzuschreibung.
2.
[044:19] Es wird Prozeduren der Diagnose unterworfen, in
denen solche Rollenzuschreibung institutionalisiert wird und
zugleich einen Schein der Rechtfertigung erhält.
|D2 142|
3.
[044:20] Es wird einem Sozialisationssystem, z.B. dem Erziehungsheim, zugewiesen, wodurch der Makel
noch einmal verstärkt und es gleichsam öffentlich diskriminiert wird. Zudem
reproduziert das Erziehungsheim zu einem sehr beträchtlichen Teil gerade jene
Sozialisationsbedingungen von Ärmlichkeit, Zwang und
Restriktion, die |C D1 138|in dem
Herkunftsmilieu die Entstehung von Dissozialität begünstigt
haben und Anlaß für die soziale Stigmatisierung gewesen
sind.
|a 249|
[044:21] Das gravierende Dilemma ergibt sich aber aus einem Widerspruch der
Erwartungen, die mit den Grundlagen der pädagogischen Orientierung zusammenhängen. Auf der einen Seite wird der dissoziale Jugendliche
durch den Vorgang der Stigmatisierung aus dem Horizont
bürgerlicher Lebenserwartung und Identifizierungschancen
ausgegrenzt und einer Beeinflussungsstrategie unterworfen, die
ihn aus den restriktiven Bedingungen seiner sozialen Herkunft
nicht befreit, sondern ihm dort allenfalls eine materielle
Überlebenschance vermittelt.
Andererseits[Sandra Berkefeld]
Anderseitswird ihm sowohl in den persönlichen Interaktionen mit
Sozialpädagogen und Sozialarbeitern, im Zusammenhang desselben
Stigmatisierungsaktes die Wert- und Normorientierung des
bürgerlichen Selbstverständnisses nahegebracht in der Erwartung, daß eine Integration in diesen
Orientierungshorizont erfolgt. Beide Erwartungen widersprechen
sich. Was der Jugendliche
»hört«
, ist ein individualistischer Appell an seine
Integrationsbereit|b 15|schaft; was er
materiell erfährt, ist, daß dieser Weg nicht die Chance
darstellt, die seinem Leben offenstünde. Die Struktur dieser Situation ist in ihren
formalen Elementen derjenigen ähnlich, die Haley im
Zusammenhang von Interaktionsanalysen bei schizophrenen
Patienten zur Deutung verwendet: Wenn eine Mutter zu ihrem Kind
sagt:
»Komm auf meinen Schoß!«
– und wenn sie
diese Aufforderung in einem Ton sagt, der anzeigt, daß sie am
liebsten hätte, das Kind würde der Aufforderung nicht folgen,
dann sieht sich das Kind zwei widersprechenden Botschaften
gegenüber.
»Das Kind kann diese inkongruenten
Wünsche durch keine kongruente Reaktion befriedigen ... Die einzige Art, auf die das Kind inkongruenten
Wünschen begegnen kann, ist, auf eine inkongruente Weise
zu reagieren: es wird zu ihr (der Mutter)
Klaus Mollenhauer
hingehen und
dieses Verhalten mit einer Äußerung qualifizieren, die
ausdrückt, daß es nicht
zu[Lisa-Katharina Heyhusen]
zurihr hingegangen ist.«
15J. Haley: Die
Interaktion von Schizophrenen, in: G. Bateson u. a., Schizophrenie und Familie. Beiträge zu einer
neuen Theorie, Frankfurt a. M. 1969, S.
105 f.[Sandra Berkefeld]
107
[044:22] Der jugendliche Dissoziale befindet sich in einer
ähnlichen Lage wie das Kind. Wenn es zutrifft, daß jene
Doppelbindung an widersprechende Informationen mindestens starke
Verhaltensstörungen mit verursacht, dann liegt es nahe, zu prüfen, ob die Vermutung |C D1 139|zutreffend ist, daß die soziale
Stigmatisierung des dissozialen Jugendlichen kein Weg zur
Resozialisierung ist, sondern allenfalls von einer RelegalisierungRelegalisierung die Rede sein kann, im übrigen aber die vorgefundene Lage
solcher Gruppen lediglich bestätigt und bestärkt wird.
[044:23] 2. Die totale
Institutionalisierung. Die2. Die totale Institutionalisierung.
Die pädagogische Orientierung am Individualitätskonzept hat
eine Form der Institutionalisierung in der Behandlung
dissozialer Kinder und Jugendlicher hervorgebracht, die auf den
ersten Blick das genaue Gegenteil jenes Konzeptes zu sein
scheint: die Kasernierung der |a 250|abweichenden Individuen zum Zwecke ihrer allmählichen
Integration. Die Anstaltsgründungen, die sich in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders unter der Trägerschaft der
Kirchen häuften, entwickelten dort, wo sie pädagogisch begründet
wurden – z. B. bei einigen Vertretern des württembergischen Pietismus,
bei
Völter[Sandra Berkefeld]
Völtern und Wichern – eine Grundvorstellung, die heute noch,
wenn auch nicht theoretisch ungebrochen, aber doch in der Praxis
der Heimerziehung gilt. Diese Vorstellung enthält folgende
Annahmen: Der Zögling ist, wie das bürgerliche Individuum auch seiner Möglichkeit nach imstande, seine Individualität
derart auszubilden, daß er an der freien Wechselwirkung der
Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft teilnehmen kann.
Seine deprivierte Lage, seine Verhaltensstörungen oder Defizite
müssen daher rühren, daß entweder in seiner hereditären
Ausstattung oder in seinem Milieu jene Mängel ihren Grund haben.
Da kein Zweifel besteht, daß |b 16|auch der
Verwahrloste die bürgerliche Orientierung wird übernehmen können, wenn nur die entgegenstehenden
Einflüsse suspendiert |D2 144|werden, muß man
ihn also isolieren und die Merkmale des Erziehungsfeldes so
arrangieren, daß die schädlichen Bestandteile seiner Natur keine
Chance haben. Die Institutionen, die auf dieser Basis entstanden
sind, können als totale Institutionen bezeichnet werden
– ich schließe mich darin den Analysen Goffmans in seinem Buch
»Asylums«
an –, sofern
ø [Klaus-Peter Horn]
sie
1.
[044:24]
sie alle[Klaus-Peter Horn]
alle Aspekte des Lebens am gleichen Ort und
unter einer einzigen Autorität vereinigen,
2.
[044:23a] alle oder doch nahezu alle
Aktivitäten nur in einer definierten Gruppe von
Gleichbehandelten möglich sind und
3.
[044:23#b] alle Phasen des Tages in einem nahezu lückenlosen
Plan geregelt sind.
[044:25] Untersuchungen von Jugendstrafanstalten und
Erziehungsheimen konkretisieren diese allgemeine
Charakterisierung und protokol|C D1 140|lieren
vor allem diejenigen Verhaltensmerkmale, die als Wirkung der
totalen Institutionalisierung zu vermuten sind. In einer
Längsschnittuntersuchung, die Th. Hofmann an
jugendlichen Strafgefangenen für die Dauer ihrer Haft
durchführte, kommt er zu dem Ergebnis, daß als Folge der
Behandlung die Leistungsfähigkeit der Jugendlichen abnimmt, ihr
Desinteresse an Problemen, die außerhalb der unmittelbaren
Bedürfnisbefriedigung liegen, größer wird, individuelle
Unterschiede sich nivellieren, Regressionserscheinungen häufiger
werden und Unselbständigkeit und Initiativelosigkeit zunehmen.
Untersuchungen aus dem Bereich der Heimerziehung berichten über
gleichsinnige, wenn auch nicht so detaillierte Ergebnisse.
Dennoch heißt es bei Hofmann zusammenfassend:
»Wir kommen auf Grund unserer
Untersuchungen zu dem Ergebnis, daß die Durchführung der
Jugendstrafe keinen Sinn hat, solange in der
Jugendstrafanstalt nicht die Voraussetzungen dafür
gegeben sind, den Gefangenen vor schlechten Gewohnheiten
und Fehlhaltungen zu bewahren, die negativen Einflüsse
in der |a 251|Gemeinschaft zu
neutralisieren, und den straffälligen Jugendlichen mehr
als bis|D2 145|her im Beruf, in der
Schule und in der freien Zeit zu fördern.«
17
Th. Hofmann, Jugend im Gefängnis, München 1967. S. 173.
Vgl. ferner H. Wenzel,
Untersuchung[Sandra Berkefeld]
Untersuchungen württembergischer Fürsorgeheime für männliche
Jugendliche und Heranwachsende, Stuttgart 1969
Mollenhauer nutzt bei diesem Verweis den
Titel der Tübinger Dissertation von Wenzel, allerdings
ergänzt um die Angaben zur Verlagsfassung. Die
bibliografische Angabe der Verlagsausgabe lautet: H.
Wenzel: Fürsorgeheime in pädagogischer Kritik. Eine
Untersuchung in Heimen für männliche Jugendliche und
Heranwachsende. Stuttgart 1970. [Klaus-Peter Horn]
;L. Pongratz und /H.-O. Hübner, Lebensbewährung nach öffentlicher Erziehung,
Darmstadt 1959
Ein merkwürdiger Widerspruch: Das Resultat der
Untersuchungen zeigte, daß die Erziehung in der totalen
Institution das nahezu präzise Gegenteil von dem bewirkt, was
nach dem Individualitätskonzept bürgerlicher Pädagogik erreicht
werden müßte. Diese von Hofmann selbst beigebrachte Information aber
veranlaßt ihn weder zu einer Kritik des Konzepts noch zu einer
prinzipiellen Revision der pädagogischen Strategie totaler
Institutionalisierung, sondern nur zu deren modifizierender
Intensivierung.
[044:26] 3. Die Orientierung an einem formalen
Arbeitsbegriff. Das3. Die Orientierung an einem formalen
Arbeitsbegriff. Das Das Scheitern am Arbeitsplatz – in der Sprache der
Erziehungsfürsorge häufig als |b 17|
»Arbeitsbummelei«
oder
»Arbeitsscheu«
bezeichnet – ist
eines[Lisa-Katharina Heyhusen]
eine der auffälligsten Prognosemerkmale für zu erwartende
Dissozialität. Es bleibt eine sehr häufige Begleiterscheinung
von Dissozialität und korreliert überdies signifikant mit dem
Merkmal der Rückfälligkeit. Es verwundert deshalb nicht, wenn Arbeit eine besondere pädagogische Bedeutung in der
Behandlung jugendlicher Dissozialität beigemessen wird. In einer
Vollzugsordnung heißt es:
»Arbeit ist die Grundlage eines
geordneten und wirksamen Strafvollzugs. Sie soll, soweit
erforderlich, die Arbeitsgesinnung des Gefangenen
wecken, ihn an regelmäßiges, auf Arbeit aufgebautes
Leben gewöhnen sowie körperliche und seelische Schäden
ausschließen.«
18Zit. nach Th.
Hofmann, a. a. O., S.
161.
Eine Befragung von Jugendstrafvollzugsbeamten ergab:
»Unter
›Erziehung‹
wird allgemein die
›Disziplinierung‹
des Gefangenen und seine Gewöhnung an Stetigkeit und
Ausdauer in der Arbeit verstanden.«
30 Prozent30% der Befragten vertraten sogar die Meinung,
»daß die Beschäftigung mit Arbeiten, die
nicht der Berufsausbildung dienen, das
geeignete
›Erziehungsmittel‹
sei.«
In die gleichen Richtungen tendieren die Meinungen der
sogenannten Arbeitserzieher in Erziehungsheimen. Die Autoren
solcher Unter|D2 146|suchungen kritisieren zwar die Rigidität dieser Erziehungsvorstellungen
19
G. Deimling, a. a. O.,
S.
286.
, die Verwechslung von Ursache und Symptom
20H. Wenzel, a. a. O.,
S.
273.
Die Verlagsveröffentlichung der Dissertation
von Wenzel umfasst jedoch nur knapp 240 Druckseiten,
siehe auch den Kommentar zu Absatz
044:30. [Klaus-Peter Horn]
, die Funktionslosigkeit des in den
heiminternen Arbeitszusammenhängen Gelernten für die spätere
Lebensbewältigung – kurz: Sie kritisieren die nachweisbare Wirkungslosigkeit der gegenwärtigen praktizierten Formen von Arbeitserziehung; an dem Konzept
selbst aber halten sie fest.
|a 252|
[044:27] Sie befinden sich damit in Übereinstimmung mit der
pädagogisch-theoretischen Überlieferung, für die eine
merkwürdige Projektion der Bedeutung bürgerlich-geschäftiger
Arbeit auf die durch Überlebenszwang und funktionale
Disziplinierung diktierte manuelle Arbeit der unteren sozialen
Schichten charakteristisch ist. Diese Projektion bewirkt, daß
die erzieherische Bedeutung von Arbeit in einer Reihe
formalisierter Arbeitstugenden erscheint, die durch Gewöhnung an
Arbeit überhaupt hervorgebracht werden sollen. Hinzu kommt, daß
die merkantilistische Tradition besonders in den Einrichtungen
zur Behandlung dissozialer Jugendlicher im 19. Jahrhundert
ungebrochen übernommen und für die bürgerliche Gesellschaft
funktionalisiert wurde. 1756 heißt es bei Justi:
»Ein Land kann nur nach der Massen
glücklich seyn, als die Unterthanen ihren Fleiß
anstrengen, die zur Nothdurft und Bequemlichkeit des
menschlichen Lebens erforderlichen Güter durch die
Landwirtschaft, die Manufaktur und die Commercien zu
gewinnen. Zeigt aber das gesamte Volk wenig Lust zu
arbeiten, dann kann der Zustand des gemeinen Wesens
nicht anders als schlecht seyn.«
21Zit. nach W.
Klafki , G. Kiel und J. Schwerdtfeger/G. Kiel/J. Schwerdtfeger, Die Arbeits- und Wirtschaftswelt im
Unterricht der Volksschule und des Gymnasiums, Heidelberg 1964, S. 7.
Die Entwicklung der Industrieschulen bis ins |b 18|19. Jahrhundert hinein folgt dieser
Maxime, und die Waisenhäuser, Besserungs- und Rettungsanstalten
und schließlich die Fürsorgeerziehung des 20. Jahrhunderts
setzen die Tradition fort, die sich im Bereich der
Schulerziehung noch einmal ausdrücklich im formali|D2 147|sierten Arbeitsbegriff der
»Arbeitsschule«
Kerschensteiners
dokumentiert.
[044:28] Der Satz
»Arbeit erzieht«
kann für
die Behandlung jugendlicher Dissozialer nur durch die
Orientierung an der Verwertbarkeit ihrer Arbeitskraft
gerechtfertigt werden. Diese Orientierung aber zwingt die
Erziehungseinrichtungen zu einem überproportionalen Anteil
niederer, unqualifizierter Tätigkeiten und reproduziert damit
diejenigen Merkmale der Arbeit, die sich im Lichte
bürgerlich-liberaler Erziehungstheorie gegen die expliziten
Intentionen richten: Zwang, Fremdbestimmung, Deindividuation,
kommunikatives Handeln verhindernd. Die pädagogische Theorie und
ihre schlechte Praxis verschleiern damit die Tatsache, daß der
Satz
»Arbeit erzieht«
in unserem Zusammenhang
nicht pädagogisch legitimiert werden kann, sondern im
materiellen Interesse der bürgerlichen Gesellschaft sein Motiv
hat, statt sich an den Lernbedürfnissen der
»dissozialen«
Subjekte zu orientieren.
bCD1D2
III
b
etwa 33 Prozent
CD1D2
ca. 33%
b
etwa 65 Prozent
D2
65%
D2
.
D2
22
b
,
D2
Erziehungsbeistandschaft
b
,
CD1
98 ff.
D2
98ff.[Lisa-Katharina Heyhusen]
98ff..
D2
ø
D2
ø
D2
aber ist
b
1 Prozent
D2
1%
D2
.
D2
23
b
Hg.
CD1D2
Princeton/New Jersey
b
,
b
, in
b
1965, H. 4
b
,
b
1968, H. 5
D2
174ff.
b
und
b
,
b
,
CD1
Frankfurt[Sandra Berkefeld]
Frankurt a. M.
bD2
Frankfurt a. M.
D2
ø [Sandra Berkefeld]
.
D2
ø
D2
Einerseits
D2
therapeutischen[Sandra Berkefeld]
therapeutische
D2
.
D2
24
b
,
b
, in
b
ø
b
,
b
,
D2
ø
D2
ø
D2
.
D2
25
b
,
b
ø
bCD1D2
a. M.
D2
a. a. O.
In der Fassung 013-D2 wurde der in
allen anderen Fassungen in der vorhergehenden
Fußnote vorhandene Literaturverweis auf Hartmann, 1970
gelöscht, in Fußnote 25 aber die Angabe a. a. O.
stehengelassen. [Klaus-Peter Horn]
CD1
F. Sack / R. König
CD1D2
a. M.
b
ø
D2
ø
D2
Forschungsaufgabe
CD1D2
[044:29] Das Dilemma der pädagogischen Konzeption, bei
der – wie es im Eingangszitat hieß – die
»Re-Individuation«
von Dissozialen
und damit auch die Integration in den
bürgerlich-ökonomischen Verwertungszusammenhang der
entscheidende Gedanke ist, dokumentiert sich nicht nur
in den Widersprüchen von Theorie und Ideologie, sondern
auch in den sogenannten Erfolgsstatistiken. In der
Heimerziehung müssen wir für mindestens etwa 33 Prozentca. 33% Erfolglosigkeit konstatieren, im
Jugendstrafvollzug für mindestens etwa 65 Prozent65%. Und auch das gilt nur, wenn wir einen relativ
ärmlichen Begriff von Erziehungserfolg verwenden,
nämlich das Ausbleiben von Handlungen, die mit
Jugendstrafe bedroht sind. Vergleiche mit anderen Län|C D1 143|dern, auch mit sogenannten
vorbeugenden Formen offener Gruppenerziehung, ergeben
ein ähnliches Bild.
22G. Iben, Von der Schutzaufsicht zur Erziehungsbeistandschaft – Idee und Wirklichkeit einer
sozialpädagogischen Maßnahme, Weinheim
1967[]
1968, S. 98 ff.
98ff.[Lisa-Katharina Heyhusen]
98ff..
|D2 148|
[044:30] Allerdings gibt es einige Ausnahmen. Sie sind
in der Regel alle von der gleichen Art: offene
Einrichtungen mit einem Minimum an Zwangselementen,
intensiver therapeutischer Betreuung kleiner Gruppen ohne oder mit einem Minimum an Arbeitszwang. Die
Zahl solcher Einrichtungen aber ist so gering, daß sie noch nicht einmal 1 Prozent1% der betroffenen Jugendlichen erreichen, obwohl
aus den wissenschaftlich gut kontrollierten Projekten
wie der Camp Elliot
Study, der Pilot
Intensive Counseling Organisation oder der
Highfields Study
hervorgeht, daß ihr Erfolg – auch an menschlicheren |b 19|Kriterien als denen der
Straffälligkeit gemessen – mit großer Wahrscheinlichkeit
besser ist.
23Vgl. dazu
Herbert C. Quay (Hg.), Juvenile Delinquency, Princeton/New Jersey 1967; ferner K. Klüwer, Dissoziale Jugendliche in der Industriegesellschaft, in: Praxis der Kinderpsychologie und
Kinderpsychiatrie, 1965, H. 4; St. Quensel, Kann die Jugendstrafanstalt
resozialisieren? Wege zum Menschen, 1968, H. 5, S. 174ff.; E. Künzel und T. Moser, Gespräche mit Eingeschlossenen,
Frankfurt[Sandra Berkefeld]
Frankurt a. M.Frankfurt a. M. 1969.
ø [Sandra Berkefeld]
.
[044:31] An therapeutisch orientierten
Erziehungseinrichtungen jedoch zeigt sich etwas
Auffallendes: Einerseits entstanden aus der begründeten Vermutung, daß ein
therapeutisches Milieu und therapeutische
Kommunikationsformen den Erziehungsbedürfnissen eher
entsprechen könnten, war aber andererseits auch ein
Motiv wirksam, das in der Diskussion um die
Heimerziehung seit mehr als einem Jahrzehnt eine Rolle
spielt und sich vom Individualitätskonzept leiten läßt:
die Differenzierung nach individuellen Merkmalen der
Lern- bzw. Resozialisierungsfähigkeit. Auf diese Weise
entstand für die
therapeutischen[Sandra Berkefeld]
therapeutische Einrichtungen ein Auslesemerkmal, das für unseren
Zusammenhang von Interesse ist. Als unverzichtbare
Auslesegesichtspunkte werden nämlich die fol|a 254|genden genannt: Es muß sich um
neurotische Störungen handeln, es muß eine
durchschnittliche Intelligenz vorhanden sein,
»es muß soviel emotionale
Ansprechbarkeit, innere Verarbeitungsfähigkeit und
Bereitschaft bestehen, daß die Psychotherapie auch
als Chance zur Nachreifung genutzt |C D1 144|werden kann.«
24
A. Leber, Das psychotherapeutische Heim, in: Pädagogische Psychologie der
Bildungsinstitutionen I, hrsg. von K.
Brem[Sandra Berkefeld]
Bremm, München/Basel
1968[]
1969
.
Damit sind Auslesegesichtspunkte formu|D2 149|liert, die mit großer
Wahrscheinlichkeit einen Probandenkreis definieren, der
vorwiegend den mittleren sozialen Schichten entstammt.
Die Formulierung der pädagogischen Aufgabe als
Re-Individualisierung oder Re-Integration mag hier
angemessen sein.
[044:32] Der größte Teil der Dissozialen aber wächst
unter Familienbedingungen auf, deren pathogene und
kriminogene Struktur u. a. durch die besonders
nachdrückliche Wirkung extremer, durch die soziale
Position definierbarer Faktoren erklärt werden muß. Die
Familiensituation dieser Bevölkerungsgruppe – die nicht
re-integriert werden kann, weil sie an den
Lebenschancen der bürgerlichen Gesellschaft noch gar
nicht teilhatte – zeichnet sich, wie in vielen
Untersuchungen immer wieder bestätigt werden konnte,
durch gravierende Mängel im expressiven Bereich aus,
durch Häufung ehelicher Konflikte, abwesende Väter,
Vernachlässigung der Kinder bei gleichzeitiger
überstarker Bindung der Mutter an das Kind, durch
Kommunikationsdefizite im sprachlichen Bereich, durch
Inkonsistenz von Normen und tatsächlichem Verhalten,
mangelnde Identifikationsmöglichkeiten der Kinder – das
heißt durch Merkmale, denen nur ein pädagogisches
Konzept angemessen zu sein scheint, das seine Fragen und
Strategien strikt aus der sozialen Situation der
Betroffenen heraus zu formulieren versucht.
25Vgl. dazu die bisher letzte deutschsprachige
Zusammenfassung der Forschungsergebnisse bei T. Moser, Jugendkriminalität und
Gesellschaftsstruktur, Frankfurt a. M. 1970, wie auch die Arbeit von K. Hartmann, a. a. O.
In der Fassung 013-D2 wurde der in
allen anderen Fassungen in der vorhergehenden
Fußnote vorhandene Literaturverweis auf Hartmann, 1970
gelöscht, in Fußnote 25 aber die Angabe a. a. O.
stehengelassen. [Klaus-Peter Horn]
Dabei scheint tatsächlich – und darin hat das
bürgerlich-liberale Erziehungskonzept mindestens formal
recht – die Familie der notwendige Ausgangspunkt der
Analyse zu sein, allerdings |b 20|in
der Erscheinung, in der sie sich jeweils
konkret an ihrem materiellen Ort innerhalb der
Gesellschaft darstellt.
[044:33] Die Konsequenzen, die sich daraus ergeben,
lassen sich gegenwärtig nur vermutungsweise skizzieren.
Die Forderung, den Ausgangs|C D1 145|punkt der Analyse in dem materiell-gesellschaftlichen
Ort der |D2 150|Familie zu nehmen,
ergibt sich aus dem Vorwiegen der individual-genetisch
auf die Familie zurückführbaren Be|a 255|ziehungsprobleme delinquenter bzw. dissozialer
Probanden. Im Anschluß an diese Feststellung liegt es
für die Ebene der theoretischen und empirischen Forschungsaufgabe nahe, drei Ansätze auszuarbeiten, die über die
Aporien der bisherigen Dissozialitäts-Pädagogik
hinausführen könnten:
D2
mit einbezieht
D2
26
b
,
b
ø
D2
208ff.
D2
Straten[Lisa-Katharina Heyhusen]
Strategien
D2
27
b
;
b
,
b
,
bCD1D2
a. M.
b
Watzlawick, J. H. Beavin und
Don
D2
Watzlawick/J. H. Beavin/Don
b
,
b
,
b
K. Mollenhauer,
Theorien zum Erziehungsprozeß, München
1972
b
30
30Ansätze dazu bei K. Mollenhauer, a. a.
O.
D2
Ursachenforschung
D2
Interventionsstrategien
D2
Es
b
31
D2
28
b
,
b
,
bD2
einen
CD1D2
Goffman[Sandra Berkefeld]
Goffmann
D2
Interventionsstrategien
b
Dissozialisationsmerkmale
CD1D2
ø
D2
.
b
32
D2
29
b
,
b
,
b
,
CD1
.
CD1D2
[044:34] 1. Wir benötigen eine ätiologische bzw.
ökologische Theorie, die die Variablen der objektiven
Arbeitssituation der Probanden und ihrer Eltern
ausdrücklich in den Erklärungszusammenhang mit einbezieht. Die allgemeinen Hinweise auf den Zusammenhang
von sozialer Position und Dissozialität sind kaum
ausreichend, sie verweisen allenfalls auf eine Spur, bei
deren Verfolgung präzisere Aussagen erhofft werden
können. Die gegenwärtig aussichtsreichste Station auf
diesem Weg scheint die Bestimmung der Bedeutsamkeit der
Arbeitssituation insbesondere im Hinblick auf die
Prägung kommunikativer Kompetenzen zu sein. Wenn es
zutrifft, daß aus dem je geltenden System der
Arbeitsteilung das
»faktische Substrat des
Rollenhandelns«
26U. Oevermann, Sprache und soziale Herkunft. Ein Beitrag
zur Analyse schichtenspezifischer
Sozialisationsprozesse und ihrer Bedeutung für den
Schulerfolg. Institut für Bildungsforschung in der
Max-Planck-Gesellschaft. Studien und Berichte 18, Berlin 1970, S. 208ff.
abgeleitet werden kann; wenn es ferner zutrifft,
daß mit der sozialen Position, sofern sie
unterschiedliche Arbeitssituationen impliziert, zugleich
jenes faktische Substrat variiert; wenn es schließlich
zutrifft, daß die Sozialisationswirkungen des
Arbeitsplatzes zu den entscheidenden Komponenten der
Genese eines allgemeinen kommunikativen Kodes gehören;
und wenn endlich angenommen werden darf, daß mit der
größeren Belastung durch die Arbeitssituation in den
unteren sozialen
Straten[Lisa-Katharina Heyhusen]
Strategien eine geringere Belastbarkeit der dadurch sozial
geschädigten Individuen korrespondiert – dann erscheint
die differenzierte Ermittlung der Interaktion zwischen
den objektiven Variablen des Rollensubstrats und den
subjektiven Variablen des Verwahrlosungs- oder
Dissozia|D2 151|litäts-Syndroms
eine unabweisliche Grundlage für die Konstruktion
angemessener pädagogischer Strategien zu sein.
[044:35] 2. Das bisher am besten gesicherte Resultat
der Dissozialitätsforschung betrifft das Gewicht der
familiären Faktoren. Nicht nur der |C D1 146|umfassende Literaturbericht von Moser, sondern auch
der jüngste Beitrag zur Verwahrlosungsforschung von
K. Hartmann
belegen das. Diese Arbeiten zeigen indessen aber auch,
daß das Verfahren der Addition von prognosefähigen
Einzelfaktoren an sein Ende gekommen ist, sofern die
ermittelten Variablen nicht in eine Kommunika|b 21|tionstheorie integriert werden.
Im Rahmen einer solchen Theorie, deren Ansätze sich
beispielsweise bei Oevermann, Watzlawick,
Lorenzer u. a. finden
27U. Oevermann,
a. a. O.;A. Lorenzer, Sprachzerstörung und Rekonstruktion.
Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1970.P. Watzlawick, J. H. Beavin und
DonWatzlawick/J. H. Beavin/Don D. Jackson, Menschliche Kommunikation. Formen,
Störungen, Paradoxien, Bern/Stuttgart 1969.K. Mollenhauer,
Theorien zum Erziehungsprozeß, München
1972.
, wäre Dissozialität unter anderem als
ein Kommunikations-Kode |a 256|zu
bestimmen bzw. als Form verzerrter Kommunikation, die
primär nicht an den Dimensionen bürgerlich-funktionaler
Tugenden (
»mangelhafte
Arbeitsbindung«
,
»Schwänzen«
,
»Bummeln«
,
»Weglaufen«
,
»Schlechter
Umgang«
u. ä.) gemessen werden dürfte, sondern an
der kommunikativen Bedeutsamkeit, die einzelne
diagnostizierte Verhaltensmerkmale und Inhalte im
subkulturellen Kontext des Herkunftsmilieus haben. Von
einer solchen Theorie aber sind wir noch weit entfernt30
30Ansätze dazu bei K. Mollenhauer, a. a.
O.
. Erst dann wird es aber möglich sein, die Ursachenforschung unmittelbar in den Dienst pädagogischer Interventionsstrategien zu stellen. Kurz: Es handelt sich im Grunde um die triviale Konsequenz
aus der trivialen Einsicht, daß nicht nur die Korrektur,
sondern schon die Entstehung von Dissozialität ein
pädagogisches Problem ist und daß beides nur im Rahmen
bestimmter Kommunikationsgemeinschaften bestimmbar
ist.
[044:36] 3. Eine solche kommunikationstheoretische
Betrachtung – wie sie übrigens in der amerikanischen
sogenannten
»Schizophrenie«
-Forschung erfolgreich angewendet wurde
3128G. Bateson u. a., Schizophrenie und Familie, Frankfurt a. M. 1969.
–
impliziert jedoch, wird sie in pädagogischer Absicht
vorgenommen, einen Begriff von |D2 152|kommunikativen Grundqualifikationen, um den Begriff
von Dissozialität nicht in der Beliebigkeit
relativierender Deskriptionen verschwimmen zu lassen.
Die Bestimmung von
»Dissozialität«
als eines Kodes verzerrter Kommunikation setzt einen Begriff kommunikativer Kompetenz voraus, wie er
ansatzweise von
Goffman[Sandra Berkefeld]
Goffmann, Erikson, Habermas,
Oevermann u. a. in einem Katalog von
»Grundqualifikationen des
Rollenhandelns«
Siehe Habermas,
1968. [Klaus-Peter Horn]
entwickelt wurde. Auf die |C D1 147|Ebene pädagogischer Interventionsstrategien übertragen, sind jene Grundqualifikationen dem
verwandt, was etwa in der Diskussion um die
Heimerziehung
»therapeutisch
orientiertes Erziehungsmilieu«
genannt wird. Die
Operationalisierung der Handlungsmerkmale eines solchen
»Milieus«
– so hoffen wir –
könnte dann in einem kommunikationstheoretischen Kontext
vorgenommen werden, in dem die Komponente der
Sozialstruktur, der Dissozialisationsmerkmale und des pädagogischen Handlungsfeldes im Sinne
einer neuorientierten pädagogischen Strategie
verarbeitet sind. Vielleicht wäre es dann auch möglich,
für die hier interessierende Population einen Ausweg aus
dem Dilemma zu finden, das der
Parsons[Lisa-Katharina Heyhusen]
Parson-Schüler McKinley am Schluß einer
einschlägigen Untersuchung mit den folgenden Sätzen
charakterisiert:
»Die Moral dieser Geschichte ist
ziemlich einfach. Sie besagt, daß Marx
vielleicht teilweise recht hatte. Ausbeutung führt
zu Entfremdung und rebellischer Gegenaggression.
Sein Blickpunkt auf Ausbeutung |b 22|war aber zu |a 257|eng
ökonomisch und die von ihm vorausgesagte
Gegenaggression zu eng politisch. Vielleicht, und
dies wäre wichtiger, ist die Ausbeutung in einer
hochindustrialisierten und differenzierten
Gesellschaft emotionaler und moralischer Natur,
und entfremdete und aggressive Reaktion ist
ähnlicher Art – Familienzerstörung, Verbrechen,
politische Apathie«
.
3229
D. G. McKinley, Social Class and Family Life, New York 1964,S.
226
.
CD1D2
|a 253|
III
[044:29] Das Dilemma der pädagogischen Konzeption, bei
der – wie es im Eingangszitat hieß – die
»Re-Individuation«
von Dissozialen
und damit auch die Integration in den
bürgerlich-ökonomischen Verwertungszusammenhang der
entscheidende Gedanke ist, dokumentiert sich nicht nur
in den Widersprüchen von Theorie und Ideologie, sondern
auch in den sogenannten Erfolgsstatistiken. In der
Heimerziehung müssen wir für mindestens etwa 33 Prozentca. 33% Erfolglosigkeit konstatieren, im
Jugendstrafvollzug für mindestens etwa 65 Prozent65%. Und auch das gilt nur, wenn wir einen relativ
ärmlichen Begriff von Erziehungserfolg verwenden,
nämlich das Ausbleiben von Handlungen, die mit
Jugendstrafe bedroht sind. Vergleiche mit anderen Län|C D1 143|dern, auch mit sogenannten
vorbeugenden Formen offener Gruppenerziehung, ergeben
ein ähnliches Bild.
22G. Iben, Von der Schutzaufsicht zur Erziehungsbeistandschaft – Idee und Wirklichkeit einer
sozialpädagogischen Maßnahme, Weinheim
1967[]
1968, S. 98 ff.
98ff.[Lisa-Katharina Heyhusen]
98ff..
|D2 148|
[044:30] Allerdings gibt es einige Ausnahmen. Sie sind
in der Regel alle von der gleichen Art: offene
Einrichtungen mit einem Minimum an Zwangselementen,
intensiver therapeutischer Betreuung kleiner Gruppen ohne oder mit einem Minimum an Arbeitszwang. Die
Zahl solcher Einrichtungen aber ist so gering, daß sie noch nicht einmal 1 Prozent1% der betroffenen Jugendlichen erreichen, obwohl
aus den wissenschaftlich gut kontrollierten Projekten
wie der Camp Elliot
Study, der Pilot
Intensive Counseling Organisation oder der
Highfields Study
hervorgeht, daß ihr Erfolg – auch an menschlicheren |b 19|Kriterien als denen der
Straffälligkeit gemessen – mit großer Wahrscheinlichkeit
besser ist.
23Vgl. dazu
Herbert C. Quay (Hg.), Juvenile Delinquency, Princeton/New Jersey 1967; ferner K. Klüwer, Dissoziale Jugendliche in der Industriegesellschaft, in: Praxis der Kinderpsychologie und
Kinderpsychiatrie, 1965, H. 4; St. Quensel, Kann die Jugendstrafanstalt
resozialisieren? Wege zum Menschen, 1968, H. 5, S. 174ff.; E. Künzel und T. Moser, Gespräche mit Eingeschlossenen,
Frankfurt[Sandra Berkefeld]
Frankurt a. M.Frankfurt a. M. 1969.
ø [Sandra Berkefeld]
.
[044:31] An therapeutisch orientierten
Erziehungseinrichtungen jedoch zeigt sich etwas
Auffallendes: Einerseits entstanden aus der begründeten Vermutung, daß ein
therapeutisches Milieu und therapeutische
Kommunikationsformen den Erziehungsbedürfnissen eher
entsprechen könnten, war aber andererseits auch ein
Motiv wirksam, das in der Diskussion um die
Heimerziehung seit mehr als einem Jahrzehnt eine Rolle
spielt und sich vom Individualitätskonzept leiten läßt:
die Differenzierung nach individuellen Merkmalen der
Lern- bzw. Resozialisierungsfähigkeit. Auf diese Weise
entstand für die
therapeutischen[Sandra Berkefeld]
therapeutische Einrichtungen ein Auslesemerkmal, das für unseren
Zusammenhang von Interesse ist. Als unverzichtbare
Auslesegesichtspunkte werden nämlich die fol|a 254|genden genannt: Es muß sich um
neurotische Störungen handeln, es muß eine
durchschnittliche Intelligenz vorhanden sein,
»es muß soviel emotionale
Ansprechbarkeit, innere Verarbeitungsfähigkeit und
Bereitschaft bestehen, daß die Psychotherapie auch
als Chance zur Nachreifung genutzt |C D1 144|werden kann.«
24
A. Leber, Das psychotherapeutische Heim, in: Pädagogische Psychologie der
Bildungsinstitutionen I, hrsg. von K.
Brem[Sandra Berkefeld]
Bremm, München/Basel
1968[]
1969
.
Damit sind Auslesegesichtspunkte formu|D2 149|liert, die mit großer
Wahrscheinlichkeit einen Probandenkreis definieren, der
vorwiegend den mittleren sozialen Schichten entstammt.
Die Formulierung der pädagogischen Aufgabe als
Re-Individualisierung oder Re-Integration mag hier
angemessen sein.
[044:32] Der größte Teil der Dissozialen aber wächst
unter Familienbedingungen auf, deren pathogene und
kriminogene Struktur u. a. durch die besonders
nachdrückliche Wirkung extremer, durch die soziale
Position definierbarer Faktoren erklärt werden muß. Die
Familiensituation dieser Bevölkerungsgruppe – die nicht
re-integriert werden kann, weil sie an den
Lebenschancen der bürgerlichen Gesellschaft noch gar
nicht teilhatte – zeichnet sich, wie in vielen
Untersuchungen immer wieder bestätigt werden konnte,
durch gravierende Mängel im expressiven Bereich aus,
durch Häufung ehelicher Konflikte, abwesende Väter,
Vernachlässigung der Kinder bei gleichzeitiger
überstarker Bindung der Mutter an das Kind, durch
Kommunikationsdefizite im sprachlichen Bereich, durch
Inkonsistenz von Normen und tatsächlichem Verhalten,
mangelnde Identifikationsmöglichkeiten der Kinder – das
heißt durch Merkmale, denen nur ein pädagogisches
Konzept angemessen zu sein scheint, das seine Fragen und
Strategien strikt aus der sozialen Situation der
Betroffenen heraus zu formulieren versucht.
25Vgl. dazu die bisher letzte deutschsprachige
Zusammenfassung der Forschungsergebnisse bei T. Moser, Jugendkriminalität und
Gesellschaftsstruktur, Frankfurt a. M. 1970, wie auch die Arbeit von K. Hartmann, a. a. O.
In der Fassung 013-D2 wurde der in
allen anderen Fassungen in der vorhergehenden
Fußnote vorhandene Literaturverweis auf Hartmann, 1970
gelöscht, in Fußnote 25 aber die Angabe a. a. O.
stehengelassen. [Klaus-Peter Horn]
Dabei scheint tatsächlich – und darin hat das
bürgerlich-liberale Erziehungskonzept mindestens formal
recht – die Familie der notwendige Ausgangspunkt der
Analyse zu sein, allerdings |b 20|in
der Erscheinung, in der sie sich jeweils
konkret an ihrem materiellen Ort innerhalb der
Gesellschaft darstellt.
[044:33] Die Konsequenzen, die sich daraus ergeben,
lassen sich gegenwärtig nur vermutungsweise skizzieren.
Die Forderung, den Ausgangs|C D1 145|punkt der Analyse in dem materiell-gesellschaftlichen
Ort der |D2 150|Familie zu nehmen,
ergibt sich aus dem Vorwiegen der individual-genetisch
auf die Familie zurückführbaren Be|a 255|ziehungsprobleme delinquenter bzw. dissozialer
Probanden. Im Anschluß an diese Feststellung liegt es
für die Ebene der theoretischen und empirischen Forschungsaufgabe nahe, drei Ansätze auszuarbeiten, die über die
Aporien der bisherigen Dissozialitäts-Pädagogik
hinausführen könnten:
[044:34] 1. Wir benötigen eine ätiologische bzw.
ökologische Theorie, die die Variablen der objektiven
Arbeitssituation der Probanden und ihrer Eltern
ausdrücklich in den Erklärungszusammenhang mit einbezieht. Die allgemeinen Hinweise auf den Zusammenhang
von sozialer Position und Dissozialität sind kaum
ausreichend, sie verweisen allenfalls auf eine Spur, bei
deren Verfolgung präzisere Aussagen erhofft werden
können. Die gegenwärtig aussichtsreichste Station auf
diesem Weg scheint die Bestimmung der Bedeutsamkeit der
Arbeitssituation insbesondere im Hinblick auf die
Prägung kommunikativer Kompetenzen zu sein. Wenn es
zutrifft, daß aus dem je geltenden System der
Arbeitsteilung das
»faktische Substrat des
Rollenhandelns«
26U. Oevermann, Sprache und soziale Herkunft. Ein Beitrag
zur Analyse schichtenspezifischer
Sozialisationsprozesse und ihrer Bedeutung für den
Schulerfolg. Institut für Bildungsforschung in der
Max-Planck-Gesellschaft. Studien und Berichte 18, Berlin 1970, S. 208ff.
abgeleitet werden kann; wenn es ferner zutrifft,
daß mit der sozialen Position, sofern sie
unterschiedliche Arbeitssituationen impliziert, zugleich
jenes faktische Substrat variiert; wenn es schließlich
zutrifft, daß die Sozialisationswirkungen des
Arbeitsplatzes zu den entscheidenden Komponenten der
Genese eines allgemeinen kommunikativen Kodes gehören;
und wenn endlich angenommen werden darf, daß mit der
größeren Belastung durch die Arbeitssituation in den
unteren sozialen
Straten[Lisa-Katharina Heyhusen]
Strategien eine geringere Belastbarkeit der dadurch sozial
geschädigten Individuen korrespondiert – dann erscheint
die differenzierte Ermittlung der Interaktion zwischen
den objektiven Variablen des Rollensubstrats und den
subjektiven Variablen des Verwahrlosungs- oder
Dissozia|D2 151|litäts-Syndroms
eine unabweisliche Grundlage für die Konstruktion
angemessener pädagogischer Strategien zu sein.
[044:35] 2. Das bisher am besten gesicherte Resultat
der Dissozialitätsforschung betrifft das Gewicht der
familiären Faktoren. Nicht nur der |C D1 146|umfassende Literaturbericht von Moser, sondern auch
der jüngste Beitrag zur Verwahrlosungsforschung von
K. Hartmann
belegen das. Diese Arbeiten zeigen indessen aber auch,
daß das Verfahren der Addition von prognosefähigen
Einzelfaktoren an sein Ende gekommen ist, sofern die
ermittelten Variablen nicht in eine Kommunika|b 21|tionstheorie integriert werden.
Im Rahmen einer solchen Theorie, deren Ansätze sich
beispielsweise bei Oevermann, Watzlawick,
Lorenzer u. a. finden
27U. Oevermann,
a. a. O.;A. Lorenzer, Sprachzerstörung und Rekonstruktion.
Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1970.P. Watzlawick, J. H. Beavin und
DonWatzlawick/J. H. Beavin/Don D. Jackson, Menschliche Kommunikation. Formen,
Störungen, Paradoxien, Bern/Stuttgart 1969.K. Mollenhauer,
Theorien zum Erziehungsprozeß, München
1972.
, wäre Dissozialität unter anderem als
ein Kommunikations-Kode |a 256|zu
bestimmen bzw. als Form verzerrter Kommunikation, die
primär nicht an den Dimensionen bürgerlich-funktionaler
Tugenden (
»mangelhafte
Arbeitsbindung«
,
»Schwänzen«
,
»Bummeln«
,
»Weglaufen«
,
»Schlechter
Umgang«
u. ä.) gemessen werden dürfte, sondern an
der kommunikativen Bedeutsamkeit, die einzelne
diagnostizierte Verhaltensmerkmale und Inhalte im
subkulturellen Kontext des Herkunftsmilieus haben. Von
einer solchen Theorie aber sind wir noch weit entfernt30
30Ansätze dazu bei K. Mollenhauer, a. a.
O.
. Erst dann wird es aber möglich sein, die Ursachenforschung unmittelbar in den Dienst pädagogischer Interventionsstrategien zu stellen. Kurz: Es handelt sich im Grunde um die triviale Konsequenz
aus der trivialen Einsicht, daß nicht nur die Korrektur,
sondern schon die Entstehung von Dissozialität ein
pädagogisches Problem ist und daß beides nur im Rahmen
bestimmter Kommunikationsgemeinschaften bestimmbar
ist.
[044:36] 3. Eine solche kommunikationstheoretische
Betrachtung – wie sie übrigens in der amerikanischen
sogenannten
»Schizophrenie«
-Forschung erfolgreich angewendet wurde
3128G. Bateson u. a., Schizophrenie und Familie, Frankfurt a. M. 1969.
–
impliziert jedoch, wird sie in pädagogischer Absicht
vorgenommen, einen Begriff von |D2 152|kommunikativen Grundqualifikationen, um den Begriff
von Dissozialität nicht in der Beliebigkeit
relativierender Deskriptionen verschwimmen zu lassen.
Die Bestimmung von
»Dissozialität«
als eines Kodes verzerrter Kommunikation setzt einen Begriff kommunikativer Kompetenz voraus, wie er
ansatzweise von
Goffman[Sandra Berkefeld]
Goffmann, Erikson, Habermas,
Oevermann u. a. in einem Katalog von
»Grundqualifikationen des
Rollenhandelns«
Siehe Habermas,
1968. [Klaus-Peter Horn]
entwickelt wurde. Auf die |C D1 147|Ebene pädagogischer Interventionsstrategien übertragen, sind jene Grundqualifikationen dem
verwandt, was etwa in der Diskussion um die
Heimerziehung
»therapeutisch
orientiertes Erziehungsmilieu«
genannt wird. Die
Operationalisierung der Handlungsmerkmale eines solchen
»Milieus«
– so hoffen wir –
könnte dann in einem kommunikationstheoretischen Kontext
vorgenommen werden, in dem die Komponente der
Sozialstruktur, der Dissozialisationsmerkmale und des pädagogischen Handlungsfeldes im Sinne
einer neuorientierten pädagogischen Strategie
verarbeitet sind. Vielleicht wäre es dann auch möglich,
für die hier interessierende Population einen Ausweg aus
dem Dilemma zu finden, das der
Parsons[Lisa-Katharina Heyhusen]
Parson-Schüler McKinley am Schluß einer
einschlägigen Untersuchung mit den folgenden Sätzen
charakterisiert:
»Die Moral dieser Geschichte ist
ziemlich einfach. Sie besagt, daß Marx
vielleicht teilweise recht hatte. Ausbeutung führt
zu Entfremdung und rebellischer Gegenaggression.
Sein Blickpunkt auf Ausbeutung |b 22|war aber zu |a 257|eng
ökonomisch und die von ihm vorausgesagte
Gegenaggression zu eng politisch. Vielleicht, und
dies wäre wichtiger, ist die Ausbeutung in einer
hochindustrialisierten und differenzierten
Gesellschaft emotionaler und moralischer Natur,
und entfremdete und aggressive Reaktion ist
ähnlicher Art – Familienzerstörung, Verbrechen,
politische Apathie«
.
3229
D. G. McKinley, Social Class and Family Life, New York 1964,S.
226