Vergessene Zusammenhänge [Textkritische interaktive Ansicht mit A als Leittext]
Hier ist die Vorderseite des Schutzumschlages der ersten Auflage von 1983 zu sehen.
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Notiz

[081:1] Das hier vorliegende kleine Buch ist die bearbeitete Fassung einer Vorlesung, die ich im Wintersemester 1982/83 an der Universität Göttingen gehalten habe.
[081:2]
»Das Ganze der Pädagogik, die Erziehung, hat einen szientistisch nicht einholbaren Sinn«
(H. Blankertz)
, wäre ein gutes Motto für diese Arbeit.
[081:3] Hannelore Heuer danke ich für die Betreuung des Manuskripts, vor allem der Bildmaterialien.
[081:4] K. M.
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Einleitung:
Wovon soll die Rede sein?

[081:5]
»Liebster Vater, Du hast mich letzthin einmal gefragt, warum ich behaupte, ich hätte Furcht vor Dir. Ich wußte Dir, wie gewöhnlich, nichts zu antworten, zum Teil eben aus der Furcht, die ich vor Dir habe, zum Teil deshalb, weil zur Begründung dieser Furcht zu viele Einzelheiten gehören, als daß ich sie im Reden halbwegs zusammenhalten könnte. Und wenn ich hier versuche, Dir schriftlich zu antworten, so wird es doch nur sehr unvollständig sein, weil auch im Schreiben die Furcht und ihre Folgen mich Dir gegenüber behindern und weil die Größe des Stoffs über mein Gedächnis und meinen Verstand weit hinausgeht.«
[081:6] So beginnt jener berühmte Brief, den Franz Kafka – längst erwachsen, 36 Jahre alt, der größte Teil seiner Dichtung war schon geschaffen – an seinen Vater schrieb, aber nie abschickte. Er gehört zu den erstaunlichsten pädagogischen Dokumenten unserer Kultur, wie beispielsweise die
»Bekenntnisse«
des Augustinus, die Essais M. de Montaignes, die Szenen der niederländischen Maler des 16. und 17. Jahrhunderts, Pestalozzis Rechenschaft über das Scheitern seines Erziehungsexperimentes in Stans am Vierwaldstätter See, die Autobiographie von Karl Philipp Moritz, Makarenkos Poem über die Gorki-Kolonie, van Goghs Selbstbildnisse, Elias Canettis Bericht über seine Kindheit.
[081:7] Das alles sind häufig keine Erfolgsmeldungen. Sie preisen nicht irgendeine Idee als den wahren und einzigen Weg der Erziehung, sie fordern andere nicht zur gedankenlosen Nachahmung auf, sie zelebrieren kein Fortschritts-Pathos. Diese Texte und Dokumente folgen keiner Mode, operieren nicht mit Schlagworten. Sie reden verständlich und eindringlich. Worüber?
[081:8] Beispielsweise Franz Kafka: Er zieht uns mit den drei Einleitungssätzen seines
»Briefes«
in eine ungeheuer beschleunigte |A B 10|Bewegung des Vorstellens und Denkens hinein. Man merkt der Bewegung sogleich die Hindernisse an, die sie überwinden muß. Während wir sie lesen, merken wir schon: dies wird keine einfache Abrechnung mit dem Vater, hier soll die erlittene Erziehung nicht einfach verurteilt werden, hier soll auch kein Bild des Besseren ausgemalt werden. Das alles liefe an der Sache vorbei,
»weil die Größe des Stoffes über mein Gedächtnis und meinen Verstand weit hinausgeht«
. Was tut man, wenn dies der Fall ist?
[081:9] Kafka jedenfalls begibt sich in einen fiktiven Dialog mit seinem Vater, der offenbar die wichtigste und schwierigste Komponente seines Erziehungsmilieus war. Er schont dabei weder den Vater noch sich selbst und redet dabei gegen die seelischen Schwierigkeiten an (
»Die Furcht und ihre Folgen«
), die einem solchen Unternehmen im Weg liegen. Das ist nicht nur Kafkas Problem; die ganze neuzeitliche autobiographische Literatur ist ein Zeugnis dafür, daß wir unsere eigene Bildung den Erwachsenen nicht nur verdanken, sondern ihnen auch vorwerfen können: jeder Bildungsprozeß ist Erweiterung und Bereicherung, aber auch Verengung und Verarmung dessen, was möglich gewesen wäre. Erwachsene sind nicht nur Geburtshelfer bei der Entwicklung des kindlichen Geistes, sondern für das Kind auch mächtige Zensoren dessen, zu dem es sich bildet.
[081:10] Die Pädagogik hat die Aufgabe, bei der Erinnerung daran behilflich zu sein. Das bedeutet im Hinblick auf die gleichsam kollektive Erinnerung, die kulturelle Überlieferung, daß sie den Leitfaden herauszuarbeiten hat, die Prinzipien, Gesichtspunkte und Standards, an denen sich die Erinnerung orientieren kann. Und es bedeutet im Hinblick auf den einzelnen Fall, daß die individuellen Erziehungs- und Bildungsereignisse mit Hilfe jenes Leitfadens durchmustert und auf ihre Zukunftsfähigkeit hin geprüft werden. Man kann dies auch so ausdrücken: Die Pädagogik muß an kultureller und biographischer Erinnerung arbeiten; sie muß in dieser Erinnerung die begründbaren (zukunftsfähigen) Prinzipien aufsuchen; sie muß für diese Arbeit eine der Sache angemessene, genaue Sprache finden. Die eigentümliche pädagogische Intensität des Kafka-Briefes hängt mit diesen drei Aufgaben zusammen: er bringt die Erinnerungsaufgabe als unausweichlich zur |A B 11|Sprache; er zeigt die reflexive Bewegung an, die solche Erinnerung begleitet und auf die Gründe des pädagogischen Handelns hinlenkt; und er erzählt sorgfältig Geschichten. Jeder, der über Erziehung und Bildung zu reden versucht, steht vor der gleichen Aufgabe:
[081:11] (1) Er muß die Unabweislichkeit des Problems anerkennen. Jeder hat Vater und Mutter. Jeder hat die Erziehung, mindestens durch einen dieser beiden, durchlitten, Lehrer gehabt, andere Erzieher auch, die alle für ihn – wenn es hoch kommt – das Rechte wollten. Anders geht es nicht; wir können
»Erziehung«
nicht abschaffen, wir können sie höchstens, wenn wir in der Situation von Eltern und Erziehern sind, besser machen. Aber wissen wir denn, was das Bessere ist? Nicht nur ahnen, meinen, vermuten; nicht nur irgendein Artikel auf dem pädagogischen Markt, eine Gewohnheit oder Mode, Ideologie oder Utopie – sondern zuverlässiges Wissen!
»Die Größe des Stoffs«
, und das ist dieses vertrackte Gemenge aus Geschichte und Geschichten, aus Gemachtem und Ungewolltem, aus Ökonomie, Politik und gutem Willen, aus Zuwendung zum Kind und zugleich dessen Abwehr, aus guten Erfahrungen und schlimmen Entbehrungen, aus Zustimmung und Entwertung, Liebe und Gleichgültigkeit, Verständnis und Unverstandensein – diese
»Größe des Stoffs«
geht über die Möglichkeit zuverlässigen Wissens hinaus, und zwar über Gedächtnis und Verstand: Begrenzt bleiben angesichts dieser Aufgabe nicht nur die rationalen Mittel begrifflicher Erfassung des Stoffs, begrenzt bleibt auch das Erinnerungsvermögen, das immer nur Teile der erlittenen Erziehung ans Licht zu bringen vermag;
»die Furcht und ihre Folgen«
stehen der zuverlässigen Erinnerung im Wege. In Fragen der Erziehung sind wir alle zunächst parteiisch. Nachdenken über Erziehung ist auf weiten Strecken zunächst Rechtfertigung oder Schuldigen-Suche, meist beides. Je nach Position werden die Etiketten verteilt: schuldig sind die schlimmen Eltern, die autoritären Lehrer, die
»repressiven«
Verhältnisse, die
»Emanzipationspädagogen«
, gerechtfertigt erscheint die eigene Lebensform, der eigene Stil im Umgang mit Kindern, die eigene Option, die eigene Gewohnheit –
»zu viele Einzelheiten ..., als daß ich sie im Reden halbwegs zusammenhalten könnte«
.
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[081:12] (2) Dennoch aber schreibt Kafka diesen Brief, macht sich an das, was unmöglich scheint. Die 60 Seiten des Briefes sind der angestrengte Versuch, alles in die Erinnerung zu holen, was irgend noch erreichbar ist. Die fiktive Situation des Gesprächs mit seinem Vater hilft dabei, auf immer neue Bruchstücke im Gedächtnis zu stoßen, und sichert, daß die Klage,
»unter dem Banne«
dieser Erziehung zu leiden, nicht nur sentimentale Anklage wird oder – in einem anderen Fall – zur bloßen Rechtfertigung dessen, was geschieht, sondern Reflexion von Erfahrungen und ihrer Gründe. Eben dies ist die Aufgabe pädagogischer Theorie: Was darf, nach wahrhaftiger Prüfung der Erinnerung, als gerechtfertigt gelten?
[081:13] (3) Aber wie soll davon geredet werden? Da wir unsere Erfahrungen nur in der Sprache zuverlässig haben, vor allem aber sie nur in der Sprache auch mitteilen können, hängt alles von der Qualität unseres Sprechens ab. Aber was bedeutet
»Qualität«
, wenn von Erziehung die Rede sein soll? Kann die Sprache der
»Größe des Stoffs«
irgendwie angemessen sein? Kann man überhaupt im Reden und Schreiben die
»zu vielen Einzelheiten ... halbwegs Zusammenhalten«
?
[081:14] Ich habe auf diese Fragen keine zuverlässige Antwort. Ich weiß nicht, ob es mir gelingen wird, die in der sozialwissenschaftlichen Forschung und Theorie verbreitete Sprache abstrakter Etikettierungen zu vermeiden, ohne damit auch Genauigkeit und Gültigkeit aufs Spiel zu setzen, Erfahrungen auszudrücken, ohne Erfahrungskitsch zu produzieren. Ich werde das dadurch versuchen, daß ich so häufig wie möglich pädagogische oder pädagogisch bedeutsame Dokumente vorstelle und interpretiere, sowohl aus verschiedenen Epochen der europäischen Geschichte als auch von verschiedener Art. Reden über Erziehung ist geschichtlich. Es wird in ihm immer etwas über Geschichte gesagt, und es wird auf geschichtliche Weise gesagt. Noch die gegen Vergangenheit gleichgültigste pädagogische Behauptung hat Geschichte zum Thema, mindestens die Geschichte einer Generation, zukünftige Geschichte. Das ist trivial, aber es hat Konsequenzen.
[081:15] Kafkas Brief konnte nicht irgendwann geschrieben werden. Die genauen Beschreibungen von Kindheits-Situationen und die Intensität, mit der das Leiden des Kindes zur Sprache |A B 13|gebracht wird, enthält einen Begriff von Kindheit, der vor der Mitte des 18. Jahrhunderts befremdend gewesen wäre. Er enthält überdies einen Begriff von Erziehung, der das, was der Fall ist, auf eine absurde Pointe bringt: der Vater, der das Leben gibt, nimmt es zugleich, nimmt dem Sohn
»die Luft zu atmen«
; nichts von der Erziehung durch den Vater, schreibt Kafka,
»nichts davon gehörte zu meiner Zukunft«
. In der Beschreibung dieses pädagogischen Gefängnisses wird ein Gegenbegriff von Erziehung deutlich, allerdings nur als Leerstelle. Ähnliches bringt auch Thomas Bernhard zum Ausdruck am Anfang seiner Autobiographie, die Gewalt, als die er seine Erziehung erlebt hat, ebenso gewalthaft in zwei Sätzen zusammenziehend:
[081:16]
»Der in dieser Stadt nach dem Wunsche seiner Erziehungsberechtigten, aber gegen seinen eigenen Willen Aufgewachsene und von frühester Kindheit an mit der größten Gefühls- und Verstandesbereitschaft für diese Stadt einerseits in den Schauprozeß ihrer Weltberühmtheit wie in eine perverse Geld- und Widergeld produzierende Schönheits- als Verlogenheitsmaschine, andererseits in die Mittel- und Hilflosigkeit seiner von allen Seiten ungeschützten Kindheit und Jugend wie in eine Angst- und Schreckensfestung Eingeschlossene, zu dieser Stadt als zu seiner Charakter- und Geistesentwicklungsstadt Verurteilte, hat eine, weder zu grob, noch zu leichtfertig ausgesprochen, mehr traurige und mehr seine früheste und frühe Entwicklung verdüsternde und verfinsternde, in jedem Falle aber verhängnisvolle, für seine ganze Existenz zunehmend entscheidende, furchtbare Erinnerung an die Stadt und an die Existenzumstände in dieser Stadt, keine andere. Verleumdung, Lüge, Heuchelei entgegen, muß er sich während der Niederschrift dieser Andeutung sagen, daß diese Stadt, die sein ganzes Wesen durchsetzt und seinen Verstand bestimmt hat, ihm immer und vor allem in Kindheit und Jugend, in der zwei Jahrzehnte in ihr durchexistierten und durchexerzierten Verzweiflungs- als Reifezeit, eine mehr den Geist und das Gemüt verletzende, ja immer nur Geist und Gemüt mißhandelnde gewesen ist, eine ihn ununterbrochen direkt oder indirekt für nicht begangene Vergehen und Verbrechen bestrafende und die Empfindsamkeit und Empfindlichkeit gleich welcher Natur, in ihm niederschlagende, nicht die seinen Schöpfungsgaben förderliche«
(Th. Bernhard, Die Ursache, 1975, S. 8 f.)
.
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[081:17] Sartres Perspektive ist ähnlich, nur erging es ihm besser: er hatte fast keinen Vater:
[081:18]
»Es gibt keine guten Väter, das ist die Regel; die Schuld daran soll man nicht den Menschen geben, sondern dem Band der Vaterschaft, das faul ist. Kinder machen, ausgezeichnet; Kinder haben, welche Unbill! Hätte mein Vater weitergelebt, er hätte mich mit seiner ganzen Länge überragt und dabei erdrückt. Glücklicherweise starb er sehr früh; inmitten so vieler Männer, die gleich dem Äneas ihren Anchises auf dem Rücken tragen, schreite ich von einem Ufer zum andern, allein und voller Mißachtung für diese unsichtbaren Erzeuger, die ihren Söhnen das ganze Leben lang auf dem Rücken hocken: ich ließ hinter mir einen jungen Toten, der nicht die Zeit hatte, mein Vater zu sein, und heute mein Sohn sein könnte. War es ein Glück oder ein Unglück? Ich weiß es nicht; aber ich stimme gern der Deutung eines bedeutenden Psychoanalytikers zu: ich habe kein Über-Ich«
(J. P. Sartre, Die Wörter, 1965, S. 14 f.)
.
[081:19] Das Aufwachsen von Kindern könnte anders sein. Seit Karl Philipp Moritz 1885 seine Autobiographie geschrieben hat, ist dies ein unabweislicher Gedanke. Und seit wir denken können, daß dies nicht nur eine individuelle Erfahrung einiger Außenseiter ist, sondern mit der Struktur unserer Lebensformen zusammenhängt, kann man so schreiben wie Kafka, Bernhard oder Sartre. Das historisch Besondere dieser Texte liegt nicht darin, daß wir etwa alle derartige Erfahrungen gemacht haben – das ist wohl kaum der Fall –, sondern darin, daß hier eine pädagogische Aporie, eine Weglosigkeit beschrieben ist, die wir als zu uns gehörend akzeptieren können. Das ist eine wesentliche Komponente unserer geschichtlichen Situation. Wie gehen wir damit um?
[081:20] Man könnte heute als Erwachsener diese Weglosigkeit sentimental nehmen, die
»no future«
-Parolen der Jugendlichen imitieren und die Idylle suchen, sei es auf dem Lande, sei es in städtischer Verkleidung. Man kann derartige Berichte und Erinnerungen als Verirrung von Minderheiten interpretieren – aufs Ganze gesehen nicht ernst zu nehmen –, vor Verallge|A B 15|meinerungen warnen und im übrigen sich weiterhin dem alltäglichen Mikrokosmos des Machens von Erziehung zuwenden. Man kann sie nicht nur als Verirrung, sondern als gefährliche dazu interpretieren, als übersensible Erlebnisse (und deren Aufzeichnungen), die leider Zustimmung finden und denen die notwendige
»Wahrheit«
einer Erziehung zu Disziplin, Fleiß und Ordnung, zu Gehorsam und Pflichterfüllung entgegenzusetzen wäre. Man kann die Attitüde des
»Wachsenlassens«
annehmen, alle Erziehung verdammen,
»Nettigkeit«
zur neuen Haupttugend erklären – und warten, was daraus wird. Man kann den ganzen Zusammenhang unserer Erziehungsgewohnheiten für pathologisch erklären, sich einer der therapeutischen Moden anschließen und Kinder so behandeln, als wären sie in der Sprechstunde eines Erziehungsberaters. Man kann das alles als eine Folge politisch-ökonomischer Verhältnisse deuten und Kinder zu politischen Kämpfern für die eigene Sache erziehen, sie mit auf Demonstrationen schleppen in der Meinung, sie erführen dort die
»Wirklichkeit«
. Man kann den Zustand unserer gesellschaftlichen Lage preisen, das Ausmaß an Freiheit, das in unserer Geschichte nie so groß, den Sozialstaat, der – aufs Ganze gesehen – noch nie so zuverlässig, das Bildungs- und Erziehungssystem, das noch nie so effektiv war (immerhin fast 25 Prozent Abiturienten in einem Jahrgang), und daraus folgern, das Insgesamt der Praktiken und Techniken, der beruflichen Spezialisierungen, die wir im Umgang mit der jungen Generation verwenden, bedürfe lediglich hier und da weiterer Vervollkommnung. Anderslautende Stimmen würden von Miesmachern, Verführern,
»linken Lehrern«
stammen; man müsse sie ignorieren oder zum Schweigen bringen. Man kann vermutlich noch manches mehr meinen. Vor allem kann man bestreiten, daß das, was in den Texten Kafkas, Bernhards und Sartres ausgedrückt ist, eine wesentliche Komponente unserer geschichtlichen Situation sei. Nicht bestreiten allerdings läßt sich, daß sensible Autoren davon reden. Die aufgezählten Positionen nehmen ja darauf Bezug; zwar nicht auf die zitierten Texte, aber auf Behauptungen, die Ähnliches oder Gleiches meinen: Die öffentliche Erörterung von Fragen der Erziehung und Bildung stellt sich als ein ziemlich verworrener Diskurs dar, gelegentlich als Panorama |A B 16|von Monologen, in den vielen politisch-pädagogischen Zirkeln immer wieder vorgetragen – und die Wissenschaft nehme ich dabei nicht aus.
[081:21] In einer derartigen Situation ist es nützlich, an die alte Frage zu erinnern, ob es so etwas wie
»Elementaria«
neuzeitlicher Pädagogik gebe, einen Minimalkanon von Problemstellungen also, die heute niemand ignorieren sollte, der verantwortlich erziehen will, und zwar gleichviel, an welcher Stelle unseres Erziehungs- und Bildungssystems er tätig ist. Das klingt vielleicht ein wenig veraltet, so als solle hier die wissenschaftliche Arbeitsteilung innerhalb der Pädagogik rückgängig gemacht werden, wo doch überhaupt nicht zu bestreiten ist, daß gerade diese arbeitsteilige Spezialisierung unser Wissen über Lernen, Lehren, Entwicklung und Erziehung beträchtlich erweitert hat. Muß nicht ein Versuch, in den vielen Spezialisierungen das verbindlich Gemeinsame aufzusuchen, zu einer unguten abstrakten Allgemeinheit führen, die zwar konsensfähig, aber praktisch irrelevant ist? Ist heute überhaupt noch zu erwarten, daß die Forschungsrichtungen, die sich mit Erziehung und Bildung befassen, ihren Gegenstand identisch bestimmen, oder sind nicht schon längst Ausdrücke wie Lernen, Erziehung, Bildung, Lehren nur noch abstrakte Etiketten, hinter denen jeweils Heteronomes als die Sache, um die es geht, bestimmt wird?
[081:22] Es spricht viel dafür, diese Fragen skeptisch zu behandeln. Die in den sechziger Jahren begonnene Bildungsreform – sie beschränkte sich ja nicht nur auf die Schulen, sondern erfaßte nahezu alle Bereiche gesellschaftlich relevanter Erziehungstätigkeit – hat Differenzen deutlich gemacht, die zunächst kaum überbrückbar scheinen. Sie hat diese Differenzen nicht etwa produziert, sondern hat wirklich nur deutlich gemacht, was in unseren traditionellen Beständen an Differenz enthalten war:
»konservative«
und
»emanzipatorische«
pädagogische Positionen,
»schwarze Pädagogik«
und (vermutlich) irgendwie
»weiße«
, lernzielorientierte Organisation von Lernschritten und die Pädagogik des
»Wachsenlassens«
,
»antiautoritäre«
und
»antikapitalistische«
Pädagogik und schließlich auch – um die Sache auf die Spitze zu treiben –
»Anti-Pädagogik«
. Das alles |A B 17|waren und sind nicht nur Tendenzen der sogenannten Praxis; sie fanden auch in der wissenschaftlichen Literatur Resonanz. Der interessanteste Fall ist die
»Anti-Pädagogik«
; von ihren bzw. den sich selbst so bezeichnenden Autoren wird, nimmt man sie beim Wort, Erziehung überhaupt in Frage gestellt. Eine nichtpädagogische Einstellung zum Kind wird dort propagiert, die sich darauf beschränkt, die Entwicklung des Kindes zu
»begleiten«
, d. h. es zu achten,
»Respekt vor seinen Rechten«
,
»Toleranz für seine Gefühle«
,
»Bereitschaft, aus seinem Verhalten zu lernen«
, aufzubringen
(A. Miller)
. Ein
»antipädagogisch eingestellter Mensch«
sei ein
»einfach netter Mensch«
, der
»sämtliche möglichen Situationen mit Kindern spontan, ohne auf irgendwelche Theorien rekurrieren zu müssen, durchlebt«
(v. Braunmühl)
.
[081:23] So etwas klingt sympathisch; diese Attitüde findet denn auch viel Beifall. Aber sie ist, wollte man allein darauf die Bildungsaufgabe bauen, die die erwachsene Generation den Kindern schuldet, falsch (Winkler und Flitner haben das kürzlich ausführlich gezeigt). Sie weicht den pädagogischen Themen aus, statt sie zu bearbeiten.1
| 174|1Die sogenannte
»Anti-Pädagogik«
war einer der Anlässe für dieses Buch. Sie hat deutlich gemacht, und zwar offenbar ohne daß das den Autoren zum Bewußtsein kam, wie dünn eine Argumentation wird, die sich auf das Verhältnis der Generationen und damit auf die Frage nach dem Bildungsprozeß der Kinder bezieht, wenn sie die kulturelle Thematik nicht aufgreift oder gar nicht kennt, die in der Auseinandersetzung des Kindes mit den Lebensformen, in denen es groß wird, liegt. Statt der vielen Beispiele dieser Art von
»Literatur«
, die sich auf vielen Darstellungsebenen findet (Quellensammlungen, Monographien, Pamphlete, Zeitschriftenartikel, autobiographische Materialien u. ä.), nenne ich hier stellvertretend nur E. v. Braunmühl (1980) und A. Miller (1980). Die
»antipädagogische«
Mode ist nicht nur eine Folge unsorgfältiger Argumentation, also nicht nur ein Problem innerakademischer Kontroversen. Sie ist Symptom einer Entwicklung unserer erziehungs- und bildungstheoretischen Kultur, in der durch intellektuelle Arbeitsteilungen allmählich die inhaltlichen Fragen kultureller Überlieferung (nichts anderes als dies tun Erwachsene mit Kindern) verschwinden. So kann der Anschein entstehen, als bestünden die Probleme des Generationenverhältnisses nur noch darin, die rechten Umgangsformen zu finden (Braunmühl) oder die psychologisch
»richtigen«
Beziehungen zu etablieren (Miller). Man könnte, in Abwandlung eines Diktums von Karl Kraus, sagen: Die Antipädagogik (als historisches Symptom) ist die Krankheit, die sie heilen will! Das wird argumentativ sorgfältig bearbeitet in den Veröffentlichungen von Winkler (1982), Flitner (1982) und Oelkers/Lehmann (1983). – Eine Variante dieser problematischen Zeiterscheinung tauchte auch in Veröffentlichungen mit historischem Interesse auf: die gewiß sinnvolle Aufmerksamkeit auf die Formkomponenten des pädagogischen Verhältnisses begünstigte eine (beispielsweise von Foucault 1976 vorexerzierte) Lesart der pädagogischen Überlieferung, nach der
»pädagogische Theorie«
seit der Aufklärung nichts sei als herrschaftsförmig-technologische Dressur (Rutschky 1977). Obgleich unbestreitbar ist, daß damit zu Recht auf die dunklen Seiten der Pädagogik der Aufklärung aufmerksam gemacht wird, bleibt die selektive Lesart historisch wie systematisch fragwürdig: historisch gesehen bleibt unbeachtet, daß die Linie, die die
»Dialektik der Aufklärung«
markiert, zumeist mitten durch die in Anspruch genommenen Autoren hindurch verläuft; systematisch gesehen wird der sentimentalen Attitüde der
»Antipädagogik«
, der scheinbar wissenschaftlich legitimierten Schwärmerei, zugearbeitet.
»Der Schwärmer tut oft sehr richtige Blicke in die Zukunft: aber er kann diese Zukunft nur nicht erwarten«
(Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, § 90)
.
[081:24] Aber mit welchen Fragen beginnt die pädagogische Thematik, wenn sie sich nicht in
»Nettigkeit«
und emotioneller Aufmerksamkeit für das Kind erschöpfen soll? Unsere Kultur bewegt sich gegenwärtig auf einen Typus generativen Verhaltens zu, bei dem möglich scheint, daß Kinder nur geboren werden, wenn die Erwachsenen das wollen. Die erste pädagogische Frage wäre dann (und für viele ist sie es heute bereits): Warum wollen wir Kinder? Auf die empirische Komponente der Frage (welche Gründe führen Erwachsene heute dafür an, daß sie Kinder haben?) gibt es sicher ein sehr komplexes Bündel von Antworten, besonders wenn man bedenkt, daß immer noch unzählige Kinder zunächst ungewollt zur Welt kommen. Aber selbst für diese Fälle gilt, daß dann wenigstens nachträglich gelingen sollte, das Kind zu
»akzeptieren«
, zu wollen, daß es lebt. Welchen Grund also könnte dieses Wollen haben?
[081:25] Die Analyse der Argumentationen bei der Beantwortung dieser Frage wäre eine lohnende Aufgabe für die praktische Philosophie oder die Erziehungsphilosophie. Ich will indessen hier nur meine vorläufige Antwort geben: weil ich will, |A B 18|daß das (vielleicht sehr wenige) Gute in meinem Leben Dauer hat. In dieser Antwort ist mindestens dreierlei enthalten: daß die Menschheitsgeschichte fortgesetzt werden solle, weil der in diesem Wunsch gesetzte Zukunftsbezug ein wesentliches Tätigkeitsmotiv meiner selbst ist; daß ich mich selbst im Anderen fortsetzen kann, und sei es nur partiell oder in eigentümlichen Verfremdungen; daß ich unterstelle, die von mir dem Kinde vorgeschlagene Lebensform sei, wenigstens in Teilen, zustimmungsfähig.
[081:26] Sollten diese Antworten, obwohl noch allzu knapp und unzureichend bestimmt, in ihrer Richtung akzeptabel sein, dann wäre die erste pädagogische Thematik die Auseinandersetzung mit Überlieferungswürdigkeit und Zukunftsfähigkeit meiner kulturellen Bestände. Freilich: Wer nichts zu überliefern hat, dem mag die Erziehungsaufgabe auf menschenfreundlichen Umgang mit Kindern zusammenschrumpfen. Insofern ist die
»Antipädagogik«
ein wichtiges Symptom: Wenn der Zukunftswille erlischt, die inhaltlich bestimmten Sinnentwürfe dürftig werden und von der anderen Seite ein schlechter Konservativismus Erziehung auf Einübungsrituale verpflichten möchte, dann ist es verständlich, wenn Leute die Lust an der Erziehung verlieren und mit Kindern nur noch wie mit ihresgleichen umgehen möchten. Aber
»Kinder sind anders«
(Montessori). Vor allem
»wollen«
sie zunächst eine Zukunft für sich selbst, alles das, was sie in der Formel
»groß werden«
zusammenfassen. Sie können das nur im Rahmen der Lebensmuster entwerfen, die Erwachsene ihnen präsentieren. Auch der netteste
»Antipädagoge«
kommt um diese Präsentation nicht herum; naturgemäß lebt auch er den Kindern eine Möglichkeit zu leben vor. Und darin sind mindestens zwei Fragen enthalten: Ob dies ein
»rechtes«
Leben ist? Ob die gelebte Lebensform der Bildung von Kindern zuträglich ist?
[081:27] Beide Fragen erfordern mehr, als ein Fachpädagoge zu leisten vermag. Zu ihrer Beantwortung sind die Fragestellungen der Bildungsforschung, der Lehr-Lern-Theorien, der pädagogischen Psychologie, der Sozialisationsforschung, der Theorie der Schule und des Lehrplans, der Interaktionstheorien unzureichend. Sie sind nötig, aber unzureichend, und zwar |A B 19|deshalb, weil die Erziehungs- und Bildungsaufgabe es immer auch mit der Gesamtkultur, mit der gesellschaftlichen Formation dieser Kultur, mit ihren noch legitimierbaren überlieferten Beständen und deren Zukunftsfähigkeit zu tun hat. An diesem Problem arbeiten nicht nur Pädagogen; bisweilen könnte es scheinen, daß diese es sogar am wenigsten tun. Zwar entspricht der fachwissenschaftlichen Arbeitsteilung die praktische Tatsache, daß sich das Erziehungs- und Bildungswesen in der Neuzeit zu einem gesellschaftlichen Teilsystem institutionalisiert hat, dessen spezialisierte und charakteristische Problemstellungen nun auch von einer eigens für diesen Zweck erfundenen Wissenschaft, der
»Pädagogik«
, bearbeitet werden. Dieser Sachverhalt aber enthält eine eigentümliche Verführung zum Vergessen: Zunächst wurde vergessen, daß jedes pädagogische Ereignis in irgendeiner Weise an das gesellschaftliche System gebunden ist und einen, wenn auch verborgenen, politischen Gehalt hat. Im Zusammenhang mit der Aneignung dieser meinethalben
»soziologischen«
Dimension pädagogischer Problemstellungen wurde indessen weiterhin in Vergessenheit gehalten, daß die Bildung der nachwachsenden Generation nicht nur durch das Erbe der Sozialstruktur belastet, sondern auch zur Auseinandersetzung mit der kulturellen Überlieferung genötigt wird; diese aber manifestiert sich für die junge Generation in den Lebensformen der Erwachsenen. Freilich kann die Pädagogik (als Wissenschaft) nicht wettmachen, was den Lebensformen durch Ökonomie und Technologie an kultureller Substanz genommen wird; derartige Appelle, beispielsweise an die pädagogische Kraft der Familie oder an den Erziehungsauftrag der Schule, sind obsolet (z. B. die Annahme, daß die Glaubwürdigkeit von Parteien durch Gemeinschaftskunde, der Kontakt mit der kulturellen Tradition durch sekundäre Tugenden oder Schiller-Lektüre wieder hergestellt werden könne). Der bescheidene Beitrag der Pädagogik könnte aber darin bestehen, daß sie ihre eigenen Problemstellungen wieder stärker in unseren Kulturzusammenhang einfädelt. Die
»Größe des Stoffs«
wird dadurch nicht leichter, sondern eher schwerer zu bewältigen. Sehr viel Übung haben wir heute nicht darin – das ist schon bezeichnend genug. Mein Beitrag ist deshalb |A B 20|auch kaum mehr als die grobe Skizze für das, was
»Allgemeine Pädagogik«
heute sein könnte.
[081:28] Der folgende Text ist einfach aufgebaut. Er beginnt mit der Erläuterung dessen, was ich
»Präsentation«
nenne: Sofern wir mit Kindern leben, müssen wir – es geht gar nicht anders – mit ihnen unser Leben führen; wir können uns als gesellschaftliche Existenzen nicht auslöschen, können uns nicht tot oder neutral stellen. Das ist zwar eine Trivialität, aber die gleichsam erste und ernsteste pädagogische Tatsache. Erziehung ist deshalb zuallererst Überlieferung, Mitteilung dessen, was uns wichtig ist. Kein pädagogischer Akt ist denkbar, in dem der Erwachsene nicht etwas über sich und seine Lebensform mitteilt, willentlich oder unwillkürlich.
[081:29] Je komplexer die soziale Welt wird, je weniger zugänglich für das Kind all jene Verhältnisse werden, in denen es in seiner biographischen Zukunft wird leben müssen, je weniger also in seiner primären Lebenswelt all das enthalten ist, was es für seine Zukunft braucht, vor allem dann, wenn die Zukunft des Gemeinwesens nicht mehr zuverlässig prognostiziert werden kann, um so dringlicher wird ein zweites Grundproblem: die pädagogische Kultur einer Gesellschaft muß dann mit der Schwierigkeit fertig werden, wie gleichsam
»auf Vorrat«
gelernt werden kann. Das hat zur Folge, daß nun neben die
»Präsentation«
des durch die Erwachsenen vorgelebten Lebens die Aufgabe tritt, die der kindlichen Erfahrung unzugänglichen Teile der gesellschaftlich-historischen Kultur in irgendeiner Weise zur Kenntnis zu bringen. Die Erwachsenen müssen nun aus dem Ganzen auswählen und das Ausgewählte in eine für das Kind / den Jugendlichen verarbeitungsfähige Form bringen. Zu diesem Zweck treten Institutionen, die sich dies zur Aufgabe machen, ins Spiel; aber auch die Beziehungen der Erwachsenen zueinander werden anders, ebenso die Beziehungen in den primären Lebensverhältnissen (Haushalt und Familie) und also auch die Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern: Repräsentation der Lebensformen ist nun das wichtigste Bildungsproblem.
[081:30] Wer sich dergestalt dem jungen Menschen zuwendet, unterstellt, daß dieser lernen kann; und nicht nur dies: er unterstellt, daß er sich auch bilden will, obwohl er häufig auf |A B 21|Hindernisse und Blockierungen stößt. Im Prinzip, so denkt der Erwachsene, und so wünscht das Kind, sind solche Hindernisse überwindbar. Dieses Problemfeld nennen wir seit Herbart Bildsamkeit.
[081:31] Die Bildsamkeit des Menschen – nicht nur des Kindes – unterstellen wir als Disposition, als Möglichkeit. Sichtbar für den Erwachsenen und erlebbar für das Kind wird sie nur, wenn das Kind tätig ist. Zu dieser Tätigkeit muß es aufgefordert werden; allerdings nicht für irgendein
»Tätigsein«
, für Tätigkeit überhaupt (in einem derart allgemeinen Sinne könnte man auch sagen, Tiere seien tätig), sondern für jene Art von Tätigkeit, die Vernunftkräfte erfordert und deshalb Vernunft bei denen voraussetzt, die zur Tätigkeit auffordern. Diese Tätigkeit heißt Selbsttätigkeit.
[081:32] Zum Abschluß schließlich frage ich, was wir meinen könnten, wenn wir vom
»Selbst«
sprechen, das in dieser Weise tätig wird, in dieser Tätigkeit sich bildet, und von dem Verhältnis, das das Ich zu ihm einnimmt. Derartige Probleme werden heute zumeist unter dem Namen
»Identität«
diskutiert.
[081:33] Folge und innere Gliederung der Kapitel haben eine eher essayistische Form; ich denke, das ist dem Gegenstand nicht unangemessen. Ich versuche nicht, den gegenwärtigen Stand der erziehungswissenschaftlichen Diskussion zu referieren und einer kritischen Analyse zu unterziehen. Ich versuche statt dessen, die Problemstellungen zu
»bebildern«
. Es ist eine Art Quereinstieg, nicht dem Vorbild linearer Argumentationen folgend, deshalb gewiß an vielen Stellen der wissenschaftlichen Kritik ungeschützt die Flanke bietend. Mit einem Vergleich aus der bildenden Kunst: Collagen und Mischtechniken.
|A B 22|

1. Präsentation
Oder: Etwas über sich und seine Lebensform mitteilen

Aurelius Augustinus: Zeichen, Lebensform, Ich

[081:34] Unter der vom Übersetzer eingefügten Überschrift
»Erste Worte«
schreibt Aurelius Augustinus in seinen Confessiones:
[081:35]
»Bin ich nicht von der Kindheit heranlebend in die Knabenzeit gekommen, vielmehr diese in mich, auf meine Kindheit folgend? Aber, die Kindheit ist doch nicht entwichen: wohin denn wäre sie gegangen? Und dennoch, sie war nicht mehr. Denn nun war ich nicht mehr das Kind, das noch nicht sprechen konnte, sondern schon der Knabe, der redete. Und das weiß ich noch, und woher ich sprechen gelernt hatte, das erfuhr ich später. Nicht die Großen lehrten es mich, mir Wörter, wie bald danach die Buchstaben, in bestimmtem Lehrgang bietend, sondern ich selber lernte es, da ich mit mancherlei Klagelauten, mancherlei Gliedergebärden die Fühlung meines Herzens kundzumachen suchte und es doch nicht in allem vermochte, worauf ich ausging, noch bei allen, die es anging. Da kam ich zu Urteil durch Erinnerung: wenn die Menschen eine Sache nannten, und wenn sie entsprechend diesem Wort ihren Körper auf etwas hin bewegten, so sah ich und behielt ich, daß durch diese ihre Laute jene Sache von ihnen bezeichnet wurde, auf die sie mich hinweisen wollten. Daß sie dies aber wollten, wurde offenbar aus der Bewegung ihres Körpers, jener natürlichen Sprache aller Völker, die durch Miene und Augenwink zustandekommt, durch die Gebärden der übrigen Glieder und den Ton der Stimme, der die Regung der Geistseele erkennen läßt, ob sie nach etwas verlange, es besitze, es abweise oder fliehe. So lernte ich allmählich, für welche Sachen die Wörter, die ich in allerlei Sätzen an ihrer bestimmten Stelle immer wieder hörte, die Bezeichnungen waren, und als mein Mund an diese Bezeichnungen sich gewöhnt hatte, begann ich mein Willensleben durch sie auszudrücken«
(Augustinus, Bekenntnisse, S. 31)
.
|A B 23|
[081:36] Daß ich gerade diesen Text, obwohl schon vor fast 1500 Jahren geschrieben, zitiere, bedarf einer kurzen Begründung. Der Text entstand in einer der kritischsten Perioden europäischer Geschichte; in jenem Jahrhundert fiel die Entscheidung für das Christentum als die in Europa dominierende Religion; zugleich begann – den Lebensformen nach – das, was wir
»Mittelalter«
nennen; die Denkmittel aber entstammten noch der antiken Überlieferung. Der Text enthält ferner die Erörterung eines Problems, das die Philosophen von Platon bis zu Wittgenstein beschäftigt hat und auch in der gegenwärtigen Sprachwissenschaft nicht als erledigt oder endgültig beantwortet gelten kann: die Frage nämlich, wie eigentlich die Sprache erlernt wird und was man lernt, wenn man sie lernt. Und schließlich ist dieser Text Teil des ersten großen Dokuments der Reflexion eines Menschen auf seine eigene Bildung, deren Weg und deren Probleme, vorgetragen in einer immer noch faszinierenden Dichte des Ausdrucks; einige Jahrhunderte lang blieb es einzig; erst in der Renaissance lebte dieser Typus der Auseinandersetzung mit sich selbst wieder auf und bekam – wiederum Jahrhunderte später – durch Rousseau in seinen
»Bekenntnissen«
und K. Ph. Moritz in
»Anton Reiser«
seine moderne Gestalt.
[081:37] Wer heute über sich selbst Rechenschaft zu geben versucht, steht in dieser Tradition, auch wenn er es nicht weiß. Diese Tradition ist (in einem überhaupt nicht reaktionären Sinne des Wortes)
»abendländisch«
:
  • [081:38] sie enthält die christliche Vorstellung von der Verantwortung des Subjektes für seine eigenen Handlungen;
  • [081:39] sie enthält die antike (platonische) Frage nach dem Wesen der rechten Verhältnisse und also die Aufforderung zur Erkenntnis dessen, was wahr ist; und
  • [081:40] sie enthält die mythologische Annahme kosmischer Grundverhältnisse, an denen Verantwortung und Wahrheit sich bemessen.
[081:41] Es handelt sich offenbar um einen Text, in dem vom Spracherwerb des Kindes die Rede ist. Der Vorgang des Spracherwerbs wird nicht als etwas beschrieben, das der Autor etwa bei anderen beobachtet hätte, oder als etwas, dessen Kenntnis aus den Erfahrungen anderer, zumal aus Büchern oder |A B 24|Theorien, zureichend zu rekonstruieren wäre. Es wird beschrieben als eigene Erfahrung.
[081:42]
»Wenn die Menschen eine Sache nannten, und wenn sie entsprechend diesem Wort ihren Körper auf etwas hinbewegten, so sah ich und behielt ich, daß durch diese ihre Laute jene Sache von ihnen bezeichnet wurde.«
Das ist eine für die Theorie des kindlichen Spracherwerbs bekannte Behauptung. Ein behavioristischer Lerntheoretiker würde leicht seine eigene Theorie wiedererkennen: Da gibt es ein Repertoire von Lauten, das offensichtlich nicht willkürlich ist, sondern einer Konvention folgt, festgelegte Bedeutungen hat, also ein Zeichen- oder Stimulusrepertoire ist. Zu jedem Laut-Zeichen gehört eine
»Sache«
(oder ein wahrnehmbarer Sachverhalt), und durch allmähliche
»Konditionierung«
lernt das Kind, Laut und Sache zu verbinden, in beiderlei Richtungen: Hört es ein Wort, wiederholt (erinnert) es in sich die dazu passende Wahrnehmung, sieht es eine Sache, kommt ihm der dazu konventionell passende Name oder Laut:
»So lernte ich allmählich, für welche Sachen die Wörter ... die Bezeichnungen waren.«
Eine hervorragende Theorie, einfach, erklärungskräftig, viele passende Fälle kommen uns in den Sinn; in der Tat – so möchte man sagen – so ist es. Und so ist es auch in der theoretischen Tradition: Augustinus wird häufig zitiert als früher und hervorragender Theoretiker dieser Auffassung vom Spracherwerb. Im Hinblick auf meine Absicht in diesem Kapitel könnte ich also sagen: Die Theorie von den Grundmustern pädagogischer Verhältnisse im nachantiken Zeitalter Europas beginnt bei Augustinus mit einer Problemstellung, die in der modernen behavioristischen Lerntheorie ihre ausgeführteste und empirisch bestätigte Form gefunden hat. Und mit Bezug auf die Überschrift dieses Kapitels –
»Präsentation«
– könnte ich folgern: Der erste folgenreiche und gravierende Schritt – wenn man sich denn darauf einigen könnte, daß der Spracherwerb mehr bedeutet als irgendein anderes Ereignis im Bildungsprozeß des Kindes – besteht darin, die Objekte der Umwelt des Kindes in seinem Gedächtnis zu repräsentieren, und zwar so, daß es in der Lage ist, diese Objekte nach konventionellen Regeln der Lautproduktion zu bezeichnen. Dabei wird dem Kinde auf diese Weise freilich nicht eine diffuse Menge, ein ungeordnetes |A B 25|Chaos von Sachen und Wörtern präsentiert, sondern in der Präsentation von Sachen in Wörtern schon eine bestimmte Ordnung: Tiere werden von Pflanzen und Menschen unterschieden, sie alle gehören zum Lebenden; Steine werden bezeichnet und, von Mauern und Häusern unterschieden, dem Leblosen zugeordnet; oben und unten, rechts und links (schon schwieriger), vorn und hinten, warm und kalt usw. Alles in allem: eine erste Ordnung des Kosmos, allerdings nicht für alle Zeiten und alle sozialen Situationen gleich. Die Kinder von Eskimos lernen, daß es ungefähr 20 Sorten von Schnee gibt – bei uns lernen selbst Skiläufer nur 5 oder 6; die einen Kinder lernen, daß es bedrucktes und unbedrucktes Papier gibt – die anderen, daß es unglaublich viele Variationen bedruckten Papiers gibt; die einen lernen, ein Stück Metall als Schmuckgegenstand, die anderen es als Material für eine Pfeilspitze oder als Geldstück zu bezeichnen usw.
[081:43] Der Erwerb von Wörtern als Bezeichnung von Sachen ist also kein so trivialer Vorgang, wie es scheinen könnte. Wer sich eine derart repräsentative Menge von Zeichen angeeignet hat, sie in der Erinnerung
»behält«
, hat sich ein System angeeignet, dessen Vorstellungswelt ist eine Struktur eingeprägt worden. Er wird fortan die Welt vor allem nach Maßgabe dieser Struktur wahrnehmen.
[081:44] Derartige Interpretationen der wenigen Bemerkungen des Augustinus zur Sache sind nicht falsch, aber doch vielleicht voreilig. Die Sprachphilosophie unseres Jahrhunderts belehrt uns denn auch, die Sachlage sei komplizierter. So gibt beispielsweise Ludwig Wittgenstein zu bedenken, daß auf solche Weise das Sprachlernen des Kindes so beschrieben würde,
»als käme das Kind in ein fremdes Land und verstehe die Sprache des Landes nicht: das heißt, so, als habe es bereits eine Sprache, nur diese nicht. Oder auch: als könne das Kind schon denken, nur noch nicht sprechen«
(Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 32)
. Denn: eine hinweisende Bezeichnung einer Sache durch ein Wort versteht nur der, der zuvor die Bedeutung einer Hinweisung verstanden hat. Das ist wohl einleuchtend, und man fragt sich, warum man nicht selbst sogleich darauf gekommen ist: wie soll denn auch ein Kind im Alter von vielleicht 14 Monaten dem |A B 26|ausgestreckten Arm des Erwachsenen und dem dabei hervorgebrachten Laut
»Hund«
entnehmen, daß der Erwachsene es lehren will, Bezeichnung und Objekt zu einem Zeichen zu verbinden? Jeder, der mit Kindern dieses Alters zu tun hatte, kennt dieses Problem; es klappt nie auf Anhieb, es gibt die komischsten Reaktionen des Kindes, die Sache hat offenbar Voraussetzungen. Welche?
[081:45] Zurück zu Augustinus, dessen Text ja mehr enthält als nur die Behauptung, das Kind lerne die Sprache durch Zuordnung von Wörtern und Sachen. Nur waren seine anderen Sätze vielleicht nicht so rasch verständlich – vielleicht deshalb, weil er in den anderen Teilen des Textes eher Probleme aufwirft als Antworten gibt. Aber über die Distanz von eineinhalb Jahrtausend hinweg hatte er offenbar Wittgensteins Einwand durchaus schon im Sinn. Der von ihm konstatierte Sachverhalt war, daß die Erwachsenen durch ihre Laute und begleitenden Körperbewegungen die Sachen
»bezeichneten«
. Dann aber heißt es – und man überliest das leicht, weil es so selbstverständlich scheint:
»Daß sie dies aber wollten, wurde offenbar aus der Bewegung ihres Körpers, jener natürlichen Sprache aller Völker, die durch Miene und Augenwink zustande kommt, durch die Gebärden der übrigen Glieder und den Ton der Stimme.«
Das sind erstaunliche Hinweise; man merkt es dem Satz an, daß da noch mehr mitzuteilen wäre, daß aber der Autor auf die Vernunft des Lesers vertraut, sich deshalb mit Andeutungen begnügt. Dieser Satz drückt doch nichts anderes aus, als daß es eine notwendige Voraussetzung für das Verstehen von Worten bzw. der Zuordnung von Worten und Sachen sei, über eine
»Sprache«
vor der gesprochenen zu verfügen! Und diese
»Sprache«
scheint ein komplexes System von Bedeutungen zu repräsentieren, das Augustinus nur gerade andeutet, aber mit erstaunlich vielen Vokabeln:
»Miene«
,
»Augenwink«
,
»Gebärden der Glieder«
,
»Ton der Stimme«
. Offenbar gibt es schon auf dieser Ebene
»sprachloser Sprache«
eine Syntax, einen Zusammenhang von symbolischen Gesten, in bestimmter Ordnung, in verstehbarer Bedeutung. Nur sofern das Kind in dieser Ordnung sich bewegen, diese Bedeutungen verstehen kann, kann es auch die hinweisende Geste des Erwachsenen verstehen, in der Sache und Wort zusammengefügt werden |A B 27|sollen. Dieser Gedanke kommt mindestens in die Nähe der Auffassung Wittgensteins, der behauptet, eine hinweisende Erklärung könne nur der verstehen,
»der schon mit ihr (der hinweisenden Geste) etwas anzufangen weiß«
(Philosophische Untersuchungen, § 30)
. Oder anders:
»Wenn ich z. B. auf einen Gegenstand zeige und erkläre:
das ist der König
, so kann diese Erklärung etwa als die Benennung einer Schachfigur Sinn haben. Dies setzt ... voraus, daß
der Lernende schon weiß, was eine Spielfigur ist
. Daß
er also etwa schon andere Spiele gespielt hat, oder dem Spielen anderer mit Verständnis zugesehen hat
(P. U., § 31)
«
(zit. nach Apel 1973, Bd. 1, S. 261)
.
[081:46] Genau darauf weist Augustinus hin; und zwar erwähnt er im Text zwei solcher
»Spiele«
: das Spiel der Körpergesten und das nicht nur aus Bezeichnungen bestehende komplexe Sprachspiel; die Wörter nämlich, heißt es im Text – und ich ergänze ihn sinngemäß – lernte ich,
»(sofern) ich (sie) in allerlei Sätzen an ihrer bestimmten Stelle immer wieder hörte«
. Mit anderen Worten: Der Erwerb des Gebrauchs von Wörtern zur Bezeichnung von Gegenständen, überhaupt das Erlernen von Einzelnem ist nur möglich im Kontext von komplexen Sprachspielen,
»in denen Kinder zugleich mit der Erlernung der Muttersprache auch eine bestimmte Lebensform und ein bestimmtes strukturell artikuliertes Verständnis der Welt ... sich aneignen«
(Apel 1973, Bd. 2, S. 262)
. Sie vestehen das Einzelne nur, sofern sie bereits Strukturen verstanden haben! Der erste und in genauem Sinn des Wortes
»fundamentale«
Vorgang in Erziehungsverhältnissen ist deshalb die Präsentation von Strukturen.
[081:47] Damit ist aber der Gehalt des Augustinus-Textes noch nicht erschöpft. Es mag etwas hergeholt erscheinen und wie eine Überinterpretation anmuten, wenn ich sage, das Kind lerne zunächst nicht Einzelnes, sondern Strukturen. Daß aber Augustinus tatsächlich so etwas im Sinn hatte, geht nicht nur aus seinen Hinweisen auf Körpersprache und Satz hervor, sondern auch aus seinen Hinweisen auf die
»Erinnerung«
: erst in der Wiederholung und dem Erinnern des wiederholt Gehörten lernte er (
»die Wörter, die ich in allerlei Sätzen an ihrer bestimmten Stelle immer wieder hörte«
;
»da kam ich zu Urteil durch Erinnerung«
;
»so sah ich und behielt ich, |A B 28|daß ... jene Sache ... bezeichnet wurde«
). Erinnerung an Gleichartiges, Wiederkehrendes aber ist nicht einfach eine Gedächtnisleistung, sondern enthält die Erkenntnis einer Regel, z. B. derjenigen, die festlegt, an welcher Stelle eines Satzes ein bestimmtes Wort stehen darf.
[081:48] Diesen Vorgang der Aneignung von Regeln, oder Sprachspielen, oder der Strukturen von Lebensformen, könnte man sich nun als einen Vorgang des Einprägens denken, bei dem das Kind zunächst passiv bleibt, nur Rezipient ist. Ein derartiges Verständnis liegt allerdings Augustinus fern; er verwahrt sich sogar mit Nachdruck gegen eine solche Auffassung:
»Nicht die Großen lehrten es mich, mir Wörter, wie bald danach Buchstaben, in bestimmtem Lehrgang bietend, sondern ich selber lernte es«
,
»ich war es«
,
»ich kam zu Urteil«
. Dieses
»Ich«
ist mehr als die erste Person des autobiographischen Berichts. Die Bedeutung dieses
»Ich«
klar und zureichend zu erfassen, ist angesichts des knappen Textes und auf ihn beschränkt schwierig. Wir können ihm aber einige wichtige Hinweise entnehmen. Beispielsweise wäre es, ohne den Sinn des Ganzen zu verändern, völlig ausgeschlossen, die Wendung
»so lernte ich allmählich«
zu ersetzen durch
»so brachte man mir allmählich bei«
; denn sehr ausdrücklich hieß es ja:
»Nicht die Großen lehrten es mich.«
Außerdem fällt auf, daß das Ich in verschiedenen Modi auftaucht: als lernendes Ich, als kommunizierendes Ich (
»ich war es, da ich mit mancherlei Klagelauten ... die Fühlung meines Herzens kundzumachen suchte«
) und als wollendes Ich (
»... begann ich mein Willensleben ... auszudrücken«
). Aus der Darstellung geht überdies hervor, daß die drei Ich-Modi in zeitlicher Reihe angeordnet sind: Kommunizieren, Lernen, Wollen. In allen drei Modi ist das Ich aktiv; die Aneignung dessen, was in der Lebensform der Erwachsenen repräsentiert ist, ist eine tätige Aneignung. Der
»Knabe«
unterscheidet sich vom
»Kind«
nicht dadurch, daß etwa erst der Knabe als aktiv gedacht würde, sondern dadurch, daß er über die Sprache verfügt und darin sein Willensleben ausdrückt; und das heißt – im Unterschied von einer vielleicht in der Gegenwart möglichen Auffassung dieser Ausdrücke – nicht Willkür oder selbstbestimmte
»autonome«
Verwirklichung seiner selbst, sondern Einsicht |A B 29|in das rechte Handeln, Auseinandersetzung mit dem, was als rechtes Handeln gedacht werden kann.
[081:49] Wie aber muß die Quelle gedacht werden, aus der das Ich sein Tätigsein gewinnt? Ich will auch hier wieder einen Umweg zum Text einschlagen, und zwar über den Anthropologen Helmut Pleßner. Pleßner, dessen anthropologische Theorie es eigentlich verdient, in pädagogischen Zusammenhängen ausführlicher erläutert zu werden, kommt in umfangreichen und sehr genauen Analysen der Seinsformen von Pflanze, Tier und Mensch zu dem zunächst befremdlich anmutenden Satz:
»Exzentrizität ist die für den Menschen charakteristische Form seiner frontalen Gestelltheit gegen das Umfeld.«
Was heißt das? (Ich weiß nicht, ob mir eine knappe, zugleich verständliche und genaue Erläuterung gelingt.)
[081:50] Wir, als Menschen, sind uns selbst in dreifacher Weise gegeben: als lebendiger Körper, als Lebendiges im Körper (
»Innenleben oder Seele«
) und als das sprechende Ich, das gleichsam auf beides
»sehen«
kann. Das
»Ich«
kann sagen:
»Ich bin mein Körper«
, aber auch
»Ich habe einen Körper«
. Es kann sagen
»Ich bin meine Seele«
, aber auch
»Ich habe eine Seele«
. Dabei gilt uns die je zweite Formulierung als die plausiblere. Sagt man
»ich bin mein Körper«
, dann ist man
»nicht ganz bei sich«
; dann hat der Zustand, in dem man das sagt, etwas von
»Selbstvergessenheit«
: Man hat das Selbst, das mehr ist als bloß der Körper, vergessen. Deshalb ist der Satz
»ich habe einen Körper«
dem Status des Menschen im Reich des Lebendigen angemessen. Aber was ist dieses
»Ich«
? Meinen Körper kann ich beschreiben, mein Innenleben, die Empfindungen und Gefühle, die ich habe, auch. Aber kann ich beschreiben, was
»Ich«
ist? (Fichte hatte übrigens auch Schwierigkeiten mit diesem Problem, und die sind auch in der gegenwärtigen Philosophie nicht verschwunden. Wer so leichthin von
»Bewußtsein«
oder gar
»Selbstbewußtsein«
spricht, sollte sich fragen, ob er zu diesem Problem eine begründete Antwort geben kann.) Also: Wie kommt die erste Person Singular in den Satz? Versuchen wir, bei dem Versuch einer Antwort langsam und vorsichtig voranzuschreiten – und das empfiehlt sich hier dringend! –, dann können wir mit Pleßner vielleicht sagen: Das Ich ist eine Position außerhalb |A B 30|von Körper und Seele, von der her man beides
»sehen«
oder wahrnehmen oder erfahren kann, denn ich kann ja durchaus
»mich«
, meinen Körper und sein
»Innenleben«
beobachten und anderen Mitteilungen darüber machen. Mindestens also kann man wohl sagen: Das Dritte, das ich – außer Körper und seinem Innenleben – bin, das bin ich
»als Blickpunkt«
; von diesem Blickpunkt aus erscheint mir überhaupt erst das, was ich als Lebendiges in der zweifachen Seinsweise von Körper und Seele bin. Insofern, streng gesprochen, bin
»ich«
außer mir: exzentrisch. Diese exzentrische
»Gestelltheit«
hat nun Folgen: denn sie gilt nicht nur gleichsam innerhalb dessen, was ich als Ganzes bin, sondern auch im Hinblick auf das, was außer mir ist. Außer mir sind aber auch andere Menschen, für die ebenfalls gilt, daß ihr Ich exzentrisch, reiner Blickpunkt ist. Diese vielen
»Iche«
haben nur – da sie ja nach Körper und Innenwelt alle verschieden sind – (oder doch mindestens) dies gemeinsam, daß sie Blickpunkte sind. Sie können nun sagen:
»Wir«
:
»wir sind«
oder
»wir haben«
oder
»wir unterscheiden uns«
usw. Die Sphäre des
»Wir«
ist die Sphäre der gemeinsamen exzentrischen Position des Ich; es ist, wie Pleßner sagt, die Sphäre des
»Geistes«
.
[081:51] Damit bin ich nun endlich wieder bei Augustinus. Der Satz, der im ästhetischen und argumentativen Aufbau des Abschnittes den Angelpunkt bildet, lautet:
»Nicht die Großen lehrten es mich ..., sondern ich selber lernte es, vermöge meines Geistes, den Du mir, mein Gott, gegeben.«
Die Frage scheint mir die gleiche wie in der Anthropologie Pleßners zu sein: Wie kommt das exzentrische Ich, damit das Wir, damit Geist auf die Welt? Die Antwort ist verschieden. Bei Pleßner ist es eine Art Nötigung, die durch die Evolution des Organischen entstanden ist; bei Augustinus ist es ein Schöpfungsakt Gottes. Vielleicht kann man noch dies sagen: Seit der
»Entdeckung des Geistes«
(Snell 1955) in der nachhomerischen Phase unserer (?) Kultur war eine für den Menschen immer wieder wichtige beunruhigende Frage, wie man sich das Geistige, seine
»Natur«
und seine Herkunft, zu denken habe. Die Antwort Platons war anders als die des Augustinus, die Rousseaus oder die Pleßners. Es besteht zwischen ihnen aber eine Kontinuität des Problems (ähnlich wie bei Augustinus und Wittgenstein).
|A B 31|
[081:52] Welches ist also der Ertrag der knappen Textinterpretation? Am Beginn der nachantiken europäischen Geschichte der Bildung und Erziehung hat Augustinus einen Begriff von der Sache entfaltet, zu der wir auch heute noch in einigen wesentlichen Hinsichten in Kontinuität stehen. Das gilt besonders für den Gedanken, der erste elementare pädagogische Schritt sei die Präsentation einer Lebensform. Das pädagogische Denken und die pädagogische Praxis hatten – wenn es denn überhaupt zulässig ist, geschichtliche Verläufe auf derart einfache Formeln zu bringen – seit der Verabschiedung des Mittelalters zunächst den größten Teil ihrer Anstrengungen auf die Zergliederung der pädagogischen Handlungen gelegt, geleitet von der Frage, wie die Instruktion des Nachwuchses am zweckmäßigsten zu bewerkstelligen sei. Das augustinische Problem wurde dabei gleichsam umgekehrt: Die Frage nach dem lernenden Ich wurde zurückgedrängt von der Frage, auf welche Weise
»die Großen es mich lehren«
könnten. Da dieser Prozeß begleitet und bedingt wurde durch das Voranschreiten gesellschaftlicher Arbeitsteilung, durch Spezialisierung und Rationalisierung der Positionen und Tätigkeiten Erwachsener, die Erziehungsaufgabe selbst also unter einen technisch-rationalen Erwartungsdruck geriet, schien das eine adäquate Reaktion auf die gesellschaftlichen Anforderungen zu sein. Infolgedessen verkürzten sich die pädagogischen Problemstellungen auf den Habitus des
»Machens«
, auf die ausdrücklichen und absichtsvollen pädagogischen Akte. Gegenwärtig nun können wir beobachten, wie eine Korrektur dieses Habitus versucht wird, jedenfalls in der Theorie, allerdings häufig, ohne die Ich-Komponente gebührend herauszuarbeiten: Zu Beginn dieses Jahrhunderts entdeckte man, daß es außer der
»intentionalen«
auch eine
»funktionale«
Erziehung gebe; die Psychoanalyse und die große Welle der
»Sozialisationsforschung«
haben wieder in Erinnerung gerufen, daß die soziale Gestalt der primären Lebensverhältnisse auf die Bildung des Kindes einen Einfluß hat, demgegenüber einzelne, auch noch so gut durchdachte und geplante Erziehungshandlungen gelegentlich unerheblich erscheinen; die Ethnologie hat uns mit Kulturen bekannt gemacht, in denen
»Erziehung«
sinnvoll nur als Funktion des ganzen Ensembles kultureller |A B 32|Objekte und Handlungen verstanden werden kann; die neuerdings aufblühende phänomenologische Soziologie richtet die pädagogische Aufmerksamkeit auf die komplexe
»Lebenswelt«
bzw. die
»Alltagswelten«
, in denen Kinder groß werden; für französische Strukturalisten ist der
»kulturelle Habitus«
der für alle Erziehungsverhältnisse entscheidende Faktor.
[081:53] All dies erinnert, trotz der großen Differenzen in Sprache und Argumentationsweise, an Augustinus. Die wichtigsten Komponenten seines pädagogischen
»Modells«
fasse ich schematisch zusammen:
[081:54] Ich formuliere das Ganze noch einmal in drei erziehungstheoretischen Thesen:
  1. 1.
    [081:55] Ein notwendiges, nicht hintergehbares Element allen Erziehungsgeschehens ist die Tatsache, daß wir, die Erwachsenen, die Gestalt unseres eigenen Lebens den Kindern gegenüber präsentieren. In bestimmter Ordnung oder Struktur – nämlich der unseres eigenen kulturellen Daseins – wird im Kinde etwas für die Menschwerdung Fundamentales hervorgebracht: die Kultur, die an die Stelle der instinktgesteuerten Wahrnehmungsweisen des Tieres tritt.
  2. 2.
    [081:56] Das gelingt jedoch nur durch die Sprache, bzw. durch strukturierte Handlungen, in denen von den Erwachsenen einerseits
    »jene Sache(n) von ihnen bezeichnet«
    werden, andererseits aber auch solche Bezeichnungen
    »in allerlei Sätzen an ihrer bestimmten Stelle«
    vom Kinde immer wieder gehört werden. Das heißt: Die Ordnung, die Struktur der durch
    »Hinweisung«
    hervorgebrachten Aufmerksamkeitsrichtung des Kindes wird in den Sätzen der Sprache präsentiert. Und daß diese Präsentation in Sätzen erscheint, heißt, daß sie eine Deutung ist.
  3. 3.
    [081:57] Als eine Deutung könnte sie prinzipiell auch je anders ausfallen. In der Form, in welcher die Sätze, die das Kind |A B 33|hört, erscheinen, präsentieren diese allemal eine bestimmte historische Lebensform. Solche historischen Lebensformen aber geben sich – dadurch, daß sie als Sätze präsentiert werden – als Willensrichtung zu erkennen:
    »Als mein Mund an diese Bezeichnungen sich gewöhnt hatte, begann ich mein Willensleben durch sie auszudrücken.«
    Die Sätze, dadurch daß sie nicht nur die Ordnung der wahrgenommenen Welt, sondern zugleich willentlich bestimmte Lebensformen repräsentieren, sind also auch die Bedingung dafür, daß das Kind einen eigenen Willen ausdrücken kann.

Der Indianer Büffelkind Langspeer: gebremste Wirklichkeit

[081:58] Diese mit Hilfe des Textes von Augustinus formulierte Grundthese einer allgemeinen Theorie der Erziehung soll nun an verschiedenartigen Beispielen erläutert, differenziert, modifiziert, vor allem aber konkretisiert werden. Ich wähle dazu verschiedenartige Quellen in der Hoffnung, dadurch immer neue Nuancen des Problems klarmachen zu können und bereits Formuliertes durch neue Beispiele zu bekräftigen. Ich beginne mit einem Beispiel, das zu Augustinus sowohl zeitlich als auch kulturell eine sehr große Distanz setzt: die Autobiographie Büffelkind Langspeers.
[081:59] Büffelkind Langspeer wurde 1890 geboren und war Häuptling eines Dorfes der Schwarzfuß-Indianer im nordwestlichen Teil der USA. 1928 schrieb er seine Autobiographie, zugleich ein Bericht über die letzten Jahrzehnte seiner Kultur. Die Autobiographie beginnt so:
[081:60]
»Das erste Ereignis meines Lebens, an das ich mich erinnere, fällt in das Nachspiel eines Indianerkampfes im nördlichen Montana. Meine Mutter lief weinend hin und her, ich hing in meinem moosgefütterten Tragsack auf ihrem Rücken. Ich erinnere mich an das Bild, als hätte ich es gestern gesehen – und war doch damals kaum ein Jahr alt. Frauen und Pferde überall, zwei Frauen werden deutlich: meine Mutter und meine Tante. [081:61] Meiner Mutter blutete die Hand. Sie weinte. Sie reichte mich der Tante hin, sprang auf ein Pferd und ritt davon. Mein Säuglingsverstand sagte mir, daß etwas Erschütterndes vor |A B 34|sich gehe, und obwohl Indianerkinder selten weinen, weinte ich der Mutter nach, als sie so davonlief und mich verließ. Mir war, als sollte ich sie nie wiedersehen. [081:62] Dies Bild hinterließ solch einen aufregenden Eindruck, daß es während all der Jahre meines Heranwachsens immer von neuem in mir auftauchte. Ich grübelte oft, was es wohl sein möchte, und wann ich solch ein seltsames Schauspiel gesehen haben könnte – oder ob ich es überhaupt je gesehen hätte, ob es nicht nur ein Traumbild wäre«
(Häuptling Büffelkind Langspeer, 1958, S. 13)
.
[081:63] Was wir aus dem Text des Augustinus zum Begriff der
»Präsentation von Lebensformen«
gewinnen konnten, könnte so verstanden werden, als würde das lernende Kind den Begebenheiten, Handlungen, Objekten der Kultur der Erwachsenen unmittelbar konfrontiert. Das ist offensichtlich nicht der Regelfall. Mir ist keine Kultur bekannt, in der es zum allgemein anerkannten Prinzip des Umgangs mit dem Nachwuchs gehört, Kinder der gesellschaftlichen Realität ohne jede Vermittlung auszusetzen. Die
»frontale Gestelltheit gegen das Umfeld«
(Pleßner)
bildet sich ontogenetisch in einem Prozeß heraus, in dem der Aufprall gebremst wird. Gibt es solche
»Bremsen«
nicht, entstehen, pädagogisch gesehen, problematische Verhältnisse, wie z. B. die vagabundierenden Kinderbanden des Spätmittelalters oder die Kinderarbeit im 19. Jahrhundert, Kindesmißhandlungen, aber auch die durch die Massenmedien Kindern zugänglich gewordenen Vorgänge von gesellschaftlicher Gewalt in unseren Tagen (von Irrlehren, die für eine unmittelbare Erfahrung gesellschaftlicher Wirklichkeit optieren und das als pädagogisch vernünftig empfehlen, sehe ich hier ab; die Antwort auf derartige Meinungen ist in der folgenden Argumentation enthalten). Die Wucht – man kann auch sagen die
»Gewalt«
– der Lebensverhältnisse der Erwachsenen trifft auf Kinder also (im normalen Fall) nicht direkt, sondern ist – in der Formulierung Bourdieus
»symbolisch gebrochene Gewalt«
.
[081:64] Die Passage aus dem Lebensbericht Langspeers habe ich deshalb zitiert, weil diese
»Brechung«
der Realitätsgewalt mir hier in einem einprägsamen Bild dargestellt zu sein scheint: dem
»Tragsack«
der Mutter. Er läßt beides zu: Teilnahme |A B 35|und Schutz. Etwas für die Erwachsenen Schlimmes ist offenbar geschehen.
»Frauen und Pferde überall ... Meiner Mutter blutete die Hand. Sie weinte.«
Der Tragsack läßt gleichsam diese Wahrnehmungen noch durch, aber nur diffus. Nun baut die Mutter noch eine zweite Distanz zur
»gesellschaftlichen Realität«
ein; der Tragsack reicht nicht mehr als
»Filter«
für die dem Kind zuträglichen Eindrücke:
»Sie reichte mich der Tante hin. ... Mein Säuglingsverstand sagte mir, daß etwas Erschütterndes vor sich gehe«
. Dem Vorgang selbst aber wird das Kind entzogen, oder besser: es wird vor ihm geschützt. Tatsächlich war folgendes geschehen: In einem Kampf mit den Krähen-Indianern wurde der Bruder der Mutter getötet; nach alter Sitte hatte sich die Mutter zum Zeichen der Trauer einen Finger abgehackt.
[081:65] Der
»Filter«
zwischen Kind und
»Wirklichkeit«
– ein Filter erfüllt ja zwei Funktionen: er läßt einiges durch, anderes nicht – hat gute Gründe. Es sind mindestens zwei:
  1. (1)
    [081:66] Die
    »Wirklichkeit«
    des Erwachsenen ist – in welcher Kultur auch immer – ein ausdifferenziertes System von Gegenständen, Handlungen und Symbolen, das, unvermittelt dem Kinde dargeboten, es zunächst verwirren und dann, mangels irgendeiner Orientierungsmarke, zur zufälligen Imitation irgendwelcher in der Wahrnehmung des Kindes besonders hervortretender Vorgänge, Vorbilder, Verrichtungen, Empfindungen, Vorstellungen usw. veranlassen würde. Nimmt man die modische, hier aber vielleicht der Einfachheit halber vorübergehend erlaubte Unterscheidung von
    »Anpassung und Widerstand«
    , dann könnte man sagen: derartig aufwachsende Kinder würden sich
    »angepaßt«
    entwickeln, und zwar an die je situativen Kontexte, an das, was ihnen ihr eigener Lust-Unlust-Haushalt, ihre
    »Bedürfnisse«
    ihnen gebieten. Der
    »Tragsack«
    (die Metapher für jenen pädagogischen Filter) schützt sie vor dieser
    »Anpassungs«
    -Nötigung und ermöglicht, das (augustinische)
    »Ich«
    allererst zu bilden.
  2. (2)
    [081:67] Der
    »Filter«
    hält nicht nur Verwirrendes zurück; er läßt auch Strukturierendes durch. Im vorliegenden Fall beispielsweise erreicht das Kind die Information
    »Trauer«
    , und zwar nicht nur dadurch, daß sich dem Kind die Gemütsbewegung der Mutter mitteilt, sondern auch dadurch, daß sich mit der Gemütsbewegung kulturelle Handlungen verbinden. Außer|A B 36|dem vermittelt der Tragsack selbst schon ein wesentliches Element kultureller Struktur: er repräsentiert ein Schema für Körperlichkeit, für den Ausgleich zwischen Nähe und Distanz, zwischen Teilhabe und Für-sich-Sein. Der Kinderwagen beispielsweise repräsentiert ein anderes Schema.
[081:68] Der Schutz, der dem Kinde gegeben wird, ist also mit einer kulturellen Einprägungsweise verbunden. Das wird auch im folgenden Beispiel deutlich:
[081:69]
»Nach diesem ungewöhnlich frühen Erwachen meines Bewußtseins fiel ich wieder in den dunklen Schlaf des Säuglingsalters; bis zu meinem vierten Jahre erinnere ich mich an nichts mehr. Da erwachte ich eines Tages mitten in der Luft. Ich fiel nämlich gerade von einem Pferde herab. Daß ich auf dem Rücken des Pferdes gesessen hatte, davon weiß ich nichts; aber ich erinnere mich, durch die Luft zu stürzen, auf der Erde aufzuschlagen und dort auf dem Rücken zu liegen, voll Verwunderung nach dem scheckigen Bauche des schwarz und weißen Pferdes hinaufschauend, das über mir stand. Dann griffen mich die starken Arme meines Bruders und hoben mich wieder auf das Pferd; dabei sagte er zu mir mit strenger Stimme:
So! Nun bleibst du aber da! Du bist vier Jahre alt; wenn du jetzt noch nicht auf einem Pferde reiten kannst, ziehen wir dir Mädchenkleider an und lassen dich eine Frau werden.
Seit diesem Tag erinnere ich mich deutlich an alles«
(a. a. O., S. 13 f.)
.
[081:70] Die Verknüpfung von Schutz bzw. Hilfe und der Einprägung eines kulturellen Schemas tritt hier, durch den Kommentar des Bruders, noch deutlicher hervor: Die unterstützende Geste und die beruhigende Erfahrung dieser Geste (
»Da griffen mich die starken Arme meines Bruders und hoben mich wieder auf das Pferd«
) wird vom Bruder gleich mit zwei Dimensionen kultureller Erwartung verknüpft: einem Schema für die zeitliche Strukturierung des Bildungsprozesses (
»Du bist vier Jahre alt«
) und einem Schema der Unterscheidung von männlich/weiblich (
»... lassen dich eine Frau werden«
).
[081:71] Ist das Kind größer geworden, können derartige repräsentative Funktionen auch gleichsam an die Kinder selbst abge|A B 37|geben werden. Langspeer gibt dafür ein Beispiel im Zusammenhang mit der Erörterung, was ein Indianername bedeute:
[081:72]
»Während ich ein Knabe war, besaß jeder Indianer im Laufe seines Lebens zum mindesten drei Namen. Der erste davon, den er bei der Geburt erhielt und trug, bis er alt genug war, auf den Kriegspfad zu gehen, beschrieb irgend etwas in Zusammenhang mit seiner Geburt. Wir haben zum Beispiel einen Mann unter den Schwarzfüßen, der heißt Heult-mitten-in-der-Nacht. Als er am Ufer des Belly-(Bauch-)Flusses im südlichen Alberta geboren wurde, ging die Indianerfrau, die seiner Mutter half, an den Fluß hinaus, um Wasser zu holen. Sie kam ins Zelt zurück und sprach:
Ich hörte einen Wolf über dem Flusse heulen.
Die Mutter des Neugeborenen antwortete:
Dann werde ich meinen Sohn Heult-mitten-in-der-Nacht nennen.
[081:73] Den Geburtsnamen sollte der Knabe behalten, bis er alt genug war, sich selbst einen Namen zu verdienen; aber sobald er mit anderen Kindern spielte, gaben ihm die Spielgefährten unter sich einen Namen, der den von den Eltern erwählten vollkommen verdrängte. Und dieser Name war oft wenig schmeichelhaft, denn wir Indianerknaben suchten gern einen bezeichnenden Mangel oder Fehler, nach dem wir unseren Spielgefährten nannten. Es gab zum Beispiel Namen wie O-Beine, Toller-Hund, Laufende-Nase, Böser-Bube, Wolfsschwanz. Man weiß von Fällen, wo dieser Spitzname aus der Knabenzeit so treffend paßte, daß er nicht nur den Geburtsnamen verdrängte, sondern auch zeitlebens haften blieb, falls der Betreffende nicht imstande war, sich auf dem Kriegspfad einen besseren zu verdienen. [081:74] Meist aber erhielt ein Indianer seinen eigentlichen Namen, wenn er alt genug war, den ersten Kampf gegen den Feind mitzumachen. Sein Name für das ganze Leben hing davon ab, wie er sich bei diesem Kampfe bewährte. Nach der Rückkehr vom Kriegspfade kam das gesamte Lager zusammen, um den Feierlichkeiten der Namensverleihung durch den Häuptling des Stammes beizuwohnen. Hatte sich der Jüngling als tüchtig erwiesen, so erhielt er einen guten Namen, wie zum Beispiel: Er-kämpft-mit-beiden-Armen, Heranstürmender-Büffel, Sechstöter, Guter-Treffer, Schwerer-Speer, Viele-Häuptlinge. Hatte er sich hingegen schlecht geführt, so mochte er vielleicht heißen: Verrückter-Wolf, Mann-der-sich-vor-einem-Pferde-fürchtet, Rauchendes-altes-Weib. So gibt ein |A B 38|Indianername an, wie sich sein Träger bewährt hat oder welcher Art er ist«
(a. a. O., S. 37 f.)
.
[081:75] Diese Indianer-Kultur sieht zunächst offenbar nur zwei Namen vor (
»Den Geburtsnamen sollte ein Knabe behalten, bis er alt genug war, sich selbst einen Namen zu verdienen«
); der erste, bei der Geburt gegebene, verweist eher auf
»Natur«
; der zweite, nach der Initiation, lokalisiert seinen Träger im Stamm, verweist auf
»Gesellschaft«
. Außerdem markieren die beiden Namen einen Zeitrhythmus: Kindheit und Erwachsensein. Dieses Schema – wenn man es aufzeichnen würde, hätte es zwei Achsen mit je zwei polaren Oppositionen – ist ein Charakteristikum dieser Kultur; es hat (zunächst) einen
»kosmologischen«
, keinen pädagogischen Sinn. Auf Kinder als Mitglieder dieser Kultur angewendet wird es aber unmittelbar pädagogisch relevant: es trennt den Bereich des
»gebremsten«
von dem des
»ungebremsten«
Aufpralls der Realität; oder besser: es trennt zwei Realitäten voneinander, pädagogische und nicht-pädagogische. In diesen Unterscheidungen – der Lebenszeit und der
»Gestelltheit gegen das Umfeld«
(Pleßner)
– repräsentiert die Kultur, die Lebensform der Erwachsenen, deshalb nicht nur sich selbst, sondern bietet auch den Kindern ein Modell an, das, vor jeder besonderen Erziehungsabsicht, gleichsam pädagogische Vernunft hat. Da nun einmal die Lebensalter nach einem plausiblen Prinzip getrennt sind, darf man offenbar, sofern man sich nur an die Grundregel hält, in diesem Sinne weiter verfahren.
[081:76] Genau das tun die Knaben: sie erfinden sich eine Zwischenform der Namengebung, die das kulturelle Thema variiert,
»Toller-Hund«
,
»Laufende-Nase«
,
»Böser-Bube«
. Der Zeitrhythmus bleibt erhalten, nur wird er noch einmal unterteilt, denn jetzt wird die Kindheit vom Knabenalter getrennt. Aber auch das Prinzip der Unterscheidung zwischen Natur und Gesellschaft bleibt erhalten.
»Wir Indianerknaben suchten gern einen bezeichnenden Mangel oder Fehler, nach dem wir unseren Spielgefährten nannten«
, heißt soviel wie: wir übernahmen die Namensgebungsregel, die für die erwachsenen Krieger galt und die ihn nach seinen Eigenschaften sozial klassifizierte und damit lokalisierte, die Gesellschaftsseite des |A B 39|kulturellen Schemas also. Aber die Knaben lokalisierten sich selbst nun nicht etwa schon bei den erwachsenen Kriegern;
»Böser-Bube«
ist der Qualität nach etwas anderes als beispielsweise
»Heranstürmender-Büffel«
; der zweite Name ist die konkrete Benennung einer beobachteten – und freilich auch sozial codierten – Eigenschaft eines reifen Mannes;
»Böser-Bube«
dagegen ist die abstrakte Benennung nach antizipierten Klassifikationen, ein vorsichtiges Vortasten zu den Erwachsenen-Regionen hin und in dieser Vorwegnahme freilich, wie es sich für Kinder gehört,
»abstrakt«
(ein Bildungsprozeß kann sich ja gar nicht anders entfalten – denke ich – als in der Konfrontation von sinnlich-konkret bestimmten Einzelerlebnissen und der kulturell-allgemeinen Vorwegnahme von Deutungsmustern). Aber vielleicht heißt
»Böser-Bube«
später, wenn er seinen endgültigen Namen erhält,
»Guter-Treffer«
oder
»Viele-Häuptlinge«
; man weiß es nicht; es wird sich zeigen. Andererseits:
»Heranstürmender-Büffel«
oder
»Viele-Häuptlinge«
sind Namen, die eine gesellschaftliche Leistung bezeichnen und darin zugleich den Träger des Namens auszeichnen, d. h. ihn in das erwartete System gesellschaftlich nützlicher Tätigkeit einordnen – eine Funktion, die bei uns eher Titel und Berufsbezeichnungen erfüllen.
»Böser-Bube«
oder
»Laufende-Nase«
sind demgegenüber körpernäher, eine Anwendung jener antizipierten Klassifikation von gewünschten und mißbilligten Eigenschaften der Erwachsenenkultur auf die
»gebremste«
Spielwelt der Knaben, in der noch die Regeln des gleichsam Vorläufigen gelten.
[081:77] Eine Art Einschachtelung der Kultur also: die Welt der Erziehung und Bildung als Teil der Gesamtkultur, durch Sonderregeln relativ voneinander getrennt. Mir scheint, daß dies ein universales Prinzip der Kulturorganisation von Erziehung ist. Erziehungs- und Bildungsprozesse sind immer auf derartige Weise in das Ganze eingeschachtelt, nie im strengen Sinne des Wortes
»autonom«
. Probleme entstehen weniger durch die Tatsache der Einschachtelung als durch die Mißachtung dieser Tatsache. Je größer und differenzierter Gesellschaften werden, um so schwieriger wird es, dieser Tatsache Rechnung zu tragen. Dafür sind die früheren Meinungen zur
»Autonomie«
der Pädagogik ein Symptom, auch |A B 40|die jüngeren Debatten zur jugendlichen
»Subkultur«
, auch die Systemschwierigkeiten, die dadurch entstehen, daß die Grenzen zwischen Erziehungswelt und Lebensform strenger werden, die pädagogischen Institutionen mit je eigenen Regeln zahlreicher, die dem Bewußtsein noch verfügbaren Kontinuitäten zwischen Erziehung und Kultur dünner. Derartige Probleme sollen nun, im nächsten Abschnitt, angedeutet werden.

Was Bilder sagen können: Die Entstehung einer pädagogischen Barriere

[081:78] Durch den flüchtigen Hinweis auf den bei uns gebräuchlichen Kinderwagen, im Unterschied zum indianischen Tragsack, habe ich schon angedeutet, daß zur Erläuterung dessen, was
»Präsentation«
heißen soll, Vergleiche nützlich sind. Der Vergleich hilft, durch Beobachtung des historisch Andersartigen, Charakteristika unserer eigenen Situation besser zu erkennen, und zwar besonders solche, die uns aus dem Bewußtsein geraten, etwa weil sie zum alltäglich Gewohnten gehören. Einen solchen Vergleich will ich nun vornehmen, und zwar im Hinblick auf nur eine Komponente unserer Lebensformen: Arbeit. Ich frage also: Was ist das Besondere, das je Charakteristische an der Art, in der Arbeit der nachwachsenden Generation repräsentiert wird, und in dem, was auf diese Weise inhaltlich vermittelt wird? Um das Medium zu wechseln und damit auch zu zeigen, daß das Material des Erziehungswissenschaftlers nicht nur aus sprachlichen Texten, schon gar nicht nur aus Lebensbeschreibungen besteht, verwende ich Bilder.
[081:79] Methodische Anmerkung: Man mag gegen Bilder einwenden, daß sie uns nicht
»die Sache selbst«
, sondern nur die Vorstellungen dessen zeigen, der die Bilder produziert. Das ist, oberflächlich gesehen, richtig. Es trifft aber auch auf Autobiographien zu. Beide, Bilder und Autobiographien, zeigen uns, so scheint es, nur eine persönliche Sichtweise. Wollen wir genau wissen, was durch das Leben der Erwachsenen, und auf welche Weise es dem Nachwuchs vermittelt wird, dann müßten wir dabei sein, also die Sache selbst beobachten. Was das im Hinblick auf Vorgänge in unserer eigenen Kultur und Gegenwart bedeuten könnte, läßt sich vielleicht vorstel|A B 41|len: Wir können Kinder auf der Straße, beim Einkaufen, in den Ferien, in der Schule, in Familien usw. beobachten und je unsere Aufmerksamkeit auf das richten, was sie dort von unseren Lebensformen
»zu Gesicht«
bekommen. Was ist es also, das uns in Bildern gezeigt werden kann, wie stehen sie zu der Sache Erziehung, die uns interessiert? Freilich dokumentieren sie, wie Autobiographien auch, die besondere Perspektive des Herstellers. Aber er wollte ja doch wohl von seinen Zeitgenossen verstanden werden. Seine
»Bildsprache«
enthält insofern notwendig Allgemeines; das aber ist nie
»realistisch«
in dem trivialen Sinne dieses Wortes, keine genaue Abbildung der sichtbaren Wirklichkeit. Das Bild stilisiert, und zwar im Hinblick auf Allgemeines, im Hinblick auf die historisch je geltenden Regeln der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit. Solche Regeln sind
»abstrakt«
insofern, als sie vom sinnlich wahrnehmbaren Einzelnen absehen; man kann sie aber auch
»konkret«
nennen insofern, als sie die Regeln der Wirklichkeitskonstruktion direkt bezeichnen (aus diesem Grunde nennen Maler, die ungegenständliche Bilder herstellen, ihre Kunst gelegentlich
»konkrete Malerei«
). Wenn das so ist, dann kann man aus Bildern erschließen, nach welchen Regeln
»Erziehungswirklichkeit«
sozial konstruiert wurde. Das erfordert vom Interpreten allerdings, daß er nicht nur den Inhalten (im Falle eines Bildes seine ikonographischen Elemente), sondern auch und besonders den formalen Strukturen seine Aufmerksamkeit zuwendet, denn vor allem in diesen offenbart sich der
»Habitus«
– ein anderer Ausdruck für
»Regeln der sozialen Wirklichkeitskonstruktion«
. Je weiter entfernt ein kulturelles Objekt (ein Bild) von unserer eigenen kulturellen Lage ist, um so schwieriger wird es, jene Regeln gleichsam auf Anhieb zu erkennen, um so größer wird die Gefahr des Mißverstehens, um so wichtiger wird dann natürlich auch, sich die jeweiligen Lebensformen durch andere Quellen zu vergegenwärtigen. Im Vergleich zu dieserart Aufgaben ist das Folgende naturgemäß nur eine hypothetische Skizze.
[081:80] Versuchen wir also, einige solcher in Bildern ausgedrückten Sichtweisen bzw. Wirklichkeitskonstruktionen aus verschiedenen Jahrhunderten zu betrachten; unterstellen wir dabei, daß die Hersteller nicht nur gute Beobachter, sondern auch kompetente Interpreten dessen waren, was zu ihrer Zeit geschah; und sehen wir zu, welche Auskünfte sie uns geben können – hier nur zum Thema
»Arbeit«
.
[081:81] Läßt man diese Bildreihe (Abb. 16) an sich vorüberziehen, dann sieht es so aus, als dokumentiere sie über 200 Jahre hinweg einen allmählichen Fortschritt: Die Kinder werden im Laufe der Zeit immer weniger der gesellschaftlichen |A B 42|
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung eines Holzschnitts aus Bernhard Richels Buch »Spiegel menschlicher Behaltnis« (Seite ii) mit dem Titel »Adam hackte« aus dem Jahr 1476 zu sehen.
Abb. 1: Bäuerliche Familie bei der Arbeit, Holzschnitt 1476
Wirklichkeit der Arbeit unmittelbar ausgesetzt; langsam schiebt sich – im Bilde gesprochen – zwischen das Kind und das, was für den Erwachsenen
»Arbeit«
ist, eine Barriere, die
»den Aufprall bremst«
. Aber selbst bei flüchtiger Betrachtung stellt sich vielleicht auch ein anderer Eindruck ein: Um die Bilder derart als Dokumentation einer geschichtlichen Entwicklung zu vergleichen, ist ein relativ abstrakter Gesichtspunkt erforderlich, der dem einzelnen Bild gar nicht mehr gerecht wird; jedes einzelne verdient eine eigene Interpretation, ehe man es dem abstrakten Vergleichsgesichtspunkt unterwirft, etwa so, wie ich es am Beispiel der Bekenntnisse des Augustinus angedeutet habe. Wie eine bildungstheoretische Interpretation eines Bilddokumentes vorgenommen werden könnte, werde ich später zeigen. Hier begnüge ich mich mit wenigen Hinweisen.
[081:82] Die ersten beiden Bilder der Reihe (Abb. 1 und 2) scheinen zusammenzugehören. Sie unterscheiden sich von den übrigen einerseits thematisch: beide Dokumente weisen auf die bäuer|A B 43|
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung zu sehen, die drei Personen beim Spinnen zeigt.
Abb. 2: Bäuerliches Leben, Holzschnitt 1502
liche Welt des 15. und 16. Jahrhunderts hin. In beiden Fällen sind die
»Familien«
, Vater/Mutter/Kind, beim Arbeitsvorgang vollständig anwesend. Die Kinder können, der Situation nach, die Arbeit unmittelbar sehen; der Unterschied zwischen beiden betrifft das Alter und seine Folgen: einerseits die eindeutige Zugehörigkeit des Säuglings zur Mutter, andererseits schon das Kind als Mitarbeiter. In beiden Fällen sind Erwachsene, Kinder und Arbeit ganzheitlich, als Sinneinheit dargestellt. Zwischen diesen drei Situationskomponenten gibt es kein
»Problem«
. Wenn ich das so sage, wird deutlich, wie schwierig hier eine klare und treffende Formulierung wird; denn man könnte durchaus auch sagen, daß beide Bilder ein
»Problem«
zur Darstellung bringen: im einen Fall durch gleichzeitige An- und Abwesenheit des Säuglings (beim Arbeitsvorgang anwesend, aber gleichzeitig nur der Mutter zugewandt), im anderen Fall durch Größenunterschied und andersartige Tätigkeit und den auf die Mutter gerichteten beobachtenden Blick des Kindes. Aber ein
»Problem«
im Sinne einer zur Darstellung gebrachten Frage, deren Beantwortung noch aussteht, ist es vermutlich nur für uns.
[081:83] Beide Bilder unterscheiden sich von den übrigen aber auch in der Form. Beispielsweise verzichten sie gänzlich auf Betonung der Perspektive. Das ist zwar auch – besonders beim |A B 44|Holzschnitt des 15. Jahrhunderts – eine Frage der technischen Geschicklichkeit des Holzschneiders; es ist aber darüber hinaus (besonders Abb. 1) auch Teil einer Weltsicht: Die Perspektive war in jenen Jahrzehnten einerseits der Stolz des handwerklich perfekten Künstlers, andererseits Ausdruck einer
»anthropozentrischen«
Lebenseinstellung (Panofsky). nicht nur mit der Marien-Assoziation zusammen, die wir angesichts der Bildkomposition haben, z. B. dem faltenreichen Gewand der Mutter, sondern – wie ich vermute – vornehmlich mit dem Verzicht auf Perspektive, die in der mittelalterlichen Malerei seit den byzantinischen Mosaiken zur Zeit Augustins dominierte. Es wird nämlich in dieser Mal- oder Darstellungsweise eher auf das Dauerhafte als auf das Veränderliche hingewiesen, es wird ein
»kosmosorientierter Gestus«
verwendet (beispielsweise konnte der Zeitgenosse die Abbildung 1 auch als Adam – mit der Hacke –, Eva und Kain lesen). Das genau aber war im 15. und 16. Jahrhundert für die bäuerliche und Teile der Handwerkerkultur charakteristisch, als im städtischen Patriziat, den Kaufleuten, den gehobenen Handwerkern, zumal der Geldaristokratie, bereits ganz andere Orientierungen Platz gegriffen hatten.
[081:84] Der
»Filter«
, der in dieser (bäuerlichen und handwerklichen) sozialen Lage zwischen das Kind und den gesellschaftlichen Ernstfall trat, war nicht eine pädagogisch-technische Einrichtung oder Maßnahme (wie Fernhalten, Laufställchen, Kinderzimmer, Spielzeug, Schule usw.), sondern eine gleichsam
»kosmostheoretische«
Einstellung. Das ist eine zwar in der Behauptung starke, in der Beweisfähigkeit aber noch schwache Hypothese. Zur Stützung führe ich ein einziges historisches Beispiel an.
[081:85] Ungefähr 100 Jahre nachdem der erste und 50 Jahre nachdem der zweite Holzschnitt entstand, brachte man in Norditalien den Müller eines kleinen Dorfes vor das Inquisitionsgericht (vgl. Ginzburg 1979). Er hieß Menocchio. Die Prozeßakten sind erhalten und eines der ganz wenigen authentischen Dokumente für Lebensformen und Weltdeutung der unteren sozialen Schichten jener Jahrhunderte. Es gibt eine Menge von Gründen dafür, daß das, was Menocchio während des |A B 45|Prozesses aussagte, weder nur die persönliche Meinung eines einzelnen zum Ausdruck brachte noch nur für jene Jahrzehnte gilt. Menocchio vertrat in jenem Prozeß unter anderem die folgenden für unseren Zusammenhang wichtigen Meinungen:
  • [081:86] Gott ist überall.
    »Was ist dieser Herrgott anderes, denn Erde, Wasser und Luft?«
    (Ginzburg 1979, S. 104)
  • [081:87]
    »Er glaubte, daß die ganze Welt Gott sei«
    und
    »daß den Nächsten zu lieben wichtiger sei, als Gott zu lieben«
    (ebd.)
  • [081:88] Er glaubte,
    »daß wir Menschen alle einen Geist Gottes haben, der guten Muts ist, wenn wir Gutes tun, und der Geist ist mißvergnügt, wenn wir Böses tun«
    (S. 107)
    .
  • [081:89] Die Einrichtungen der Kirche, ihre Gesetze, Vorschriften, Sakramente usw. nennt er
    »Kaufmannswaren«
    (S. 44)
    , und über das Patriziat der Stadt Venedig – er hat dort auf den Plätzen gelegentlich Guitarre gespielt – sagt er:
    »Mich dünkt, daß diese venezianischen Herren Diebe in jener Stadt halten, dieweil wenn einer etwas einkaufen geht und man fragt:
    Wieviel willst Du für diese Ware?
    sagen sie:
    Einen Dukaten
    und ist doch nur drei Heller wert und wollen so ihr Beut machen«
    (S. 43)
    .
  • [081:90] Er glaubte, daß eine neue, andere, bessere Welt möglich sei, aber er konnte sie sich nicht als Entwicklung, sondern nur als Gegenbild vorstellen, als
    »Schlaraffenland«
    .
[081:91] Der italienische Historiker, dem wir diese Informationen verdanken, bezeichnet die Weltsicht Menocchios als
»religiösen Materialismus«
. Und Menocchio, als er gewiß sein konnte, für seine Meinungen und deren öffentliche Äußerung mindestens ins Gefängnis zu kommen, sagte, für diesen Fall sei seine größte Sorge, was dann aus seinen
»Kindlein«
würde.
[081:92] Diese Meinung kontrastiert scharf nicht nur mit der kirchlichen Lehre, sondern auch mit der Weltauffassung der frühbürgerlich-kaufmännischen Schichten. Während die Lebens- und Überlebensprobleme für den bäuerlichen Teil der Bevölkerung nur in unmittelbar konkreter Auseinandersetzung mit der Natur zu lösen waren, war die
»materielle«
Grundlage für den Kaufmann schon längst abstrakter geworden. Von dieser Welt der
»Kaufmannswaren«
grenzt Menocchio sich deutlich ab, was in den beiden Holzschnitten inhaltlich und formal |A B 46|klar hervortritt: Die Arbeit und die Stellung des Kindes zu ihr hat ihren Sitz in der nur durch die Werkzeuge und die persönliche Lokalisierung des Kindes in der Familiengruppe vermittelten Gestelltheit gegen die Natur; insofern gibt es keine selbständige Innenwelt, die sorgfältig räumlicher Ausarbeitung im Bilde bedürfte. Es gibt auch keine Perspektive, in der räumliche und zeitliche Veränderung möglich wäre.
[081:93] Ich denke deshalb, Menocchios Weltanschauung ist ein brauchbarer Kommentar zu den beiden Holzschnitten. Man darf sie – wie übrigens auch die Mitteilungen Büffelkind Langspeers – keinesfalls so interpretieren, als gäbe es hier eine pädagogische Theorie, die etwa Mittelanweisungen dafür enthielte, wie der
»Aufprall«
der gesellschaftlichen Realität zu bremsen sei; man darf sie aber auch nicht so interpretieren, als werde hier eine unvermittelbare Konfrontation des Kindes mit Arbeit dargestellt. Der
»Filter«
zwischen Kind und Arbeit liegt in der kosmosorientierten Weltsicht. Sie enthält mindestens zwei
»pädagogische«
Prinzipien:
  • [081:94] den Menschen als Teil des Kosmos zu denken und deshalb die Kinder von Anfang an, nach Maßgabe ihrer Kräfte, an der Auseinandersetzung des Menschen mit den materiellen Bedingungen seines Lebens zu beteiligen und
  • [081:95] diese Auseinandersetzung dadurch für Kinder erträglich zu machen, daß sie durch die erwachsene Person und ihre Auslegung der Welt vermittelt wird. Warum sonst könnte die größte Sorge Menocchios sich auf das Schicksal seiner
    »Kindlein«
    richten?
[081:96] Unsere Welt ist nicht mehr so, daß das noch so ohne weiteres ginge. Innerhalb von zwei Jahrhunderten verwandelte sich die europäische pädagogische Landschaft grundsätzlich. Wenn nun Probleme des Umgangs der Generationen miteinander, Erziehungsfragen im weitesten Sinne des Wortes, dargestellt werden, dann geschieht das zumeist in relativ kleinen, geschlossenen Räumen. Die Perspektive gibt ihnen zwar Tiefe; aber Innen und Außen werden deutlich getrennt: Pädagogik geschieht innen. Zunächst noch bleiben allerdings die Tätigkeiten der Kinder und die Arbeiten der Erwachsenen beieinander, wurde der ganzheitliche Gestus nicht nur für die bäuerliche, sondern auch für die städtische Kultur aufrechterhalten (Abb. 3 und 4): verschiedenartige Tätigkeiten der |A B 47|
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Holzschnittes vom Titelblatt des Buches »Ein regiment der jungen Kinder« von Bartholomäus Metlinger der Ausgabe von Hans Schauer aus dem Jahr 1497 zu sehen.
Abb. 3: Kaufmann inmitten seiner Familie, Holzschnitt 1477
Familienmitglieder, aber in einer Sozialform zusammengebunden; die Kinder werden hier dadurch
»groß«
und schließlich erwachsen, daß sie die Lebensform als Ganzes und in ihrer inneren Differenzierung imitieren, vor allem Geschlechts- und Generationenrollen. Es deutet sich jedoch schon ein neues Element im Prozeß der Präsentationen an: Der Junge vorn rechts
»lernt«
, vermutlich hat er ein Rechenbuch in der Hand, denn auch der Vater
»rechnet«
; der Junge tut das aber nicht mit dem Vater; vermutlich gibt es für ihn eine besondere pädagogische Veranstaltung,
»Unterricht«
, weil die bloße Repräsentation einer Lebensform nicht mehr ausreichend scheint. 100 Jahre später (Abb. 5) ist der neue Sachverhalt im Bilde prägnant dargestellt: zwischen der Arbeit, wiederum ein Kaufmann, und der Welt der Kinder ist eine Barriere eingezogen (die die Bildebenen trennende Tischkante), nun nicht mehr nur symbolisch oder durch die Lebenseinstellung, sondern
»tatsächlich«
(die Kinder werden von der Mutter gerade zur Schule verabschiedet). Konfrontation mit Arbeit geschieht nicht mehr gleichsam unmittelbar, sondern separiert und im Medium pädagogischer Vorübungen (Abb. 6).
|A B 48|
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Holzschnittes »Der Nadler«, eine Illustration von Jost Amman aus dem Ständebuch von Hans Sachs aus dem Jahr 1568.
Abb. 4: Nadelmacher mit Tochter, Holzschnitt um 1500
|A B 49|
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Kupferstiches »Der Morgen« von Jan Saenredam aus den Jahren 1595-1598 zu sehen.
Abb. 5: Mutter gibt Kindern, bevor sie zur Schule gehen, Frühstücksbrot, Kupferstich 16.–17. Jh.
[081:97] Diese Art der Grenze zwischen Erziehung und Arbeit läßt zwar immer noch das am Beispiel Büffelkind Langspeer erläuterte universale Prinzip
»gebremster Wirklichkeit«
erkennen, aber es hat eine andere Bedeutung angenommen. Im Text Büffelkinds und in den beiden Bildern bäuerlicher Lebensformen (Abb. 1 und 2), ja in Spuren auch noch in dem Bild der Kaufmannsfamilie (Abb. 3) und des Nadelmachers (Abb. 4), erscheint die Bildung des Kindes als unverstellte Antizipation des Erwachsenenlebens, freilich gebremst. In den Abbildungen 5 und 6 aber beginnt so etwas wie die |A B 50|
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Holzschnittes »Die Näherin/Die Mutter« von Elias Porzelius, eine Illustration aus dem Buch »Curioser Spiegel. Im welchem Der allgemeine Lauff des ganzen Menschlichen Lebens von der zartesten Kindheit an, bis in das gestandene Alter, in allerhand schönen Figuren, mit beygefügten Artigen Reimen zur Belustigung vorgestellet wird« aus dem Jahr 1689 zu sehen.
Abb. 6: Unterricht der Mädchen in weiblichen Handarbeiten, Holzschnitt 1689
soziale Konstruktion pädagogischer Realität; da werden die Grundregeln der Wirklichkeitskonstruktion nicht mehr auf Kinder hin nur transformiert, vielmehr ist ein neues Regelsystem im Entstehen begriffen. Die Kultur wird dem Kinde nicht mehr als das Ganze einer Lebensform repräsentiert, sondern hälftig: zunächst als pädagogische Einübungsweisen, wie für Fremde. Das macht besondere Institutionen notwendig: Schulen (nun nicht nur für ganz wenige, sondern für das städtische Bürgertum insgesamt), innerhäusliche Lernübungen, Waisenhäuser – später dann (im 19. Jahrhundert) Kinderbewahranstalten, Kindergärten, Jünglingsvereine, schließlich im 20. Jahrhundert die endgültige Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht, Vorschulerziehung, Heimerziehung, außerschulische Jugendbildung, berufliche Grundausbildung usw. Daß wir heute von Jugendkultur oder Jugendsubkultur überhaupt sinnvoll reden können, daß wir lerntheoretische Aussagen entwicklungspsychologisch differenzieren, daß es nicht nur eine Kindheit, sondern viele |A B 51|Abstufungen bis zur Spätadoleszenz gibt, dies alles nahm seinen (europäischen) Anfang in jener Bild-Sequenz, in der allmählich die
»Arbeit«
der Erwachsenen vom
»Lernen«
der Kinder durch eine kulturinterne Barriere getrennt wurde. Wir präsentieren seitdem den Kindern nicht nur andere Lebensformen, sondern wir präsentieren sie auf andere Weise – wir repräsentieren sie.
|A B 52|

2. Repräsentation
Oder: Auswählen, was vermittelt werden soll

Comenius und Velazquez: Das pädagogische Spiegelkabinett

[081:98] Vor dem Hintergrund der institutionellen Instrumentierung
»neuzeitlicher Erziehungswelt«
wird ein Buch leichter verständlich, das uns heute auf den ersten Blick vielleicht kurios erscheint, das aber – wie in einem Spiegel – die damals hervortretende Grundproblematik pädagogischer Repräsentation zusammenfaßt: der 1658 in Nürnberg erschienene
»Orbis sensualium pictus«
(gemalte Welt) des Johann Amos Comenius. Zweihundert Jahre lang gehörte dieses Buch zu den auflagenstärksten Büchern für Lehrer und Kinder; für Goethe noch war es eins der eindrucksvollsten, die er als Kind gelesen hatte. Was ist das Erstaunliche daran?
[081:99] Es besteht aus 150 kleinen Lektionen, jede auf zwei Seiten beschränkt, mit einem Bild und lateinisch-deutschen Bilderläuterungen. In Absicht und Anlage bezeichnet es ein Problem, das – wenn ich recht sehe – bis heute nicht gelöst ist, gleichsam die pädagogische Bürde der Neuzeit. Das möchte ich erläutern. Zunächst ein Zitat aus der Einleitung:
[081:100]
»Es ist/ wie ihr sehet/ ein kleines Büchlein: aber gleichwol ein kurzer Begriff der ganzen Welt und der ganzen Sprache«
[081:101] Ein
»kurzer Begriff der ganzen Welt«
: ist das ernst gemeint, und wozu soll es gut sein, den Kindern, die doch in der Welt leben und sie täglich erfahren, diese noch einmal in einem Bilder-Zyklus zu präsentieren? Die Frage nach dem Sinn eines solchen Unternehmens kommt uns heute vielleicht gar nicht mehr: Wir haben es längst gewohnheitsmäßig akzeptiert, daß die Welt der Pädagogik eine riesige Montage aus Bildern und dargestellten Vorstellungen ist, die nicht
»die |A B 53|Sachen selber«
sind, sondern nur noch auf Sachen und Sachverhalte
»zeigen«
: unser Erziehungssystem würde vermutlich in ein Chaos gestoßen, wenn – beispielsweise – sofort die gesamte Kinder-Literatur, sämtliches Spielzeug mit Ausnahme von vielleicht zehn Grundspielen (Ball, Reifen, Windmühle, Steckenpferd, Puppe, Wagen usw.), sämtliche
»Anschauungsmaterialien«
in den Schulen vernichtet, aber auch von Pädagogen veranstaltete
»Rollenspiele«
, Kinderspielplätze,
»Sachunterricht«
in der Schule, Schulbücher bis hin zu Formen der Repräsentation wie diesem Text abgeschafft würden. Dieses ungeheure didaktische Arsenal, in dem sich die Pädagogik, die wir heute haben, entfaltet hat, nahm mit Comenius, jedenfalls aber zu seiner Zeit, ihren Anfang. Pädagogik, so könnte man sagen, ist seit 300 Jahren die Welt
»noch einmal«
, und zwar in stilisierten Abbildungen, ein gewaltiges ästhetisch-symbolisches Unternehmen, eine Art Riesen-Collage, die inzwischen, nachdem unsere Curriculum-Konstrukteure auch in die Entwicklungsländer eindringen, im Weltmaßstab betrieben wird.
[081:102] Offenbar geht es nicht anders. Comenius hatte dafür zwei Gründe:
  1. 1.
    [081:103] Wenn so etwas wie Gleichheit unter den Menschen sinnvoll angestrebt werden soll, dann muß jedes Kind das
    »Ganze«
    lernen, auch wenn es nur, am Ort seines Aufwachsens, einen kleinen Teil des gesellschaftlichen Lebens wirklich zu Gesicht bekommt.
  2. 2.
    [081:104] Die Vielfalt dessen, was die Gesamtheit der Tatsachen neuzeitlicher Lebensformen ausmacht, ist so verwirrend groß, daß von Anfang an dem Kinde dies in der rechten Ordnung präsentiert werden müsse.
[081:105] Das erste Argument des Comenius ist
»fortschrittlich«
im Sinne der sich gerade entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft. Das zweite Argument ist kritisch, denn es ist gerade gegen diese drohende Entwicklung gerichtet. Das wird vielleicht ein wenig deutlich durch die Eingangspassage des
»Orbis pictus«
:
[081:106]
»Der Unwissenheit Arzneymittel ist die Kunst-Lehre / welche den Gemütern in den Schulen sol beygebracht werden: Aber also / daß es sey eine wahre / eine vollkommene / eine |A B 54|klare / und eine fäste Kunst-Lehre. Wahr wird sie seyn / wann nichts als was zum Leben nützlich ist / gelehret und gelernet wird; damit man nicht nachmals Ursach habe zu klagen: Wir wissen nicht / was nothwendig zu wissen ist / weil wir nichts nothwendiges gelernet. Vollkommen wird sie seyn: Wann das Gemüte zubereitet wird zur Weißheit / die Zunge zur Wohlredenheit / und die Hände zu ämsiger Übernehmung der Lebensverrichtungen: Dieses wird alsdann seyn / das Salz des Lebens / nemlich Wissen / Thun und Reden. Klar / auch dannenhero stät und fäst / wird sie seyn / wann alles / was gelehret oder gelernet wird / nicht dunkel oder verwirrt / sondern deutlich / wohlunterschieden und abgetheilet ist / wann die Sinnbare Sachen den Sinnen recht vorgestellet werden / damit man sie mit dem Verstand ergreifen könne. Ich sage / und wiederhole mit hoher Stimme / daß dieses letztere die Grundstütze sey aller der anderen Stücke: weiln wir weder etwas ins Werk setzen / noch vernünftig ausreden können / wann wir nicht zuvor alles / was zu thun oder wovon zu reden ist / recht verstehen lernen.«
[081:107] Dieser Text klingt
»modern«
: Schulen seien unerläßlich;
»Nützliches«
solle gelehrt werden; natürlich nicht alles und jedes, sondern nur,
»was nothwendig zu wissen ist«
;
»Wohlredenheit«
sei erforderlich; die
»Hände«
sollten zu
»ämsiger Übernehmung der Lebensverrichtungen«
gebildet werden;
»wohlunterschieden und abgetheilet«
sollten die Erfahrungen und Begriffe sein. Aber was heißt
»nützlich«
,
»wohlunterschieden und abgetheilet«
? Die Anlage des Buches gibt uns dafür einen Anhaltspunkt. Wie unterscheidet Comenius, welche Ordnung der Dinge und Sachverhalte stellt er uns vor? Wie sieht die rechte Ordnung der Welt aus, die er den Kindern repräsentieren will? Eine Gliederung der Lektionenfolge ergibt folgendes:
  1. 1.
    [081:108] Gott
  2. 2.
    [081:109] Die Welt
  3. 3.
    [081:110] Der Himmel
  4. 4.
    [081:111] Die Elemente
  5. 5.
    [081:112] Die Erde
  6. 6.
    [081:113] Die Pflanzen
  7. 7.
    [081:114] Die Tiere
  8. 8.
    [081:115] Der Mensch
  9. 9.
    [081:116] Die primären Berufe
  10. |A B 55|
  11. 10.
    [081:117] Das Haus, woraus und wie es gemacht ist
  12. 11.
    [081:118] Das Inwendige des Hauses
  13. 12.
    [081:119] Verkehr
  14. 13.
    [081:120] Intellektueller Verkehr
  15. 14.
    [081:121] Die Lehren
  16. 15.
    [081:122] Die Sozialformen
  17. 16.
    [081:123] Die Stadt
  18. 17.
    [081:124] Das Spiel
  19. 18.
    [081:125] Die Politik
  20. 19.
    [081:126] Die Religion
  21. 20.
    [081:127] Das Jüngste Gericht
[081:128] Es ist ohne weiteres erkennbar, daß in dieser Darstellung der Welt Ordnung herrscht. Schon im Zusammenhang mit Augustinus habe ich darauf hingewiesen, daß die Repräsentation einer Lebensform anders als in bestimmter Ordnung gar nicht möglich ist; das verbürgt schon die Sprache. Welche Ordnung herrscht in der pädagogischen Konstruktion des Comenius? Es zeigen sich mehrere Konstruktionsprinzipien (vgl. für das Folgende: Schaller 1962):
  1. 1.
    [081:129] Das Wort
    »orbis«
    im Titel bedeutet nicht einfach
    »Welt«
    (wie es in der Übersetzung heißt), sondern
    »Weltkreis«
    ; und das bedeutet hier soviel wie ein kreisförmig gedachter Sinnzusammenhang. Sucht man die einfachste Gliederung, die dem
    »Orbis pictus«
    zugrunde liegt, findet man das in der folgenden Skizze dargestellte Modell. Die pädagogische Maxime, die daraus folgt, könnte man so formulieren: Kinder werden nur dann auf eine zuverlässige Weise in den Sinnzusammenhang des gesellschaftlichen Lebens eingeführt, wenn die gelebten Lebensformen diesen Kreis repräsentieren.
Hier ist eine schwarz-weiße Grafik zu sehen.
|A B 56|
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung einer Seite aus Comenius' »Orbis sensualium pictus« zu sehen.
Abb. 7: Johann Amos Comenius: Orbis sensualium pictus, 1658. Invitatio – Einleitung, S. 2 und 3
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung einer Seite aus Comenius' »Orbis sensualium pictus« zu sehen.
Abb. 8: Comenius, a. a. O., Convivium – Die Mahlzeit, S. 118 und 119
|A B 57|
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung einer Seite aus Comenius' »Orbis sensualium pictus« zu sehen.
Abb. 9: Comenius, a. a. O., Mercatura – Die Kauffmanschafft, S. 256/257
  1. 2.
    [081:130] Es wird nichts Einzelnes als Einzelheit dargestellt, sondern jedes Einzelding, jede einzelne Handlung in ihrem Zusammenhang mit anderen Dingen und Handlungen (Abb. 79). Darin steckt eine kritische Absicht: Zu jener Zeit nämlich wurde es Mode, die Sachverhalte der Welt enzyklopädisch darzustellen; dabei deuteten sich – besonders unter dem Eindruck der beginnenden naturwissenschaftlichen Einstellung – zwei Darstellungsprinzipien an: die Zuordnung von Wort und Einzelding, und die Anordnung der Darstellung nach dem Alphabet (das Prinzip unserer heutigen Lexika). Comenius beobachtete diese Entwicklung mit Sorge und hat deshalb, obschon früh geplant, mit der Ausführung des
    »Orbis pictus«
    lange gezögert. Ihm schien eine derartige Zerlegung der Weltdinge problematisch, besonders wenn es sich um Erziehung und Bildung handelt. Er mußte also einen Weg suchen, der zwischen einer beliebigen Zerstückelung der Welt in unzusammenhängende Einzeltatsachen und einem kosmischen Epos, von Kindern nicht mehr lesbar, lag (übri|A B 58|gens hatte Paracelsus, 100 Jahre früher, bereits ähnliche Probleme). Das Prinzip, an dem er sich dabei orientierte, kann man so formulieren: Jeder einzelne Sachverhalt muß dem Kinde gegenüber so zur Darstellung kommen, daß das Einzelne in seiner Beziehung zum Ganzen deutlich wird, daß mithin seine Lebensbedeutung einsehbar wird.
  2. 3.
    [081:131] In der zitierten Einleitung des Buches hieß es:
    »Wahr wird sie (eine pädagogische
    »Kunst-Lehre«
    ) seyn, wann nichts als was zum Leben nützlich ist, gelehret und gelernet wird«
    . Was heißt
    »nützlich«
    ? Man kann dieses Wort von der geschichtlich späteren oder von der früheren Zeit her lesen. Von der späteren her liest es sich so:
    »Nützlich«
    ist der Bürger, der, in seinem Stand, den gesellschaftlichen Reichtum mehrt, der Nutzen bringt im Sinne von Profit und allgemeinem materiellen Wohlstand;
    »nützlich«
    sind deshalb solche Kenntnisse, Vorstellungen und Fertigkeiten, die diesem Zweck dienlich sind. Von der geschichtlich früheren Zeit her liest es sich so:
    »Nützlich«
    ist das, was dem Menschen frommt, d. h., was es ihm ermöglicht, ein Gott und den Mitmenschen wohlgefälliges Leben zu führen; das ist ein sittlich zuverlässiges, den Mitmenschen gegenüber liebevolles und den Naturdingen gegenüber ehrfürchtiges Handeln; rechtes Handeln, rechte Praxis also. Ich denke, man muß Comenius nach dieser zweiten Lesart interpretieren. Dann lautet das darin enthaltene Prinzip: Jeder Sachverhalt und jede Vorstellung muß so repräsentiert werden, daß ihr Ort im Zusammenhang menschlicher Praxis deutlich wird.
  3. 4.
    [081:132]
    Aber warum ein Bilderbuch? In jenen Jahrzehnten kursierte in Europa nicht nur die Philosophie René Descartes’, die den Grund der Gewißheit des Wissens von dem Nachvollzug der aus Gott fließenden Ideen in den Akt des menschlichen Denkens verlegte, sondern auch die Meinung des englischen Philosophen Francis Bacon, der behauptete, nichts sei im Verstande des Menschen, das nicht zuvor in seinen Sinnen gewesen sei. Comenius hatte Descartes in den Niederlanden persönlich aufgesucht zum Zwecke ausführlicher Disputationen und hatte die Schriften Bacons gründlich studiert. Bacons Behauptung scheint nun für ein pädagogi|A B 59|sches Unternehmen wie den
    »Orbis pictus«
    eine gute Rechtfertigung zu geben. Trotzdem zögert Comenius. Warum? Es ist der gleiche Grund, der Augustinus veranlaßt hat, es nicht – im Zusammenhang des Spracherwerbs – bei der Zuordnung von Wörtern und Sinneswahrnehmungen bewenden zu lassen, und der Wittgenstein veranlaßt hat, dieses augustinische Problem aufzugreifen: Damit etwas, das in die Sinne kommt, überhaupt als bedeutsam wahrgenommen wird, muß zuvor oder mindestens zusammen mit der Sinneswahrnehmung irgend etwas anderes geschehen. Damit wehrt sich Comenius nach zwei Seiten hin: gegen die Position Bacons, nach der die Sinneswahrnehmung das erste ist, und gegen die Traditionalisten, vor allem in den Schulen jener Zeit, denen der Bildungsprozeß des Kindes nichts als eine Ansammlung von abstrakten Vorstellungen ist, nur durch Sprache vermittelt,
    »Buchwissen«
    , wie es damals hieß. Da nun für Comenius – er war ja kein Hinterwäldler – beides im Recht und unverzichtbar war – die Abbildung der Welt in den Sinnen des Menschen und die Ordnung dieser Abbildungen nach Maßgabe der rechten Ideen –, bekommt das Bild für ihn eine hervorragende didaktische Funktion. Es vermittelt nämlich zwischen der direkten sinnlichen Wahrnehmung und der Ordnung, in der diese Wahrnehmung erst ihre Bedeutung erhält; das Bild kann nämlich, auf die rechte Weise gemacht, gleichsam nach zwei Seiten hin zeigen. Nur auf diese Weise könne, so meint Comenius, die abstrakte scholastische Manier des damals üblichen Unterrichts, in der die Kinder nur mit
    »Martern«
    zum Lernen gebracht werden können, überwunden, wie auch dem neu aufkommenden Empirismus, dem sich alles in Sinnesdaten auflöst, begegnet werden. Der zu lernende
    »Gegenstand«
    ist deshalb weder nur Sinnesdatum noch reine Idee, sondern beides:
    Die Sinnen ... suchen allemahl ihren Gegenstand / und wann sie denselben nie haben / werden sie abgenützet / und kehren sich / an sich selber Verdruß habend / bald da – bald dorthin; wann aber selbiger vorhanden ist / werden sie erfrölicht und gleichsam lebendig / und lassen sich / bis sie die Sache recht ergriffen haben / gerne daran hefften.
    |A B 60|
    Das Prinzip, welches sich daraus ergibt, ist dieses: Die Vielfalt der möglichen Sinneseindrücke und die Tatsache, daß ein angemessenes Bewußtsein von der rechten, menschenwürdigen Ordnung verloren zu gehen droht, zumal aber die Notwendigkeit, daß Kinder mit Freude lernen, machen eine Bebilderung der pädagogischen Beziehung nötig, in der Sinneswahrnehmungen und Ideen miteinander verknüpft werden.
[081:133] Eine pädagogische Philosophie im Zeitenbruch. Zwei Lesarten, zwei geschichtliche Möglichkeiten. Die folgenden Jahrhunderte sind Descartes und Bacon gefolgt und haben Comenius so gelesen, daß es paßte. In gewisser Weise – und hier vielleicht zu journalistisch formuliert – haben wir heute die Quittung: die von Comenius aufgeworfenen Probleme sind nicht bewältigt. Das, was er abwenden wollte, haben wir nun: eine wissenschaftlich-technische Zivilisation, die mit
»Wachstumsraten«
ins Gedränge der Fragen nach der Vernünftigkeit/Menschlichkeit ihrer Lebensformen gerät, die angesichts der analytisch zerlegten Bildungsinhalte immer größere Schwierigkeiten hat, einen sinnvollen Zusammenhang des Ganzen zu zeigen, die die pädagogische Tätigkeit selbst immer arbeitsteiliger organisiert, die Professionalisierung und institutionelle Versorgung immer perfekter zu gestalten versucht und darin vermutlich den Sisyphus-Charakter der Erziehung noch verdoppelt und eine Vorstellung davon verliert, daß Erziehung eine gemeinsame Praxis der erziehenden Gemeinschaft sein könnte.
[081:134] Diese Problemstellung deutete sich damals nicht nur innerpädagogisch an. Nicht nur den
»Orbis pictus«
oder auch besonders die pansophischen Schriften des Comenius können wir als Seismographen für eine grundsätzliche Veränderung der kulturellen
»Großwetterlage«
lesen; in der bildenden Kunst beispielsweise kamen ähnliche Probleme zur Darstellung, wenngleich in der Brechung durch allgemeine kulturelle Symbole. Als Comenius am
»Orbis pictus«
schrieb, malte in Madrid 1656 Velazquez, Hofmaler des Königs, ein tiefsinniges Bild (Abb. 10).
|A B 61|
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Gemäldes »Las Meninas« von Diego Velázquez aus dem Jahr 1656 zu sehen.
Abb. 10: Velazquez, Las Meninas – Die Ehrenfräulein, 1656
[081:135] Auf den ersten Blick hat dieses Bild mit den didaktischen Problemen des Comenius, mit Pädagogik oder Bildungstheorie gewiß nichts zu tun. Ich möchte aber zeigen, daß es sehr wohl etwas damit zu tun hat, wenn man es nur recht interpretiert. Allerdings ist dazu ein Umweg über die |A B 62|Beschreibung des Bildes, des dort Abgebildeten und seiner Kompositionsregel, erforderlich. Es heißt
»Las Meninas«
(Die Hoffräulein)
und ist mit gutem Grund eines der berühmtesten Bilder der Neuzeit.
[081:136] Was auf dem Bilde abgebildet ist, ist – scheinbar – rasch erzählt2
| 175|2Zur detaillierten Beschreibung der Personen auf dem Bild vgl. Justi (o. J.). Mit Bildinterpretationen dieser Art verfolge ich eine Absicht, die mir erziehungs- und bildungstheoretisch ergiebig erscheint. Ich habe dafür mehrere Gründe: 1. Die
»Welt der Erziehung«
ist nicht nur – was angesichts der in der Erziehungswissenschaft vorherrschenden Auseinandersetzung mit sprachlichen Materialien leicht in den Hintergrund tritt – eine sprachliche, sondern sie ist in allen symbolischen und sinnlichen Dimensionen konstituiert; die visuelle ist eine davon. 2. Analyse und Deutung dieser Dimension erfordert, wie im Falle der Sprache, methodische Anstrengung, für die wir allerdings schlecht gerüstet sind durch die traditionelle Verengung dieser (möglichen) Komponente erziehungswissenschaftlicher Tätigkeit auf
»Kunsterziehung«
. 3. Gelegentlich präsentieren Maler die Auslegung eines in ihrer Zeit relevanten Bildungsproblems markanter oder mit anderen Akzenten als die gleichzeitigen Autoren sprachlicher Texte (in den Kommentaren zu den Abb. 16 habe ich das bereits angedeutet); das zeigt sich nicht nur in den Konstruktionsregeln von Bildern zurückliegender Zeiten (auffällige Beispiele dafür z. B. J. van Eyck, Piero della Francesca, Giorgione, Holbein, Velazquez u. ä.), sondern wohl auch bei Malern unseres Jahrhunderts, wenngleich die
»bildungstheoretische«
Deutung, zur Moderne hin, immer schwieriger wird. 4. Damit könnte die Pädagogik ein Terrain wiedergewinnen, das sie im Prozeß wissenschaftlicher Arbeitsteilung und der
»Abspaltung«
pädagogischer Fragestellungen von den Fragen der gesamtkulturellen Bestände in den letzten Jahrzehnten verlassen hat; denn: was ist Pädagogik noch, wenn man sie um die Aufgabe der kritischen kulturellen Überlieferung verkürzt? Die Aufgabe wird der Pädagogik gegenwärtig dadurch erleichtert, daß im Umkreis der Kunstwissenschaft neue Ansätze entstehen, die jene Brückenbildung erleichtern (vgl. beispielsweise Baxandall 1977, Giedion 1982, Ginzburg 1981, Gombrich 1983, Hammer-Tugendhat 1981, Settis 1982), daß von semiologisch interessierten Autoren (beispielsweise Barthes 1964, Eco 1972, Lang 1982) methodische Vorschläge vorliegen, die Bildanalyse und bildungstheoretische Fragen zu verknüpfen erlauben, und daß die didaktische Theorie der Kunsterziehung gelegentlich (z. B. bei G. Otto) diese Problemstellungen aufnimmt (vgl. auch als Versuch in dieser Richtung Mollenhauer 1983). Ich bitte den ungeduldigen pädagogischen Leser, die scheinbar unnötige Umständlichkeit des folgenden ikonographischen Referats billigend in Kauf zu nehmen; sie ist ein Teil der Kultur, die wir, als Pädagogen, kritisch zu prüfen haben.
: Der Maler Velazquez (der Mann vor der Leinwand ist ein Selbstporträt) malt ein offenbar riesenhaftes Bild, aber wir sehen nicht, was er malt. Anwesend ist die Infantin Margarita (spätere Frau des deutschen Kaisers Leopold I.) in der Mitte; um sie herum gruppieren sich Hoffräulein, Narren und Hund, weiter hinten zwei zum Hof gehörende Erwachsene; in der offenen Tür der Kammerherr des Königs; an der hinteren Stirnwand zwei Rubens-Kopien, antike Allegorien der Kunst; darunter, zwischen der offenen und der geschlossenen Tür, scheinbar ein Spiegel, in dem sich zwei Personen spiegeln: es ist das spanische Königspaar.
[081:137] Das Bild formuliert ein Rätsel: Was malt der Maler? Velazquez malt offenbar das Königspaar, das dort steht oder stand, wo jetzt wir, die Betrachter, stehen, und er gibt diese Tatsache dadurch zu erkennen, daß das Königspaar sich hinten im Spiegel wiederfindet. Dieser Rätsellösung folgt der größte Teil der kunstgeschichtlichen Literatur, und auch Michel Foucault bekräftigt diese Deutung und sieht in dem Bild eine Szene, ein
»wechselseitiges Schauspiel«
, das sich um die Repräsentation der Macht dreht – gleichsam eingefügt zwischen dem realen Herrscherpaar vor dem Bild und dem die Macht nur repräsentierenden Spiegelbild hinten im Bild. Das klingt plausibel. Aber: diese Deutung ist unzureichend, wie U. Asemissen (1981) gezeigt hat. Man muß an das Bild wie Sherlock Holmes an einen Fall herangehen. Sammeln wir also, von Asemissen geführt, ein paar Indizien:
[081:138] 1. Man könnte davon ausgehen, daß Velazquez einen Augenblick im Bilde festgehalten hat, in dem, während er das Herrscherpaar malte, die anderen Personen hinzugekommen sind; oder: daß er irgendein anderes Bild in Anwesenheit der dargestellten Personen malte, währenddessen das Herrscherpaar von der Betrachterseite her den Raum betritt (die aufmerksam-abwartende Haltung des Malers scheint ein Argument für diese Version zu sein; daß aber auf der Palette sich Farben des Vorhangs im sogenannten Spiegelbild befin|A B 63|den, unterstützt die erste Version). Keine der beiden Versionen aber wird durch die Blickrichtung der übrigen Personen unterstützt. Das Bild ist nämlich 3,20 m hoch, die Leinwand auf dem Bild steht nur knapp über dem unteren Bildrand. Es ist, für den spanischen Königshof damals, kaum anzunehmen, daß in solcher Situation nicht das Herrscherpaar angeblickt worden wäre. Aber: mit Ausnahme vielleicht des Hofnarren und des Kammerherrn hinten in der offenen Tür (die Blickrichtung Velazquez’ selbst ist uneindeutig) blicken alle in dazu nicht passende Richtungen.
[081:139] 2. Aber wohin blicken sie denn? Der Narr, der Mann an der Fensterfront, das Hoffräulein rechts der Infantin, Margarita selbst, der Kammerherr hinten, der Maler: Sie scheinen alle auf tiefer liegende Stellen der
»Vorderfront«
des Bildes zu blicken, tiefer als sie blicken müßten, würden sie die Augen des Herrscherpaares im Blick haben. Es scheint, als blickten sie uns an. Ist also der Blickpunkt, in dem sich an der Rückwand im Spiegel das Herrscherpaar spiegelt, eine leere Stelle? Kaum. Denn sie blicken ja durchaus gerichtet.
[081:140] 3. Im Spiegel hinten sehen wir das Herrscherpaar. Es ist ein Brustbild oder ein wenig größer. Kann das wirklich ein Spiegelbild sein? Wäre es ein genau gemaltes Spiegelbild, dann müßten wir bei dieser Entfernung wesentlich mehr sehen, wie sich leicht nachmessen läßt: das Paar müßte in ganzer Körpergröße erscheinen, man müßte mindestens die Rückseiten (oder Teile davon) des Malers, des linken Hoffräuleins und Margaritas sehen. Nichts davon im sogenannten Spiegel.
[081:141] 4. Nun könnte man meinen, daß dies die sogenannte
»künstlerische Freiheit«
sei. Wieder ein Irrtum! Der richtige Künstler nimmt sich die Freiheit, genau kalkuliert, an der richtigen Stelle (wir werden noch sehen, an welcher). Diese Stelle war für Velazquez jedenfalls nicht die richtige. Man sieht es dem Bilde schon an, daß es genau komponiert ist: der perspektivische Fluchtpunkt, die gegenläufige Bewegung von rechter Wand und Staffelei, die Proportionen von oben nach unten und von links nach rechts usw. Übrigens befanden sich im Nachlaß des Malers Bücher über Mathematik, Algebra, Architektur, ein Buch von Dürer über Symmetrie und Geometrie, eines von Leonardo mit einem wichtigen Kapitel über |A B 64|das Malen von Spiegelungen, eines von L. B. Alberti über Architektur und Malerei usw.3
| 174|3Vgl. das bei Asemissen (1981, S. 53 ff.) aufgeführte
»Inventar des Velazquez-Nachlasses«
.
Das waren alles Werke, in denen es um die Kalkulierbarkeit von Kunstwerken, um die Genauigkeit ihrer Proportionen ging. – Von einem solchen Maler sollte man erwarten dürfen, daß er derart nachlässig mit dem Malen eines Spiegelbildes ist? Niemals!
[081:142] 5. Wen dies nicht überzeugt, für den noch ein weiteres Indiz: Kunsthistoriker weisen im Zusammenhang der Interpretation von
»Las Meninas«
häufig, was naheliegt, auf ein Bild Jan van Eycks hin, die
»Arnolfini-Hochzeit«
, mehr als 200 Jahre früher gemalt (1434). Mit ziemlicher Sicherheit dürfen wir annehmen, daß Velazquez das Bild gekannt hat, denn es befand sich 1656 in der Bildersammlung des spanischen Königs, die er verwaltete. Auf diesem Bild befindet sich, ebenfalls im Hintergrund, ein exakt gemaltes Spiegelbild (allerdings in einem Wölbspiegel), in dem sowohl der Bildraum als auch der reale Raum vor dem Bild enthalten ist. Velazquez also sollte, in Kenntnis dieses Bildes, ein derart dürftiges Spiegelbild gemalt haben? Nochmals: Niemals! Maler arbeiten, wenn sie auf sich halten und große Maler sind, mit der gleichen Sorgfalt, mit der gleichen Aufmerksamkeit auf die Standards ihrer Diskurse, mit der gleichen Intensität des Nachdenkens über das Wichtige, wie Philosophen oder andere Autoren. Dieses sogenannte Spiegelbild ist etwas anderes! Aber was?
[081:143] 6. Schauen wir uns den Bildraum genauer an: auf der rechten Seite fünf Fenster, offenbar die Längsseite des Raumes, an der hinteren Stirnseite zwei Türen; durch die eine fällt helles Licht. Im königlichen Palast gab es einen solchen Raum; und von diesem Raum ist überdies verbürgt, daß er Velazquez zur Verfügung stand; und es gibt auch unter den Kunsthistorikern, die die zitierte
»Spiegel«
-Version vertreten, keinen, der das bestreitet. Das ist nun das letzte und entscheidende Glied in der Beweiskette. Sehen wir uns diesen Raum an. Glücklicherweise gibt es davon einen Grundriß (Abb. 11).
[081:144] Die Schwierigkeit fällt sofort auf: Stünde die Staffelei an der rechten Stirnwand (Raum Nr. 25), würden zwar die Türen hinten stimmen, aber die Fensterwand wäre an der falschen Seite. Stünde die Staffelei an der linken Stirnwand, würden zwar die Fenster an der richtigen Seite angeordnet sein; aber |A B 65|
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung eines Details des Plans des Untergeschosses von Alcázar aus dem Jahr 1626 zu sehen.
Abb. 11: Plan des Alcázar, Untergeschoß, 1626, Detail
an der hinteren Stirnwand sind ja
»in Wirklichkeit«
keine Türen, im Bild aber zwei, und zwar die, die sich am entgegengesetzten Ende des Raumes befinden. Künstlerische Freiheit? Nein und Ja! Nein: Velazquez hat nichts verfälscht; er hat alles so gemalt, wie es war. Ja: Er hat an der rechten Stirnwand einen riesigen Spiegel angebracht. Das Bild stellt also dar, wie der Maler das Spiegelbild derjenigen Szene malt, die sich beim Malen ergeben hat. Alles ist Spiegelbild. Fast alles! (Aber davon später.)
[081:145] In dem Bild ist eine bildungstheoretische Botschaft verschlüsselt, die die Situation im damaligen Europa charakterisiert:
»Die Welt als Spiegelkabinett«
und
»Der Maler malt ein Bild, aber siehe da: es ist bereits gemalt«
. Was heißt das?
[081:146] Wir verstehen diese Botschaft besser, wenn wir uns erinnern, wie andere in jener Zeit wesentliche Probleme ihrer Lebensform darzustellen suchten und welchen Problemen die Menschen konfrontiert waren.
[081:147] Ich notiere nur einige Stichworte: In Shakespeares Dramen wird die soziale Welt als ein Ensemble von uneindeutigen und |A B 66|vertauschbaren Rollen kommentiert. Calderon stellt das Leben als Theaterspiel, als
»großes Welttheater«
dar oder als Traum. 1637 wurde in Rom ein Theaterstück aufgeführt mit dem Titel
»Due teatri l’uno a specchio dell’altro«
, in dem man in der ersten Szene eine Spiegelung der im Zuschauerraum Versammelten sehen konnte. Cervantes hatte gerade seinen
»Don Quichotte«
geschrieben; darin besucht Don Quichotte eine Druckerei, in der er entdeckt, daß gerade seine eigene Geschichte gedruckt wird;
»dieses Buch kenne ich schon«
, sagt er. Grimmelshausen beschreibt im
»Simplicissimus«
das Leben als Verwirrspiel im Dreißigjährigen Krieg, und in einer Schlüsselszene spiegelt sich Simplicius, als Narr verkleidet, im Wasser eines Brunnens. Die zunächst für solide gehaltenen Kapitalmärkte geraten in Krisen; schon verschiedene Male entstand Massenarmut als Folge des Geldverkehrs; in verschiedenen europäischen Regionen kommen Städte ökonomisch ins Gedränge: Venedig verliert einen großen Teil seiner ausländischen Märkte, auf die ökonomische Struktur Spaniens hat sich nach der Entdeckung Amerikas die ins Land gebrachte Menge von Gold und anderen Edelmetallen eher zerstörerisch ausgewirkt, die Hansestädte wurden durch die flandrischen und niederländischen Städte, diese durch die Engländer in finanzielle Krisen getrieben, eine 200 Jahre vorher noch ökonomische und kulturelle Metropole wie Brügge verödete buchstäblich; die Leute zogen wieder aufs Land, die Getreidepreise gingen gegen die Mitte des Jahrhunderts kräftig in die Höhe; Probleme der Geldentwertung werden fühlbar: Ein großes Verwirrspiel.
[081:148] Was ist Schein, was ist Wirklichkeit? Die Welt: eine Schaubühne! Wer ist Spieler, wer ist Zuschauer? Alle spielen Rollen, man kann sie tauschen. Der Spiegel: enthüllt er oder verzerrt er das Wirkliche?
[081:149] Wer herrscht? Ist es der Feudaladel, sind es die städtischen Patrizier, ist es Gott? Quevedo, ein Literat und Zeitgenosse Velazquez’, meint: Weder Gott noch Teufel herrscht, sondern das Geld; dieses sei wie Narziß, in sein eigenes Spiegelbild verliebt (
»el dinero es el Narciso«
; Geisler 1981, S. 166 ff.). Auch Velazquez läßt die Frage, wer herrsche, offen. Das Spiegelbild an der hinteren Rückwand spiegelt |A B 67|das Herrscherpaar nur scheinbar: schauen wir genau hin, dann erkennen wir, daß es beides ist, Porträt und Spiegelbild. Es ist ein Porträt, denn die Seiten sind nicht vertauscht; der König befindet sich, wie damals nach strenger Hof- und Maletikette üblich, an der linken Seite der Königin. Aber es ist auch ein Spiegelbild, denn die beiden Personen sind je für sich, das weiß man durch Vergleich mit anderen
»echten«
Porträts, spiegelbildlich dargestellt.
[081:150] Was hat das alles mit Comenius zu tun? Ausgangspunkt für die Pädagogik des Comenius war seine Meinung, daß die Lebensformen seiner Zeit in Unordnung geraten seien. Auch er verwendete die Metaphern des Spiegels und des Schauspiels. Aber anders als Velazquez will er nicht nur die den Lebensformen innewohnende Struktur zeigen, sondern sucht nach einem Ausweg. Er spielt nicht mit der Grenze zwischen Schein und Wirklichkeit; er will die Frage, was wir zuverlässig wissen können und wissen müssen, um die Lebensformen wieder in Ordnung bringen zu können, beantworten. Da aber den Lebensformen selbst keine hinreichende pädagogische Kraft mehr innewohnt, muß die Bildungswelt für den Nachwuchs gleichsam
»konstruiert«
werden. Der Spiegel ist für Comenius deshalb eine pädagogische Metapher: die Bildungswelt des Kindes muß so konstruiert werden, daß sie nicht die Oberfläche der Erscheinungen, sondern die Wirklichkeit in ihnen zuverlässig spiegelt. Sie kann das, sofern sie Sinne und Verstand in Tätigkeit versetzt und die kosmische Ordnung der Dinge richtig repräsentiert.
[081:151] Der
»Orbis pictus«
symbolisiert damit die Geburtsstunde der modernen Pädagogik. Ihr Grundproblem heißt nicht mehr: Wie repräsentieren wir unsere Lebensformen den Kindern gegenüber so, daß sie, sich beteiligend, diese Lebensformen übernehmen können? Sondern: Wie muß das pädagogische Spiegelkabinett beschaffen sein, damit das Rechte auf die rechte Weise gelernt wird?
[081:152] Damit hat Comenius zugleich auf drei Grundprobleme pädagogischer Repräsentation hingewiesen, die Lehrer, Erzieher und Eltern bis heute in Atem halten: 1. Was ist, aus der Fülle möglicher Bildungsstoffe, zu lernen wichtig? 2. Wie kann das Wichtige in der nötigen Anschaulichkeit vermittelt werden? |A B 68|3. Wie kann beim Kinde die Motivation erzeugt werden, sich das Repräsentierte anzueignen?

Zwischenresümée

[081:153] Ich habe bisher, in der Form locker aneinandergereihter Essays, zu erläutern versucht, was ich meine, wenn ich sage: das erste Element pädagogischer Situationen sei
»Präsentation«
, das zweite
»Repräsentation«
. Gibt es so etwas wie einen theoretischen Ertrag meiner historischen Beschreibungen?
[081:154] Die Reihenfolge der Zugänge war derart angeordnet, daß dabei verschiedene Schichten des Problems zur Sprache kommen konnten:
  • [081:155] Am Beispiel des Textes von Augustinus habe ich erläutert, daß ein elementarer Akt pädagogischer Präsentation die Gesten des
    »Zeigens«
    sind, sei es in Worten, sei es mit den Mitteln der Körpersprache; daß diesen Gesten des Zeigens eine sinnhafte Ordnung zugrunde liegt, daß sie ein strukturiertes
    »Zeigen«
    sind; daß die Struktur dieses Zeigens in den Lebensformen verankert ist; und daß die Aneignung dieser Struktur auf seiten des Kindes nicht passiv oder nur rezeptiv erfolgt, sondern unter Beteiligung des tätigen
    »Ich«
    .
  • [081:156] Die Interpretation zweier Szenen aus der Autobiographie des Indianers Büffelkind Langspeer sollte veranschaulichen, daß die Präsentation von Lebensformen nicht nur eine immer schon strukturierte Darstellung von Objekten, Tätigkeiten und Orientierungen ist, sondern auf das Fassungsvermögen des Kindes bemessene Vermittlungen,
    »Bremsen«
    oder
    »Filter«
    enthält. Ich vermute, daß dies eine pädagogische
    »Universalie«
    ist, die zu jeder funktionierenden Kultur gehört.
  • [081:157] Diese Vermittlungen können in der Lebenseinstellung des Erwachsenen aufgehoben sein, sie können aber auch institutionalisierte Formen annehmen. Am Beispiel der historischen Bildreihe zum Verhältnis von Kind und Arbeit habe ich die Entstehung derartiger Institutionalisierung erläutert: im 15. Jahrhundert beginnt ein Prozeß des
    »Auseinanderrückens«
    von Kind und Erwachsenenwelt; es entsteht eine eigentümliche
    »pädagogische Sphäre«
    , in der das Problem zu lösen ist, |A B 69|auf welche Weise Erfahrungen repräsentiert werden können.
  • [081:158] Das damit praktisch und theoretisch zu bewältigende Repräsentationsproblem hat von nun an zwei Seiten: die Frage nach der rechten Lebensform und die Frage nach der richtigen Repräsentation dieser Lebensform in den pädagogisch-didaktischen Arsenalen. Das ist nicht nur ein separat pädagogisches Problem, sondern zugleich ein Problem des gesamten kulturellen Habitus, wie ich an Comenius und
    »Las Meninas«
    zu zeigen versuchte.
[081:159]
»Moderne«
Pädagogik seit dem 17. Jahrhundert hat es mit allen diesen Schichten des Problems zu tun. Das soll an einem aktuellen fiktiven Beispiel erläutert werden.
[081:160] Nehmen wir an, ein 14jähriges Mädchen, Gesamtschülerin, sagt im Zusammenhang einer Auseinandersetzung mit ihren Eltern über ihren weiteren Schulbesuch, ihre
»Bildungskarriere«
:
[081:161]
»Die Schule stinkt mir; ich habe überhaupt keinen Bock mehr auf das, was da läuft. Ich weiß überhaupt nicht, wozu das gut sein soll. Ich geh’ mit dem Hauptschulabschluß ab!«
[081:162] Nehmen wir an, daß daraufhin die Mutter sagt:
[081:163]
»Da machst du denselben Fehler, den ich vor 20 Jahren gemacht habe!«
[081:164] Und nehmen wir schließlich an, daß der Vater sagt:
[081:165]
»Mir hängt diese idiotische Schulnörgelei inzwischen zum Halse ’raus. Du bleibst bis zur mittleren Reife, basta! Außerdem kannst du noch gar nicht beurteilen, ob das, was ihr in der Schule lernt, nicht doch gut für euch ist!«
[081:166] Die Tochter, wütend:
[081:167]
»Hier läuft doch auch immer das gleiche ab. Was soll’s!?«
und verläßt den Raum.
[081:168] Was geschieht hier im Hinblick auf das, was ich Repräsentation nenne?
[081:169] Zunächst das
»Zeigen«
: Die Mutter zeigt auf ihre eigene Biographie und auf das, was sie
»Fehler«
nennt. Der Vater zeigt auf seine Autorität, die Charakteristik der Beziehung zwischen ihm und der Tochter; ferner auf Unterschiede in der Urteilskompetenz; schließlich darauf, daß man in unserer Kultur gleichsam auf Vorrat lernt, vorwegnehmend. Auch die Tochter zeigt auf etwas, repräsentiert es für die Eltern: |A B 70|z. B. ihre Zwischenwelt zwischen Kindheit und Erwachsensein, die sich in einem eigenen Jargon andeutet (man hat einen
»Bock auf etwas«
, etwas
»läuft«
oder
»stinkt«
usw.). Dies ist die erste Schicht.
[081:170] Die zweite Schicht liegt nicht so offen zutage; wir müssen sie aus dem Text erschließen. Das Zeigen, so hatte ich formuliert, sei ein strukturiertes Zeigen. Auf welche Strukturen weist z. B. die Mutter hin, wenn sie sagt:
»Da machst du denselben Fehler, den ich vor 20 Jahren gemacht habe«
? Beispielsweise ist in diesem Satz eine Zeitstruktur enthalten, die man vorläufig (nur erst hypothetisch, solange nicht mehr als dieser Satz vorliegt) so beschreiben könnte: Die Aufeinanderfolge von Biographien wird nicht zyklisch, als regelmäßige Wiederkehr des Gleichen gedacht, sondern linear und in die Zukunft hinein als offen. Außerdem ist die eigene Biographie in der Erinnerung aufgehoben, und zwar so, daß zu ihr Alternativen gedacht werden können (ich habe einen
»Fehler«
gemacht; ich hätte damals auch anders handeln können); vor 500 Jahren wäre dieser Satz nicht möglich gewesen – jedenfalls in 99 Prozent der Familien, und zwar deshalb nicht, weil die Bildungszeit des Kindes nicht als angesammeltes Kapital zur Erweiterung von Sozialchancen gedacht wurde. – In dem Satz ist aber auch das Zeigen auf eine Beziehungsstruktur enthalten: Die Tochter soll den eigenen Fehler nicht wiederholen. Der Abwehr des zyklischen Schemas in der Zeitstruktur entspricht in der Beziehungsstruktur die Abwehr einer nur imitativen Beziehung zwischen Mutter und Tochter. – Übrigens strukturiert der Vater anders; während die Mutter ein Moment der Gleichheit in der Beziehung zur Tochter hervorhebt, betont der Vater die Ungleichheit; und die durch seine Bemerkung repräsentierte Zeitstruktur ist gleichsam mechanisch und grenzt subjektiv erlebte Zeitdistanzen, also auch Diskontinuitäten in der biographischen Erinnerung, aus. – Wieder anders die Tochter: ihre Rede repräsentiert eine Zeitstruktur, die weder biographische Tiefe hat, noch ein Schema für Zukunft enthält; schon das Vokabular zieht die möglichen zeitlichen Differenzierungen auf eine Art Lust-Unlust-Alternative zusammen; sie verläßt schließlich den Raum und zeigt damit in ihrem Verhalten die gleiche Struktur.
|A B 71|
[081:171] Die dritte Schicht bilden die Lebensformen. Auch dazu läßt sich dem Beispiel einiges entnehmen. Die andeutende Beschreibung der Strukturen zeigt, daß die Lebensform schon auf seiten der Erwachsenen in sich nicht durchgehend homolog ist. Zwar entspricht langer Schulbesuch dem Normalitätsentwurf beider Elternteile, aber die Deutung dieses Sachverhalts fällt verschieden aus. Der Tochter wird also, als wesentlicher Bestandteil der Lebensform, in diesem Beispiel mindestens zweierlei präsentiert: einerseits die Halbierung der Erziehungswelt in einen privat-familiären und einen öffentlich-institutionellen Raum, wobei sich offenbar der Bildungssinn des öffentlichen Raums als schwer zugänglich erweist; andererseits werden ihr Deutungsdifferenzen zwischen den Erwachsenen präsentiert, die offenbar ebenso Bestandteil des Normalitätsentwurfs sind wie die Erwartung langen Schulbesuchs.
[081:172] Schließlich wird an dem Beispiel auch die in die Lebensform gleichsam eingebaute Vermittlung, die Schutzzone zwischen Kind bzw. Jugendlichem und dem vollen Gewicht gesellschaftlicher Realität, erkennbar: So heterolog die Positionen auch sein mögen, das Gespräch enthält offenbar die unausgesprochene Übereinkunft: die Tochter verläßt zwar den Raum, aber nicht die Familie, die Eltern mißbilligen zwar die Tendenzen der Tochter, aber sie lassen sie nicht laufen, die Familie bietet weiterhin Schutz- oder Schonraum. Eine ähnliche Funktion hat der lange Schulbesuch; er ist die öffentlich-institutionalisierte Schutzzone, in der die Bildungsprozesse relativ frei von den Ernsterwartungen der Erwachsenenexistenz gehalten werden. Bildung und Leben, Spielraum und Ernstfall sind auseinandergerückt, und dieses Auseinandertreten wird in immer länger werdenden Zeitspannen institutionalisiert.

Pestalozzi: Die Konstruktion des pädagogischen Feldes

[081:173] Mit Comenius begann die pädagogische Moderne: die Welt noch einmal, abgebildet und erläutert in pädagogischen Büchern und Instruktionen, in einer rechten Ordnung, die der Verwirrung der Lebensformen im 17. Jahrhundert ent|A B 72|gengesetzt werden konnte und als Spiegel gelten sollte, in dem sich nicht das Falsche spiegelt, sondern die wahre Ordnung. Pestalozzi zog knapp 150 Jahre später daraus eine radikale Konsequenz in einem praktischen pädagogischen Experiment. 1799, als die Französische Revolution mit Unruhen und kriegerischen Ereignissen in die Schweiz herüberschwappte und es infolgedessen eine Unzahl von Kindern gab, die elternlos im Lande herumvagabundierten, verwahrlost und von Kriminalität bedroht, stellte die Kantonsregierung in Luzern Pestalozzi ein altes baufälliges Kloster in Stans am Vierwaldstätter See zur Verfügung, um solche Kinder aufzunehmen. Für Pestalozzi war das die von ihm lange schon erhoffte Gelegenheit, seine pädagogischen Überzeugungen auf eine harte Probe zu stellen. Das Experiment dauerte nicht lange; die Bevölkerung mißtraute ihm und begegnete ihm teils mit Feindseligkeit. In ökonomischen Dingen war er ungeschickt; zur Organisation (in der Einrichtung befanden sich 80 Kinder, die er zusammen mit einer Haushälterin versorgte) hatte er kein Talent; er trug keine manierlich-bürgerliche Kleidung, sondern sah schlampig aus, schmuddelig, immer irgendwie selbst verwahrlost und heruntergekommen usw. Unter einem Vorwand schloß man also die Einrichtung, ein halbes Jahr, nachdem Pestalozzi begonnen hatte. Aber er schrieb über diese Zeit einen Bericht, der zu den eindrucksvollsten Dokumenten der Erziehungsgeschichte gehört und eine Art kompletter Erziehungstheorie enthält, Stück für Stück an der eigenen Erfahrung kontrolliert und durch diese erläutert. Der Text hat die Form eines Briefes an einen Freund und enthält die folgenden Passagen:
[081:174]
»Die Verwilderung der Einzelnen und die Verwirrung des Ganzen war mit allem Zutrauen und mit allem Eifer noch nicht gehoben. Ich mußte für die Ordnung des Ganges im Ganzen selbst noch ein höheres Fundament suchen, und dasselbe gleichsam hervorbringen. Ehe dieses Fundament da war, konnte sogar weder der Unterricht noch die Ökonomie und das Lernen der Anstalt gehörig organisiert werden. Ich wollte auch das nicht. Beides sollte statt eines vorgefaßten Planes viel mehr aus meinem Verhältnis mit den Kindern hervorgehen. Ich suchte auch darin höhere Grundsätze und bildende Kräfte. Es sollte das Erzeugnis des höhern Geistes der |A B 73|Anstalt und der harmonischen Aufmerksamkeit und Tätigkeit der Kinder selbst werden, und aus ihrem Dasein, ihren Bedürfnissen, und ihrem gemeinschaftlichen Zusammenhange unmittelbar hervorgehen. Es war überhaupt weder das Ökonomische noch irgendein anderes Äußeres, von dem ich in meinem Gange ausgehen, und womit ich den Anfang machen konnte und sollte, meine Kinder aus dem Schlamm und der Roheit ihrer Umgebungen, durch den sie in ihrem Innern selbst gesunken und verwildert waren, heraus zu heben. Es war so wenig möglich, gleich Anfangs durch Steifigkeit den Zwang einer äußern Ordnung und Ordentlichkeit, oder durch ein Einpredigen von Regeln und Vorschriften ihr Inneres zu veredeln, daß ich bei der Zügellosigkeit und dem Verderben ihrer diesfälligen Stimmung sie vielmehr gerade dadurch von mir entfernt und ihre vorhandene wilde Naturkraft unmittelbar gegen meine Zwecke gerichtet hätte. Notwendig mußte ich erst ihr Inneres selbst und eine rechtliche und sittliche Gemütsstimmung in ihnen wecken und beleben, um sie dadurch auch für das Äußere tätig, aufmerksam, geneigt, gehorsam zu machen. (...) [081:175] Mein wesentlicher Gesichtspunkt ging allererst darauf, die Kinder durch die ersten Gefühle ihres Beisammenseins und bei der ersten Entwicklung ihrer Kräfte zu Geschwistern zu machen, das Haus in den einfachen Geist einer großen Haushaltung zusammen zu schmelzen und auf der Basis eines solchen Verhältnisses und der aus ihm hervorgehenden Stimmung das rechtliche und sittliche Gefühl allgemein zu beleben. (S. 120–121) [081:176] Indessen so drückend und stoßend die Hülflosigkeit, in der ich mich befand, war, so war sie von einer andern Seite dem Innern meiner Zwecke günstig. Sie nötigte mich meinen Kindern alles in allem zu sein. Ich war von Morgen bis Abend so viel als allein in ihrer Mitte. Alles, was ihnen an Leib und Seele Gutes geschah, ging aus meiner Hand. Jede Hülfe, jede Handbietung in der Not, jede Lehre, die sie erhielten, ging unmittelbar von mir aus. Meine Hand lag in ihrer Hand, mein Aug’ ruhte auf ihrem Aug’«
(Pestalozzis Brief an einen Freund über seinen Aufenthalt in Stans, in: Pestalozzi 1949, S. 117)
4
4Zur Interpretation des Stanser Briefes vgl. Klafki 1959.
.
[081:177] In diesem Text ist so etwas wie eine Konstruktionsregel für pädagogische Felder oder Einrichtungen enthalten. Die
»Bau-Elemente«
sind die Argumentationsstufen; die Bau-|A B 74|Idee ist die Vorstellung, daß
»mein Verhältnis mit (nicht: zu!) den Kindern«
nur dann sittliches Handeln zur Folge haben könne, wenn dieses Verhältnis selbst sittlich ist, eine sittliche Lebensform darstellt. Die Argumentation enthät, von jener Idee ausgehend, die Elemente
»Geschwister und Haushaltung«
,
»Inneres beleben, Gemütsstimmung«
,
»Aufmerksamkeit und Tätigkeit«
, und jedes Element wird einer negativen Variante entgegengesetzt, die es bei der Konstruktion zu vermeiden gilt. Schematisch angeordnet, ergibt sich der folgende Plan:
[081:178] Bis zur sogenannten Alternativpädagogik heute ist dies der Traum von kritischen Erziehern, die nicht nur kommentieren wollen, was der Fall ist, sondern pädagogisch-konstruktiv tätig werden wollen. Als Frage kann man es so formulieren: Wie schaffe ich eine Lebensform, die die Bedürfnisse des Kindes, seine Würde nicht verletzt, sondern respektiert; die sittliches Handeln möglich macht ohne Zwang; also letzten Endes auf die Einsicht sich gründen kann; die geistig-seelische Tätigkeit, die Produktivität des Kindes belebt, die dies alles durch eine Sozialform ermöglicht, die zugleich Modell für Lebensformen überhaupt sein kann? In kurzer Formel ausgedrückt: Wie sieht eine pädagogisch verantwortbare Lebensform aus, wie müssen wir rechtes Leben den Kindern gegenüber repräsentieren?
|A B 75|
[081:179] Der Plan, den Pestalozzi für die sittliche Erziehung entwarf, enthielt bereits die Schwierigkeit, mit der wir auch heute noch nicht – oder vielleicht sogar noch weniger als Pestalozzis Zeitgenossen – fertig werden: unter den Bedingungen einer Welt, die die Einstellung des
»Machens«
favorisiert, des zuverlässigen Herstellens gewünschter Verhaltensresultate, die Einstellung des
»Belebens«
zu realisieren, die – im Hinblick auf das Bildungsresultat – für prognostisch festgelegte Erwartungen riskant bleibt. Die
»Verwirrung des Ganzen«
, die
»Ordnung des Ganges im Ganzen«
: das meint, daß die Lebensverhältnisse, so wie sie sind, ihre pädagogische Kraft eingebüßt haben, nicht mehr zuverlässig das repräsentieren, was dem Bildungsprozeß des Kindes dienlich ist. Ähnlich hatte ja schon Comenius argumentiert; er aber glaubte noch, daß eine Repräsentation der rechten Ordnung in der Vorstellungswelt, im Wissen, gelingen könnte. Pestalozzi geht noch dahinter zurück. Das
»höhere Fundament«
, das er sieht, bestimmt er nicht didaktisch, sondern als sittlich-personales Verhältnis zwischen Erwachsenem und Kind: Wenn schon die Lebensformen keinen pädagogischen Sinn mehr hergeben, dann muß die Grundlage für eine verantwortbare Erziehung im kleinsten und unverzichtbaren Element aller pädagogischen Verhältnisse gefunden werden. Das ist nun nicht etwa die abstrakte Konstruktion der Interaktionsstruktur zwischen Erwachsenem und Kind, sondern ein konkretes Sozialverhältnis: eine
»Haushaltung«
. Nur diese nämlich vermag noch die wesentlichen Elemente einer Lebensform zu repräsentieren, und zwar deshalb, weil sie nicht auf bloße Beziehungen gebaut, sondern – durch die materiellen Probleme der gemeinsamen Existenz – inhaltlich bestimmt ist. Daß in dieser Reduktion, die zugleich eine Art Entgegensetzung gegen herrschende Verhältnisse im ganzen ist, ein utopisches Moment enthalten ist, hat Pestalozzi sehr wohl gesehen:
»Sie waren außer der Welt, sie waren außer Stanz, sie waren bei mir, und ich war bei ihnen.«
[081:180] Wenige Jahre nach dem Scheitern von Pestalozzis Experiment in Stans hat ein Berliner Philosophieprofessor unter dem Eindruck der napoleonischen Kriege und in der Überzeugung von der Notwendigkeit grundsätzlicher gesell|A B 76|schaftlicher Erneuerung eine für die Berliner Bevölkerung offene Reihe von Vorträgen gehalten. Er ging davon aus, daß der Zustand der nationalen und sozialen Verhältnisse eine Entwicklung zu vernünftigen Zuständen unwahrscheinlich mache und deshalb nationale Erziehungsanstalten nötig seien, in denen der für die Erneuerung der Gesellschaft vernunftmäßig neue Mensch gebildet werde. Dieser Professor war ein begeisterter Leser der Schriften Pestalozzis. Er hat auch mitgewirkt daran, daß die Ideen Pestalozzis in die damals neu gegründeten Anstalten zur Ausbildung von Volksschullehrern Eingang fanden. Die Vorlesungsreihe hieß
»Reden an die deutsche Nation«
, und der Professor war Johann Gottlieb Fichte.
[081:181] Und 130 Jahre später hat die Nationalsozialistische Partei Deutschlands bei der Errichtung von Bildungsanstalten für ihren Nachwuchs versucht, sich auf ihn zu berufen.
  • [081:182] Aus der Einsicht in das Nachlassen der repräsentierenden pädagogischen Kraft der Lebensformen entsteht die Idee einer pädagogisch zurechtgerückten Repräsentation der Welt (Comenius);
  • [081:183] aus der Erfahrung zerrütteter Lebensverhältnisse entsteht die Idee einer für Kinder, ihre sittliche Belebung und Bildung, zuträglichen Form gemeinsamen Lebens (Pestalozzi);
  • [081:184] aus der Unerbittlichkeit philosophischer Vernunftansprüche entsteht ein totalitäres Erziehungskonzept, das
  • [081:185] der offen barbarischen Form pädagogischer Zurichtung Gründe liefern kann.
[081:186] Freilich zieht diese letzte, aber auch die Fichtesche Konsequenz heute kaum noch jemand. Aber das Problem bleibt: Wie soll sich der Pädagoge, angesichts pädagogisch nicht zu verantwortender Lebensverhältnisse, verhalten? In das frühe Mittelalter können wir nicht zurück. So richtig die Prinzipien Augustinus’ sein mögen: wir müssen sie auf unsere Verhältnisse beziehen. Das heißt: Wir können nicht mehr unsere Lebensform und -verhältnisse den Kindern gegenüber direkt zur Darstellung bringen, sondern sind auf eine Repräsentation der Präsentation angewiesen: die Welt noch einmal, aber besser, wenigstens für Kinder!
|A B 77|
[081:187] Damit wird allerdings, wenn wir der totalitären Wendung Fichtes nicht folgen mögen, ein Problem unübersehbar: Wie verhält sich die Repräsentation zum Repräsentierten? Der belgische Maler René Magritte hat dafür eine treffende Bildformel gefunden. Er malte eine Pfeife mit der Unterschrift
»Ceci n’est pas une pipe«
– dies ist keine Pfeife, sondern eine gemalte
»Pfeife«
, und man kann nicht einmal mit Sicherheit sagen, daß die gemalte Pfeife die
»wirkliche«
Pfeife repräsentiere.
[081:188] Wenn wir also den Kindern die
»Welt zeigen«
, dann zeigen wir ihnen nicht die Welt, sondern das, was wir dafür halten, und das, was uns an dem, was wir für die Welt halten, Kindern zeigenswert oder zuträglich erscheint. Die Grundformel für das, was heute pädagogische Repräsentation sein kann, wäre also, daß wir den Kindern sagen:
»Ceci n’est pas le monde.«
Nur ein Abbild, nur eine Spiegelung. Und dann entsteht natürlich, wiederum und mit größerem Nachdruck als bei Comenius, die Frage: Was soll abgebildet werden, wie soll es abgebildet werden, damit es sinnlich faßbar ist, und auf welche Weise soll das, motivationsstiftend, geschehen?
|A B 78|

3. Bildsamkeit
Oder: Vertrauen, daß Kinder lernen wollen

[081:189] Wenn das Vertrauen in die pädagogische Güte und die praktische Zuverlässigkeit der gelebten Lebensformen nachläßt, wenn zweifelhaft wird, was das Kind sinnvollerweise lernen solle, vor allem aber dann, wenn ungewiß wird, ob das Kind die pädagogisch repräsentierte Welt von Objekten, Handlungen und Vorstellungen sich zuverlässig aneignen kann – dann ist die Kategorie
»Repräsentation«
nicht mehr ausreichend, das zu beschreiben, was den Erziehungsvorgang ausmacht. In die Beschreibung muß nun die Beantwortung der Frage aufgenommen werden, was denn eigentlich auf der Seite des Kindes geschieht. Es genügt nun nicht mehr, nur zu sagen, das Kind eigne sich die Struktur einer Lebensform durch Hinweise und Teilnahme an, durch Verstehen und Decodieren, durch tätiges Nachahmen und Mitmachen. Was ihm nun, in Form von Bildungsinhalten, repräsentiert wird, hat zwar möglicherweise immer noch einen Ort im Zusammenhang gesellschaftlicher Praxis; aber vom Kind wird erwartet, daß es sich dies aneignet, bevor es diesen Ort kennt, bevor eine Anschauung vom Handlungssinn des zu Lernenden auch die selbstverständliche Motivation erzeugt. Im Zusammenhang der wissenschaftlichen Entwicklung der Neuzeit ist daraus die technologische Frage geworden: Durch welche methodischen Mittel erreiche ich, daß im Kinde ein Antrieb entsteht, das zu lernen, was mir als Lernaufgabe sinnvoll erscheint? Da die Stärke des Antriebs mit der Bereitschaft zusammenhängt, etwas zu
»leisten«
, spricht man heute zumeist von
»Leistungsmotivation«
. Dabei hat sich eine Klassifikation als sinnvoll herausgestellt, nach der
»intrinsische«
Motivationen (solche, die auf einem Interesse an der Sache beruhen) von
»extrinsischen«
(solchen, die auf außerhalb der Sache liegenden Anreizen beruhen) |A B 79|unterschieden werden. Natürlich ist die erste Klasse kräftiger und dauerhafter. Außerdem werden, von bestimmten Inhalten unabhängig, Stärkegrade der Leistungsbereitschaft unterschieden; und diese sind abhängig davon, wieweit es gelingt, in der primären Lebenswelt des Kindes Leistungserwartungen sinnvoll zu repräsentieren (vor allem im Verhältnis zwischen Mutter und Kind)5
| 175|5Es ist hier nicht der Ort, die Diskussion zum Problem der |AB 176|Leistungsmotivation darzustellen, da mir nur an der Andeutung der Zusammenhänge gelegen ist. Vgl. dazu Roth 1966, Stubenrauch/Ziehe 1982, Lernmotivation 1980, Edelstein/Hopf 1973.
.
[081:190] Damit sind wir wieder beim Anfang: Das sogenannte Motivationsproblem entsteht erst, wenn die Sinnhaftigkeit der Repräsentation Risse bekommt. Diese
»Risse«
sind Bestandteil des modernen kulturellen Habitus. In sie sickern, seit dem 17. Jahrhundert, die pädagogischen Abstraktionen ein: Wissens- und Handlungsvorräte, deren Verwendungssinn undeutlich bleibt, es sei denn in der Funktion als Tauschwerte: gute Noten als Äquivalenz für Bildungskarrieren, sozialen Status, Arbeitsplätze. Didaktik und Curriculum-Theorie, die Diskussion um Motivationsverlust und Leistungsprinzip, die sogenannten
»alternativen«
pädagogischen Konzeptionen kreisen um dieses Problem: Die Risse sollen wieder geschlossen werden; die Lernbereitschaft der Kinder intrinsisch, am
»Gebrauchswert«
des zu Lernenden orientiert werden.
[081:191] Nun also rückt die Frage, die vordem nur wenige zu beschäftigen brauchte, in den Vordergrund: Wie bildet sich im Kinde die Bereitschaft, etwas zu lernen? Die Frage scheint absurd: Beobachtet man Säuglinge und Kleinkinder, dann ist doch gerade deren Lernbereitschaft und Erfahrungshunger von oft atemberaubender Dramatik; dies also scheint das geringste Problem zu sein. Aber mit dem Eintritt des Kindes in eine unserer Bildungsinstitutionen ändert sich das. Dort wird relativ rasch die vordem überflüssig scheinende Frage zu einer zentralen. Beim Reden und beim Zählen geht es noch vergleichsweise unproblematisch zu. Aber bei der Dreisatz-Rechnung und bei der Orthographie wird es schwierig. Einige Jahre früher schon tauchte für Väter und Mütter das Problem mit den Verkehrsampeln auf: Wie kann das Kind sich eine Verhaltensregel zu eigen machen, deren Sinn es nicht aus personaler Erfahrung mit den anderen
»Verkehrsteilnehmern«
gewinnen kann, sondern nur durch antizipierte Angst vor Beschädigung oder durch konditionierende Einprägung? |A B 80|Oder der Umgang mit Geld; oder daß Freundlichkeit doppelsinnig sein kann; oder daß es anderen Kindern wesentlich besser oder schlechter geht usw.
[081:192] Sind pädagogische Probleme dieser Art gesellschaftlich der Fall, d. h., häufen sich Situationen, in denen nicht mehr plausibel ist, warum und wie ein Kind sich die gesellschaftlich typisierten Erfahrungen aneignen kann, dann entsteht jene Frage. Ich will sie noch einmal umformulieren:
[081:193] Wie ist es zu denken, daß das Kind anfängt, sich zu bilden? Oder – mit dem seit ungefähr 180 Jahren gebräuchlichen Terminus –: Was ist Bildsamkeit?
[081:194] Ich nehme meine Antwort auf diese Frage vorweg: Ich weiß es nicht, und ich halte es für unmöglich, es in dem Sinne
»wissen«
zu können, in dem die Wissenschaft sich bemüht, zuverlässiges empirisches Wissen zu erzeugen. Wissenschaftliches Reden über Bildsamkeit ist nichts als eine Erläuterung dieser Unmöglichkeit.
[081:195] Solche Erläuterung will ich – wiederum auf essayistischen Wegen – im folgenden vortragen.

Die Aporie der Bildung: Der Fall Kaspar Hauser

[081:196] Am Pfingstsonntag des Jahres 1828 beobachten Nürnberger Bürger in der Nähe eines der Stadttore einen merkwürdigen Menschen, ungefähr 16 Jahre alt, mit tapsigen Bewegungen, der einen Brief in der Hand hält und irgendwie hilflos erscheint. Zwei Schuster sprechen ihn an, und der junge Mensch wiederholt einzelne Worte der beiden in Verstümmelung und Verdoppelung:
»Krig-Krig«
,
»Wach-Wach«
. Außerdem äußert er:
»hamweisen«
,
»woiß nit«
und
»ä Reuter möcht ich wähn, wie mei Vottä wähn is«
. Der Brief, den er in der Hand hält, ist an einen Rittmeister adressiert; der ist nicht zu Hause. Man nimmt ihn im Wachhaus auf, aber weiß nichts mit ihm anzufangen, da er auf alle Gesprächsversuche immer nur mit den zitierten Äußerungen reagiert. Schließlich wird er in einem Erkerzimmer des Gefängnisturms der Stadt untergebracht. Der Gefängniswärter versorgt ihn, gibt ihm Papier und Stifte zum Zeichnen, spricht mit ihm. Bald bezeichnet er nicht mehr alle Tiere nur als
»Roß«
, alle |A B 81|Menschen als
»Bue«
, überwindet seinen Ekel vor Fleisch als Nahrung (in der ersten Zeit mochte er nur Wasser und Brot zu sich nehmen), hängt seine Zeichnungen an die Zimmerwand. Ein gleich zu Beginn des Nürnberger Aufenthaltes dieses Menschen hinzugezogener Arzt, Dr. Preu, hält ihn
»weder für verrückt noch blödsinnig, aber offenbar auf die heilloseste Weise von aller menschlichen und gesellschaftlichen Bildung gewaltsam entfernt«
.
[081:197] In dem Brief, den der Jüngling bei seiner Ankunft in Nürnberg bei sich hatte, hieß es unter anderem, ohne Angabe von Ort und Namen des Absenders:
[081:198]
»Ich schücke ihner ein Knaben der möchte seinen König getreu dienen ... Dieser Knabe ist mir gelegt worden. 1812 den 7. Ocktober, und ich selber ein armer Tagelöhner, ich Habe auch selber 10 Kinder, ich habe selber genug zu thun daß ich mich fortbringe ... ich habe ihm Christlichen Erzogen, und ich habe ihm Zeit 1812 Keinen Schritt weit aus dem Haus gelaßen daß Kein Mensch nicht weiß da von wo Er auferzogen ist worden ... Sie derfen ihm schon fragen er kan es aber nicht sagen ... Wer er Eltern häte wir er keine hate wer er ein gelehrter bursche worden. Sie derfen im nur was zeigen so kan er es schon ...«
[081:199] Diesem Brief lag ein Zettel bei. Auf dem stand, in anderer Handschrift:
[081:200]
»Das Kind ist schon getauft. Sie Heist Kaspar in Schreib name misen sie im selber geben das Kind möchten Sie auf zihen ... wen er ist 17 Jahre alt ist so schicken sie im nach Nirnberg ... ich bitte um die erzihung bis 17 Jahre gebohren ist er am 30 Aperil 1812 im Jaher ich bin ein armes Mägdlein ich kan das Kind nicht ernehren sein Vater ist gestorben.«
[081:201] Der Jüngling ist Kaspar Hauser6
| 176|6Der Fall Kaspar Hauser ist immer wieder und in verschiedenen Varianten interpretiert worden. Er steht überdies in einem Zusammenhang ähnlicher Berichte, die, mehr oder weniger verläßlich dokumentiert, sich durch die Geschichte der Neuzeit ziehen; L. Malson (1964) zählt von 1344–1961 53 Fälle. Die Zitate zu Kaspar Hauser entstammen der Quellensammlung von Hörisch (1979).
. Der Arzt, Dr. Preu, hatte in seinem Gutachten festgestellt, der Knabe sei vermutlich
»von aller menschlichen und gesellschaftlichen Bildung gewaltsam«
ferngehalten worden. Die polizeilichen Ermittlungen nach den Urhebern dieses Verbrechens gegen ein Kind blieben erfolglos. Aber es bemühten sich zunächst Nürnberger, später Ansbacher Bürger, die Mißhandlung wieder gutzumachen, die Kaspar angetan wurde. Er wurde in eine |A B 82|Familie aufgenommen, stand in fortwährendem Kontakt nicht nur mit den Mitgliedern dieser Familie, sondern auch mit vielen anderen Bürgern der Stadt, lernte nicht nur sprechen, sondern innerhalb eines Jahres lesen und flüssig schreiben, konnte gut zeichnen, sich gesellig verhalten; er schreibt seine Lebensgeschichte auf, und man weiß nun auch, daß er mindestens 13 Jahre lang in einem fensterlosen Stall, Verlies oder Abstellraum von ungefähr 2 qm Grundfläche gelebt hatte, in dem sich außer einem Holzpferd und Stroh nichts befand, jeden Tag nahezu sprachlos mit Wasser und Brot versorgt. Für den Oktober 1829 wird ein Mordanschlag auf Kaspar gemeldet, der aber unaufgeklärt bleibt. Danach muß er die Pflegefamilie – wegen einer Erkrankung des ersten Pflegevaters Daumer – wechseln. Der neue Pflegevater (Tucher) notiert:
[081:202]
»...daß er jetzt in geistigen Fähigkeiten einem Knaben von 11–12 Jahren gleichsteht. Seine Begierde, zu lernen und sich zu entwickeln, ist ungemessen und wird von der grenzenlosesten Beharrlichkeit, die selbst an Eigensinn grenzt, begleitet, so daß ich hierbei nur zur Sorge genötigt bin, allzugroße Anstrengungen von ihm entfernt zu halten. Seine große Gutmütigkeit, sein natürliches, unbefangenes Gemüt und vor allem ein hohes moralisches Gefühl, welches zusammen durch die ungeschickteste und unverständigste Behandlungsweise, welche er zum Teil erfahren mußte, nicht gemindert werden konnte, erhält ihm fortwährend die Liebe aller, die mit ihm zu tun haben. Hierbei kann ich aber auch nicht leugnen, daß jene unverständige Behandlungsweise ihm teils zu manchen Eitelkeiten, und selbst hin und wieder zu kleinen Lügen Veranlassung gegeben haben, jedoch kann ich pflichtgemäß versichern, daß, seit ich ihn unter geordnete Aufsicht gestellt habe, seine Aufführung durchaus tadellos ist; nur mußte ich hierbei die Bemerkung machen, daß die große Weichheit seines Gemüts noch ebenso aller Eindrücke und Umbildungen fähig und dafür empfänglich ist«
(Hörisch 1979, S. 16)
.
[081:203] Und gegen Ende des Berichtes heißt es:
[081:204]
»Es kann also sein Zustand nicht der einer Geistesschwäche, sondern nur einer Verwahrlosung sein.«
|A B 83|
[081:205] Im letzten Satz Tuchers deutet sich eine folgenreiche Unterscheidung an: der Zustand Kaspars sei nicht einer
»Geistesschwäche«
geschuldet, einem organisch bedingten Zustand also, gegen den Erziehung nichts vermag,
»sondern nur einer Verwahrlosung«
, d. h., wie Dr. Preu es ausdrückte, eine gewaltsame Entfernung
»von aller menschlichen und gesellschaftlichen Bildung«
. Die pädagogischen Bemühungen der Pflegeeltern gaben der Diagnose recht: Nach zwei Jahren hatte Kaspar, dank seiner ungeheuren Lernbereitschaft und der Anstrengungen seiner Erzieher, das gelernt, wofür im Regelfall den Kindern 14 Jahre zur Verfügung stehen: volle Sprachbeherrschung, Rechnen, Lesen, Schreiben; er machte Gedichte, konnte gut nach der Natur zeichnen, seinen Körper hatte er in der Gewalt, er liebte Musik, hatte sich die christliche Religion angeeignet, nahm an der städtischen Geselligkeit teil, verliebte sich – ein Triumph der Bildsamkeit.
[081:206] Darauf jedenfalls läuft die zeitgenössische Interpretation des Falles hinaus, und sie bestätigt, was heute als Lehrbuchwissen zum Thema Bildsamkeit selbstverständlich ist:
  • [081:207] Das Kind des Menschen kommt zwar, wie alle Säugetiere, mit einer genetischen Ausstattung auf die Welt, ist aber wesentlich länger pflege- und schutzbedürftig.
  • [081:208] Diese Lücke zwischen physiologischem Repertoire und physischer Überlebensfähigkeit muß kompensiert werden.
  • [081:209] Dem Organmangel entspricht eine sonst in der Tierwelt ungewöhnliche Plastizität, d. h. Lern- und Erfahrungsfähigkeit.
  • [081:210] Die Kompensation geschieht gattungsgeschichtlich durch
    »Kultur«
    und individualgeschichtlich durch Erziehung und Bildung.
  • [081:211] Die Plastizität hat das Kind als organische Disposition. Seine Bildsamkeit ist dagegen nur beschreibbar als Reaktion auf die Herausforderung durch die Kultur. Sie wird
    »aktuell«
    im Bezug auf die Ordnung der Welt, in der es heranwächst.
  • [081:212] Insofern wird Bildsamkeit
    »gestiftet«
    . Das Kind hat nicht
    »von Natur aus«
    eine Begabung, sondern wird
    »begabt«
    .
  • [081:213] In diesem Prozeß spielt die Sprache eine entscheidende Rolle, weil erst in ihr Intersubjektivität und damit Teilnah|A B 84|memöglichkeit an menschlichen Gemeinschaften hergestellt wird.
[081:214] Die Pointe dieser Anthropologie hat wiederum Wittgenstein lapidar formuliert:
»Das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern es ist eine Grenze zur Welt«
(Tractatus logico-philosophicus, Satz 5. 632)
. Nimmt man diese Pointe ernst, dann gibt es für den Fall Kaspar Hauser noch eine zweite Lesart: Sagt der Fall etwas über jene Grenze aus?
[081:215] In dem Stück
»Kaspar«
von Peter Handke, dem ein genaues Studium der historischen Quellen zugrunde liegt, gibt es die folgende Szene:
[081:216]
Kaspar fängt ein wenig zu sprechen an:
Weil.
Oft.
Mich.
Nie.
Wenigstens.
Hinein.
Los.
Mir.
Nichts.
Obwohl.
Wie.
(Die Einsager:)
Sie füttern ihn weiter mit enervierenden Wörtern: Denn ein Schrank, auf dem du sitzst, ist ein Stuhl, oder? Oder ein Stuhl, auf dem du sitzst, ist ein Schrank, wenn er auf dem Platz des Schranks steht, oder? Oder ein Tisch, der auf dem Platz des Schranks steht, ist ein Stuhl, wenn du darauf sitzst, oder? Oder ein Stuhl, auf dem du sitzst, ist ein Schrank, sobald er mit einem Schlüssel zu öffnen ist und Kleider darin hängen, auch wenn er auf dem Platz des Tisches steht und du mit ihm den Boden reinfegen kannst; oder?
[081:217] Mit Wittgenstein können wir diese Szene (wie übrigens das ganze Stück) interpretieren als die ästhetische Darstellung einer Grenzziehung und einer Grenzüberschreitung: Kaspar, zunächst gleichsam reines Subjekt (wie ein neugeborenes Kind), wird ein System, ein geordneter Zusammenhang von sprachlichen Bezeichnungen und Verknüpfungen, eine Ordnung der Welt also, von den
»Einsagern«
dargeboten; das markiert die Grenze zwischen ihm als Subjekt und der Intersubjektivität derer, die an der Sprache teilhaben. Über |A B 85|diese Grenze wird Kaspar allmählich herübergeholt. Soweit er herüberkommt, ist er nicht mehr
»Subjekt«
; soweit er zögert, bleibt er es gerade noch. Soweit er sich auf
»Bildsamkeit«
einläßt, verläßt er sein
»Subjektsein«
; soweit er diesen Schritt verweigert, gehört er nicht zur
»Welt«
.
[081:218] Kaspar selbst hat mit dieser Grenze in den vier oder fünf Jahren seiner gesellschaftlichen Existenz immer wieder, am Anfang verständlicherweise stärker als am Ende, Schwierigkeiten gehabt. Er drückte das so aus:
[081:219]
»Ich wollte mich nach meinen Pferden umsehen und mit spielen, es war aber auch keines da, worauf ich sagte:
I möcht ah a söchana Reiter wern, wie Vater is
, womit ich sagen wollte, wo sind die Pferde hin und das Wasser und Brot. Hierauf bemerkte ich den Strohsack, auf dem ich saß, welchen ich so mit Erstaunen betrachtete und wußte nicht, was denn dieses sei. Als ich ihn sehr lange betrachtet hatte, klopfte ich mit dem Finger darauf, wodurch ich das nämliche Geräusch vernommen hatte, als wie von dem Stroh, welches ich in (meinem) früheren Aufenthaltsort hatte, worauf ich immer zu sitzen und zugleich zu schlafen pflegte. Ich sah auch sehr viele andere Sachen, worüber ich so in Erstaunen geraten bin, welches sich nicht beschreiben läßt. Ich sagte:
I möcht ah a söchana Reiter wern, wie Vater is
, womit ich sagen wollte: was ist denn dieses und wo sind denn die Pferde hin? Ich hörte wieder die Uhr schlagen; ich horchte sehr lange; als ich nichts mehr hörte, sah ich den Ofen, welcher von grüner Farbe war, und einen Glanz von sich gab. [081:220] Zu diesem sagte ich auch die gemerkten Worte, welche mir der Mann gelernt hatte, womit ich sagen wollte: er möchte mir auch ein so schönes glänzendes Ding geben; ich sagte es etliche Mal, aber ich bekam nichts. Ich sah ihn sehr lange an; ich sagte nochmal die nämlichen Worte, womit ich zu dem Ofen sagen wollte, warum denn meine Pferde solange nicht kommen. Ich war in der Meinung, die Pferde sind fortgegangen. Ich bekam auch den Gedanken, wenn die Pferde kommen, so sage ich, sie sollten nicht mehr fortgehen, auch dieses wollte ich sagen: sie sollten das Brot nicht mehr fortlassen, sonst habt ihr nichts. Durch das viele Sprechen bekam ich sehr vielen Durst und weil ich kein Wasser mehr sah, so legte ich mich nieder und schlief ein. Als ich wieder erwachte, empfand ich wieder dieselben Schmerzen in den Augen, als ich auf dem Herwege |A B 86|nach der Stadt empfunden hatte, als ich wieder erwachte, war es Tag, und weil mir die Tageshelle sehr wehe tat. Ich fing an zu weinen und sagte:
I möcht a söchana Reiter wern, wie Vater ist. Dahi weis, wo Brief highört.
Damit wollte ich sagen: warum es mir in den Augen so wehe tut? Er solle dieses wegtun, welches mir in den Augen so viele Schmerzen verursachte, gebe du mir bald die Pferde und plage mich nicht immer so fort. Ich hörte das nämliche, was ich zum erstenmal hörte, ich meinte aber doch, es ist etwas anders, weil ich es viel stärker hörte; es ist auch nicht das nämliche gewesen, sondern (statt) daß die Uhr geschlagen hat, war es geläutet worden. Dieses hörte ich sehr lange; aber nach und nach hörte ich immer weniger, und wie meine Aufmerksamkeit weg war, sagte ich jene Worte:
dahi weis, wo Brief highört
, womit ich sagen wollte, er möchte mir auch ein solches schönes Ding geben und möchte mich nicht immer so plagen«
(Hörisch, S. 108–109)
.
[081:221] Die Passage entstammt seinem dritten Versuch, sein Leben niederzuschreiben. Man merkt ihm die Mühe an; eine Mühe ähnlich der, die Kafka mit seinem Brief an den Vater hatte. Wir verstehen nun vielleicht ein wenig besser, was Kafka meinte, als er schrieb, daß die
»Größe des Stoffs über mein Gedächtnis und meinen Verstand weit hinausgeht«
: es ist ein Reden über die Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren, zwischen Subjektivität und Intersubjektivität. Das Problem der Bildsamkeit entsteht genau auf dieser Grenze. Das Subjekt, das ein Geheimnis ist, eine
»Monade«
, wie Leibniz sagte, fensterlos, wird auf der Schiene
»Bildsamkeit«
in die Welt intersubjektiver Übereinkünfte herübergezogen.7
| 176|7Was dieses
»Hinüberziehen«
für den Zeitgenossen bedeutet, zeigt sich recht klar in den Gesichtspunkten, die der Arzt Jean Itard in seinem Bericht über Victor von Aveyron, auch einem der
»wilden Kinder«
, geltend macht:
»Erster Gesichtspunkt: Ihn für das Leben in Gemeinschaft gewinnen, indem man es ihm angenehmer gestaltet als das, welches er bisher geführt hat, und gleichzeitig dem Leben ähnlicher macht, welches er verlassen hat. Zweiter Gesichtspunkt: Die Sensibilität seiner Nerven durch kräftige Stimulantien und zuweilen durch heftige seelische Erschütterungen wecken. Dritter Gesichtspunkt: Seinen Gedankenkreis erweitern, indem man ihm neue Bedürfnisse gibt und seine Beziehungen zu der ihn umgebenden Welt vervielfältigt. Vierter Gesichtspunkt: Ihn zum Gebrauch der Sprache führen, wobei das Einüben der Nachahmung durch das zwingende Gebot der Notwendigkeit bestimmt wird. Fünfter Gesichtspunkt: Eine Zeitlang die einfachsten Geistestätigkeiten an den Gegenständen seiner körperlichen Bedürfnisse üben und sie dann auf den Bildungsstoff ausdehnen.«
(Malson, Itard, Mannoni 1981, S. 124)
Je nach historischer oder politischer Position haben wir dafür verschiedene rechtfertigende Vokabeln:
»Teilnahme«
,
»Solidarität«
,
»Anpassung«
,
»Klassenbewußtsein«
,
»Handlungsfähigkeit«
,
»Ich-Stärke«
,
»Interaktionskompetenz«
,
»Bürger«
,
»Mitglied«
,
»Zoon politikon«
(von dem Gottfried Benn verächtlich sagte:
»Ein griechischer Mißgriff, eine Balkanidee«
).
[081:222] Dieser
»Mißgriff«
(meinethalben) ist, so scheint es, unausweichlich. Wir können uns nicht als absolut Einzelne denken. Sofern wir uns denken können, können wir uns nur diesseits jener Grenze denken, nur als solche, die über Sprache |A B 87|verfügen, damit aber schon in Konventionen von Gemeinschaftlichkeit Eingebundene, als historische also, deren Bildsamkeit in der gesellschaftlich bestimmten Formation manifest, d. h. sichtbar wird. Was wir sind – oder was bereits Kinder sind –, das sind wir, verstehbar nur entlang jener Schiene der Bildsamkeit, als Werk der gesellschaftlichen Repräsentation, die uns ja nicht nur die zu lernenden Inhalte vorgibt, sondern auch die Form, in der wir sie aufzufassen haben. Mindestens aber sind wir, nach Maßgabe solcher historisch je besonders bestimmter Intersubjektivität, das Sagbare.
[081:223] Demgegenüber bringt der Fall Kaspar Hauser eine Erinnerung an die unsagbare vorgesellschaftliche Existenz ins Spiel. Das Besondere und Einmalige dieses autobiographischen Textes liegt darin, daß hier jemand, der sprechen kann, sich an den Zustand erinnert, in dem er noch nicht sprechen konnte, jedenfalls nur über drei Sätze verfügte, eigentlich nur drei verschiedene Lautäußerungen, mit denen er Richtung und Gehalt seines Wünschens und Abwehrens zum Ausdruck brachte: das unsozialisierte Ich! Dadurch, daß der Text schon eine diskursive Rede ist, verwendet er natürlich ein Vokabular, das den
»gebildeten«
Klassifikationen der Dinge der Welt folgt. Oberflächlich gesehen, ist deshalb auch hier nur vom
»Sagbaren«
die Rede. Aber die Mühe des Sprechers läßt uns erschließen, daß er über jene Grenze zwischen Subjektivität und Intersubjektivität redet. Die Rede
»zeigt«
über jene Grenze hinaus. Das bereitet Kaspar nicht nur Mühe, sondern körperliche Pein: Er litt in jener Zeit unter heftigen Kopfschmerzen; der ganze Körper wurde durch den Prozeß der Bildung in Mitleidenschaft gezogen, bis an die Grenze zum Nervenzusammenbruch. Gleichzeitig verlor sich allmählich die erstaunliche Sensibilität seiner Sinnesorgane. In den ersten Monaten, nachdem man ihn fand, hatte er beispielsweise unmittelbar körperliche Empfindungen von Metall, ohne es zu sehen oder zu berühren; er konnte noch in der Dunkelheit Farben erkennen; sein Gehör reichte weiter als das von irgend jemandem aus seiner Umgebung; auf Gerüche, die andere überhaupt nicht mehr wahrnahmen, reagierte er mit Kopfschmerz und Übelkeit; Apfel- und Birnbäume konnte er nach dem Geruch der Blätter unter|A B 88|scheiden (Feuerbach 1981, S. 90 ff.). Je mehr aber sein Bildungsprozeß Fortschritte machte, um so mehr nahm die Sensibilität seines Organismus ab. Indem Kaspar Hauser so wurde wie die anderen, verblaßte das, was er als Subjekt gewesen war oder vielleicht, wenngleich unsagbar, immer noch ist.
[081:224] Das ist kein Thema mehr für die Wissenschaft. Sie kann wohl den Triumph der Bildsamkeit beschreiben; auf deren Aporie aber kann sie nur aufmerksam machen. Die Poesie jedoch kann deutlicher darauf hinweisen:
[081:225]
» ... und die findigen Tiere merken es schon,

daß wir nicht sehr verläßlich zu Hause sind

in der gedeuteten Welt. Es bleibt uns vielleicht

irgendein Baum an dem Abhang, daß wir ihn täglich

wiedersähen; es bleibt uns die Straße von gestern

und das verzogene Treusein einer Gewohnheit,

der es bei uns gefiel, und so blieb sie und ging nicht. «

[081:226] Ein derartiges
»Unbehagen in der Kultur«
(Freud) oder
»Leiden an der Gesellschaft«
(Dreitzel) ist in der europäischen Bildungsgeschichte mal mehr, mal weniger stark hervorgetreten. Seit der Pädagogik der Aufklärung drohte es ganz zu verschwinden. Der akademische Diskurs blieb diesseits der Grenze. Der Widerspruch oder das Reden über diese Grenze blieb ein Randgeschehen oder wurde den Dichtern und Malern überlassen: Baudelaire, Rilke, Trakl, Celan, oder Goya, van Gogh, Schiele, Kiefer. Comenius hatte noch im Alter, in Übereinstimmung mit seiner pansophisch-pädagogischen Idee, geschrieben:
»Kehre dorthin zurück, von wo du ausgegangen bist, in das Haus deines Herzens, und schließe die Türe hinter dir zu«
(Labyrinth, Kap. 37)
. Je feinmaschiger das Netz der pädagogischen Strategien und Institutionen wurde, je mehr auch von der Pädagogik tätiger Anteil am gesellschaftlichen Fortschritt erwartet wurde, um so schwieriger wurde es, einer solchen Attitüde Geltung zu verschaffen. Die Tür durfte – im Bild des Comenius gesprochen – gerade nicht zugeschlossen werden, weil auch das
»Haus des Herzens«
erforscht werden mußte, sollte auf der |A B 89|Bildsamkeitsschiene eine Transformation von Subjektivität in Intersubjektivität, vom zwar Lebendigen, aber eben auch Unkalkulierbaren des kindlichen Organismus in das Berechenbare eines gesellschaftlich formierten Bildungsganges gelingen.
[081:227] Die Bildungstheoretiker der deutschen Romantik (z. B. Novalis, Fr. Schlegel, Schleiermacher) sahen dieses Problem. W. von Humboldt meinte 1797, eine Generation vor der Auffindung Kaspars, daß
»das einseitige Verlangen, alle Naturen Einer Richtschnur zu unterwerfen, nur zu allgemein verbreitet«
und, im Hinblick auf die Bildung des Menschen, die gefährlichste Tendenz der Zeit sei. Und Schleiermacher meinte, daß (deshalb?) Pädagogen nötig hätten, ein
»divinatorisches Vermögen«
in sich auszubilden: das ist die Fähigkeit des Erratens oder Ahnens. Immer nämlich sei das Kind wesentlich mehr, als was durch Verstehen und Erklären uns unmittelbar zugänglich ist. Wer erziehen wolle, zumal im Hinblick auf eine nicht zuverlässig kalkulierbare Zukunft, der müsse versuchen, sich auch auf diesen nur zu
»ahnenden«
Teil des kindlichen Lebens zu beziehen. In moderner Terminologie ausgedrückt: Die Referenz des Sagbaren ist das Unsagbare; Subjektivität ist kontingent.

Das Unsagbare machbar machen

[081:228] Dennoch bleibt es das Geschäft der Erziehung, Kinder über diese Grenze, aus dem Unsagbaren der nur kontingenten Subjektivität in den Bereich von Sprache, Kultur und Konvention herüberzuziehen. Alles andere wäre sentimental und in einem sehr ernsten Sinne des Wortes unverantwortlich. Allerdings ist das Unsagbare auch immer das Nichtbewußte und eine Quelle unserer Wünsche, Hoffnungen, Phantasien, Utopien, die deshalb – mindestens in der Kindheit – nur in verschlüsselter Form zur Darstellung kommen. Daß wir solche Darstellungen, in der Kunst wie in der Kindheit, zu deuten versuchen, unser
»divinatorisches Vermögen«
bemühen, etwas vom nicht-konventionalisierten Ich des Kindes in den Kreis unserer Aufmerksamkeit ziehen, scheint mir ein akzeptables pädagogisches Gebot zu sein. Akzeptabel ist es |A B 90|nicht deshalb, weil es eine lange Tradition hat – von Platon über Augustinus, die Mystiker, die Romantik bis zur
»Antipsychiatrie«
; akzeptabel ist es vor allem deshalb, weil das Gebot eine Hypothese enthält, eine Unterstellung, die – wenn auch empirisch unbeweisbar – pädagogisches Handeln im Sinne des alteuropäischen Begriffs von Menschlichkeit erst möglich macht: Das Erziehen des Kindes sollte nicht nach dem Modell der Bearbeitung, Formung, Veränderung eines Materials gedacht werden, sondern als Unterstützung sich entwickelnder Kraft, als dialogische Beziehung, als Ruf und Antwort, oder wie immer diese Sichtweise im Verlauf unserer Geschichte in Metaphern gekleidet wurde. Denkt man den Erziehungsvorgang nach diesem Modell, dann bleibt das, was jenseits jener Grenze zwischen Subjektivität und Intersubjektivität liegt, eine ständige Beunruhigung. Nicht nur entzieht sich der Bildungsprozeß des Kindes zuverlässigen Prognosen; auch ein prognosen-sicherndes Handeln wird suspekt, denn es müßte ja an einer vollständigen Kalkulierbarkeit des Kindes interessiert sein.
[081:229] Das ist freilich ein Stück Metaphysik der Bildsamkeit. Wir können den darin behaupteten Sachverhalt nicht in der Weise sichern, die wir von zuverlässigen erfahrungswissenschaftlichen Theorien erwarten. Wir können uns nur der verschiedenen Deutungen vergewissern, die diese
»Hypothese«
im Verlauf der Geschichte pädagogischer Praxis und pädagogischen Denkens erfahren hat. Eine platonische Deutung gab Augustinus, als er schrieb:
[081:230]
»Woher nun und auf welchem Wege traten diese Dinge in mein Gedächtnis? Ich weiß nicht, wie’s geschah. Denn als ich sie lernte, glaubte ich nicht einem fremden Geist, sondern erkannte sie wieder in dem meinigen, anerkannte sie als wahr und vertraute sie ihm an, als stellte ich sie nur zurück an ihren Ort, um sie von da hervorzuholen, wann ich wollte. Dort in meinem Geiste also waren sie, und schon bevor ich sie gelernt; nur in meinem Gedächtnis waren sie nicht. Wo also denn? Oder warum erkannte ich sie, als sie ausgesprochen wurden, und sagte mir:
»So ist es, es ist wahr«
? Doch nur deshalb, weil sie bereits auch im Gedächtnis waren, freilich noch so fern und tief verborgen, gleichsam in entlegenen Höhlen, daß ich vielleicht, wenn sie nicht auf fremden Ruf hervorgebrochen |A B 91|wären, sie niemals hätte denken können«
(Augustinus, Bekenntnisse, S. 180)
.
[081:231] Eine andere Variante finden wir im Spätmittelalter bei Meister Eckhart. Er nimmt an, daß, vor jedem kulturellen Bildungsprozeß, im Menschen schon das Geistige sei, der göttliche Funke. Die damit gegebene
»Innerlichkeit«
kann nie angemessen nach außen hin dargestellt werden (als Reden und Handeln).
[081:232] Es sei
»al ûzer werk in der zît alze kleine, daz si (die Seele) sich niht volle bewîsen noch darîn bilden enmag.«
»Daz ûzer werk«
sei immer
»ûzgetragen und ûzgegossen in einem nidervolle der gotheit mit underscheide, mit menge, mit teile«
(zit. nach Dohmen 1964, S. 44)
.
[081:233] Oder:
[081:234]
»Was ist mein Leben? Das von innen bewegt wird von ihm selber. Was von außen bewegt wird, das lebt nicht.«
[081:235] Oder:
[081:236]
»Wer aber in dieser Zeitlichkeit zum Höchsten kommen will, der nehme aus allen Schriften die kurze Lehre, die hier geschrieben steht: Halte dich abgeschieden von allen Menschen, halte dich unberührt von allen sinnehaften Bildern, befreie dich von allem, was Zufall, Verhaftetheit und Kummer zu bringen vermag, und richte dein Gemüt allezeit auf ein heiliges Schauen, in dem du Gott in deinem Herzen trägst zu ständigem Inbild und Gegenwurf, von dem deine Augen nimmer wanken«
(zit. nach Stettner 1973, S. 227)
.
[081:237] Zu der augustinischen wie auch zu der Auffassung von
»Bildsamkeit«
des Meister Eckhart paßt die Art, in der das Mittelalter das Verhältnis zwischen Erwachsenem und Kind darstellte. Dergleichen Darstellungen finden sich vorwiegend als Bilder von Maria mit dem Jesusknaben, bei denen dem modernen Blick unter anderem zunächst auffällt, daß das Kind keine
»kindliche«
Physiognomie hat. Daraus zu folgern, daß das Mittelalter keinen Begriff von Kindheit gehabt habe, scheint mir indessen gänzlich verfehlt zu sein. Es hatte aber eine andere Auffassung von Bildsamkeit: Der Bildungs|A B 92|vorgang wurde nicht
»äußerlich«
, sondern
»innerlich«
gedacht; die äußere Verschiedenheit zwischen Kindern und Erwachsenen galt deshalb als unwesentlich. Wenn
»Bildung«
bedeutet, daß die Seele sich ihres geistigen Gehaltes inne wird, wenn gar – wie in dem extremen Fall der Katharer Südfrankreichs – die Überzeugung besteht, daß schon im Mutterleib das Kind mit einer fertigen Seele begabt ist (vgl. Ladurie 1980, S. 230), dann gibt es keinen zwingenden Grund, Kinder und Erwachsene physiognomisch verschieden darzustellen, ausgenommen der ikonisch und für das Bildverständnis erforderliche Unterschied der Körpergröße. Die ikonisch-physiognomische Gleichheit von Erwachsenen und Kindern bedeutet also – denke ich – keine Gleichgültigkeit gegenüber dem Kind, sondern seine Gleichheit, und zwar vor Gott bzw. den Ideen (die Augustinus nicht irgendwem glaubte verdanken zu müssen, sondern die er
»wiedererkannte«
in seinem eigenen Geiste, wo sie waren,
»schon bevor ich sie gelernt«
). Beim Herstellen eines Bildes auf kindliche Physiognomie, die Entwicklungscharakteristik von Kopfform, Gliedmaßen, Motorik, Blick erpicht zu sein, wäre nach dieser Auffassung Sentimentalität, Verliebtheit ins Unwesentliche.
[081:238] Im 15. Jahrhundert, in der Phase der für die
»Moderne«
wichtigsten historischen Weichenstellung, ändert sich das. Die Differenz ist an den Abbildungen 12, 13 und 14 gut erkennbar. Das Mosaik aus der Kirche San Apollinare Nuovo in Ravenna (Abb. 12, um 550, also rund 130 Jahre nach dem Text von Augustinus) dokumentiert den mittelalterlichen Typus. Das Relief Donatellos (Abb. 13) ist völlig anders: Mutter und Kind sind einander zugewandt; das vergleichsweise
»realistisch«
dargestellte Kind ist mit der Mutter in Blickkontakt; es wirkt bewegt, aber begrenzt auf die noch unentwickelte Feinmotorik des Kleinkindes; die Hände der Mutter schützen; ihr Gesicht drückt intensive Aufmerksamkeit aus; diese Dyade befindet sich in engem Raum und sprengt ihn zugleich. – Nur kurze Zeit später (1440) malte Ghirlandajo die völlig säkularisierte Version: Großvater mit Enkel (Abb. 14). Wie bei Donatello findet auch hier die innere Bewegung eine Entsprechung im Äußeren. Skepsis des Großvaters und vertrauensvoll-fragender Blick des Kindes |A B 93|
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung eines Ausschnittes des Mosaiks Muttergottes aus Sant’Apolinare Nuovo in Ravenna, welches gegen Ende des 5. oder Anfang des 6. Jahrhunderts geschaffen wurde, zu sehen.
Abb. 12: Mosaik, San Apollinare, Ravenna, um 550
sind aufeinander bezogen wie offen-ungewisse Zukunft und Erwartung ersehnten Wissens, gewollten
»Groß-Werdens«
. Zwischen Kind und Großvater ist Entwicklung, Lernen, Bildung ausgespannt – in der Liebe einander treu, aber in der zu erwartenden Geschichte, der Möglichkeit nach, getrennt.
[081:239] Übrigens finde ich es völlig abwegig, derartige Bilder als Kompensation früher Mutterentbehrung der Maler zu interpretieren, wie z. B. Ross das andeutet (de Mause 1977, S. 285); solche Deutung mag im individuellen Fall, beispielsweise Leonardo da Vincis, plausibel sein; auf den kulturellen Gestus im ganzen bezogen wäre diese Hypothese eine ziemlich grobe Verkennung dessen, was die Realität eines historisch-kulturellen Habitus ausmacht.
|A B 94|
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Reliefs »Pazzi Madonna« von Donatello, geschaffen ca. im Jahre 1420, zu sehen.
Abb. 13: Donatello (1386–1466), Madonna mit Kind
[081:240] Die beiden Bilder – Donatellos und Ghirlandajos – markieren damit eine neue Auffassung des rätselhaften Vorgangs der Erweckung von Bildsamkeit. Kinder werden von nun an gedacht – in diesen historischen Jahrzehnten noch nicht unbedingt behandelt – als Wesen, deren innere und äußere Form (Geist und Handeln) sich allmählich durch Interaktion mit den Erwachsenen bildet (für die florentinischen Kaufleute damals übrigens eine Überlebensfrage). Bildsamkeit wird ein empirisches Problem. Die Intellektuellen Europas machen sich also daran, das Rätsel zu lösen, und zwar auf
»rationale«
Weise, unter Verzicht auf theologische oder theosophische Annahmen.
|A B 95|
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Gemäldes »Bildnis eines alten Mannes und seines Enkels« von Ghirlandaio, erschaffen um das Jahr 1490, zu sehen.
Abb. 14: Ghirlandajo (1448–1494), Großvater und Enkel
[081:241] Institutionell drückt sich das beispielsweise darin aus, daß nun im Rahmen neuer Schulgründungen und ein halbes Jahrhundert später empirisch über Lernfähigkeit nachgedacht wird, über
»Begreiflichkeit«
, wie es in den zeitgenössischen Texten heißt. Nicht das Geheimnis, das das Subjekt ist, interessiert mehr, sondern die kulturelle Tätigkeit, in die es einzutreten vermag.
»Begreiflichkeit«
schreitet, scheinbar naturgemäß, langsam und in kalkulierbaren Schritten voran: Die Schüler werden nun nach Unterschieden in ihrer Begreiflichkeit geordnet, und ebenso wird der Lehrstoff gegliedert: |A B 96|die Geburtsstunde von Jahrgangsklasse und Schulbuch, aber auch – wenngleich noch kaum erkennbar – von Sonderschulen, Behindertenpädagogik, Heilpädagogik.
[081:242] Die gleiche Grundstruktur eines kalkulierten Umgangs mit Bildsamkeit zeigt sich auch in ganz anderen Zusammenhängen, z. B. in den Exerzitien des Ignatius von Loyola (ca. 1523). Nach einer Vorbemerkung beginnt die Darstellung der Exerzitien mit folgender Überschrift:
[081:243]
»Geistliche Übungen, um sich selbst zu überwinden und sein Leben zu ordnen, ohne sich dabei durch irgendeine ungeordnete Neigung leiten zu lassen«
(I. de Loyola 1978, S. 75)
.
[081:244] Der Anfang des Textes klingt noch wie ein spätmittelalterlich-erbauliches Dokument oder wie der Text eines Mystikers. Aber dann geht es ganz anders weiter: es wird ein zeitlich und sachlich sorgfältig geordnetes System von Übungen entwickelt, mit deren Hilfe die geistige Selbstbildung besorgt werden soll; die rohe Natur bekommt gleichsam ihre geistige Form:
[081:245]
»Ich setze voraus, daß es drei Arten Gedanken in mir gibt; eine, die mir selbst zukommt und ganz aus meinem eigenen freien Willen und Entschlusse entspringt, und zwei andere, welche von außen her in mich kommen: die eine vom guten Geiste und die andere vom bösen«
(a. a. O., S. 78)
.
[081:246] Diese Form bekommt sie also vor allem dadurch, daß das Innere,
»das uns selbst zukommt«
, sich nach Maßgabe der Bestimmung des Menschen entfalten kann; und das wiederum kann nur geschehen, wenn alles, was vom
»bösen Geiste«
von außen kommt, ferngehalten wird. Dieses Fernhalten und damit zugleich das Entfalten der inneren Bestimmung, die Bildung also, gelingt nur, wenn in strenger Reihenfolge, vom Leichten zum Schwierigen fortschreitend, die ungebildete Natur des Menschen, die die Bildsamkeit nur als Möglichkeit zur Bildung erhält, ihre geistliche Form ausprägt. Nachdenken über Bildsamkeit bedeutet hier also: Nachdenken über die Methode der Bildung und ihre Bedin|A B 97|gungen. Zur Veranschaulichung noch einmal ein längeres Zitat:
[081:247]
»Die besondere Gewissenserforschung. [081:248] Sie hat täglich zu geschehen, umfaßt drei Zeiten und besteht in einer täglich zweimal vorzunehmenden Selbstprüfung. [081:249] Die erste Zeit ist frühmorgens. Sobald man sich vom Schlafe erhebt, muß man sich vornehmen, sorgfältig jene besondere Sünde oder jenen besonderen Fehler zu meiden, in welchem man sich frei machen und bessern will. [081:250] Die zweite Zeit, nach Tisch, erbitte der Mensch von Gott unserem Herrn das, was er anstrebt, nämlich die Gnade, daß er sich erinnere, wie oft er in jene besondere Sünde oder in jenen besonderen Fehler gefallen sei, und daß er sich in Zukunft bessere. Danach mache er die erste Gewissenserforschung und fordere von sich Rechenschaft in bezug auf jene vorgenommene und besondere Sache, in welcher er sich ändern will; dabei durchgehe er in Gedanken die einzelnen Stunden und die verschiedenen Tageszeiten, angefangen von der Stunde des Aufstehens bis zur Stunde und zum Augenblicke der gegenwärtigen Gewissenserforschung. Dann mache er in der ersten Reihe der unten folgenden Figur ebensoviele Punkte, als er in jene besondere Sünde oder in jenen besonderen Fehler gefallen ist. Zuletzt erwecke er von neuem den Vorsatz, sich bis zur zweiten Gewissenserforschung, welche er anstellen wird, zu bessern. [081:251] Die dritte Zeit ist nach dem Abendessen. Es geschieht die zweite Gewissenserforschung, indem man auf dieselbe Art Stunde für Stunde durchgeht, angefangen von der ersten Gewissenserforschung bis zu der gegenwärtigen zweiten. Dann mache man in der zweiten Reihe der schon genannten Figur ebensoviele Punkte, als man in jene besondere Sünde oder in jenen besonderen Fehler gefallen ist«
(a. a. O., S. 76 f.)
.
[081:252] Das ist, in der Grundstruktur, dem zur selben Zeit entstehenden Lehrplan gleichartig. Fortan redet man über Bildsamkeit nicht mehr wie Augustinus, sondern
»rational«
; das heißt, man redet über die Mittel der Einwirkung auf das Kind; man kalkuliert die Erfolgsaussichten, die solche Einwirkung hat; man untersucht die Wirkungsgrenzen solcher Mittel. Der Erfolg des modernen Bildungssystems beruht auf diesen Prinzipien. Mit dem Ausbau der Wissenschaften ist unser |A B 98|Wissen über diese Version von Bildsamkeit, vor allem im 19. und 20. Jahrhundert, ungemein angewachsen:
  • [081:253] wir können die Bildsamkeit eines Kindes im Intelligenztest messen;
  • [081:254] wir wissen, daß Begabungen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – keine Naturtatsachen sind, sondern Resultate kultureller Milieus;
  • [081:255] wir wissen, daß solche kulturellen Milieus Produkte der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sind;
  • [081:256] wir wissen, daß die Bildsamkeit eines Kindes durch die Interaktionsformen, denen es ausgesetzt ist, zugeschüttet oder angeregt werden kann;
  • [081:257] wir wissen, daß das, was das Kind in seinen ersten Lebensjahren erfährt, folgenreich für seine Bildsamkeit ist, für manche ihr Leben lang; usw.
[081:258] Aber können wir deshalb besser erziehen? Zweifel sind angebracht, besonders angesichts der Tatsache, daß Kinder durchaus – und nicht nur gelegentlich, als Ausnahme – ihre Bildungsbereitschaft vermindern oder verlieren, je mehr sie in das Netz moderner Bildungsbemühungen integriert werden. Das ist keine neue oder besonders originelle Beobachtung: als Rousseau um 1760 seinen
»Emile«
schrieb, hatte er einen ähnlichen Eindruck von den Bildungsbemühungen seiner Zeit:
[081:259]
»Alles ist gut, wie es aus den Händen des Urhebers der Dinge hervorgeht; alles entartet unter den Händen des Menschen. Er zwingt einen Boden, die Erzeugnisse eines andern hervorzubringen, einen Baum, die Früchte eines andern zu tragen. Klima und Elemente vermengt er und bringt sie durcheinander, er verstümmelt seinen Hund, sein Pferd, seinen Sklaven. Alles stellt er auf den Kopf, er liebt die Mißgestalten und Ungeheuerlichkeiten. Nichts will er so, wie es die Natur geschaffen hat, nicht einmal den Menschen. Er läßt ihn für sich abrichten wie ein Reitpferd; man muß ihn nach seiner Mode zustutzen wie einen Baum seines Gartens. [081:260] Die Pflanzen modelt man durch die Kultur, die Menschen durch Erziehung. Schlimm genug, daß dem so ist; aber schlimmer noch wäre es, wenn die Dressur nicht stattfände. Wir kommen schwach zur Welt, wir haben Kräfte nötig; wir werden geboren von allem entblößt und bedürfen des Bei|A B 99|stands; wir kommen unverständig ins Dasein und bedürfen des Verstandes. Was wir bei unserer Geburt nicht haben und was wir brauchen, wenn wir groß sind, wird uns durch die Erziehung gegeben«
(Rousseau, Emile oder über die Erziehung 1958, S. 11)
.
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Gemäldes »Die Eltern des Künstlers« von Philipp Otto Runge aus dem Jahr 1806 zu sehen.
Abb. 15: Philipp Otto Runge, Die Eltern des Künstlers, 1806
[081:261] Oder wie es der Maler Otto Philipp Runge sah (Abb. 15): Großeltern und Enkel, wie bei Ghirlandajo – aber welch ein Unterschied! Vergleicht man dieses Bild – eines der hervorragenden Dokumente der Geschichte pädagogischen Denkens – mit dem des Ghirlandajo, dann fällt sofort auf: diese Kinder |A B 100|setzen kein Vertrauen mehr in ihre Großeltern, die über sie in irgendeine Leere hinwegblicken; dieser Maler traut nicht der traditionsstiftenden Interaktion zwischen Großeltern und Enkeln; hier versucht jemand, die pädagogische Hoffnung auf die Natur des Kindes zu gründen: Bildsamkeit wird, in Analogie zur Natur, als ein Wachstumsproblem verstanden (für eine detailliertere Interpretation des Bildes vgl. Brodersen u. a. 1978). Die Nähe zu Rousseau ist unübersehbar, aber auch die Distanz zu ihm. Der Zweifel am Machbaren ist größer geworden. Runge setzt – wie Fröbel und die Frühromantik – auf die dem Kinde innewohnende Naturkraft der Bildsamkeit; das Bild ist antizivilisatorisch, wie die Pädagogik des
»Wachsenlassens«
oder die
»Antipädagogik«
– man beachte beispielsweise die scharfen Kontraste zwischen Vordergrund und Hintergrund (die Schiffe im Hafen: Runges Vater war ein für seine Arbeitnehmer ziemlich unangenehmer Reeder), die schwache Kommunikation zwischen oben (Großeltern) und unten (Kindern), die Verschiedenheit der Generationswelten zwischen links und rechts (Pflanzen und Haus, schräg gemalter Stock des Großvaters). Ein hartes, entschiedenes, provozierendes Bild – das den pädagogischen Optimismus des Ghirlandajo in Zweifel zieht und – romantisch-naiv? – auf die Kindheit und ihre Bildsamkeit als das einzige pädagogische Fundament vertraut.8
| 176|8Der pädagogische Gestus der Romantiker hat heute vermutlich für viele etwas Bestechendes. Die Auflagenhöhe der Bücher beispielsweise A. Millers ließe sich als Indiz anführen; aber auch neuerdings wieder häufiger werdende kritische Auseinandersetzungen mit den Gehalten vor allem frühromantischer Theorie (z. B. Bohrer 1982, Mattenklott 1982, Timm 1978) indizieren einen wiederentdeckten historischen Zusammenhang mit der Gegenwart. Darin wird indessen deutlich, daß der romantische Gestus, jedenfalls soweit er sich auf Pädagogik bezieht, ambivalent ist. Das wird an den Bildern Runges und an der pädagogischen Theorie Fröbels besonders deutlich: die phänomenologisch-liebevolle Aufmersksamkeit für den Mikrokosmos der Welt des Kindes hat für Pädagogen vermutlich immer etwas Faszinierendes; aber sie ist zugleich Quelle möglicher Täuschung, und zwar dadurch, daß in solchen Darstellungen ihr gesellschaftlicher Ort unaufgeklärt bleibt. Das gilt besonders für die romantische Enthaltsamkeit im Hinblick auf die doch damals schon erkennba|AB 177|ren Probleme der technischen Zivilisation. Der damaligen Situation entspricht heute der naive Romantizismus z. B. der
»Antipädagogik«
. Er droht ähnlich folgenlos zu bleiben wie die Pädagogik der Romantik, jedenfalls dann, wenn der heute
»alternativ«
genannte pädagogische Gestus nicht die ganze Breite unserer kulturellen Inhalte (also auch die technischen) verarbeitet und sich statt dessen mit der Entgegensetzung und dem sozialen Mikrokosmos von Beziehungsproblemen und Primärerfahrungen begnügt.
[081:262] Das Nachdenken über Kaspar Hauser, das
»divinatorische Vermögen«
der Romantiker, die zweifelnden Reflexionen des Augustinus: sind sie dem Problem
»Bildsamkeit«
näher als unsere Sozialwissenschaft, als die Schulreformer der frühen Neuzeit, als Ignatius – oder nicht?
[081:263] Ein schweizerischer Sonderschullehrer beschreibt das Problem so:
[081:264]
»So kam er zuguterletzt in die Sonderklasse, ein mißtrauischer, ängstlicher Bub, der mit
Autoritäten
(vor allem mit dem Vater) denkbar schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Nun werden auch seine
Rudereien
und seine Aggressionen mir gegenüber verständlich: An mir verarbeitete er seine gemachten schlechten Erfahrungen. In dem Maße, wie es mir gelang, nicht so zu reagieren, wie er es gewöhnt war, in dem Maße, wie es mir gelang, ihm zu zeigen, daß ich ihn trotz allem akzeptierte, kam es bei ihm langsam zu einem Abbau |A B 101|seiner Ängste. Und erst als dieser Angstabbau vollzogen war, waren bei Albert die Voraussetzungen für das Lesenlernen geschaffen. Dann allerdings ging’s rasch voran. Er hat in kurzer Zeit
aufgeholt
. [081:265] Bleibt noch nachzutragen, wie sich bei Albert die Bereitschaft zum Lesenlernen zum erstenmal ankündigte. [081:266] Ich diktierte einer Gruppe irgendeinen Text. Albi saß daneben und störte dauernd. Schließlich nahm er einen Zettel in die Hand und rief:
Ich schreibe auch mit.
Wenig später gab er mir den Zettel zur Korrektur. Eine Kuh war draufgeschmiert, daneben irgendein Gekritzel. Ich schrieb auf den Zettel: ALBI = LÖLI. Gespannt wartete ich. Würde er das lesen können? Er nahm den Zettel an sich und studierte ihn aufmerksam. Dann fragte er mich:
Wie schreibt man das Jegge-J?
Ich zeigte es ihm. Als ich das Blatt zurückerhielt, stand darauf: JEGE SAFSEKEL. Noch kaum je hat mich eine Schülerarbeit so gefreut wie dieses SAFSEKEL«
(Jürg Jegge 1977, S. 37 f.)
.
[081:267] Und noch ein weiteres Beispiel:
[081:268]
»Heini ... konnte zum Beispiel nicht wünschen. Kam er zu Besuch und fragte ich ihn beispielsweise:
Was möchtest du trinken, Tee oder Sirup?
antwortete er regelmäßig:
Ich weiß nicht
oder
Es ist mir gleichgültig
. Das sagte er nicht etwa, weil ihm der Unterschied zwischen Tee und Sirup unbekannt gewesen wäre. Er konnte seine eigenen Bedürfnisse, Wünsche usw. weder erkennen noch artikulieren. Vom Anfang unserer Bekanntschaft an versuchte ich in solchen Situationen, ihm bei der Artikulation seines Wunsches zu helfen. So sagte ich etwa:
Schau, stell dir einfach eine Tasse Tee vor, Lindenblütengeschmack, warm, süß usw., und nun ein Glas Sirup, Himbeergeschmack, kalt, mit Eis drin. Was möchtest du lieber trinken?
Dann blickte er mich meist ganz hilflos an und fragte:
Wovon haben Sie mehr vorrätig?
Dies tat er nicht etwa, weil er Angst hatte, er würde mangelhaft bewirtet. Er versuchte herauszufinden, was ich wünschte, daß er es wünschte. Noch deutlicher zeigte es sich, wenn man ihn zum Einkaufen schickte. Sagte man etwa zu ihm:
Holst du mir bitte rasch eine Schokolade?
, so fragte er sofort zurück:
Was für eine?
Wenn ich dann antwortete:
Irgendeine
, ließ er nicht locker, bis ich ihm ganz genau die gewünschte Schokolade angegeben hatte«
(a. a. O., S. 62)
.
|A B 102|
[081:269] Die beiden Texte haben eine eigentümliche Plausibilität; man kann ihnen nicht gut widersprechen; man hat den Eindruck: ja, so ist es richtig, dies sind nicht nur absonderliche Einzelfälle, hier wird etwas Allgemeines mitgeteilt. Woran liegt das? Ich will versuchen, einige Charakteristika hervorzuheben:
[081:270] 1. Jegge erzählt Geschichten. Er gibt keine wissenschaftliche Beschreibung von Bildsamkeit, sondern erzählt Situationen, in denen Bildsamkeit erkennbar wird. Das ist nicht etwa eine zwar erfreuliche, aber doch entbehrliche Literarisierung der Pädagogik, sondern gehört zur Sache (wie die Kasuistik zur Rechtswissenschaft, die Fall-Analyse zur Psychotherapie). Das elementare Erfahrungsmaterial der Pädagogik sind letzten Endes derartige Geschichten.
[081:271] 2. Die Geschichten, die Jegge erzählt (ebenso wie Makarenko, Neill, Pestalozzi, Salzmann), sind nicht nur Geschichten über Kinder, sondern zugleich Geschichten über den Erzieher/Lehrer. Eigentlich sind es Beziehungsgeschichten, und zwar selbstreflexive.
[081:272] 3. Wenn wir die augustinische metaphorische Bezeichnung des Bildsamkeitsproblems als
»Ruf und Antwort«
akzeptieren können, dann ist die selbstreflexive Beziehungsgeschichte die angemessene Form der Problemdarstellung. Die Geschichten erläutern eine theoretische These, nämlich daß sich über Bildsamkeit rational und handlungsrelevant nur reden läßt, wenn die Geschichte ihrer Hervorbringung erzählt wird. Erst der Vorgang ihrer Hervorbringung ist ein argumentationszugängliches Faktum. Vordem ist sie bloße Fiktion, aber eine notwendige, wenn Bildung überhaupt in Gang kommen soll; denn ohne diese Fiktion gäbe es auf seiten des Erziehers gar keine ernsthafte Anstrengung, an der Hervorbringung der Bildsamkeit mitzuwirken.
[081:273] 4. Jegge meint, daß es für die Hervorbringung von Bildsamkeit wesentlich sei, das Kind
»trotz allem«
zu akzeptieren (
»In dem Maße, wie es mir gelang, ihm zu zeigen, daß ich ihn trotz allem akzeptierte, kam es bei ihm langsam zu einem Abbau der Ängste«
). Das ist eine knappe und noch zu ungenaue Formel. Pestalozzi drückte es anders aus, als er, mit bezug auf seine Erfahrungen in der Stanser Anstalt, meinte, das erste pädagogische Gebot für ihn sei gewesen,
»meinen |A B 103|Kindern alles in allem zu sein«
, ihr
»Inneres«
zu
»wecken und (zu) beleben«
, eine
»sittliche Gemütsstimmung«
zu schaffen. Die Geschichten Jegges wie die des Pestalozzi zeigen, daß
»akzeptieren«
und
»Gemütsstimmung«
alles andere sind als nur ein emotional warmes Klima des Gewährenlassens: dem Kind werden Schwierigkeiten bereitet durch Anforderungen. Albi wird provoziert; Heini wird immer wieder seiner Weigerung, seine Wünsche auszudrücken, konfrontiert. Bildsamkeit ist also kein Gewächs, das bei mildem Klima von selbst gedeiht, sondern eine Disposition, die sich in Auseinandersetzung mit Erwartungen artikuliert.
»Akzeptieren«
heißt hier also auch: die Würde des Kindes dadurch achten, daß man ihm Aufgaben zumutet.
[081:274] 5. Erwartungen und Aufgaben haben einen Zukunftsbezug. Aus der Sozialisationsforschung wissen wir, daß die Fähigkeit, Zukünftiges zu antizipieren, spätere Ereignisse sich vorstellen zu können und das jetzige Handeln daran zu orientieren, eine wichtige Bedingung für Lernfähigkeit ist.
»Bildsamkeit«
hat es offenbar nicht nur mit dem
»Ruf«
oder dem
»Anspruch«
anderer Personen zu tun, sondern auch mit dem Zukunftsbezug, der in solchen Ansprüchen enthalten ist.
»Wünsche«
aber enthalten allemal und notwendigerweise (schon
»analytisch«
) einen solchen Zukunftsbezug. Interessant ist nun, wie Jegge als Praktiker mit diesem Phänomen umgeht: Er sucht denjenigen Punkt auf, von dem her dem Kind ein positiver Zukunftsbezug möglich werden könnte; ich könnte auch sagen: Er sucht einen Ansatz zur Hervorbringung von Bildsamkeit, einen Ansatz im Hinblick auf die Fähigkeit des Kindes, den Gedanken an seine eigene Zukünftigkeit zu wagen! Er tut das mit geradezu entwaffnender Trivialität:
»Stell dir einfach eine Tasse Tee vor, Lindenblütengeschmack, warm, süß, usw.«
. Ein solches Vorstellen einer künftig möglichen Wirklichkeit nennt Sartre
»Entwurf«
: nicht die Zufriedenheit mit dem, der ich gegenwärtig bin, sondern die Herausforderung durch den Entwurf dessen, der ich sein könnte, bringt eine Bildungsbewegung hervor, ist die Bedingung dafür, daß Bildsamkeit als Möglichkeit zur Wirklichkeit wird.
[081:275] Das pädagogische Handeln hat also die Form eines hypothesengeleiteten, aber immer zur Zukunft des Kindes hin offe|A B 104|nen Experimentes. Die Hypothese – oder das Bild, das sich der Erzieher von der Bildsamkeit des Kinder macht – ist notwendiger Bestandteil dieses Handelns. Ist diese Hypothese aber in der pädagogischen Interaktion nicht beständig für Korrekturen offen, d. h., ist sie derart verfestigt, daß sie keine neuen Erfahrungen mit dem Kinde mehr zuläßt – wird also aus dem offenen Experiment ein geschlossenes Ritual, dann droht auch die Bildsamkeit des Kindes zu erlöschen.9
| 177|9Vgl. dazu Benner 1978, S. 319 ff.
Man kann dieses Problem auf zwei sich anscheinend widersprechende Formeln bringen: Die Moral des freilich etwas sentimentalen Stückes von Max Frisch
»Andorra«
ist:
»Du sollst dir kein Bildnis machen«
. Und in den
»Geschichten von Herrn Keuner«
Bertolt Brechts heißt es:
[081:276]
»
Was tun Sie
, wurde Herr K. gefragt,
wenn Sie einen Menschen lieben?
Ich mache einen Entwurf von ihm
, sagte Herr K.,
und sorge, daß er ihm ähnlich wird.
Wer? Der Entwurf?
Nein
, sagte Herr K.,
der Mensch
«
(Bertolt Brecht 1967, Bd. 12, S. 386)
.

Das Gleichheitspostulat

[081:277] Im 16. Jahrhundert, als durch die neuen Schulordnungen Klassen und Lehrinhalte, abgestuft nach den Lernfähigkeiten und -fortschritten der Schüler, festgelegt wurden, als Ignatius von Loyola sein differenziertes Curriculum der geistlichen Selbstbildung entwarf, als der Waren- und Geldverkehr ein möglichst rasches Erlernen der
»bürgerlichen«
Rechnungsarten verlangte, als es schien, daß im Prinzip jeder, der bildungswillig war, Zugang zu den gelehrten Schulen hatte (und sei es über private Stipendien) – damals konnte man meinen, daß das Problem der Bildsamkeit und die an den Nachwuchs gerichteten Bildungserwartungen keine komplizierten Fragen aufwerfen würden. Das Problem schien lösbar über eine technisch-rationale Konstruktion der Bildungsgänge. Es waren vor allem drei Sachverhalte, die diese Meinung stützen und ihren Optimismus rechtfertigen konnten:
  1. 1.
    [081:278] Die Geist-Seele galt als allen Menschen gleich gegeben. Jeder konnte sie in sich entdecken und zur Ausbildung |A B 105|bringen. Körperliche Differenzen, beispielsweise durch das Temperament, durch Bedingungen der Herkunft und (wie wir heute sagen würden) der Sozialisation spielten eine untergeordnete Rolle. Sie tangierten im Prinzip – so glaubte man – nicht die Bildungsfähigkeit des Menschen. Tauchten dennoch Unterschiede auf, dann wurden sie als Unterschiede des Wollens und der Zucht gedeutet.
  2. 2.
    [081:279] Damit hängt der zweite Sachverhalt zusammen: Da prinzipiell angenommen wurde, daß es keine Bildungsunfähigkeit, sondern nur Bildungsunwilligkeit gebe, kam alles darauf an, einerseits den Willen zu stärken und in der richtigen Bahn zu halten, andererseits der Geist-Seele die richtige
    »Nahrung«
    zu geben; Ignatius drückte das so aus, daß die von außen kommenden
    »guten Gedanken«
    hineingelassen werden, die
    »schlechten«
    aber ferngehalten werden müßten. Da nun Kinder noch nicht über die Mittel verfügen, sich selbst in diese geistige Zucht zu bringen, mußte das von den Erwachsenen besorgt werden, und zwar ist Zwang dafür schlechterdings unentbehrlich. Das ABC und die Rute gehören also zusammen; der Gebrauch der Rute war sogar sittlich geboten, weil er als eine notwendige Bedingung des Bildunsprozesses galt.
  3. 3.
    [081:280] Diese beiden Sachverhalte oder Grundüberzeugungen konnten sich relativ unangefochten halten, solange nur ein verschwindend kleiner Teil der Bevölkerung überhaupt auf Schulen ging oder irgendeine andere Form formeller Erziehung und Bildung in Anspruch nahm. Für diesen Teil der Bevölkerung können wir unterstellen, daß er eine starke Bildungswilligkeit ausgebildet hatte, die sich auch den Kindern mitteilte und es erlaubte, einerseits die körperliche Gewalt zu ertragen und andererseits an jener Vorstellung festzuhalten, nach der es keine gravierenden Unterschiede in der Bildungsfähigkeit gab. Zudem spielte die ständische Vorstellung eine Rolle, nach der es überflüssig war, von jedermann zu erwarten, daß er sich auf den Weg formeller Bildung begab. In Frankreich beispielsweise war die Zahl der Analphabeten in den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen sehr unterschiedlich. (Abb. 16). Dabei muß man wissen, daß Handwerker, Kaufleute und städtisch-administrative Berufe zusammen nur allerhöchstens 10 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten.
|A B 106|
Abb. 16: Analphabetismus und soziale Schichtung: Das Beispiel Narbonne 1575–1593, nach Mieck 1982
[081:281] So war – hier freilich etwas vereinfacht dargestellt – die Situation in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Das änderte sich jedoch bald. Zunächst brachte die Reformation für die Teile Deutschlands, die sich ihr anschlossen, einen ganz neuen pädagogischen Impuls. Luthers deutsche Bibelübersetzung lag vor, und es war recht und billig, von jedem zu erwarten, daß er sie auch lesen könne. Man brauchte dazu jetzt ja nicht mehr Latein oder Griechisch zu lernen. Im Prinzip also waren diese Texte nun jedem zugänglich und nicht nur einer intellektuellen Elite mit gelehrter Bildung. Wenigstens aber sollte jeder Hausvater in der Lage sein, seinen Angehörigen aus der Bibel vorzulesen.
[081:282] Zugleich wurden die alten Lehrpläne durchforstet. Die ökonomische Entwicklung verlangte Menschen, die sich aktiv im bürgerlichen Gewerbe engagierten, um den Wohlstand zu steigern. Also geriet der im 16. Jahrhundert immer noch vorherrschende Bildungstypus unter Kritik: eine Bildung, die sich im wesentlichen auf die antike Literatur bezog, schien nicht mehr zeitgemäß. Statt nur Worte zu lernen, sollte nun Sachwissen vermittelt werden. Das ging sogar in der Muttersprache besser als im Latein. Neben Lesen, Schreiben und Rechnen fängt man nun also an, sich mit Naturkunde zu befassen, mit Geschichte, mit den bürgerlichen Gewerben, es wird nicht nur gesungen, sondern auch gezeichnet usw. Das alles geschah freilich |A B 107|nicht plötzlich, sondern bildete sich allmählich im Verlauf von zwei Jahrhunderten – ungefähr von 1550 bis 1750 – heraus.
[081:283] Dazu kam noch ein dritter Sachverhalt: Sollte die Bildung nun nicht mehr nur für wenige, sondern für viele vermittelt werden, und sollte das in überschaubarer Lebenszeit geschehen, dann wurde das Verfahren der Wissensvermittlung äußerst wichtig. Im 17. Jahrhundert wimmelte es von Leuten – seriösen wie unseriösen –, die über effektive Methoden der Bildung nachsannen. Vordem hatte die Zeit im Bildungsprozeß keine große Rolle gespielt. Auf den gelehrten Schulen und Universitäten konnten sich die Schüler beliebig lange aufhalten und konnten großenteils nach zehn Jahren Lateinunterricht immer noch nicht ordentlich lateinisch lesen, schreiben und reden. Der Troßbube aber, der mit irgendeinem der herumziehenden Heere in wenigen Jahren viele Gegenden Europas kennenlernte, konnte nach wenigen Jahren sich mühelos nicht nur in deutsch, sondern auch in italienisch und französisch verständigen – zwar nicht über antike Schriftsteller, aber über die wichtigen Fragen des Lebens, über
»Realien«
(vgl. Blankertz 1982, S. 30 ff.). Das schien den Reformern absurd. Zudem waren diese Leute in der Regel keine pädagogischen Spezialisten. Es waren, wie man damals sagte,
»Polyhistoren«
, das heißt Intellektuelle, die sich dem neuen Realismus auf vielen Gebieten zuwandten: sie verstanden etwas vom Maschinenbau, befaßten sich mit Alchimie, mit Bergwerkswissenschaft, mit Ökonomie, erfanden allerlei Neues, also auch neue Methoden der Kindererziehung. Der seriöseste unter ihnen war wohl Johann Amos Comenius. Aber auch bei ihm spürt man deutlich die herrschende Stimmung großer Versprechungen, die Attitüde der kommenden Techniker der Erziehungskunst. Auf dem Titelblatt seiner
»Didactica Magna«
(deutsch 1657)
heißt es:
[081:284]
»Grosse Didaktik
die vollständige Kunst, alle Menschen alles zu lehren
oder
Sichere und vorzügliche Art und Weise, in allen Gemeinden, Städten und Dörfern eines jeden christli|A B 108|chen Landes Schulen zu errichten, in denen die gesamte Jugend beiderlei Geschlechts ohne jede Ausnahme
rasch, angenehm und gründlich
in den Wissenschaften gebildet, zu guten Sitten geführt, mit Frömmigkeit erfüllt und auf diese Weise in den Jugendjahren zu allem, was für dieses und das künftige Leben nötig ist, angeleitet werden kann; worin von allem, wozu wir raten
die Grundlage in der Natur der Sache selbst gezeigt,
die Wahrheit durch Vergleichsbeispiele aus den mechanischen Künsten dargetan,
die Reihenfolge nach Jahren, Monaten, Tagen und Stunden festgelegt und schließlich
der Weg gewiesen wird, auf dem sich alles leicht und mit Sicherheit erreichen läßt.
Erstes und letztes Ziel unsrer Didaktik soll es sein,
die Unterrichtsweise aufzuspüren und zu erkunden, bei welcher die Lehrer weniger zu lehren brauchen, die Schüler dennoch mehr lernen; in den Schulen weniger Lärm, Überdruß und unnütze Mühe herrsche, in der Christenheit weniger Finsternis, Verwirrung und Streit, dafür mehr Licht, Ordnung, Friede und Ruhe.«
[081:285] Zwei Sachverhalte kamen also zusammen: Die Absicht, jedes Gesellschaftsmitglied durch die pädagogischen Bemühungen zu erreichen, und der Entwurf eines Kanons von lernenswerten Inhalten, der für die Bevölkerung plausibel war, weil er die laufende gesellschaftliche Entwicklung stützte. Die Folgen lassen sich leicht erraten: Die Leute beginnen, ihre Kinder in immer größer werdender Zahl auf die Schulen zu schicken, egal, um was für eine Schule es sich handelt. Und die Magistratsverwaltungen der Städte und die Fürsten setzen ihren Ehrgeiz in Schulneugründungen. Deutscher Spitzenreiter war Herzog Ernst der Fromme in Gotha/Thüringen und der Rektor des dortigen Gymnasiums mit Namen Andreas Reyher (Zeitgenosse des Comenius ), die in kurzer Zeit eine sonst in Deutschland noch unübliche Schulbesuchsquote erreichten. Für 1620 läßt sich der Anteil der Analphabeten an der Bevölkerung auf maximal 90 Prozent schätzen; 1750 waren es vielleicht 65 Prozent. 1816 waren es im Durch|A B 109|schnitt in Preußen ca. 40 Prozent (in Sachsen 20 Prozent).10
| 177|10Die Forschungslage zum Problem der Alphabetisierung ist relativ dürftig, jedenfalls bis ungefähr zur Französischen Revolution. Außerdem verlief die Entwicklung in den europäischen Regionen nicht gleichsinnig. Zwischen 1560 und 1700 war vermutlich in England und in den Niederlanden die Zahl derer, die lesen und schreiben konnte, im europäischen Vergleich am größten. Im 19. Jahrhundert stand Preußen und dann das Deutsche Reich an der Spitze; vgl. Flora 1973, mit genauen vergleichenden Angaben seit 1800.
Und dies alles ohne eine effektive Schulpflicht! In Preußen gab es zwar das 1763 erlassen
»Generallandschulreglement«
Friedrichs II., in dem den Bürgern auferlegt wird, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Aber das stand, wie in anderen Königreichen oder Fürstentümern auch, vornehmlich auf dem Papier. Vermutlich reichten schon die finanziellen Mittel von Gemeinden und Staatsverwaltungen nicht aus, um Schulen wirklich für alle sicherzustellen. Dennoch ist der
»Bildungsboom«
eines guten Jahrhunderts erstaunlich.11
| 177|11Es ist schwer, sich die hinter aller abstrakten Statistik liegende konkrete Bedeutung eines solchen Sachverhalts vorzustellen. Angesichts der raschen Alphabetisierungsfortschritte beispielsweise in Kuba oder Nicaragua heute erscheint ein Jahrhundert schleppend lang. Aber das Zeitbewußtsein war damals auch anders. Schaut man sich beispielsweise die im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg ausgestellten Werkzeuge von Handwerkern aus dem 16. und 17. Jahrhundert an, dann fällt auf, daß sie offensichtlich in der Erwartung einer mehrere Generationen überdauernden Gebrauchsfähigkeit hergestellt wurden. Diese Stabilitätserwartung drückt sich nicht nur in den subtilen Verzierungen (beispielsweise der Werkzeuge von Gold- und Silberschmieden) aus, sondern auch in der Solidität der technischen Bearbeitung des Materials; die Werkzeuge sind noch heute benutzbar; mit geringfügigen Reparaturen haben viele Generationen sie verwenden können. Darin
»objektiviert«
sich ein Zeitbewußtsein, das Veränderungen der Lebensform, wenn überhaupt, dann nur über große Distanzen hinweg in Rechnung stellt. Vor diesem
»alltäglichen«
Erfahrungshintergrund muß sich die Zunahme der alphabetisierten Bevölkerungsanteile anders ausnehmen als heutzutage, wo Werkzeuge des täglichen Gebrauchs innerhalb einer Generation mehrfach verschleißen. Ein Sachverhalt, der orthodoxe Marxisten zum Nachdenken anregen könnte: der Überbau (Alphabetisierung) läuft der Basis (Werkzeuge) davon! Und erst als die Basis den Überbau wieder einholte (zu Beginn des 19. Jahrhunderts), konnte sich die industrielle Mechanisierung der Lebensformen entfalten (vgl. dazu Giedion 1982 und Kubler 1982).
[081:286] Dieses Einströmen großer Bevölkerungsteile in die Bildungsanstalten hat nun – von den Didaktikern des 17. Jahrhunderts nicht vorhersehbar – das Nachdenken über Bildsamkeit in arge Bedrängnis gebracht. Zwar scheint es möglich, alle in die Schulen zu schicken, aber:
»alle Menschen alles zu lehren«
, wie Comenius meinte – geht das? Auf dem Niveau der pädagogischen Erfahrungen zur Zeit der Französischen Revolution stellte sich das Bildsamkeitsproblem also durchaus anders als 200 oder 300 Jahre früher. Man kann es auch so formulieren: Für Meister Eckhart war noch Bildung der Umgang des Menschen mit seiner Innerlichkeit, mit der ihm einwohnenden Geist-Seele und ihres Verhältnisses zu Gott, darin allen Menschen gleich gegeben. Bildsamkeit also war ein Problem, bei dem es keine empirischen Unterschiede gab. Für die pädagogischen Theoretiker um 1800 aber sah das ganz anders aus. Gerade die Unterschiede fielen ins Auge und wurden wichtig: Der eine Bauernsohn wurde Pfarrer, der andere blieb Landarbeiter; wer in der Stadt wohnte, konnte mehrere Jahre zur Schule gehen, wer auf dem Land wohnte, konnte froh sein, wenn er schreiben lernte. Aber vielleicht war es ja auch gar nicht wünschenswert, daß alle alles lernten? Ist es nicht vielleicht doch besser, die comenianische Idee nicht so ernst zu nehmen und den Armen für die Armut, den Bauern für seinen Stand, den Handwerker für den Gewerbefleiß, den Staatsbeamten für die Wissenschaft zu bilden und den Gedanken einer gleichen Bildung für alle fallenzulassen? Das ist natürlich, nach der Französischen Revolution und unter den Bedingungen der sich entwickelnden Leistungsgesellschaft, eine argumentativ schwer zu |A B 110|sichernde Position. Die Auflösung des Dilemmas wurde institutionell gesucht: Bildsamkeitsunterschiede lassen sich offenbar beobachten; zwar ist Bildung für alle da, aber für einen mehr, für andere weniger; das läßt sich rechtfertigen, wenn es Unterschiede in der Natur der Bildsamkeit gibt, und wenn diese
»Natur«
auch noch eine Entsprechung im Status-System gesellschaftlicher Arbeitsteilung hat oder zu haben scheint. Die von der Französischen Revolution und den liberalen preußischen Schulreformern (z. B. W. v. Humboldt, F. D. Schleiermacher) ausgehende Beunruhigung durch die Vorstellung, daß zunächst – sozusagen bis zum Beweis des Gegenteils – eine gleiche Bildsamkeit aller Menschen unterstellt und also auch eine (der Möglichkeit nach) gleiche Bildungschance für jeden eröffnet werden müsse, veranlaßte beispielsweise F. von Beckedorff, Referent für das Volksschulwesen im preußischen Kultusministerium, 1820 in einer Denkschrift zu sagen:
[081:287]
»Daß die Menschen von Natur ungleich sind, dieser Satz steht fest. Er ruhet auf der Erfahrung ... Es gibt nun einmal verschiedene Stände und Berufe in der menschlichen Gesellschaft, sie sind rechtmäßig, sie sind unentbehrlich ... Je länger der Jugend die Verschiedenheit der menschlichen Verhältnisse verheimlicht wird, als eine desto größere Last muß sie ihr hinterher erscheinen ... Um aller dieser Gründe willen bedürfen wir in der menschlichen Gesellschaft nicht gleichartiger Stufen-, sondern verschiedenartiger Berufs- und Standesschulen; nicht wie der Entwurf (eines neuen liberalen Schulgesetzes, K. M.) vorschlägt, neu eingerichteter allgemeiner Elementarschulen, allgemeiner Stadtschulen und Gymnasien ..., sondern nach bisheriger alter Weise, guter Bauern-, Bürger- und Gelehrtenschulen; nicht endlich einer künstlichen Gleichheit der Volkserziehung, sondern vielmehr einer naturgemäßen Ungleichheit der Standeserziehung ...«
[081:288] Gut eine Generation vorher hatte der preußische Minister von Zedlitz Ähnliches behauptet:
[081:289]
»In der bürgerlichen Gesellschaft stehen die Bürger auf verschiedenen Stufen. In jedem Stande ist eine eigne Denkungsart, sind andere Gaben nöthig. Wollte der Lehrer |A B 111|Einerley Methode bey allen seinen Lehrlingen anwenden, so würde er die Grundfesten der monarchischen Regierungsform untergraben und den Geist der Subordination zerstören.«
Der Unterricht müsse
»nach ihren verschiedenen Klassen natürlicherweise verschieden seyn«
. Schule sei dazu da,
»jeden Schüler seiner Bestimmung gemäß zu unterrichten, und ihn weder mehr noch weniger zu lehren, als was er wissen muß und wovon er in der Lebensart, welche er erwählen wird, Gebrauch machen kann«
.12
| 177|12Für die bildungspolitischen Zusammenhänge jener Zeit vgl. | 178|besonders Herrlitz 1973 und Herrlitz/Hopf/Titze 1981. Der Text Zedlitz ist zitiert nach
Herrlitz 1973, S. 87 ff.
; der Text von Beckedorff nach
Herrlitz/Hopf/Titze 1981, S. 47 f.
[081:290] Zwischen beiden liegt die Französische Revolution. Das, worauf sie u. a. reagierte (v. Zedlitz) und das, was ihr als konservative Reaktion folgte (v. Beckedorff), gleicht sich nicht nur, sondern umschließt zeitlich auch jenen anderen Entwurf des Bildsamkeitsproblems, der seine Argumente aus dem deutschen Idealismus, aus den Bildungsideen der Frühromantiker und aus dem politischen Liberalismus bezog. In seiner Pädagogik-Vorlesung von 1826, schon 1813 zum erstenmal im Zusammenhang vorgetragen, rekonstruiert F. D. Schleiermacher noch einmal die Lage der Argumentation:
[081:291]
»Sind die Menschen in Beziehung auf die universelle und individuelle Richtung der Erziehung gleich oder ungleich? Das heißt, ist in einem Volke das Verhältnis jedes Einzelnen zum geistigen Zusammenhang des Volkes oder zur Idee des Staates ein gleiches oder ungleiches? Und auf der anderen Seite, ist das Verhältnis jedes Einzelnen zur Idee der individuellen Persönlichkeit dasselbe oder verschieden? [081:292] Wenn wir in Rücksicht auf beides uns für die Identität erklären, so stellen wir ein System ursprünglicher Gleichheit für alle Menschen auf. Erklären wir uns für die Ungleichheit, so stellen wir eine Aristokratie des geistigen Vermögens und der geistigen Bildsamkeit auf. Wir behaupten dann, daß es nicht möglich sei, daß der eine in jeder Beziehung dieselbe Stufe erreichen könne wie der andere. Danach gäbe es, wenn wir zuerst auf die universelle Seite der Erziehung achten, im Volke zwei Klassen, von denen die eine ein relatives Unvermögen für die Idee des Staates in sich trüge, die andere dagegen ein relatives Übergewicht dazu. Wenn wir zweitens dieselbe Ungleichheit in Beziehung auf die individuelle Seite der Erziehung voraussetzen, so gäbe es im Volke eine Menge von Einzelnen, die von Natur dazu bestimmt wären, immer |A B 112|Masse zu bleiben, und sich bloß durch den Ort, wo sie stehen, von den anderen trennen und unterscheiden; und eine andere Klasse, in der sich eine wirkliche persönliche Eigentümlichkeit entwickelte«
(Schleiermacher 1957, S. 35 f.)
.
[081:293] An historischen Beispielen erläutert nun Schleiermacher, daß die Annahme einer
»Aristokratie des geistigen Vermögens und der geistigen Bildsamkeit«
pädagogisch unzulässig sei, da sie einen gesellschaftlichen Zustand herbeiführen helfe oder befestige, in dem ein Teil der Bevölkerung in
»Knechtschaft«
lebe, jedenfalls aber es
»im Volke zwei Klassen«
gebe. Unproblematisch wäre ein solcher Zustand allerdings dann, wenn man annehmen dürfte, daß es im Hinblick auf die Fähigkeit, eine Individualität auszubilden, und im Hinblick auf die Fähigkeit, sich am geistigen Leben der Gemeinschaft zu beteiligen, angeborene Unterschiede gebe. Eine derartige Annahme aber verbiete sich, da die Ungleichheiten in der Bildung mindestens immer auch Folge der
»äußeren Verhältnisse«
sind: würde man mit der Unterstellung angeborener Ungleichheit in der
»geistigen Bildsamkeit«
erziehen, dann würde man verstärken, was vielleicht nur durch äußeres Schicksal erworben wurde; erzieht man indessen mit der Gleichheitsunterstellung, kann dem Kinde kein Schaden entstehen, sofern den im Laufe des Bildungsprozesses hervortretenden besonderen Fähigkeiten nur genug Raum gegeben wird.
[081:294]
»Es wäre frevelhaft, die Erziehung so anzuordnen, daß die Ungleichheit absichtlich und gewaltsam festgehalten wird auf dem Punkt, auf welchem sie steht. Dies würde eine Hemmung der menschlichen Natur verraten. Was aber der Fortschreitung der menschlichen Natur entgegenwirkt, das streitet auch gegen die Idee des Guten«
(Schleiermacher, a. a. O., S. 41)
.
[081:295] Damit war eine neue Ebene der Argumentation im Hinblick auf das Problem der Bildsamkeit (und der daraus folgenden schulpolitischen Konsequenzen) erreicht. Nicht nur die preußischen Schulreformer waren sich der bildungspolitischen Bedeutung ihrer Theorie bewußt; auch ihre konservativen Kritiker – wie beispielsweise jener oben zitierte von |A B 113|Beckedorff – bemerkten sofort, daß hier, auf dem Wege über eine pädagogische Argumentation, ein Demokratisierungsprozeß eingeleitet wurde; schließlich waren Humboldts Reformbemühungen und Süverns Schulgesetzentwurf von 1819 die konsequente bildungspolitische Umsetzung jener Bildsamkeitsargumentation, die erste deutsche Formulierung der Gesamtschulidee. Diese Kontur hat das Problem heute noch, wenngleich die Vokabularien sich geändert haben und obschon bei der Abwehr liberaler Argumente an die Stelle gewünschter
»Subordination«
nun die Verhältnisse des Marktes getreten sind.
|A B 114|

4. Selbsttätigkeit
Oder: Sich Aufgaben stellen, Probleme lösen

[081:296] Im Zusammenhang mit Augustinus war schon die Rede davon, daß das sich bildende Ich als ein tätiges gedacht werden muß. Die Redeweise, nach der die Erwachsenengeneration ihren Kindern eine Lebensform präsentiere, diese, wenn es schwierig wird, in eigens dafür geschaffenen Institutionen repräsentiere und dabei auf die Bildsamkeit des Kindes vertraue, könnte dazu verführen, den ganzen Vorgang als ein Herstellen, Einprägen oder Zurichten zu deuten. Das Wesentliche eines Bildungsprozesses bestünde dann darin, daß das Kind sich, indem es größer wird, die gesellschaftlich herrschenden Vorstellungen, Einstellungen und Handlungsmuster zu eigen macht, die je gewünschte Ausprägung in diesen drei Dimensionen realisiert.
»Zu eigen machen«
heißt dabei, daß diese Vorstellungen, Einstellungen und Handlungsmuster zum dauerhaften Repertoire des Kindes werden. Die sozialwissenschaftliche Terminologie verwendet dafür unter anderem die beliebte Vokabel
»verinnerlichen«
oder
»internalisieren«
. So erscheint der Vorgang der Bildung des Menschen als eine Bewegung von
»außen«
nach
»innen«
.
[081:297] Daß der Bildungsvorgang im Sinne dieser Bewegungsrichtung arrangiert werden kann, jedenfalls so, daß sie dominiert, ist wohl kaum zweifelhaft. Gegenläufige Bewegungen erscheinen dann als Störfaktoren. Der Minister von Zedlitz und der Volksschulreferent von Beckedorff jedenfalls dachten so, und ihre Denkungsart hat sich bis in die Gegenwart hinein fortgesetzt. Vorgänge der Bildung des Menschen werden, in dieser Denkungsart, beschrieben als Rekrutierungsprozesse für die Stabilisierung eines sozialen Systems. Das sind sie auch, wie die Geschichte der Pädagogik, besonders die Geschichte des Unterrichtswesens, zeigt.
»Sinn«
bekommt ein individueller Bildungsvorgang in dem Maße, in |A B 115|dem er in vorgegebene Sinnhorizonte eingefädelt wird – in die Sozialstruktur, in Bezugsgruppen, in kulturell verfügbare Weisen der Sinnauslegung, in Lebenswelten usw.
[081:298] Aber das ist nicht alles. Wie dominant auch immer diese Bewegungsrichtung der
»Bildung«
als Einprägung und Allokation sein mag: sie wird von einer gegenläufigen Bewegung begleitet, von
»innen«
nach
»außen«
gleichsam. Die Bildsamkeit des Kindes kommt zwar in Gang durch äußeren Anreiz, aber nur sofern es auf diesen Anreiz mit Tätigkeit antwortet. Diese Anreize sind, da sie in Sinnkontexten auftreten, naturgemäß Repräsentanten von Sinn oder Bedeutung, auf die das Kind sich sinnverstehend bezieht. Die Tätigkeiten des Kindes und die Produkte dieser Tätigkeiten (im Spiel beispielsweise) sind deshalb auch Imitate der herrschenden Kultur. Aber sie – oder doch zumindest einige dieser Tätigkeiten – sind anders, und zwar der Form nach. Ehe noch der sich bildende junge Mensch im Kontext gegebener und inhaltlich bestimmter Sinnhorizonte lokalisiert wird bzw. sich lokalisiert,
»produziert«
er Lebenssinn für sich selbst in Akten der Selbsttätigkeit. Das geschieht beispielsweise im Symbolspiel des Kleinkindes; in der Bildung eines Begriffs von
»anderen Personen«
, die allgemeiner sind als Mutter und Vater; in kognitiver Koordinierung von Menge und Gewicht, subjektiv-erlebter und objektiv-meßbarer Zeit und in vielen anderen ähnlichen Operationen. Diese Operationen sind nicht
»lehrbar«
. Lehrbar und demonstrierbar sind nur die Problemstellungen (und für diese findet das Kind in den ihm präsentierten Lebensformen mannigfache Anlässe). Das jeweilige Problem aber muß das Kind selber lösen, durch seine eigene geistige Tätigkeit. Diese Problemlösung bedeutet für das Kind
»Sinn«
insofern, als ihm daraus eine Kompetenz erwächst, es anders ist, es mehr kann, es beteiligter wird als vordem.
[081:299] Davon soll nun die Rede sein – nicht im Sinne einer systematischen Theorie, sondern wiederum mit Hilfe von interpretierten Beispielen, die uns Zugänge zum Problem eröffnen können: Reden, Rechnen, Malen, Gehen.
|A B 116|

Reden

[081:300] Im Jahre 1805 schrieb Heinrich von Kleist ein kleines Prosastück mit dem Titel
»Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden«
. Dieses Stück enthält, in sehr leichter, fast spielerischer Attitüde vorgetragen, einen für die Bildungstheorie wesentlichen Gedanken, wenngleich wohl auf Anhieb schwer erkennbar ist, was die folgende kleine Szene mit Pädagogik zu tun haben könnte:
[081:301]
»Mir fällt jener
Donnerkeil
des Mirabeau ein, mit welchem er den Zeremonienmeister abfertigte, der nach Aufhebung der letzten monarchischen Sitzung des Königs am 23. Juni, in welcher dieser den Ständen auseinanderzugehen anbefohlen hatte, in den Sitzungssaal, in welchem die Stände noch verweilten, zurückkehrte, und sie befragte, ob sie den Befehl des Königs vernommen hätten?
Ja
, antwortete Mirabeau,
wir haben des Königs Befehl vernommen
– ich bin gewiß, daß er, bei diesem humanen Anfang, noch nicht an die Bajonette dachte, mit welchen er schloß:
Ja, mein Herr
, wiederholte er,
wir haben ihn vernommen
– man sieht, daß er noch gar nicht recht weiß, was er will.
Doch was berechtigt Sie
– fuhr er fort, und nun plötzlich geht ihm ein Quell ungeheurer Vorstellungen auf –
uns hier Befehle anzudeuten? Wir sind die Repräsentanten der Nation.
– Das war es, was er brauchte!
Die Nation gibt Befehle und empfängt keine.
– um sich gleich auf den Gipfel der Vermessenheit zu schwingen.
Und damit ich mich Ihnen ganz deutlich erkläre
– und erst jetzo findet er, was den ganzen Widerstand, zu welchem seine Seele gerüstet dasteht, ausdrückt:
so sagen Sie Ihrem Könige, daß wir unsre Plätze anders nicht, als auf die Gewalt der Bajonette verlassen werden.
– worauf er sich, selbstzufrieden, auf einen Stuhl niedersetzte. – Wenn man sich den Zeremonienmeister denkt, so kann man sich ihn bei diesem Auftritt nicht anders, als in einem völligen Geistesbankerott vorstellen«
(Heinrich v. Kleist 1952, 2. Band, S. 323)
.
[081:302] Mich interessiert an dieser
»Anekdote«
nicht die republikanische Pointe, sondern die dargestellte geistige Bewegung, die Art der Tätigkeit, die hier durch das Reden in Gang gesetzt wird. Aber das ist schon nicht ganz richtig beschrieben. Kleist behauptet in der Szene nicht, daß das Reden die |A B 117|Ursache der Bewegung der Gedanken sei; er vermeidet überhaupt jede empirische Eindeutigkeit im Sinne von Ursachen und ihren Folgen; nicht das
»Verfertigen der Gedanken durch das Reden«
(oder das Umgekehrte) zeigt er, sondern
»beim Reden«
. Denken und Reden sind parallele Ereignisse, allerdings so, daß zwischen beiden irgendeine Art von Wechselbeziehung gedacht wird. Das läßt sich – jedenfalls von Heinrich von Kleist – auch in einem Satz darstellen. In dem Essay heißt es etwas früher:
[081:303]
»Weil ich doch irgendeine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, daß die Erkenntnis, zu meinem Erstaunen, mit der Periode fertig ist«
(Kleist, a. a. O., S. 322)
.
[081:304] Dieser Satz repräsentiert, in seinem syntaktischen Gefüge, genau den Gedanken, den er zum Inhalt hat. Zugleich repräsentiert er aber auch die Bewegung, in der der Gedanke gebildet wird. Die Bewegung des Gedankens und die Bewegung des Redens (oder auch Schreibens) können wir auch
»innere«
und
»äußere«
Tätigkeit nennen. Und sofern das Subjekt des Satzes und das Subjekt der Tätigkeit identisch sind, reden wir von
»Selbsttätigkeit«
.
[081:305] Das ist nun allerdings zunächst nur ein Etikett; was es bedeuten könnte, zumal welches Problem sich darin verbirgt, soll gleich erläutert werden. Zunächst aber noch ein paar Sätze zu dem anschaulichen Bild, in dem Kleist seine Problemskizze vorträgt. Ganz wesentlich für Kleists Vorstellung von dem Sachverhalt ist nämlich, daß diese
»Verfertigung der Gedanken beim Reden«
nicht etwa – das wäre ja denkbar – als stille Meditation eines einsamen Denkers gedacht wird, sondern vor Publikum, in einem sozialen Verhältnis also. Dies ist ihm sogar das Wichtigste an dem ganzen Problem. Der Essay beginnt nämlich mit dem folgenden Satz:
[081:306]
»Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher Freund, |A B 118|mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen. Es braucht nicht eben ein scharf denkender Kopf zu sein, auch meine ich es nicht so, als ob du ihn darum befragen solltest: nein! Vielmehr sollst du es ihm selber allererst erzählen«
(Kleist, a. a. O., S. 321)
.
[081:307] Man kann zwar nicht behaupten, Kleist sei hier der Meinung, daß jene Tätigkeit der Gedanken-Verfertigung immer und nur dann möglich ist, wenn die Bedingung eines sozialen Verhältnisses gegeben ist. Der Essay ist keine philosophisch-logische Argumentation. Er läßt deshalb diese Frage offen. Aber er gibt doch zu bedenken, wie wichtig es für den Begriff der geistigen Tätigkeit sein könnte, sie sich nicht nur so zu denken, als richte ein denkendes (oder sonst irgend produktives) Ich seine Aufmerksamkeit auf nichts als den Gegenstand, sondern auch so, daß die Aufmerksamkeit eines anderen, eines Alter Ego, für die eigene Tätigkeit, ihre Bewegung und ihr Produkt, bedeutungsvoll, wenn nicht gar notwendig ist. Erst in unserem Jahrhundert wurde, beispielsweise von G. H. Mead, dieser Gedanke voll entfaltet. Aber schon zur Zeit Kleists fand er in der Philosophie Fichtes und seiner Schüler eine Stütze. Deren Frage war, wie aus dem bloß möglichen Vernunftwesen Mensch ein wirkliches werde.13
|AB 178|13Im folgenden Gedankengang lehne ich mich an die erziehungsphilosophisch-historische Darstellung Benners (1978, S. 89 ff.) an. Alle Zitate der Fichteaner entstammen diesem Text. Ich verzichte deshalb auf Quellenangaben bei den einzelnen Zitaten Sauers und Johannsens (für die Erläuterung des Begriffs
»Selbsttätigkeit«
bzw.
»Aufforderung zur Selbsttätigkeit«
vgl. auch Benner 1983, S. 294 f.).
[081:308] Der Argumentationsgang der Fichteaner sieht so aus: Ausgangspunkt ihrer erziehungsphilosophischen Überlegungen ist eine Definition des Menschen als Vernunftwesen:
»Das Vernunftwesen ist ein mit Bewußtsein tätiges«
(Sauer)
. Das bedeutet zweierlei: Einerseits ist jeder einzelne Mensch das, was er als Vernunftwesen ist, nur durch Tätigkeit, der Mensch
»als Werk seiner selbst«
, wie Pestalozzi sagte; andererseits ist er das nicht durch Tätigkeit überhaupt, durch irgendeine Tätigkeit, sondern durch
»bewußte«
Tätigkeit; und
»bewußt«
ist eine Tätigkeit dann zu nennen, wenn – gleichsam neben der Tätigkeit – diese Tätigkeit auch noch angeschaut wird. Die Fichteaner nennen dieses Anschauen der eigenen Tätigkeit
»Reflexion«
. Es gibt also zwei Arten von Tätigkeit: einen gleichsam naiven Umgang mit den Gegenständen der Welt und eine Auseinandersetzung mit den Weisen dieses Umgangs. Erst wenn die zweite Art der Tätigkeit hinzutritt und sich auf die erste bezieht, kann man |A B 119|sagen, daß das Vernunftwesen sich die Welt aneignet, Sinneswahrnehmungen zu eigenen Erfahrungen macht, sich bildet.
Das hier Gemeinte läßt sich beispielsweise beim Kleinkind beobachten, wenn es, nach einer Phase scheinbar diffusen Hantierens mit Bauklötzen, zu einem regelgeleiteten konstruktiven Spiel übergeht (in der Bildungstheorie Piagets spielt in diesem Vorgang tätiger Weltaneignung die Bildung von Begriffen die entscheidende Rolle). Will man den Bildungsprozeß eines Menschen verstehen, muß man sich also offenbar klarmachen, von welcher Art dieses eigentümliche Verhältnis ist, das wir je zu uns selber haben.
»Die Bildung des Vernunftwesens findet auf keine andere Weise als durch eine Wechselwirkung desselben mit sich selbst statt. Was auch immer von außen zu ihrer Beförderung geschehen mag, seine Bildung verdankt es schlechthin sich selbst, denn so wie es aus sich selbst nie heraustritt, so gelangt auch nie etwas in dasselbe hinein, es sei denn, daß es sich dasselbe aneigne«
(Sauer )
.
Oder:
»Der Begriff des Menschen ist nicht der Begriff von etwas, das ohne Zutun seiner selbst da ist und besteht, sondern der Mensch wird nur durch sich selbst ein Mensch. Er ist kein Sein, sondern ein Werden, und er wird nur das, wozu er sich selbst macht, und ohne sein Zutun wird er nichts«
(Johannsen )
.
[081:309] Das scheint nun eine durchaus unbefriedigende Formulierung des Bildungsproblems zu sein. Es sollte doch geklärt werden, wie das Vernunftwesen, das der Mensch als Möglichkeit ist, Wirklichkeit wird. Was hat es also mit dem
»Werden«
auf sich, von dem im letzten Zitat die Rede war? Denn: bliebe es bei der bisherigen Auskunft über das Problem, wäre
»Erziehung«
überflüssig, und der Bildungsprozeß wäre nichts als eine dauerhafte Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst. Selbsttätigkeit wäre eine Art Münchhausen-Effekt. Kleist gibt in seinem Essay und seiner Anekdote vorsichtig, aber anschaulich zu bedenken, daß da noch etwas fehlen könnte. Und auch die Schüler Fichtes stoßen auf diese Schwierigkeit:
[081:310]
»Es ist ... nicht zu begreifen, wie sie (die Kräfte des möglichen Vernunftwesens) von sich selbst ohne äußeren Anstoß in Wechselwirkung treten könnten, denn von welcher aus der |A B 120|Anfang gemacht werden sollte, diese müßte, wider unsere Voraussetzung, in ihrer Ruhe schon als tätig einwirkend auf die übrigen gedacht werden. Sollen sie also denn doch aus ihrer Ruhe in wechselseitige Tätigkeit übergehen, so kann der Grund davon nur einem äußern Antriebe beigelegt werden«
(Sauer)
.
[081:311] Wie also kann man sich vorstellen, daß die im Kinde gleichsam schlummernden Kräfte des Vernunftwesens in Tätigkeit kommen? Wie kann man sich vorstellen, daß aus der bloßen Bildsamkeit, dem Vernunftwesen als Möglichkeit also, ein wirklicher Bildungsprozeß wird? Und läßt sich eine Antwort finden, die notwendig ist und nicht nur zwar plausible, aber vielleicht zufällige empirische Beobachtungen beibringt? Eine solche, nur auf Beispiele gestützte Antwort könnte nicht befriedigen. Würden wir uns nämlich mit derartigen Antworten zufrieden geben, dann würden wir ja die Prinzipien unseres pädagogischen Handelns situativ den jeweiligen Umständen anpassen; d. h., von
»Prinzipien«
des Handelns könnte keine Rede mehr sein, eher von vermuteten oder situativ erfundenen Zweckmäßigkeiten, die sich dann jedoch nicht mehr am Menschen als Vernunftwesen orientierten, sondern an dem, was man gerade kurzfristig für wünschenswert hält oder billigend in Kauf nimmt. Eine solche Einstellung nennen wir nach herrschendem Sprachgebrauch
»opportunistisch«
.
[081:312] Der springende Punkt ist also die Frage, wie die
»Vernunft«
des Kindes in Tätigkeit versetzt werden kann. Da nicht erkennbar ist, wie das mögliche Vernunftwesen aus sich selbst heraus zu dieser Tätigkeit kommen könnte, bedarf es eines Antriebs von außen. Also beispielsweise die Sinnesempfindungen? Diese Antwort führt, nach allem Vorhergehenden, in eine Sackgasse: Wie beispielsweise könnte man sich verständlich machen, daß das Hantieren des Kindes mit Bauklötzen zu einer Idee regelgeleiteter Operationen führt? Die Sinnesempfindung, auch die durch die Motorik des Kindes bewirkte Selbststimulation (die wir ja auch bei Tieren beobachten können), wie erreicht sie die
»schlummernden«
Vernunftkräfte? Denn alle Sinneseindrücke können doch immer nur die erste Art der Tätigkeit erreichen und erregen.
|A B 121|
[081:313] Wie also muß dieser äußere Antrieb gedacht werden, damit er nicht nur das gleichsam naive Tätigsein erreicht, sondern das
»mögliche«
Vernunftwesen derart in Tätigkeit versetzt, daß es anfängt, sich reflexiv auf die Tätigkeiten der ersten Art zu beziehen? Der Antrieb oder Anstoß muß also so beschaffen sein, daß er nicht nur das äußere Tätigsein betrifft, sondern die innere Tätigkeit, und daß eine Beziehung zwischen beiden hergestellt werden kann. Die Antwort der Fichteaner war, im Grundsatz, nicht sehr verschieden von der Antwort, die die Erziehungsforschung auch heute gibt – heute freilich detaillierter und durch einige wichtige Zusatzbedingungen angereichert nämlich:
[081:314]
»Das unbestimmte Vernunftwesen kann mit sich selbst in keinen bestimmten Wechsel treten, wenn es nicht durch ein anderes, bestimmtes Vernunftwesen dazu ausdrücklich bestimmt wird«
(Sauer)
. Oder etwas ausführlicher:
»Das Resultat des Gesagten ist also der Satz, daß die ganze Erziehung lediglich darin besteht, daß das Wesen, welches erzogen werden soll, durch äußere Gegenstände zum freien Handeln aufgefordert und dadurch seine Selbsttätigkeit angeregt werde. ... Es muß dieser Zweck, mithin der Begriff des freien Handelns, und die Möglichkeit, daß das Vernunftwesen, auf welches gewirkt wird, diese Absicht erkenne, der äußeren Einwirkung zugrunde liegen, mithin muß diese Einwirkung von einem Wesen herrühren, das selbst Begriffe vom freien Handeln hat, d. h. die Aufforderung des endlichen Vernunftwesens zur Freiheit muß von einem außer demselben befindlichen anderen Vernunftwesen herkommen. Daher können nur Menschen erziehen, weil diese allein der Begriffe von Freiheit und Vernunft fähig sind«
(Johannsen, zit. nach Benner 1978, S. 94)
.
[081:315] Genau das hatte Kleist angedeutet. Aber er fügte diesem Gedanken noch eine nicht unwichtige Interpretation hinzu: es bedürfe nämlich für jene Aufforderung zur Selbsttätigkeit keiner besonders geschäftigen Selbstdarstellung, keiner zielgerichteten, auf eine bestimmte Wirkung bedachten Tätigkeit des Anderen, sondern nur einer gewissen gespannten Aufmerksamkeit für die Differenz zwischen dem Möglichen und dem Wirklichen. Die erste Tugend des Pädagogen wäre |A B 122|demnach Aufmerksamkeit, Zuhören-Können, geduldiges Beobachten.

Rechnen

[081:316] Ein Mathematiklehrer (B. M.) unterrichtet in einer Art Privatstunde einen achtjährigen Jungen (Didier). Dabei spielt sich die folgende Szene ab:
[081:317]
»B. M.: Wieviel Finger hast du?
Didier: Warte mal. Hmm, einen, zwei, drei, vier. Vier.
– Und ich?
– (er zählt) Fünf.
– Haben alle Leute gleich viel Finger?
– Ja.
– Und Rémy, wieviel Finger hat der ?
– Fünf.
– Und du, Didier?
– Das hab’ ich dir doch schon gesagt.
– Wieviel denn?
– O je, o je, vier.
– Aber ich, ich habe fünf?
– Ja, also ich habe doch immer weniger.«
[081:318] Später kommentiert der Lehrer:
[081:319]
»In der Zwischenzeit hat Didier gewisse Fortschritte gemacht. Er hat sogar ganz gewisse Fortschritte gemacht. Er ist nicht mehr derselbe wie im September. Er ist viel weniger zerstreut und keineswegs (aber wirklich keineswegs) mehr das artige Kind. Er ist schelmisch geworden, lebhaft und weiß sich zu wehren. Wenn er auch immer noch weniger hat, will er jetzt doch mehr«
(Mannoni 1978, S. 90 f.)
.
[081:320] Was geschieht hier? Der Ort der Handlung ist Bonneuil, eine kinder- und jugendpsychiatrische Einrichtung in der Nähe von Paris, in der seelisch schwer geschädigten Kindern und Jugendlichen pädagogisch und therapeutisch geholfen wird. Die Einrichtung ist keine stationäre Klinik, sondern
»offen«
: Die Kinder wohnen teils in der Einrichtung, teils in Pflegefamilien, nach eigenem Belieben; es werden Einzeltherapien, Gruppengespräche, Unterrichtsstunden usw. angeboten; |A B 123|niemand wird zur Teilnahme gezwungen; wer arbeiten will, dem wird eine Möglichkeit dazu vermittelt, meist bei Freunden der Einrichtung. Hier also lebt auch der achtjährige Didier. Er hat einen starken Entwicklungsrückstand und wirkt schwachsinnig; das wird von dem Lehrer, der die Szene notierte, allerdings anders ausgedrückt:
»Er spielt perfekt den
Debilen
«
(a. a. O., S. 86)
. Er
»ist«
also nicht schwachsinnig; vielmehr folgt er in seinem Verhalten einer (ihm nicht bewußten) Regel, die ihn als schwachsinnig erscheinen läßt.
»Schwachsinn«
ist für ihn selbst die Legitimation seines Verhaltens und für die anderen ein Etikett, das seine Merkwürdigkeiten (scheinbar) verstehbar macht. Ein anderer Junge dieser Einrichtung hatte einmal dieses Problem auf eine einfache Formel gebracht, einen Test zur Unterscheidung eines
»echten«
von einem
»gespielten«
Schwachsinnigen:
»Man stellt eine Frage: Wieviel ist 10 mal 10? Der natürliche Idiot weiß es nicht. Der den Idioten spielt, gibt absichtlich eine falsche Antwort, weil er fürchtet, eine tödliche Antwort zu geben«
(ebd.)
. Das verrät eine gute Kenntnis der
»Innenansicht«
von Pseudo-Debilität, allerdings nicht ganz zutreffend, denn was soll hier
»absichtlich«
heißen?
[081:321] Didier beispielsweise, auf die Aufforderung hin, einen kleinen, einen mittleren und einen großen Stock zu zeichnen, gibt dem Lehrer das Blatt mit folgenden drei Strichen zurück:
Hier ist eine Grafik mit drei unterschiedlich langen vertikalen Strichen zu sehen.
[081:322] Der Lehrer fragt skeptisch nach, und der Junge erklärt, der mittlere sei der größte. Beherrscht er die Reihenbildung nicht? Der Lehrer kommentiert:
»Didier ist der älteste unter den Geschwistern. Er hat zwei Brüder, und der mittlere Bruder ist genauso groß wie Didier ... Didier reproduziert also haargenau eine Familiensituation, die ihn beängstigt und von der er sich nicht abstrahieren kann«
(a. a. O., S. 87)
.
[081:323] Diese Informationen erklären zwar noch nicht zureichend den von Didier gespielten Schwachsinn, sie erleichtern aber die Interpretation der zitierten Szene. Was also geschieht |A B 124|dort? Der Lehrer diagnostiziert das Lernproblem Didiers offenbar (nicht explizit; aber man erkennt es aus seinen Beispielen) als eine Paradoxie, die durch zwei unvereinbare Anforderungen entsteht: was kognitiv richtig ist, ist affektiv falsch; was affektiv richtig ist, ist kognitiv falsch.
[081:324] Man könnte, angesichts einer solchen Blockierung der Vernunfttätigkeit des Kindes, die beiden Komponenten trennen: zunächst das Zählen üben, und zwar an unverfänglichen Beispielen, und, etwa parallel dazu, in therapeutischen Gesprächen und Übungen, die affektive Situation aufklären (für das eine wäre der Pädagoge, für das andere der Psychotherapeut zuständig). Der Lehrer in jener Szene trifft eine andere Wahl; er trennt die Komponenten nicht, sondern nötigt das Kind geradezu in das Dilemma hinein. Ihm wird keine Möglichkeit gelassen,
»den Idioten zu spielen«
, denn daß es bis fünf zählen kann, hat es ja bereits zugegeben; ihm bleibt deshalb nur noch die Wahl, die Interaktion abzubrechen oder sich mit seiner affektiven Blockade auseinanderzusetzen. Das Kind
»akzeptieren«
– davon war schon einmal die Rede – heißt hier also nicht, es in seinem gegenwärtigen Status gelten zu lassen, sondern es darüber hinauszudrängen dadurch, daß es zur Lösung eines schwierigen Problems genötigt wird: Aufforderung zur Selbsttätigkeit. Das geschieht freilich nicht in einer einzigen Situation, sondern in einer Serie von Situationen, die immer diese gleiche Struktur haben.
[081:325] Das zugrunde liegende Problem bezeichnet der Lehrer so: Diese Kinder abstrahieren sich nicht vom Konkreten; eben dies blockiert ihre Tätigkeit. Die pädagogische Aufgabe besteht demnach darin, diese Abstraktion zu ermöglichen; das soll dadurch geschehen, daß die Selbsttätigkeit des Kindes
»als Vernunftwesen«
(Fichte) herausgefordert wird; dies wiederum bedeutet, daß es, in den zitierten Beispielen, sich von den beiden Komponenten (Kognition und Affektion) distanzieren kann, eine
»operative«
Einstellung gewinnt. Das ist nun aber eine Beschreibung des vorliegenden pädagogischen Problems, das der Auffassung Piagets nicht nur ähnelt, sondern ihr gleich ist.
[081:326] Bei Piaget taucht das Wort
»Selbsttätigkeit«
als theoretischer Terminus nicht auf. Er spricht statt dessen von
»Mobilität«
. |A B 125|Ich will erläutern, inwiefern
»Steigerung der Mobilität«
die lerntheoretische Version dessen ist, was bei den Fichteanern
»Aufforderung zur Selbsttätigkeit«
hieß. Die Problemstellung wird in folgender Experimentalanordnung deutlich:
[081:327]
»Zwei Dimensionen (Farbe und Form) mit je drei Werten (Rot, Gelb, Grün; Viereck, Dreieck, Kreuz) sind in einer Matrix so multipliziert, daß die nebeneinanderliegenden Zellen (die Zellen einer Zeile) alle die gleiche Farbe und die untereinanderliegenden Zellen (die Zellen einer Spalte) alle die gleiche Form haben. Man kann das Verständnis für diese logische Multiplikation zweier Dimensionen dadurch prüfen, daß man eine Zelle der Matrix abdeckt und die Matrix ergänzen läßt. Die richtige Lösung besteht darin, daß man die Form der Spalte und die Farbe der Reihe bestimmt und die bestimmten Werte kombiniert. Der typische Fehler des voroperatorischen Niveaus besteht darin, daß nur auf eine Dimension geachtet wird, also nur auf die Form oder nur auf die Farbe. Ein Pb kann nun leicht in einen Zustand mangelnden Gleichgewichtes geraten, wenn er nämlich auf die zunächst vernachlässigte Dimension achtet. Er wird in diesem Falle seine erste Ergänzung (sein erstes Urteil) als falsch ansehen und revidieren. Erst wenn beide Dimensionen gleichzeitig beachtet und logisch multipliziert werden, kann eine Vervollständigung der Matrix stabil bleiben. Das Urteil erfährt dann keine Veränderung mehr durch plötzliches Beachten der vorher vernachlässigten Dimension, und wir können sagen, daß nun ein höherer Grad des Gleichgewichts erreicht ist«
(Montada 1970, S. 165)
.
[081:328] Man kann sich – wie übrigens sehr viele Experimente Piagets und seiner
»Schule«
zeigen – diesen Versuch sowohl als Test wie auch als pädagogische Übungsaufgabe vorstellen. Als Übungsaufgabe wurde diese Versuchsanordnung beispielsweise folgendermaßen verwendet: Ein Kind, das über die Fähigkeiten der operativen Intelligenz nocht nicht verfügt, wird aufgefordert, in raschem Wechsel mal das fehlende Element in der Senkrechten, mal in der Waagerechten zu bestimmen. Dabei lernt es, beide Dimensionen zu koordinieren, also rasch zwischen beiden hin- und herzuwechseln; es steigert also seine kognitive
»Mobilität«
.
Im Prinzip wurde von Didier das gleiche verlangt: er wird mit einem Problem |A B 126|konfrontiert, über dessen Lösungswege er noch nicht verfügt; diese Lösungen werden ihm nicht
»gesagt«
, es finden keine Belehrungen statt. Vielmehr wird der kindliche Geist streng auf den Punkt hingeführt, an dem er selbst die Lösung finden kann. Die Lösung selbst ist dann nichts, was dem Kind äußerlich wäre, sondern sie repräsentiert eine neu erworbene Kompetenz, eine neue operative Fähigkeit des Kindes; diese Fähigkeit hat es nicht wie etwas auswendig Gelerntes, sondern sie ist ihm
»eigen«
. Das ist es, was die Fichteaner
»aneignen«
nennen, zu einer solchen Aneignung oder Kompetenz kann es aber nur kommen, wenn der kindliche Geist selbst produktiv tätig wird. Auch das hatten die Fichteaner formelhaft ausgedrückt, als sie sagten,
»seine Bildung verdankt es (das Vernunftwesen) schlechthin sich selbst«
(Sauer)
, oder
»der Mensch wird nur durch sich selbst ein Mensch«
(Johannsen)
. Aber freilich bedarf es dazu der
»Aufforderung«
. Die Beispiele erläutern, daß
»Aufforderung«
zur Selbsttätigkeit nicht einfach ein verbaler Appell ist (
»nun los!«
,
»Sagt selbst, was ihr machen wollt!«
,
»Formuliere deine Interessen!«
u. ä.). Diese
»Aufforderung«
ist, genau besehen, eine ziemlich komplexe Handlung des Erziehers oder sogar eine komplexe Serie von Handlungen in immer anderen Situationen.

Malen

[081:329] Indessen blieb doch bisher (mindestens) eine mögliche Frage unbeantwortet, die einen Einwand geltend machen könnte: Sind die beiden Situationen – Didier in Bonneuil und die Kinder im Piagetschen Experiment – überhaupt vergleichbar? Wird Didiers Problem nicht rationalistisch verkürzt, wenn man es mit Piaget interpretiert? Immerhin sind doch die beiden
»Dimensionen«
, die er koordinieren muß, nicht nur Dimensionen eines einzelnen Objektes (so wie ein Gegenstand Gewicht und Größe hat), sondern betreffen anscheinend verschiedenartige Objektbereiche: die Zählbarkeit von Gegenständen und die soziale Lokalisierung im Verwandtschaftssystem. Immerhin: der Lehrer unterstellt Gleichheit; das zeigt seine Strategie. Zwar ist es eine Gleichheit nur im |A B 127|Hinblick auf die
»Aufforderung zur Selbsttätigkeit«
. Aber es bedürfte doch einer Prüfung der Frage, ob denn die Selbstlokalisierung im Verwandtschaftssystem, ihrer affektiven Bedeutung wegen, für die Selbsttätigkeit nicht andersartige Probleme aufwirft. Ich kann diese Frage hier nicht beantworten. Aber das folgende Beispiel deutet vielleicht eine Richtung an:
[081:330] In Bonneuil wird auch gemalt. Das Malen gilt dort nicht als Freizeitbeschäftigung oder als projektive Abreaktion von Gefühlsstau oder als geheimer Test für die Entwicklungsfortschritte der Kinder, sondern als im strengen Sinne ästhetisch-produktive Tätigkeit. In Anlehnung an eine Forderung des Malers Matisse (
»Wer sich der Malerei verschreiben will, soll damit anfangen, sich die Zunge abzubeißen«
), wird während der Malstunden nicht oder kaum gesprochen. Was Besucher dieser Malstunden
»am meisten überrascht, ist die Stille«
. Einige Kinder oder Jugendliche durchbrechen gelegentlich die Stille durch Reden:
[081:331]
»Edmond beispielsweise (ein 16jähriger Jugendlicher), der sich offenkundig durch das, was dort ablief, äußerst beängstigt fühlte, hat ganze Sitzungen damit zugebracht, die Stille mit Worten zu füllen. Er erzählte einfach irgend etwas, und zwar pausenlos und so laut es ging. Gleichzeitig bestand seine Malerei aus kleinen Flecken, die sorgfältig geordnet, alle gleich, in einer geraden Reihe standen. [081:332] Eines Tages haben wir ihn vorsichtig darauf angesprochen, daß die Malerei ihm sicher etwas Angst mache, sonst würde er nicht dauernd so viel reden. Seine Reaktion darauf war heftig:
Warum sagst du mir das?
[081:333] Aber in der darauffolgenden Woche schwieg er und seine Malerei hatte sich verändert. Der geschlossene Raum, in dem er vorher gemalt hatte, schien gesprengt. Die Flecken unterschieden sich voneinander und die gerade Reihe war durchbrochen. [081:334] Und wenn heute ein neu hinzugekommener Jugendlicher tut, was er selbst am Anfang getan hatte, spricht Edmond den Erwachsenen darauf an: ›Sag mal, der hat doch noch gar nichts verstanden; kannst du es ihm denn nicht sagen, daß man hier die ganzen kleinen Geschichten vor der Tür läßt?–«
(Mannoni, S. 109)
.
|A B 128|
[081:335] Diesen knappen Praxis-Bericht kann man vom Ende her interpretieren. Edmond hat die Regel akzeptiert; er hat erfahren, daß sie für ihn wichtig ist; seine Malerei ist bewegter geworden. Die Fähigkeit, die er sich angeeignet hat, hat hier den Vorteil, daß sie sich in einem Produkt objektiviert. Er kann seine Fähigkeit gleichsam sinnlich anschauen. Die Situation erlebt er als durchaus ernst und nicht als Spielerei. Schiller hätte hier vielleicht gesagt, was er für die Wirkung ästhetischer Gegenstände und Tätigkeiten überhaupt behauptete:
»Eine gewisse Feierlickeit bemächtigt sich unseres Gemüts und spannt es an.«
[081:336] Aber wie kommt es zu diesem Resultat? Der Weg ist ja durchaus anders als in den zuvor zitierten Fällen. Zwei Merkmale der pädagogischen Strategie scheinen mir wichtig:
  1. 1.
    [081:337] Die Pädagogen in diesem Fall gehen offenbar davon aus, daß Malen und Reden, jedes für sich, Tätigkeiten sind, die man ernst nehmen muß. Nimmt man sie aber ernst, dann sind sie, in ein und derselben Situation, unvereinbar. Daraus folgen Regeln als Möglichkeitsbedingung für ernsthaft-produktive Tätigkeit. Diese Regeln werden nun nicht autoritär, durch äußeren Zwang durchgesetzt, sondern autoritativ, d. h. durch das Demonstrieren ihrer Wahrheit. Der Junge zögert zunächst, weil er die Wahrheit der Regel noch nicht kennt. Also muß er dem Erwachsenen glauben. Er kann ihm aber nur glauben, wenn er schon Erfahrungen mit dem Erwachsenen hat, derart, daß er sicher ist, sich darauf verlassen zu dürfen, daß der Erwachsene die Regel nicht aus Laune oder Bequemlichkeit oder bloßer Konvention vorschlägt, sondern aus Einsicht. Der Erwachsene würde seine Autorität selbst zerstören, wenn er die Wahrheit der Regel etwa zur Disposition stellen würde. Es wäre in diesem Fall völlig sinnlos, mit Edmond darüber zu diskutieren, ob die Regel
    »beim Malen soll nicht gesprochen werden«
    gelten solle oder nicht und welche Gründe für das eine oder das andere vorgebracht werden könnten. Aber es muß dem Kind auch erleichtert werden, die Regel zu akzeptieren. Dazu gehört in diesem Fall: daß die Erwachsenen ebenso ernsthaft sich dem Malen zuwenden wie die Kinder, daß der Raum nach Größe und innerer Gliederung gemeinschaftliche Konzentration erlaubt, und daß die Zeit deutlich begrenzt ist (45 Minuten), |A B 129|einen klaren Anfang und ein klares Ende hat. Die
    »Aufforderung zur Selbsttätigkeit«
    erfolgt hier also offensichtlich nicht so, daß der Erwachsene in einer Interaktion mit dem Kind ein kognitives Dilemma zu bearbeiten versucht, sondern so, daß eine Haltung vorgeschlagen wird, die Selbsttätigkeit möglich macht.
  2. 2.
    [081:338] Mit dieser
    »Haltung«
    hat es das zweite Merkmal der pädagogischen Strategie dieses Falles zu tun. Die Erzieher beobachteten, daß sich Edmond durch die Malsituation, besonders durch die Stille,
    »äußerst beängstigt fühlte«
    . Sie interpretierten sein fortwährendes Reden als Versuch, die Ängstlichkeit oder Irritation niedrig zu halten. Die Energie, die er auf das Reden verwendete, ging seiner Malerei verloren. Mehr noch: die Ängstlichkeit wiederholte sich in seinen Bildern
    »aus kleinen Flecken, die sorgfältig geordnet, alle gleich, in einer geraden Reihe standen«
    . Seine emotionelle Verwirrung beherrschte ihn. Man kann auch sagen: sein
    »Selbst«
    konnte nicht zur Tätigkeit kommen. Hier nun handelt der Erzieher ähnlich wie in Didiers Fall: er macht den Jungen auf den vermuteten Grund der Blockade aufmerksam. Der Junge reagiert heftig:
    »Warum sagst du mir das?«
    Aber die Heftigkeit zeigt, daß er offenbar auf sich aufmerksam gemacht wurde, mit dem prognostischen Versprechen: wenn du nicht mehr redest und dich ganz auf dein Bild konzentrierst, wirst du – wenigstens in dieser Situation – deine Angst los. Daß Edmond das annimmt, liegt allerdings wiederum an der Unbeirrbarkeit, mit der der Erwachsene die Wahrheit seiner Regel vertritt. Und so wird denn das Bild ein Werk der Selbsttätigkeit, Dokument der Auseinandersetzung Edmonds mit sich und nicht nur flüchtige Expression.

Gehen

[081:339] Der
»aufrechte Gang«
ist eine beliebte aufklärerische Metapher. Sie hat zudem einen bildungstheoretischen Sinn, der spontan plausibel ist: neben dem Sprechen-Lernen ist das Stehen- und Gehen-Können des Kleinkindes Stolz der Eltern. Dieser Stolz hat ein anthropologisches Motiv: sofern das Kind sich aufrichtet, seinen Blick in die Horizontale als |A B 130|Normalform bringt, ist es ein anderes als vordem, ist es im Prinzip und sinnlich-anschaulich unseresgleichen; nun beginnt es auch zu reden. Die große Faszination, die Kinder, die gerade eben erst laufen können, für Erwachsene haben, beruht auf dem Eindruck dieses Gerade-schon-aber-noch-nicht-ganz-Könnens, den uns ihr Anblick macht – eine Differenz-Erfahrung, die der nur
»divinatorisch«
verstehbaren Erfahrung des Kindes entspricht: es kann nun fortgehen oder bleiben; es kann jenes von Freud interpretierte Spiel mit der Balance zwischen Nähe und Ferne erweitern, und zwar qualitativ: nun kann es seinen eigenen Standpunkt signifikant ändern (Freud deutete das Spiel des Kleinkindes mit einer Garnrolle, die es fortwarf und am Faden wieder heranholte, als kindliche Symbolisierung des Wechsels von Ferne und Nähe des geliebten Erwachsenen), es kann sich selbst hinzu- oder hinwegbegeben; es kann Horizonte ausmachen, sie durch eigene Fortbewegung verändern; es kann in Verborgenes Vordringen, Dinge von verschiedenen Seiten sehen, sich neues Gelände erschließen.
[081:340] Eine solche Beschreibung ist abstrakt.
»Gehen«
bedeutet pädagogisch nicht immer dasselbe, wenngleich das historisch Verschiedene seine Möglichkeitsbedingung in jenem allgemeinen anthropologischen Sachverhalt hat: wenn das Kind sich aufrichten kann, sich den aufrechten Gang aneignet, dann gewinnt es damit eine empirische Dimension möglicher Selbsttätigkeit; wie diese sich konkret gestaltet, hängt an den historischen Bedingungen. Schwer zu interpretieren ist beispielsweise der Holzschnitt aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts, den Abbildung 17 zeigt. Es scheint so, als würde hier dem Vorgang des Sich-Aufrichtens und Gehen-Lernens größte Aufmerksamkeit gewidmet. Die Geste der Mutter könnte gedeutet werden als liebevolle Unterstützung der Selbsttätigkeit des Kindes, als Aufforderung, seine Kräfte zu erproben und ihnen etwas zuzutrauen. Aber das Bild ist ambivalent, es signalisiert auch Mißtrauen, Ungeduld, Kontrolle: das Bild läßt sich als Information über wünschenswerte Apparate zur Dressur des Kindes lesen. Indessen: daß Kinder auch ohne derartiges Gestell sich aufrichten und das Laufen lernen, war den Zeitgenossen gewiß nicht verborgen geblieben. Worüber also informiert das Bild? Offenbar über |A B 131|
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung eines Ausschnittes aus dem Holzschnitt »Der Tod und die Lebensalter« von Hans Schäufelein aus dem Jahr 1517 zu sehen.
Abb. 17: Mutter lehrt ihr Kind das Laufen, Holzschnitt ca. 1520
die effektivste, die rascheste Methode. Ein gleichsam mechanisches Verständnis des Bildungsprozesses bahnt sich da an (mehr dazu an späterer Stelle). Laufen-Können kündigt Selbsttätigkeit an, die eine wesentliche Voraussetzung für die gesellschaftliche Brauchbarkeit des Kindes ist; die pädagogische Aufmerksamkeit konzentriert sich auf die Prozeduren ihrer Herstellung, die Aufforderung zur Selbsttätigkeit wird auf ein technisches Machen reduziert. Der Gestus des Bildes müßte anders sein, wenn er jene Haltung des Aufmerksam-Machens auf ein zu lösendes Problem ausdrücken wollte, die sich im Rechenunterricht in Bonneuil zeigte. Der Lehrer Didiers zeigte gleichsam nach vorn; die Mutter hier hält zurück, ermuntert und bremst, unterstützt und kontrolliert zugleich.
[081:341] Aber vielleicht ist
»Gehen«
ein ungeeignetes Beispiel, Selbsttätigkeit zu erläutern – es sei denn, man könnte plausibel machen, daß das Kind dabei ein geistiges Problem zu bewältigen hat, dessen Lösungswege es sich als Vernunftwesen aneignen kann. Ich denke, das läßt sich zeigen oder doch wenigstens andeuten. Dazu muß man sich vorstellen, welche kognitiven Probleme, welche Koordinierungsleistungen fäl|A B 132|lig sind, wenn das Kind sich (!) aufrichtet und zu gehen beginnt: Das gesehene Bild kippt nun in die Senkrechte als Normalform; Distanzen und Perspektiven müssen dauerhaft in ein Verhältnis gesetzt werden; der nun leichter mögliche Wechsel des Standortes verlangt eine Koordinierung der Perspektiven; der subjektive Raum kann im Hinblick auf den physikalischen, der physikalische im Hinblick auf den subjektiven relativiert werden; oben und unten, vorn und hinten, links und rechts verlangen jetzt, wo die adverbialen Bestimmungen variabel und teils (rechts/links) austauschbar werden, eine Orientierung am handelnden (gehenden) Ich und zugleich am (stehenbleibenden) Raum; Hinweg- und Hinzubewegungen sind nun derart leicht auszuführen, daß das Kind nicht mehr auf nur symbolische Handlungen angewiesen ist, sondern an der Herstellung der Balance zwischen Nähe und Ferne aktiv sich beteiligen kann – eine neue Quelle elterlicher Ängstlichkeit.
[081:342] Kein Zweifel: auch ohne eine entwicklungstheoretische Phänomenologie des Gehens zu referieren, ist einleuchtend, daß die die Selbsttätigkeit des Kindes herausfordernden Aufgaben hier strukturgleich denen sind, die sich beim Reden, Rechnen und Malen zeigten. Aber ist das auch noch der Fall dort, wo, im jugendlichen Alter, ein Mensch große Teile seiner psychischen Energie auf das Fortgehen, auf die Entfernung von seiner primären Lebenswelt und Tradition richtet? Thomas Bernhard schreibt, in Erinnerung an sein Jugendalter:
[081:343]
»Viele Jahre hattte ich an jedem Morgen aufwachend gedacht, daß ich den von meinen Erziehern als Verwaltern mir aufgezwungenen Weg abzubrechen hätte, aber ich hatte nicht die Kraft dazu, so viele Jahre mußte ich diesen Weg widerwillig und unter der größten Kopf- und Nervenanspannung gehen, bis ich urplötzlich die Kraft gehabt habe, den Weg abzubrechen, zu einer hundertprozentigen Kehrtwendung, an welche ich selbst am wenigsten geglaubt hatte, aber eine solche Kehrtwendung ist nur auf dem absoluten Höhepunkt der Gefühls- und Geistesanstrengung möglich ... Wir haben in einem solchen lebensrettenden Augenblick einfach gegen alles zu sein oder nicht mehr zu sein, und ich hatte die Kraft gehabt, gegen alles zu sein, und bin gegen alles auf das Arbeitsamt in der Gaswerkgasse gegangen ... Zu deutlich war mir die |A B 133|Konsequenz meiner eigenen Kraftlosigkeit an diesem Morgen gewesen, als daß ich wieder einmal nachgeben hätte können: ich wollte mich nicht vom Mönchsberg stürzen, ich wollte leben, und so hatte ich an diesem Morgen kehrtgemacht und war in Richtung Mülln und Lehen um mein Leben gelaufen, immer schneller und schneller, alles zurücklassend, was mir zur tödlichen Gewohnheit geworden war in den letzten Jahren, tatsächlich und endgültig alles, und ich flüchtete tatsächlich in Todesangst in das Arbeitsamt, ich bin nicht hineingegangen in das Arbeitsamt, wie die meisten hineingehen, ich bin in Todesangst hineingeflohen, innerhalb weniger Minuten alles in mir und gegen alles auf den Kopf stellend durch die Müllner und durch die Lehener Straßen gelaufen und in das Arbeitsamt in Todesangst. Ich sagte mir jetzt oder nie, daß es im Augenblick sein mußte, war mir klar ... Ich wußte, warum ich die Beamtin im Arbeitsamt Dutzende von Karteikarten aus dem Karteikasten heraus nehmen hatte lassen, ich wollte in die entgegengesetzte Richtung, diesen Begriff in die entgegengesetzte Richtung hatte ich mir auf dem Weg in das Arbeitsamt immer wieder vorgesagt, immer wieder in die entgegengesetzte Richtung, die Beamtin verstand nicht, wenn ich sagte, in die entgegengesetzte Richtung, denn ich hatte ihr einmal gesagt, ich will in die entgegengesetzte Richtung, sie betrachtete mich wahrscheinlich als verrückt, denn ich hatte tatsächlich mehrere Male zu ihr in die entgegengesetzte Richtung gesagt, wie, dachte ich, kann sie mich auch verstehen, wo sie doch überhaupt nichts und nicht das geringste von mir weiß. Sie hatte mir, schon ganz verzweifelt über mich und über ihren Karteikasten, eine Reihe von Lehrstellen angeboten, aber diese Lehrstellen waren alle nicht in der entgegengesetzten Richtung gewesen, und ich mußte ihre Lehrstellenangebote ablehnen, ich wollte nicht nur in eine andere Richtung, ich wollte in die entgegengesetzte Richtung, ein Kompromiß war unmöglich geworden ... sie verstand ganz einfach nicht, daß mich nicht die allerbeste Adresse interessierte, sondern nur die entgegengesetzte, sie, die Beamtin, hatte mich ganz einfach gut unterbringen wollen, aber ich wollte ja gar nicht gut untergebracht sein, im Gegenteil, ich wollte in die entgegengesetzte Richtung, immer wieder hatte ich vorgebracht, in die entgegengesetzte Richtung ... bis die Adresse des Karl Podlaha in der Scherzhauserfeldsiedlung an der Reihe gewesen war ... Diese Adresse käme für mich |A B 134|aber wahrscheinlich überhaupt nicht in Frage, sagte die Beamtin, ohne den Satz, die Adresse kommt für dich nicht in Frage, auch wirklich auszusprechen, alles an ihr und in ihr behauptete das, aber genau diese Adresse war die Adresse gewesen, die für mich in Frage gekommen war, denn die Adresse des Podlaha war die Adresse genau in der entgegengesetzten Richtung«
(Thomas Bernhard: Der Keller, Salzburg 1976)
.
[081:344] Dies ist ein für Pädagogen außerordentlich interessanter Text. Was wir sonst, im Kontakt mit Jugendlichen, als Andeutung und Wiederholung in vielerlei Kontexten, oft über Jahre sich hinziehend, erfahren, was in Interviews und anderen Selbstzeugnissen Jugendlicher in einem breiten Spektrum von Metaphern, in konventionalisiertem Vokabular und durch die syntaktischen Fügungen und Brechungen alltäglicher Rede oft nur sich andeutend zum Ausdruck kommt, was Jugendliche oft eher nur in Haltungen und Gesten, gelegentlich auch in den Metaphern der Graffiti an unseren Mauern zu erkennen geben – das ist hier in die knappe, eindeutige und immer wiederholte Wendung
»in die entgegengesetzte Richtung«
verdichtet. Was sonst zumeist über Jahre sich hinzieht, ist hier auf einen Punkt, in eine Entscheidungssituation zusammengezogen: der (vermeintlich)
»richtige Weg«
steht gegen den falschen, der
»lebensrettende Augenblick«
gegen das
»Lernmaschinenopfer«
, die
»Kraftlosigkeit«
gegen
»ich wollte leben«
, die
»Adresse in der entgegengesetzten Richtung«
gegen die
»beste Adresse«
usw.
»Gehen«
ist hier nur
»fortgehen«
, nahezu eine Negation; was im Rücken liegt, schrumpft zum Nichts, vorn liegt Alles:
»Wir haben in einem solchen lebensrettenden Augenblick einfach gegen alles zu sein oder nicht mehr zu sein, und ich habe die Kraft gehabt, gegen alles zu sein«
.
[081:345] Diese Attitüde eines Jugendlichen, auch wenn heute wohl der Gang zum Arbeitsamt weniger erfolgversprechend ist, tönt
»emanzipatorisch«
– aber ist sie es? Auf den ersten Blick scheint sich dieser Text in die Reihe larmoyant-wütender Abrechnungen mit Kindheit und Erziehung einzuordnen, die wir in vielen zeitgenössischen Autobiographien und deren romanhaften Verkleidungen finden. Da heißt es beispiels|A B 135|weise – und das
»Lernmaschinenopfer«
Thomas Bernhard scheint dazu zu passen:
[081:346]
»Zu einer mir nützlichen Ehrlichkeit seid ihr (die Eltern) nicht qualifiziert gewesen. Ihr habt nicht genug über euch selbst gewußt. Ich kannte meine Motive und Wünsche. Ihr eure nicht. Ihr konntet euch selbst belügen. Ich nur Euch«
(E. A. Rauter, Brief an meine Erzieher, 1979, S. 29)
.
[081:347]
»Der Erziehungsterror in jeder Küche Europas zwingt Menschen, ihre Fähigkeiten mit ins Grab zu nehmen«
(ebd., S. 27)
.
[081:348]
»Im Grunde verlasse ich meine kalte Kindheit, die kalten Eltern meiner Kindheit ... Ein Gefühl des Hasses, der Wut überschwemmt mich bei dem Gedanken, daß sie mir immer irgend etwas nicht geben wollten«
(K. Struck, Kindheits-Ende, 1982, S. 299)
.
[081:349]
»Ich bin dabei, meine Kindheit zu ermorden. Ich werde das Kind, das ich war, umbringen, damit einmal, wenn auch erst auf dem Totenbett, meine Kinderseele zur Ruhe kommt ... Während meiner Kindheit ist mein Leib nie, meine Seele tausendmal und öfter gestorben. Jetzt fühle ich mich als einer, der auszieht, um das Kind, das ich war, zu ermorden«
(J. Winkler, Menschenkind, 1981, S. 148 f.)
.
[081:350]
Erinnerungen
»werfen mich zurück ins Kellerloch meiner Kindheit, wo an die schwere Eichentür kleine Kinderhändchen patschten und der Kindermund flehende Worte formte«
(ebd., S. 182)
.
[081:351] Thomas Bernhard hat Zweifel an derartig rascher Abrechnung:
[081:352]
»Auf dem Baumstumpf sitzend, frage ich mich nach meiner Herkunft und ob es mich überhaupt zu interessieren hat, woraus ich entstanden bin, ob ich die Aufdeckung wage oder nicht, die Unverfrorenheit habe oder nicht, mich zu erforschen von Grund auf. Ich hatte es nie getan, es war mir immer verwehrt gewesen, ich selbst hatte mich geweigert, Schicht um Schicht abzubauen, dahinterzukommen, ich fühlte mich nie dazu imstande, zu schwach, zugleich unfähig, und was hatte ich in der Hand und im Kopf für die Expedition, außer |A B 136|Verschwommenes, Verwischtes, unmutig Angedeutetes?«
(Th. Bernhard, Die Kälte, 1981, S. 70 f.)
.
[081:353] Für den, der diese Zweifel nicht hat, sieht allerdings die Alternative zur eigenen Schreckensfestung der Kindheit so aus: Arne, der geliebte Mann, ist
»unfähig, seine eigenen Verdrängungsmechanismen überhaupt als vorhanden zu akzeptieren«
.
[081:354]
»Das heißt wirklich, daß ich pädagogisch an ihn rangehe. Aber das muß man bei einem so kaputten Typen (er wuchs 18 Jahre lang in einem Erziehungsheim auf) doch auch. Ich durchschaue seine Unfähigkeit, und er durchschaut sie nicht. Ich hab’s ja hundertmal
diskutiert
. Und wenn das nichts nützt, muß ich mir halt andere methodisch-didaktische Mittel einfallen lassen, um ihm das klarzumachen«
(S. Merian, Der Tod des Märchenprinzen, 1980, S. 216)
.
[081:355] In solchen Texten wird Selbsttätigkeit bereits als Idee liquidiert. Die Selbstdeutung nach deterministischem Muster, das kausalistische Schema, nach dem die Autoren sich als Opfer von Erziehung interpretieren, hat eine Entsprechung (im letzten Zitat) in der Attitüde des Machens; das Verhältnis zwischen Edukator und Edukandum wird, wie in jenem Holzschnitt von 1520, nach Art technischer und effektiver Eingriffe gedacht; nicht einmal die Haltung mütterlicher Fürsorge bremst diesen Zugriff; daß er sich psychologisch oder psychoanalytisch gibt (
»Arne braucht eigentlich eine Therapie«
, heißt es in dem letzten der zitierten Texte), macht ihn nicht weniger technokratisch. Derartige Urteile mögen unangemessen scheinen, sind doch die zitierten Äußerungen vermutlich durchaus
»echte«
, d. h. wahrhaftige Versuche, eigene Erfahrung zur Sprache zu bringen. Im Hinblick auf Selbsttätigkeit ist aber weniger die Intention, die gute Absicht entscheidend, als vielmehr der im Produkt dargestellte Produktionsprozeß. Gewiß wollen alle jene Autoren
»fortgehen«
im Sinne dieser Metapher, fort von ihren konventionellen, als bedrückend und einschränkend, meinethalben
»repressiv«
, erlebten Herkünften; ob ihnen das in ihrem eigenen Leben geglückt ist, läßt sich nicht beurteilen. In ihren |A B 137|Texten jedenfalls geriet es ihnen zur Sentimentalität, ästhetisch gesprochen zum Kitsch, pädagogisch gesprochen zur naiven Spontaneität. Aber Spontaneität ist nicht schon Selbsttätigkeit, sondern allenfalls eine ihrer Bedingungen. Einerseits lernt das Kind – wie der Holzschnitt erläutert – das Laufen nicht allein, nur von sich aus; andererseits ist das physische Laufen-Können erst die Exposition von Koordinierungs- und Mobilitätsproblemen und nicht schon deren Lösung.
[081:356] Mit eben dieser Differenz setzt sich der Text Thomas Bernhards auseinander. Die ästhetische Qualität jedes dieser Sätze liegt – im Unterschied zu den anderen Zitaten – darin, daß die Mühe der selbstreflexiven Bewegung in ihnen unmittelbar zum Ausdruck kommt. Zwar wird auch hier Klage erhoben gegen ein Erziehungsmilieu, das nur Leiden ohne produktive Tätigkeit hervorbringt, das, in der Sprache Piagets, Akkomodation verlangt, ohne Assimilation zu unterstützen, das Kind zum
»Lernmaschinenopfer«
macht; zwar gerinnt auch hier der Ausweg zur negativen Formel
»in die entgegengesetzte Richtung«
. Derartige Stereotype oder Klischees aber werden, gerade durch die hartnäckige Wiederholung in nuancenreichen syntaktischen Variationen, in ihrem Bildungssinn gleichsam ausgelotet; und dabei findet sich in der Tiefe nicht etwa irgendein Schuldiger, finden sich nicht irgendwelche Umstände als die umgreifenden Determinanten oder Ursachen, keimt deshalb auch nicht die Attitüde des Machens, sondern die des Wollens:
»Eine solche Kehrtwendung ist nur auf dem absoluten Höhepunkt der Gefühls- und Geistesanstrengung möglich«
. Das
»Lernmaschinenopfer«
macht sich selbständig, vollzieht die Kehrtwendung weg vom Elternhaus und bürgerlichen Milieu, zugleich aber hin zu Arbeitsamt und der Adresse in der Scherzhauserfeldsiedlung (dem Wohnquartier der Ärmsten in Salzburg). Das ist ein Akt der Selbstbildung. In der Terminologie der Fichteaner gesprochen: Die Vernunftkräfte des Jugendlichen sind bereits so weit gebildet worden, daß er nun in der Lage ist, sich selbst jene Probleme zu stellen, die seine Selbsttätigkeit herausfordern. Der Weg in den Keller, als Lehrling eines im Souterrain gelegenen Lebensmittelladens, ist für den jungen Bernhard freilich riskant – wie die Rede für Mirabeau, die Rechenauf|A B 138|gabe für Didier, das neue Bild für Edmond. Es ist zunächst nur die Exposition einer Möglichkeit.
[081:357] Mögliches und Wirkliches kann zueinander in verschiedener Differenz stehen: das mögliche Vernunftwesen Mensch kann als Bedingung dafür gedacht werden, daß es, im Bildungsgang des Kindes, Wirklichkeit wird. Die durch Erziehung hergestellte Wirklichkeit kann aber auch in Differenz gedacht werden zu dem, was es zwar noch nicht ist, aber als künftige Möglichkeit sein könnte. In Kleists Essay sind beide Fragen angesprochen. Sartres Auseinandersetzung mit dem Dichter Gustave Flaubert liest sich wie eine monströse Paraphrase zu Kleists Andeutungen. Auf dreieinhalbtausend Seiten versucht Sartre dahinterzukommen, was es mit dem Bildungsprozeß des kleinen Gustave auf sich hat, wie er – in der bisherigen Terminologie gesprochen – vom möglichen zum wirklichen Vernunftwesen wurde, und wie er, von dieser Wirklichkeit ausgehend, zur Möglichkeit seiner eigenen Existenz voranzugehen versuchte. Mein letztes Beispiel zum Thema
»Selbsttätigkeit«
ist also der junge Gustave, von Sartre interpretiert.
[081:358] Eine Verwandte Gustaves erinnert sich später:
[081:359]
»Meine Großmutter hatte ihren ältesten Sohn lesen gelehrt. Sie wollte es auch ihren zweiten Sohn lehren und machte sich an die Arbeit. Die kleine Caroline lernte es neben Gustave sofort, aber ihm wollte es nicht gelingen, und nachdem er sich große Mühe gegeben hatte, jene Zeichen, die ihm nichts sagten, zu begreifen, begann er, dicke Tränen zu weinen. Er war jedoch durchaus lernbegierig und sein kleines Hirn arbeitete ... (später liest ihm Vater Mignot Geschichten vor), und bei den Szenen, zu denen die Schwierigkeiten des Lesenlernens führten, brachte Gustave als letztes, für ihn unwiderlegbares Argument vor:
Warum lesen lernen, wo doch Papa Mignot lesen kann?
«
[081:360] Und an anderer Stelle schreibt dieselbe Frau:
[081:361]
»Das Kind war von ruhigem, nachdenklichem Wesen und von einer Naivität, von der es sein ganzes Leben lang etwas behalten sollte. Meine Großmutter hat mir erzählt, daß es stundenlang, den Finger im Mund, völlig abwesend und mit |A B 139|einem fast blöden Gesichtsausdruck dasaß. Als er sechs Jahre alt war, amüsierte sich ein alter Hausknecht namens Pierre über seine Arglosigkeit, indem er ihm sagte, wenn er von ihm gestört wurde: Geh einmal ... in der Küche nachsehen, ob ich dort bin. Und das Kind ging tatsächlich zur Köchin und sagte: Pierre hat mir gesagt, ich soll einmal nachsehen, ob er dort ist. Es begriff nicht, daß man sich über es lustig machen wollte, und war ganz verdutzt über das Gelächter, irgendein Geheimnis vermutend«
(zit. nach Sartre, Bd. 1, S. 11 und S. 15)
.
[081:362] Diesen und anderen Quellen über Flauberts Kindheit läßt sich folgendes Bild entnehmen, das die Erwachsenen von ihm haben: Gustave war offenbar ein ängstliches Kind, in sich zurückgezogen, etwas dümmlich scheinend, wenn nicht gar zum Schwachsinn neigend, lernunwillig; die Mutter, so scheint es, ging auf dieses Kind mit großer Fürsorglichkeit ein. Der Vater war ein erfolgreicher Arzt, ganz Naturwissenschaftler, und Gustave sah ihm in seiner Kindheit häufig durch ein Fenster zu, wenn er Leichen sezierte. Gustaves Geschwister waren für die Eltern durchaus erfreuliche Gestalten, klug, strebsam, manierlich, gesellig. Gustave selbst dagegen:
»der Idiot der Familie«
.
[081:363] Im selben Jahr noch, für das jene Verwandte Gustaves ihm seine intellektuelle Mangelhaftigkeit bescheinigt, schreibt Gustave an seinen Freund Ernest Chevalier diesen Brief:
[081:364]
»Lieber Freund, Du hast recht, wenn Du sagst, daß der Neujahrstag dumm ist, mein Freund man hat den Tapfersten der Tapferen La Fayette mit weißen Haaren die Freiheit der zwei Welten fortgeschickt. Freund ich werde Dir meine politischen und konstitutionellen liberalen Reden schicken, Du hast recht wenn Du sagst daß es mir Freude machen wird wenn Du nach Rouen kommst das wird mir sehr große machen. Ich wünsche Dir ein gutes Jahr 1831. Umarme aus ganzem Herzen Deine liebe Familie von mir. Der Kamerad den Du mir geschickt hast sieht nach einem guten Jungen aus wenn ich ihn auch nur einmal gesehen habe, ich werde Dir auch von meinen Komödien schicken. Wenn Du willst tun wir uns zusammen um zu schreiben, ich schreibe Komödien und Du schreibst Deine Träume, und da eine Dame zu Papa |A B 140|kommt die uns immer Dummheiten erzählt, werde ich sie aufschreiben, ich schreibe nicht gut weil ich auf eine Kiste aus Nogent warte. Leb wohl, antworte mir sobald wie möglich«
(Flaubert, Briefe, S. 7).
[081:365] Und einen Monat später:
[081:366]
»Mein lieber Freund, ich antworte Dir postwendend. Ich hatte Dir gesagt, daß ich Stücke schreiben würde aber nein ich werde Romane schreiben, die ich im Kopf habe und das sind: die schöne Andalusierin, der Maskenball, Cardenio, Dorothea, die Maurin, der unverschämte Neugierige, der kluge Ehemann. Ich habe das Billardzimmer hergerichtet und die Kulissen zurechtgestellt. Unter meinen dramatischen Sprichwörtern sind mehrere Stücke, die wir spielen können«
(ebd.)
.
[081:367] Was liegt zwischen den Beobachtungen der Familienangehörigen und diesen Briefen? Zwischen ihnen liegt, so Sartre, ein
»Entwurf«
, eine
»Überschreitung«
.
»Sicher wird ein Existierender durch keine Bestimmung geprägt, die er nicht durch seine Art, sie zu leben, überschreitet«
(Sartre, Bd. 2, S. 11)
. Wer also über jene Fichteschen Bestimmungen hinauskommen will, wer beschreiben will, was denn nun jener Begriff der Erziehung, über seine die Erziehunstheorie begründende Funktion hinaus, für den Vorgang der Bildung konkret bedeutet, dem steht bevor, diese Überschreitung darzustellen. Sartre nennt die den Menschen zunächst prägende Bestimmung
»Konstitution«
und den Vorgang des Überschreitens zu einer neuen Bestimmung hin
»Personalisation«
. Wer also über Selbsttätigkeit reden will, muß den Vorgang der Personalisation in Auseinandersetzung mit der Konstitution zur Darstellung bringen.
[081:368] Das ist auch wieder nur eine Formel. Was es heißt, diese Formel zu erläutern, hat Sartre demonstriert: Um nur in einem einzigen Fall klarzumachen, was Selbsttätigkeit ist, brauchte er dreieinhalbtausend Seiten – und kam mit seinem Vorhaben nicht einmal zu Ende. Das liegt am Gegenstand, der
»über Gedächtnis und Verstand weit hinausgeht«
(Kafka), jedenfalls im Sinne (beispielsweise) eines akademischen Lehrbuchs. Man kann sich diesem Gegenstand offenbar nur essayistisch nähern. Zum Beispiel so – wie Sartre im |A B 141|Fall Flaubert–, daß man fragt, wie denn dieses Kind Gustave
»sich zum Schriftsteller gemacht hat«
(Bd. 2, S. 16)
. Aber zur Beantwortung dieser Frage gehört vieles. Zum Beispiel: Warum stand Gustave so oft vor dem Spiegel? Wie hat er sich die anatomische Tätigkeit seines Vaters
»angeeignet«
(um in der Terminologie der Fichteaner zu sprechen)? Wie kam der, der angeblich nicht lesen und schreiben lernen mochte, als 10jähriger dazu, Theaterstücke zu schreiben? Was bedeutete es für ihn, Schauspieler werden zu wollen? Was bedeutet es, wenn er sich selbst als
»Irren«
(foû) erläutert? Wie kommt es dazu, daß er schließlich eine Sprache sucht, die von kalter Genauigkeit ist, in der Kunst und Wissenschaft, wie er später sagt, zusammenfallen?
[081:369] Jede dieser Fragen zieht viele andere nach sich. Und keine abstrakt-allgemeine Antwort könnte befriedigend sein. Will man zur Selbsttätigkeit mehr sagen als Fichte und seine Schüler, dann hat Kleist die richtige Spur aufgenommen und Sartre uns den Sisyphus-Charakter der Aufgabe vor Augen gestellt.

Zur Entdeckung des Ich

[081:370] Die aufgeführten Beispiele sollten den Begriff der Selbsttätigkeit in erster Annäherung erläutern. Im pädagogischen Zusammenhang wollen wir als
»Selbsttätigkeit«
nicht irgendein Tätigsein verstehen, auch keine biologisch-natürliche Tatsache, auch keine beliebige Willkür-Handlung, sondern eine Tätigkeit der möglichen Vernunftkräfte; diese Tätigkeit entfaltet sich nicht von selbst, die Vernunftkräfte beginnen ihre Tätigkeit nicht
»aus sich heraus«
, sondern auf
»Aufforderung«
hin, in sozialer Interaktion also; in pädagogischen Beziehungen liegt deshalb die Verantwortung des Erziehers/ Lehrers darin, die Vernunftkräfte des Kindes herauszufordern, und zwar dadurch, daß er ihnen Mobilität und begriffliche Anstrengung abverlangt; die auf diese Weise erworbenen oder
»angeeigneten«
Kompetenzen sind dann zugleich Kräfte der Personalisation, Produktivkräfte der eigenen Bildung; das alles darf nicht als ein nur intellektueller Prozeß gedacht werden, denn er hat eine kognitive und eine affektive (die |A B 142|Stellung in den primären Beziehungssystemen betreffende) Komponente; die Selbsttätigkeit muß also auch Schemata der Auffassung von Dingen und von Beziehungen koordinieren; schließlich folgt aus der Bildung des Kindes in Schritten der Weltaneignung, daß sich der Charakter der
»Aufforderung«
ändern muß und die Aufforderung selbst gegen Null strebt: der Erziehungsprozeß ist beendet, wenn es keiner Aufforderung mehr bedarf und der junge Mensch in der Lage ist, sich selbst zu bilden.
[081:371] Selbst wenn diese Beschreibung wahr sein sollte, ist sie doch in einer wesentlichen Hinsicht unvollständig. Jeder Praktiker nämlich wird vermutlich fragen: Was bedeutet diese abstrakt-allgemeine Bestimmung für die konkrete Situation? Die Beispiele werden ihm nicht genügen, denn es sind offensichtlich Ausnahmefälle; sie erläutern nur, was in einer Theorie mit allgemeinem Anspruch (Fichte, Sartre, Piaget) geltend gemacht wurde. Zwischen der (scheinbar) universalistischen Abstraktion (
»zu allen Zeiten und in allen Kulturen und Gruppen muß das Menschenkind aufgefordert werden, seine Vernunftkräfte selbsttätig zur Erzeugung von Begriffen der Weltauffassung zu bilden, sich einen operativen Begriff von der Welt zu machen«
) und dem einzelnen konkreten Fall (
»meine persönlichen Erfahrungen mit Kindern sind ganz anders, und vor allem sind die dabei entstehenden Probleme viel schwieriger, als die Theorie sich träumen läßt«
) liegen viele Vermittlungsstufen: beispielsweise die kulturellen Umwelten, die Stände, Klassen, sozialen Schichten, die Regionen, Gruppen, Institutionen, Situationstypen – vor allem aber: die Geschichte. Wenn wir wissen wollen, was der im theoretischen Diskurs bestimmte Begriff der Selbsttätigkeit für die konkret handelnden Menschen bedeuten könnte, müssen wir seine Geschichtlichkeit bestimmen. Das ist nun ein sehr umfängliches Vorhaben, und es würde mühelos ein ganzes Buch füllen. Ich will deshalb hier nur einige wenige Hinweise zur Geschichte unserer Problemstellung geben.
[081:372] In der Zeit zwischen dem 7. und dem 5. Jahrhundert v. Chr. spielte sich in der griechischen Gesellschaft etwas für die weitere europäische Geschichte höchst Folgenreiches ab. Im Zusammenhang mit der Entwicklung der archaisch-agrarischen Stammeskultur zur Polisgesellschaft entsteht eine neue |A B 143|Art, das Verhältnis des Menschen zum Kosmos zu deuten, ein neues Verständnis der Stellung des Menschen zur Welt und zu sich selbst. Was sich damals abspielte, läßt sich aus den überlieferten Dichtungen erschließen, vor allem aus der Differenz zwischen den Epen Homers und dem Beginn der griechischen Lyrik. Bruno Snell, dem wir den Beginn derartiger Untersuchungen verdanken, symbolisiert jenen Übergang zu einer neuen Mensch- und Weltauffassung durch zwei Zeichnungen (Abb. 18). Die rechte Zeichnung ist die schematische Darstellung des graphischen Typus, der in der archaischen Malerei, vor allem auf Vasen, herrscht. Die linke Zeichnung schematisiert die Art, in der heute Kinder zwischen vier und sechs Jahren in der Regel Menschen darstellen.
Hier ist eine Grafik einer Kinderzeichnung und eines griechisch-archaischen Schemas einer Menschdarstellung zu sehen.
Abb. 18: Kinderzeichnung und griechisch-archaisches Schema der Menschendarstellung, nach Snell 1955, S. 24
Worin unterscheiden sich die beiden Schemata? Der griechisch-archaische Typus ist ein
»Gliedermann«
; er hat etwas Marionettenhaftes; die Glieder sind einzeln, gleichsam jedes für sich, gezeichnet und hängen in den Gelenken aneinander (ähnliche Schemata finden sich auch in den frühgeschichtlichen Höhlenmalereien); die graphische Gestalt läßt nicht erkennen, woher die Kraft für die Bewegung kommt; der Körper ist keine dichte Einheit, sondern etwas Zusammengesetztes. Auch der Kinderzeichnung sind die Glieder
»angesetzt«
; aber es gibt ein eindeutiges Körper-Zentrum.
»Unsere Kinder setzen einen Leib als Mittel- und Hauptstück, daran werden Kopf, Arme und Beine angesetzt. Den geometrischen (archaischen) Figuten fehlt aber gerade dies Hauptstück«
(Snell 1955, S. 24)
. Was bedeutet das?14
| 178|14Für das Folgende vgl. Oelkers/Lehmann 1983, S. 88 ff.
[081:373] Zunächst noch einige weitere Informationen:15
| 178|15Derartige Behauptungen gehen freilich ein hohes Irrtums-Risiko ein. Vor allem kann bezweifelt werden, daß der Vergleich einer Kulturproduktion Erwachsener mit der von Kindern im Sinne einer Beweisführung hier sinnvoll ist. Es wäre gewiß besser gewesen, die archaische Figut mit einer aus der
»klassischen«
Periode zu konfrontieren; man würde dann sehen, daß dem Rumpf der Gesamtfigur dort eine ganz andere Bedeutung zukommt als in dem archaischen Schema. Die Kinderzeichnung pointiert also nur, was historisch der Fall war, erläutert durch Analogie, ohne ein geschichtlicher Beweis zu sein. Darin steckt allerdings ein bildungstheoretisches Problem mit mehreren Komponenten, die hier als Fragen formuliert seien: 1. Sind Formen der kindlichen Selbstdarstellung immer parallel zu denen der Erwachsenen zu denken? 2. Kann sich in den Selbstdarstellungen von Kindern nicht vielleicht eine
»universalere«
Schicht von Ausdrucksformen und -bedeutungen Geltung verschaffen, die in den kulturellen Formationen der Erwachsenen-Produktion gleichsam
»wegsozialisiert«
wurde? 3. Gibt es nicht deshalb vielleicht zwei erziehungs- und bildungstheoretisch relevante Diskurse: den der Erwachsenen-Kultur und den der kindlichen Selbst- und Weltdeutungen, die zunächst einmal unabhängig voneinander beschrieben werden müßten? – Das sind natürlich Fragen, die historisch ähnlich schwierige Probleme aufwerfen wie die Erforschung der Lebenswelten nicht-alphabetisierter Bevölkerungsteile in der abendländischen Geschichte. Aber immerhin wäre es doch sinnvoll, der
»Geschichte der Kindheit«
(Aries 1975) als dem Bild, das Erwachsene sich von ihren Kindern machen, eine Geschichte der Bilder hinzuzufügen, die Kinder sich von sich selbst machen. Auch Rutschkys
»Deutsche Kinderchronik«
(1983) kommt an dieses Problem nicht heran. Man wird mit Konjekturen arbeiten müssen, will man hier das
»taking the role of the other«
wirklich realisieren. Eine hermeneutisch-divinatorische Aufgabe! – Die folgende Darstellung folgt im wesentlichen Müller 1981.
In der Sprache Homers gibt es kein Wort für
»Körper«
oder
»Leib«
, das |A B 144|derart allgemein verwendet wird, wie unsere Ausdrücke.
»Soma«
bedeutet noch am ehesten
»Leib«
, genau genommen und ursprünglich aber
»Leichnam«
; häufig ist, wo wir
»Körper«
sagen würden, von Derma (Haut, die man abziehen kann) oder Chros (die Licht und Farben reflektierende Oberfläche) die Rede; der homerische Held legte sich seinen Panzer nicht an, sondern
»er tat den Panzer um seine Haut«
. Das
»Sehen«
wird in dieser Sprache nicht als die Tätigkeit eines konsistenten, aus einem Aktivitätszentrum heraus handelnden Menschen begriffen, sondern ist von Situationen und verschiedenartigen Reizen abhängig, entsprechend vielfältig sind deshalb die sprachlichen Ausdrücke. Über die Seele sagt Homer wenig, nur daß sie wie ein Hauch sei, beim Tode dem Körper entweicht, im Hades verschwindet, daß man um ihren Erhalt kämpft, sie zu retten versucht usw. – aber kein Hinweis darauf, was sie etwa als eine die Lebensäußerungen organisiserende Instanz sein könnte. Das Wichtigste vielleicht – oder doch für uns Überraschendste – ist die Tatsache, daß es in Homers Sprache keinen Ausdruck für das gibt, was wir
»sich entscheiden«
nennen, keine Trennung von Wollen und Handeln im Sinne eines zunächst wahrnehmenden, dann die Absichten prüfenden, eine Willensrichtung bildenden und so abwägend handelnden Ich. Der Unterschied zwischen diesen beiden Sichtweisen tritt durch einen Vergleich zweier Übersetzungen, einer genauen und einer modernisierten, deutlich hervor:
[081:374]
»Einsam war nun Odysseus, der Lanzenschwinger, und niemand harrt’ um ihn der Achaier, denn Furcht verscheuchte sie alle. Tief erseufzt’ er und sprach zu seiner erhabenen Seele ...«
(Müller, S. 262)
.
[081:375] Und:
[081:376]
»Einsam blieb nun der lanzenberühmte Odysseus, und niemand harrte mit ihm von den Freunden; die Angst verscheuchte sie alle. Schwer bekümmert sprach er zu sich im stolzen Gemüte ...«
(Ilias, S. 189 f.)
.
[081:377] An anderer Stelle heißt es:
[081:378]
»Warum also geweint, Patroklos? Gleich wie ein Mägdlein, |A B 145|Klein und zart, das die Mutter verfolgt und: nimm mich! sie anfleht,
An ihr Gewand sich schmiegend, den Lauf der Eilenden hemmet
Und mit tränenden Augen emporblickt, bis sie es aufhebt:
So auch dir, Patroklos, entrinnt das tröpfelnde Tränchen«
(Müller, S. 270)
.
[081:379] Und:
[081:380]
»Sprich, was weinst du, mein Patroklos? gleich einem kindischen Mägdlein,
Das da neben der Mutter läuft und: Nimm mich! sie bittet,
Fest an ihr Kleid sich klammernd, den Gang der Eilenden hemmend;
Weinend blickt es hinauf, bis die Mutter es nimmt in die Arme. So vergießest auch, Patroklos, du die perlende Träne«
(Ilias, S. 275)
.
[081:381] In der je ersten Übersetzungsversion (korrekt) spricht Odysseus
»zu seiner erhabenen Seele«
als einem gleichsam anderen, und dem Patroklos
»entrinnt das tröpfelnde Tränchen«
– in beiden Fällen also die Beschreibung gleichsam sachlicher Vorgänge, nicht aber die Beschreibung absichtsvollen oder Ausdruckshandelns einer in sich konsistenten und in einem Ich zentrierten Person. Die andere Übersetzungsversion glättet oder eliminiert gar das Archaisch-Befremdliche des Textes und gleicht ihn damit moderner Auffassung des Menschen an: Odysseus
»sprach zu sich«
, und Patroklos
»vergießt ... die perlende Träne«
.
[081:382] Der
»moderne«
Übersetzer hat hier der geschichtlichen Entwicklung vorgegriffen. Um 650 v. Chr. nämlich schreibt der Dichter Archilochos:
[081:383]
»Herz, mein Herz, von ausweglosen Kümmernissen wirr und wüst, raff dich auf, den Widersachern tritt entgegen und die Stirn biete ihnen, laß die Hasser gegen dich anlaufen, steh fest und breit! Und wenn du siegest, prahle nicht vor allem Volk noch, wenn du besiegt bist, wirf dich hin und jammere zu Haus, sondern über Frohes freue und im Unglück kränke dich nicht zu sehr. Versteh den Rhythmus, der die Menschen hebt und senkt«
(zit. nach Müller 1981, S. 274)
.
|A B 146|
[081:384] Im Vergleich zu Homer nun also eine ganz andere Einstellung: eine große Intensität des Gefühls, eine deutlichere Scheidung von Innenwelt und Außenwelt, so etwas wie Selbstbeherrschung und damit ein Bewußtsein von der Besonderheit des Einzelnen deutet sich an, vor allem aber erste Anzeichen für ein reflektierendes Verhältnis zu sich, zur Welt und zu den anderen:
»Versteh den Rhythmus, der die Menschen hebt und senkt«
– die Geburtsstunde des Ich, das nun, bis in unsere Tage, eines der wesentlichen europäischen Themen bleibt. Es gibt seitdem kaum einen pädagogisch folgenreichen Gedanken, der nicht jene anthropologische Wende in Anspruch nähme.
[081:385] Wie ist dieser geschichtliche Schritt zu erklären? Eine stringente, überzeugende Erklärung scheint mir nicht möglich zu sein; aber es gibt einige Andeutungen, Zusammenhänge, soziale Sachverhalte, die eine plausible Vermutung erlauben (vgl. Müller 1981). Archilochos war zumeist Krieger, und zwar als Söldner. Er lebte also nicht in einem traditionsbestimmten agrarischen Hauswesen, sondern hatte eine gewissermaßen
»freie«
Position, war in Kämpfe mit Nachbarstämmen verwickelt, erlebte die Anfänge der griechischen Polisgesellschaft, die Kolonisationen. Für die Entstehung von so etwas wie einem
»Ich-Bewußtsein«
scheinen mir drei Daten zur Verkehrsform jener Epoche wichtig zu sein: die Stämme traten in Interaktion und mußten eine Perspektive einnehmen, die die eigene Position gleichsam
»einklammern«
konnte, einen abstrakteren Standpunkt, der auch eine Beobachtung der eigenen Stammessituation erlaubte; diese politischen Vorgänge hatten eine ökonomische Parallele, denn es entwickelte sich gleichzeitig ein kommerzieller Austausch und gelegentlich schon eine Produktionsweise auf Vorrat, jedenfalls in den ersten großen Töpferwerkstätten mit Massenfabrikation in der Nähe Korinths; und schließlich wurden nicht nur allgemein geltende Maße und Gewichte festgelegt, sondern es wurden auch die ersten Münzen geprägt, der Geldverkehr nahm also seinen Anfang. Freilich waren erst sehr wenige Menschen davon unmittelbar betroffen, Archilochos aber direkt: als uneheliches Kind eines Adeligen und einer Sklavin war er aus den Traditionsbindungen des alten |A B 147|Hauswesens relativ freigesetzt; als Söldner kam er viel herum und hat auch wohl einiges von dem neuen Warenverkehr mitbekommen; vor allem wurde er (vermutlich) schon nicht mehr nur mit Naturalien entlohnt, sondern mit Geld; er war Lohnsoldat. Es ist wahrscheinlich, daß sich derartige Erfahrungen auf das
»Bewußtsein«
auswirken oder mindestens doch, daß sie jenes neue Menschenbild stützten oder empirisch rechtfertigten, nach dem nun das Individuum als ein aus einem Ich-Zentrum heraus tätiges gedacht wird, das sich von seiner Tradition, von den anderen, von den Konventionen distanzieren,
»sich vom Konkreten abstrahieren«
kann, wie es bei Mannoni hieß, also auch in der Lage ist, sich zu sich selbst als
»Vernunftwesen«
zu verhalten. Auf dem Höhepunkt dieser zur Zeit des Archilochos begonnenen Entwicklung sagt deshalb der Seher Teiresias zu Ödipus, als er um genaue Angaben über das ihm drohende Schicksal bittet:
»Nicht Kreon heißt dein Leid, du bist es selbst.«

Das tätige Individuum

[081:386] Es wäre viel zu erzählen über die Veränderungen, die dieses Ich-Konzept durch die christliche Religion, besonders bei Augustinus, erfuhr. Das würde hier aber zu weit führen, zumal ich vermute, daß dieses Konzept eine neue Qualität erst in der Frührenaissance bekam. Sowohl für Archilochos als auch für Augustinus gab es, trotz aller Hervorhebung der Ich-Problematik, nicht das sich rational selbst entscheidende Individuum als letzte Instanz für die Gültigkeit dessen, was die Tätigkeit leitet; vielmehr war diese Gültigkeit gebunden an die Ordnung des Kosmos; nur das rechte Wissen konnte deshalb Gültigkeit verbürgen. Es gab zwar das tätige Ich, aber es war nicht selbsttätig, sondern nachahmend, und zwar darin, daß es zur Kenntnis der vor aller individuellen Existenz vorhandenen Ideen kam.
[081:387] Dies nun wurde im 15. Jahrhundert problematisch, und wiederum im Zusammenhang mit einem sozialstrukturell wichtigen Sachverhalt. Einige Beispiele:
[081:388] Die Äbtissin Charitas Pirckheimer, Schwester des Nürnberger Humanisten und Dürer-Freundes, bekam 1524 Streit mit |A B 148|der Bürgerschaft der Stadt, die sich der neuen lutherischen Lehre angeschlossen hatte. Es ging um eine vielleicht 16jährige Novizin, deren Mutter sie wieder aus dem Kloster herausholen wollte. Charitas Pirckheimer wollte das nur zulassen, wenn das Mädchen selbst einwilligte. Das Mädchen aber wollte im Kloster bleiben. Daraufhin eskalierte der Streit: Mitglieder der Bürgerschaft drohen mit Gewalt. In einem offiziellen Brief bekräftigt die Äbtissin noch einmal ihren Standpunkt, daß
»keine Gewalt an das Kind gelegt werden dürfe, um es wider seinen Willen zu nötigen«
(Pirckheimer 1931, S. 109)
. Das Argument machte offenbar Eindruck, denn es folgt nun ein langes Hin und Her von Verhandlungen, in denen allerdings deutlich wird, daß der Magistrat dieAuflösung des Klosters betreibt. Jedenfalls war offenbar schon die Vorstellung verbreitet, daß der Wille des jungen Menschen als Begründung für sein Handeln zu respektieren sei.
[081:389] Achtzig Jahre früher schon schrieb in Florenz Leon Battista Alberti das Buch
»Über das Hauswesen«
(Della famiglia), eine in Dialogform abgefaßte lange Abhandlung, in der von nahezu allem die Rede ist, was für einen Haushalt der Frührenaissance wichtig war. In diesem Dialog gibt es die folgende Passage:
[081:390]
»Gianozzo: Drei Dinge sind es, die der Mensch sein Eigen nennen kann; und sie sind es so sehr, daß die Natur vom ersten Augenblick an, wo du das Licht der Welt erblickt hast, sie dir gegeben hat mit der Freiheit, sie zu gebrauchen, gut oder schlecht, soviel es dir beliebt und gefällt; und die Natur hat angeordnet, daß diese Dinge immer bei dir bleiben und sich niemals, bis zum letzten Tag, von dir trennen. Das eine von ihnen, wisse, ist die Regung der Seele, durch die wir begehren oder in Zorn aufwallen; mag das Glück wollen oder nicht, so bleibt dies doch bei uns. Das andere, siehe, ist der Körper. Ihn hat die Natur abhängig gemacht, wie ein Werkzeug, wie einen Wagen, auf dem die Seele fährt, und sie hat ihm befohlen, nimmer sich einem anderen Befehl zu unterwerfen als dem der eigenen Seele. Sieht man doch an jedem Lebewesen, das eingeschlossen und einem anderen untertan ist, wie es niemals ruht in dem Bestreben, sich zu befreien und sein Eigentumsrecht über sich zurückzugewinnen, um seine Flügel |A B 149|oder Füße und andere Gliedmaßen nicht nach dem Belieben eines anderen, sondern mit Freiheit nach eigenem Willen zu regen. Der Natur widerstrebt es, wenn der Körper nicht in der Gewalt der Seele ist, und vor allem liebt der Mensch von Natur aus die Freiheit, er liebt es, sich selbst zu leben, sein Eigen zu sein. Und man findet, daß dies ein allgemeines Verlangen aller Sterblichen ist. Diese beiden Dinge also, Seele und Körper, sind unser Eigen.
Lionardo: Und das dritte – was wird das sein ?
Gianozzo: Oh, ein höchst wertvolles Ding! Diese meine Hände und Augen sind nicht so sehr mein Eigen ...
Lionardo: Wunderbar! Was mag das sein?
Gianozzo: Man kann es keinem hinterlassen, nicht verringern, in keiner Weise kann dies Ding dir nicht gehören, sofern du nur willst, daß es dein ist.
Lionardo: Und wenn es mir beliebt, wird es einem anderen gehören?
Gianozzo: Wenn du willst, wird es nicht dein Eigen sein: die Zeit, mein lieber Lionardo, die Zeit, liebe Kinder!«
(Alberti 1962, S. 216 f.)
[081:391] Der Text folgt einer feinsinnigen Dramaturgie: Nachdem zunächst offenbar Selbstverständliches mitgeteilt wird – was über Seele und Körper gesagt wird, war damals traditionelles
»Bildungswissen«
–, wird, nach einer Verzögerung, die Pointe vorgetragen, das eigentlich Neue: Die Zeit, so wird dann weiter erläutert, ist deshalb ein so wertvolles
»Gut«
, weil sie mit Tätigkeit erfüllt werden kann; auch nur insofern ist sie
»nützlich«
; im
»Müßiggang«
verliert sie ihren Wert. Die Jugend muß deshalb auf Tätigkeit vorbereitet werden:
»Sie will geübt sein, man darf sie nicht in Trägheit versinken lassen. Müßiggang ist ebenso nutzlos und wenig löblich für die Jugend wie für die Familien schädlich und höchst unheilvoll«
(a. a. O., S. 165)
. Deshalb ist der junge Mensch dazu anzuhalten, seine Begabungen zu entfalten; nur so nämlich wird er die Zeit mit nützlicher Tätigkeit erfüllen können. Nützlich wiederum ist besonders die Tätigkeit, die vor Verarmung schützt.
[081:392]
»Worauf beruht es aber, wenn man verarmt? Auf dem Glück, das gebe ich zu. Aber sehen wir vom Glück ab, wo wir von planmäßiger Tätigkeit sprechen. Wenn also der Reichtum |A B 150|durch Erwerb zustande kommt, und wenn der Erwerb eine Folge der Arbeit, der Umsicht und des Unternehmungsgeistes ist, so wird das Verarmen, das dem Erwerb entgegengesetzt ist, von den entgegengesetzten Dingen kommen, von Achtlosigkeit, Trägheit und Schwerfälligkeit: und das liegt nicht am Glück, sondern an dir selbst«
(a. a. O., S. 185)
.
[081:393] Der Zusammenhang pädagogischer Ideen mit sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Sachverhalten ist hier ganz deutlich. Die Albertis waren Kaufleute. Sie hatten Geschäftsverbindungen nach den Niederlanden, nach Nürnberg und Augsburg. Sie gehörten zu der damals noch ganz dünnen Schicht der europäischen Bevölkerung, für die das Tätigsein nicht nur den Zweck unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung hatte, sondern gleichsam ein
»Wert für sich«
wurde. Das Tätigsein nämlich diente dem Gelderwerb (es gibt in dem Buche Albertis eine umständliche Argumentation zu der Frage, ob es sittlich zu rechtfertigen sei, für die Vermehrung des Geldbesitzes tätig zu sein); Gelderwerb aber ist Vorsorge-Tätigkeit für eine offene Zukunft, so wie Geld ein gleichsam abstraktes Vermögen ist, das später erst sich in bestimmtem Gebrauch konkretisiert. Tätigsein ist also, wie das Geld, ein abstrakter Wert. Die Erziehung zur Tätigkeit wird eine fundamentale pädagogische Forderung (man sieht, wie der geschichtliche Hintergrund für Fichtes und Piagets Theorie der Selbsttätigkeit allmählich Kontur gewinnt), Initiative und Wille rücken in den Vordergrund.
[081:394] In diesem intellektuellen und ökonomischen Milieu spielte sich nicht nur der Streit Charitas Pirckheimers mit ihren Mitbürgern ab, sondern schrieb auch Erasmus von Rotterdam ein Streitgespräch zwischen einem Abt und einer Bürgersfrau (1520): Der Abt tadelt die Frau der vielen Bücher wegen, die sie liest, und verweist sie auf ihre hausfraulichen Pflichten; die Frau aber treibt ihn argumentativ, mit überlegener Ironie in die Enge und begründet, daß die geistige Tätigkeit, die intellektuelle Selbstbildung, eine Kompetenz erzeuge, die situationsunabhängig immer zur Verfügung stehe – und sie stellt dies sogleich dadurch unter Beweis, daß sie die Argumente des Abtes als Unsinn entlarvt (Erasmus von Rotterdam 1963, S. 47 ff.). Was bei Alberti noch eine |A B 151|Erziehungslehre für die relativ neue und mächtig werdende soziale Schicht der Kaufleute war, wird nun – 85 Jahre später – bei Erasmus zu einer allgemeinen Bildungstheorie.
[081:395] Gleiches kann man an Montaigne beobachten. Auch er transponiert die in den kaufmännischen Kreisen der Stadtkultur entstandenen neuen Deutungen in allgemeine Prinzipien. Das Wichtigste in der Erziehung sei, daß die
»Kräfte des Geistes«
nicht die Fähigkeit verlieren,
»sich zu entfalten«
(Montaigne 1953, S. 173)
; deshalb solle der Lehrer/Erzieher dem Kinde nicht dauernd vorauslaufen und reden und also das Kind in die Rolle des Nachahmers drängen, sondern:
»Ich will, daß er seinesteils den Zögling reden lasse und anhöre«
(a. a. O., S. 186)
.
[081:396]
»Unsere Seele geht nur am Gängelband, gebunden und den Regungen fremden Willens unterworfen, hörig und geknebelt unter der Fuchtel ihrer Unterweisung. Man hat uns so sehr an die Leine genommen, daß wir des freien Ganges entwöhnt sind. Unsre Kraft und Freiheit sind dahin«
(a. a. O., S. 187)
.
[081:397]
»Kraft und Freiheit«
: Montaigne, der dies als adeliger Rentner schrieb und an der Vernunft alt-ständischer Gesellschaftsordnung überhaupt nicht zweifelte, ahnte freilich nicht, daß er, durch derartig allgemeine Postulate, zu einem Vorboten der aufklärerischen Gesellschaftskritik wurde.
»Wahrlich, wir machen ihn (den Zögling) kriecherisch und feige, wenn wir ihm nicht die Freiheit lassen, etwas aus eigenem Antrieb zu tun«
(a. a. O., S. 189)
.

Das selbsttätige Individuum

[081:398] Alle diese Autoren glaubten noch, daß es eine Harmonie, eine logische Übereinstimmung gebe zwischen ihren pädagogischen Postulaten samt deren Verallgemeinerung und der gesellschaftlichen Entwicklung. Heute sind wir in dieser Frage wohl skeptischer geworden. Daß der homo humanus nicht notwendig dem homo oeconomicus homolog sei, d. h. der gleichen Vernunft folgt, das läßt sich gegenwärtig leicht beobachten. Aber auf dieses Problem mußte man, geschicht|A B 152|lich gesehen, erst einmal kommen! Jean Jacques Rousseau kam darauf.
[081:399] Rousseau war ein außerordentlich sensibler Seismograph der historischen Vorgänge – so sensibel, daß man ihn schließlich für verrückt hielt und deshalb seine späten Werke als paranoisch bezeichnet wurden. Er bestreitet in seiner berühmten Abhandlung von 1755 jene Harmonie.
[081:400]
»Vom Menschen habe ich zu sprechen. Die Frage, die ich hier behandle, gibt mir zu verstehen, daß ich wie von Mensch zu Mensch sprechen kann, denn man stellt derartige Fragen nicht, wenn man der Wahrheit die Ehre zu geben fürchtet. Ich will also freimütig die Sache der Menschheit vor den Weisen, die mich dazu einladen, verteidigen und will mit mir selbst nicht unzufrieden sein, wenn ich mich meines Themas und meiner Beurteiler würdig erweise. [081:401] Ich finde in der menschlichen Gattung zwei Arten der Ungleichheit. Die eine, die ich natürlich oder physisch nenne, weil sie von der Natur gesetzt ist und im Unterschied des Alters, der Gesundheit, der Körperkraft und der Eigenschaften des Geistes und der Seele besteht. Die andere, die man die moralische oder politische Ungleichheit nennen kann, weil sie von einer Art Übereinkunft abhängt. Sie ist durch die Zustimmung des Menschen gesetzt oder wenigstens ins Recht gesetzt worden. Diese besteht in den verschiedenen Privilegien, die einige zum Nachteil der anderen genießen, wie etwa reicher, angesehener, mächtiger zu sein als andere oder gar Gehorsam von ihnen verlangen zu können«
(Rousseau 1955, S. 77)
.
[081:402] Passen
»Natur«
und
»Gesellschaft«
noch zusammen? So etwa kann man Rousseaus Problem benennen. Ist die Idee eines homo humanus noch aufrechtzuerhalten angesichts der Übermacht des homo oeconomicus? Ist die
»Tätigkeit«
des Menschen nicht immer schon die ökonomisch stilisierte Form menschlicher Möglichkeit? Läßt sich dagegen etwas ins Feld führen? Rousseau ahnte, was kommen würde: die Pariser Ecole Polytechnique, gegründet 1794, erste Technische Hochschule der Welt, entwarf ein Programm unbegrenzter Machbarkeit der Umwelt des Menschen (der Frühsozialist Saint-Simon und der Begründer der modernen Soziologie Auguste Comte waren ihre Schüler) und postu|A B 153|lierte eine Harmonie technisch-ökonomischen und humanen Fortschritts. Selbsttätigkeit war demnach Bürgerfleiß, Emsigkeit, Arbeitsamkeit,
»Industriosität«
, Mühe und Arbeit, technische Intelligenz, Erfindergeist. Rousseau hatte schon im Vorhinein Zweifel.
[081:403] Seitdem ist die mit dem Begriff
»Selbsttätigkeit«
verbundene europäische Überlieferung eher noch stärker ins Gedränge geraten. Das läßt sich an den zwei Gesichtern von
»Leistung«
studieren: Einerseits ist es sinnvoll, was heute gelegentlich
»Selbstverwirklichung«
genannt wird, als Leistung zu bezeichnen, und zwar sowohl im Hinblick auf den individuellen Prozeß solcher Hervorbringungen als auch auf deren Produkt, das den Prozeß dokumentiert; in diesem Sinne ist die gefundene Antwort auf ein mathematisches Problem und ihre Aneignung, die Formulierung eines eigentümlichen (mir zugehörigen) Gedankens, eine Kinderzeichnung, die Lösung eines Jugendlichen von seinem Elternhaus, das Finden eines eigenen und begründeten politischen Urteils je eine Leistung dieser Individuen. Andererseits aber scheint es, als liefe die öffentlich-politisch geführte Rechtfertigung von gesellschaftlichen Leistungserwartungen –
»Leistung muß sich wieder lohnen«
– auf den Typus von Marktleistungen hinaus; danach wäre Leistung weniger die Bewältigung eines existentiellen Problems, als vielmehr diejenige Art von Problemlösung, die durch ein Äquivalent von Geld und/oder Status honorierbar ist, ökonomische Wettbewerbsleistung; sie schließt, wie Rousseau schon gesehen hatte, existentielle Leistung – zwar nicht in jedem einzelnen Fall, aber der Tendenz nach – aus: Selbsttätigkeit braucht Zeit, bisweilen wesentlich mehr, als die Bildungsinstitutionen dafür vorsehen; ökonomisch verwertbare Leistungserwartungen dagegen drängen auf Zeitgewinn, der – paradox oder folgerichtig – für Selbsttätigkeit sich als Verlust auswirkt.
[081:404] Es scheint, als stünden sich in dieser Alternative die idealistisch-romantische und die technisch-zivilisatorische pädagogische Attitüde gegenüber. Aber gerade die Gegenüberstellung, nach der es so scheint, als wäre das eine pädagogisch zu wünschen, das andere dagegen eher zu vermeiden, schiebt das Problem vielleicht eher von sich weg, statt es zu bearbeiten. Selbsttätigkeit, so hatten wir gesehen, zeigt sich im |A B 154|Problemlösen. Seit das erfahrungswissenschaftliche Interesse in der Renaissance die Möglichkeiten der Machbarkeit der menschlichen Verhältnisse auf den Weg gebracht hat, sind Technologien zu immer bedeutenderen Komponenten unseres Lebens geworden – eine Trivialität. Nicht trivial ist dagegen heute der Gedanke, daß eine pädagogische Attitüde, die ausschließlich auf Innerlichkeit, emotionale Selbst- und Fremderfahrung, personale Kommunikation, ästhetische Kreativität des Kindes, kurz auf die irrationale Komponente der romantischen Überlieferung setzt, die Kraft des kindlichen Geistes unterfordert und die Bildungsaufgabe verfehlt. Kurz nach dem Tode Rousseaus erfand (ohne daß die ökonomische Situation so etwas schon nötig machte) der Amerikaner Oliver Evans (1784) eine vollautomatische Mühle, von der seine Kollegen meinten, sie sei
»ein Klapperkasten, der die Aufmerksamkeit eines vernünftigen Mannes nicht verdient«
(Giedion 1983, S. 107)
. Etwas später begannen Techniker, Piktogramme von Bewegungsabläufen zu zeichnen, die in ihrer ästhetischen Gestalt an Bilder Kandinskys und Klees erinnern (a. a. O., S. 35 ff.), und skizzierte Marx die
»polytechnische Bildung«
. In unserem Jahrhundert schließlich entstand (seit 1919) im
»Bauhaus«
ein Problemlösungstypus, in dem ästhetische, soziale, ökonomische, rationale und emotionale, individuelle und kollektive Komponenten – mit Piaget zu sprechen –
»koordiniert«
werden sollten (vgl. Wingler 1975). Damit war ein Niveau für pädagogische Problemstellungen vorgezeichnet, das – wenn ich recht sehe – die pädagogische Theorie immer noch nicht erreicht hat. Gewiß haben Rousseau, Fröbel und Schleiermacher (zum Beispiel) den Faden angesponnen; die Struktur des Teppichs zu entwerfen, der daraus werden könnte, steht der Pädagogik noch bevor.16
| 178|16Mit diesen Andeutungen möchte ich auf ein Problem aufmerksam machen, das, wie ich vermute, die Pädagogik künftig immer stärker beschäftigen wird. Was das auf der Ebene der Wissen|AB 179|schaftstheorie der Pädagogik bedeuten könnte, haben Luhmann/Schorr (1979) dargestellt. Dem dort als obsolet beschriebenen Typus pädagogischen Denkens gehört indessen vermutlich auch mein eigener Text zu (Ein Schelm gibt mehr als er hat). Aber ich denke, daß es einen guten Sinn hat, die in der europäischen Bildungsgeschichte entwickelten Prinzipien pädagogischer Orientierung ernst zu nehmen, sich in Kontinuität zu ihnen zu setzen, ihnen pädagogisch-praktische Problemlösungskapazitäten zuzutrauen. Insofern ist die (geheime) Bildungstheorie des
»Bauhauses«
eine Art Scharnier: sie ist einerseits der Überlieferung inhaltlich verbunden und riskiert andererseits einen Prospekt, in dem neue Problemstellungen formuliert sind. Welches sind, möchte ich Luhmann/Schorr fragen (und frage ich mich selbst), die Probleme, die sich der Selbsttätigkeit des Kindes heute stellen? Ich fürchte, daß weder der Therapeut noch der Computerfachmann mir eine befriedigende Antwort werden geben können. Ein Koordinationsproblem?
|A B 155|

Zum Schluß:
Schwierigkeiten mit Identität

[081:405] Schon im Zusammenhang mit dem
»ersten«
pädagogischen Sachverhalt, der Repräsentation von Lebensformen, taucht die Frage nach dem
»Ich«
auf, das diese Lebensformen in irgendeinem Sinne sich aneignet, wenigstens ihnen konfrontiert ist. Bei der Erörterung von Bildsamkeit trat diese Frage schon deutlicher hervor, besonders im Falle Kaspar Hausers: Ist dieses Ich nur eine
»Grenze zur Welt«
? Was meinen wir, wenn wir sagen: ein Kind sei bildsam? Und beim Nachdenken über das, was Selbsttätigkeit genannt werden könnte, wird die Frage nach dem Ich solcher Selbsttätigkeit unausweichlich: was ist dieses
»Selbst«
, von dem es heißt, es sei tätig? Die Auskunft der Fichteaner, es sei das mögliche Vernunftwesen, ist vielleicht doch noch zu dürftig; und Piaget umschifft dieses Problem geschickt dadurch, daß er nur indirekt über das Ich, nämlich nur über dessen Operationen spricht. Aber vielleicht ist das die heute erfolgversprechende Art, sich mit dem Problem zu befassen. Andererseits: Es scheint, als müsse man sich heute damit befassen.
[081:406] Seit wir nicht mehr selbstverständlich davon ausgehen können, daß die Menschen annehmen, alles Getrennte finde sich im Jenseits vereint wieder, die Antwort auf die Frage, wer ich bin und sein werde, sei in der Gruppenzugehörigkeit verbürgt oder in einer hier schon sich vollstreckenden Ordnung der Welt – seitdem scheint die Frage, wer ich bin und sein werde oder sein möchte, zu den wesentlichen und beunruhigenden zu gehören. Das sprachliche Etikett, mit dem diese Problemstellung versehen wird, heißt
»Identität«
. Es gibt nur wenige Ausdrücke der Theorie-Sprache, die eine derartige Verbreitung gefunden haben – und zwar innerhalb eines guten Jahrzehnts. Es scheint, als liefe ein großer Teil der Orientierungsprobleme, mit denen Menschen heute zu tun haben, in diesem Wort zusammen. Was Religion, Weltanschauung, Sozialstruktur, Nationalität, Gruppenzugehörig|A B 156|keit nicht mehr hergeben, soll nun Identitätsfindung und Selbsterfahrung leisten. Da liegt es nahe, daß der Gebrauch dieses Schlüsselwortes inflationär wird.
[081:407] Ärgerlich ist nur, daß das im wissenschaftlichen Diskurs geschieht; der inflationäre Gebrauch des Wortes
»Identität«
fördert nämlich nicht seine theoretische und praktische Brauchbarkeit.17
| 179|17Das Folgende ist natürlich keine detaillierte Auseinandersetzung mit den
»Identitäts«
-Konzepten, die gegenwärtig mit Bezug auf pädagogische Problemstellungen eine Rolle spielen. Es wird eine Variante ins Spiel gebracht, die – angeregt durch Arbeiten Henrichs, Marquards, Fuhrmanns (alle in Marquard/Stierle 1979) und durch Luhmann/Schorr (1982) – mir bildungstheoretisch nötig scheint. Beschreiben wir nämlich das Verhältnis des Menschen zu sich als eine Balance-Zumutung im Hinblick auf
»Einzigartigkeit«
und
»Zugehörigkeit«
, dann kommt dabei, von terminologischen Varianten abgesehen, nicht mehr heraus als das Verhältnis von Individualität und Sozialcharakter; und insofern werden derartige Problemskizzen richtig als
»kritische Rollentheorie«
bezeichnet, denn es sind rollentheoretische Konzepte. Für die Probleme der Bildung des Menschen aber ist seine (gewünschte, erwartete, erzwungene)
»Rolle«
nur der soziale Kontext, innerhalb dessen sich das Problem entfaltet oder instrumentalisiert, das er mit sich hat (vgl. Tugendhat 1979). Daß er mit sich (und nicht nur mit Rollen) ein Problem hat, setzt seine Bildung in Gang, macht Selbsttätigkeit nötig. Die Differenz, die in diesem Ich-Mich-Verhältnis das Problem konstituiert, zum Verschwinden bringen zu wollen (und sei es in einer Balance), käme einem Interesse an der Beendigung der Bildungsbewegung gleich. Schlimm also, wenn wir von jemandem sagen könnten, er sei mit sich identisch! Das Kind will groß sein, obwohl es noch klein ist. Der Pädagoge darf nicht wollen, daß das Kind nicht groß werden will. Eine Peer-group-
»Identität«
ist der vorläufige Stillstand einer Bildungsbewegung, es sei denn, in dieser Gruppe entstünden Entwürfe von Ich und Wir, die nicht identisch mit dem empirischen Zustand sind, in dem sie und ihre Mitglieder sich befinden.
»Problemwolke mit Nebelbildung«
hat ein philosophischer Kritiker (Marquard) deshalb die Identitätsmode genannt. Das ist verständlich, denn
»Identität«
begegnet uns besonders in der pädagogisch relevanten Literatur in den verschiedensten Zusammenstellungen: Identitätssuche und Identitätsfindung, Gruppen-Identität, ethnische Identität, Klassenidentität, Identitäts-Diffusion und Identitätszerstörung, schließlich auch Rollen-Identität und Ich-Identität und gelungene Identität; jedenfalls scheint der eine sie zu haben, der andere nicht, usw. Man hat den Eindruck, daß gar kein genau bestimmtes Problem mehr mit diesem Vokabular bezeichnet wird. Dennoch haben diese Redeweisen etwas Plausibles, insofern nämlich, als sie auf jene Sinnorientierungskrise reagieren und deshalb nicht nur Gerede sind, sondern Symptom eines vermutlich wichtigen Problems.

Zum Begriff

[081:408] Ich will nun nicht die einigermaßen verworrene Diskussion referieren, sondern eine Bestimmung des Begriffs skizzieren, die mir bildungstheoretisch ergiebig scheint. (Ich grenze von vornherein aus der Problemstellung alle jene Sachverhalte aus, für die es bewährte andere Bezeichnungen gibt – die aber neuerdings häufig auch
»Identitätsprobleme«
heißen, vor allem Individualität, Charakter, Gruppenzugehörigkeit.) Mit Identität sollen also höchstens solche Sachverhalte bezeichnet werden, die es mit dem Verhältnis des Menschen, der
»ich«
sagt, zu dem, was dieses Ich über sich aussagt, zu tun haben, und zwar soll der Begriff selbst nur dieses Verhältnis meinen.
[081:409] Dem Wortsinne nach – und das klingt in allen gegenwärtigen Verwendungen des Wortes mindestens an – bedeutet Identität immer eine Einheit des Vielerlei, z. B. einen identischen |A B 157|Sinn in allem zunächst verschieden Erscheinenden. In dieser Bedeutung ist beispielsweise der Satz zu verstehen: Ich bin in den verschiedenen Situationen a und b mit mir identisch geblieben. Der Satz
»ich bin identisch«
(ohne den Zusatz
»mit mir«
) ist offensichtlich Unsinn. Man kann also nicht
»identisch sein«
oder
»Identität haben«
, wie eine Eigenschaft. Wenn nun aber Identität die einheitsstiftende Beziehung sein soll, die das Ich zu sich selbst hat, und wenn zudem die Rede von Identitätsstörung oder -zerstörung sinnvoll sein soll, dann wird unterstellt, daß es ein Optimum für jenes, einen einheitlichen Sinn zwischen allem Verschiedenen konstruierende Verhältnis gebe, ja daß im Idealfall alles, was einen einzelnen Menschen betrifft, in diesen Sinn integriert werden kann. Es ist offensichtlich, daß dies eine unsinnige Unterstellung ist.
[081:410] Denken wir beispielsweise nur an die sozialen Beziehungen. Wäre jener optimale Fall die normative Richtmarke, dann müßte es prinzipiell möglich sein, daß ein Mensch in allen seinen Beziehungen jenen einheitlichen Sinn (seine Identität) wahrt; das würde bedeuten, daß er sie alle in dieser Hinsicht kontrollieren kann. Eine einfache Rechnung zeigt (vgl. Luhmann/Schorr 1982, S. 224 ff.), daß das ein schlechter Scherz ist: Die geforderte Integrationsleistung nimmt mit anwachsender Zahl von Beziehungen nach der Formel N 2 N 2 zu. Denkt man nicht nur an persönliche Beziehungen, sondern auch an Beziehungen zu anderen Daten (Objekten, Situationen, Zeit-Distanzen usw.), die in das Identitäts-Konzept zu integrieren wären, dann ergäben sich beispielsweise bei nur 50 solcher Daten 2500 50 2 = 1225 zu kontrollierende Beziehungen. Das geht nicht. Auf diese Situation kann das Individuum nur
»fragmentarisch«
(Simmel), mit Vereinfachungen (Luhmann/Schorr) reagieren.
[081:411] Was übrigbleibt, ist noch kompliziert genug, vor allem in pädagogischen Verhältnissen. Das Charakteristische eines Bildungsprozesses besteht ja gerade in seiner Dynamik, das heißt in einer immer anderen Organisation jener Vereinfachungen, und zwar aus zwei Gründen: Erstens bleibt in jedem derart vereinfachenden
»Selbstbild«
vieles unberücksichtigt, aber dennoch im Leben des Kindes anwesend; das
»Mögliche«
ist mehr als das
»Wirkliche«
; oder das aus der |A B 158|Wirklichkeit als identitätsrelevant Ausgelesene ist weniger als die Wirklichkeit; das Selbstbild ist also im Prinzip labil. Es ist aber zweitens auch aus Gründen labil, die in der zeitlichen Stufung des Bildungsganges liegen, besonders in der Tatsache, daß die Bewegung der Bildung, die Selbsttätigkeit, zeitliche Vorwegnahmen (Antizipationen) erfordert, also immer schon ein Stück über sich selbst hinaus sein muß. Das Verhältnis, das Identität heißt, besteht also aus der Differenz zwischen dem, was empirisch der Fall ist, und dem, was möglich wäre; die vereinfachende Selektion aus der empirischen Vielfalt ist ein zeitlicher Vorgriff auf Zukünftiges, ist – wie Sartre sagt – ein Entwurf, aber ein immer riskanter.
[081:412] Ich möchte deshalb vorschlagen, folgendes anzuerkennen:
  1. 1.
    [081:413] Um überhaupt so etwas wie einen einheitsstiftenden Sinn in die Vielfalt meiner Weltbezüge hineinzubekommen, muß ich diese Vielfalt vereinfachen.
  2. 2.
    [081:414] Bezieht sich diese Vereinfachung nicht auf die Welt außer mir, sondern auf mich selbst, dann nennen wir das Muster, in dem die Vereinfachung geordnet ist, das
    »Selbstbild«
    .
  3. 3.
    [081:415] Das Selbstbild ist prinzipiell labil, weil die in ihm nicht geordneten Erfahrungs- oder Wahrnehmungsteile meiner selbst jederzeit zur Bedeutsamkeit aufrücken und mich deshalb zur Umorganisation meines Selbstbildes veranlassen können.
  4. 4.
    [081:416] Der gleiche Sachverhalt, der mich zur Vereinfachung in einem Selbstbild drängt, drängt mich auch, an ihm möglichst dauerhaft festzuhalten. Zugleich aber drängen mich andere Sachverhalte (neue Situationen, das
    »Großwerden-Wollen«
    des Kindes), mein Selbstbild zu revidieren. In der einen Hinsicht ist die Veränderungszumutung, in der anderen die Stabilitätszumutung bedrohlich.
  5. 5.
    [081:417] Anerkennt man die Behauptungen 1–4, dann ist die Frage, was da noch
    »Identität«
    heißen soll. Ich sehe nur dies: Identität gibt es nur als Fiktion, nicht aber als empirisch zu sichernden Sachverhalt. Diese Fiktion aber ist eine notwendige Bedingung des Bildungsprozesses, denn nur durch sie bleibt er in Gang. Identität ist eine Fiktion, weil mein Verhältnis zu meinem Selbstbild in die Zukunft hinein offen, weil das Selbstbild ein riskanter Entwurf meiner selbst ist.
[081:418] Wenn ich das anerkenne, dann verliert die Rede, ich sei mit |A B 159|meinem Entwurf identisch, ihren Sinn, weil ich nämlich dann auch anerkennen müßte, daß ich dauernd ein anderer sein könnte. Könnte ich mich denn vielleicht mit jenem Risiko identifizieren? Das ist wohl kaum denkbar. Der Satz etwa
»ich bin ein Risiko«
gibt keinen Sinn, es sei denn, ich wäre – in irgendeinem Sinne – ein Risiko für andere. Sinnvoll wäre er höchstens, wenn er bedeutete
»ich bin mir zweifelhaft«
; dies nämlich könnte, nach dem über das Selbstbild Gesagten, bedeuten:
»ich zweifle an der Stabilität meines Selbstbildes«
. Sofern nun dieserart Zweifel immer angebracht sind und mein Verhältnis zu meinem Selbstbild zum Gegenstand haben, gibt es Identität in Fragen der Bildung des Menschen nur als Problem, nicht aber als Tatsache. Der Satz
»ich bin mit mir identisch«
ist nur noch als Ideologie sinnvoll. Richtig wäre beispielsweise die Formulierung:
»Der Entwurf, den ich mir von mir mache – und den ich mir unter dem Eindruck der Entwürfe, die andere sich von mir machen, mache – und mein Verhältnis zu ihm, im Hinblick auf das, was ich sein könnte, ist mir ein Problem«
. Insofern gibt es, jedenfalls für die pädagogische Theorie, keine Identitäten, sondern nur Identitätsprobleme.
[081:419] Woher kann man das wissen? Derartige Sachverhalte lassen sich nicht beobachten. Insofern ist Identität ein theoretisches Konstrukt. Aber worauf beruht die Plausibilität des Konstruktes – wenn es denn plausibel sein sollte? Wie ein Kind oder ein Jugendlicher mit sich selbst verkehrt, können wir nicht zuverlässig wissen. Wir kennen ja nur das, was davon nach außen dringt – und das ist vielleicht immer schon eine bereinigte Form seines Umgangs mit sich selbst, die Version für den sozialen Gebrauch gleichsam. Wir können deshalb die Identitätsprobleme von anderen nur erschließen, besser: erraten. Ein logisch zuverlässiges Schlußverfahren steht uns für diesen Fall nicht zur Verfügung, da wir beispielsweise aus der Haartracht eines Jugendlichen und vielleicht auch den Kommentaren, die er dazu gibt, nicht zwingend die Identitätsprobleme, die er hat, folgern können. Meine vorläufige Antwort: Wir können es nur durch Analogien erraten, und das Vorbild für die Analogien sind wir selbst.
|A B 160|

Innen und Außen

[081:420] Was ging in Kaspar Hauser vor, als man ihn fand? Was in einem Kind während des ersten Spracherwerbs, in einem Jugendlichen während der Selbstfindungsversuche in der Distanzierung vom Elternhaus, in einem Autobiographen während der Niederschrift, in einem Maler, wenn er sich selbst porträtiert?
[081:421] Für das, was sich in derartigen Selbstverhältnissen ereignet, haben wir freilich nicht nichts! Wir haben Spuren davon im Äußeren, und wir versuchen, sie zu lesen. In der Erziehung ist es nicht anders: Das Selbstverhältnis des Kindes läßt sich nicht beobachten, es kann nur aus den Spuren, die es hinterläßt, erschlossen werden. Und die Regeln, denen wir dabei folgen, können wir nirgend andersher gewinnen, als aus uns selbst und den Analogien, die sich durch Beobachtung der Spuren anderer ergeben. Deshalb auch ist hier das Irrtumsrisiko außerordentlich groß. Wissenschaftlicher Jargon, welcher Herkunft er auch sei, vermindert das Risiko nur scheinbar. Wenn irgendwo, dann zeigt sich die Nicht-Planbarkeit von Bildungsprozessen an dieser Stelle. Die Konsequenz daraus ist nicht der Verzicht auf Absichten, sondern: Aufmerksamkeit für die Spuren von Selbstverhältnissen. Und weil wir Kinder nur in Analogie zu uns selbst
»verstehen«
können, liegt es nahe, zunächst über uns, über
»Erwachsene«
nachzudenken.
[081:422] Da sind zum Beispiel die Selbstbildnisse von Malern, gleichsam ins Äußere, Interpretierbare gebrachte Beziehungen zu sich selbst, die das Rätsel des Selbstverhältnisses zwar nicht lösen, aber doch nuancenreich immer wieder neu formulieren, wenigstens für sich selbst eine Bestimmtheit versuchen. Schon am Anfang der neuzeitlichen Problematik des Selbstverhältnisses steht jenes von Dürer im Jahre 1500 gemalte Selbstbildnis (Abb. 19). Diese
»Spur«
zu verstehen bedeutet natürlich, den akademischen Regeln folgend, ihre Ikonographie zu entschlüsseln: das Bild repräsentiert eine Christus-Geste; es reiht sich, der Nürnberger Kleiderordnung jener Zeit folgend, in die höheren Stände ein (Pelzkragen); es hebt, für den handarbeitenden Maler Albrecht Dürer verständlich, die rechte Hand mit großer Delikatesse hervor (die übrigens, |A B 161|
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Gemäldes »Selbstbildnis im Pelzrock« von Albrecht Dürer aus dem Jahr 1500 zu sehen.
Abb. 19: Albrecht Dürer, Selbstbildnis im Pelzrock, 1500
nach der Deutung Panofskys, eine Konnotation zur segnenden Hand Jesu enthält); es enthält, rechts neben dem Kopf, den im Hinblick auf das handwerkliche Können selbstbewußten Zusatz, mit außerordentlich beständigen Farben gemalt zu sein – usw. Achtet man indessen auf die Augen, kommt eine andere Dimension ins Spiel: Der gemalte Maler sieht ja nicht nur uns, die Betrachter des Bildes, an, sondern im Akt des Malens sich selbst; dieser Blick ist eindringlich, prüfend, auf sanfte Weise skeptisch; er revidiert den Anschein von Selbstüberhebung und bekräftigt, daß dieser Entwurf, den Dürer von sich macht, zwischen eigenem |A B 162|Vermögen und der Nachfolge Christi eingespannt ist. Das Bild repräsentiert also eine Bewegung des forschenden Fragens nach sich (das lag damals für Dürer in einem ganz konkreten Sinne nahe; er war sich nicht sicher, ob die Malerei oder die Graphik seine eigentliche Stärke sein werde, ob die Italiener mit ihrer Kritik an seinem Gebrauch der Farben nicht doch recht hätten, und er begann nach den theoretischen, vernunftgemäßen Grundlagen der Malerei zu forschen):
»Gott ist geehrt, wenn in Erscheinung tritt, daß er einem Geschöpf, dem solche Kunst innewohnt, solche Einsicht gegeben hat«
(Albrecht Dürer, zitiert nach Panofsky 1977, S. 58)
.
[081:423] Knapp 130 Jahre später malte Rembrandt ein
»jugendliches«
Selbstbildnis (Abb. 20). Er war damals (1629) gerade 23 Jahre alt. Wie Dürer, und noch viel konsequenter als dieser, hat Rembrandt sich im Verlauf seines Lebens in immer anderen Verkleidungen,
»Rollen«
, dargestellt. Das ist gleichsam die
»Vorderbühne«
(Goffman), der Identitätspräsentation. Die spätgotische Konnotation, die noch im Selbstbildnis Dürers enthalten ist, macht allerdings den Ausdruck
»Vorderbühne«
hier suspekt; von einer
»Rolle«
zu reden, scheint unangemessen; das Allgemeine-Öffentliche und das Besondere-Private erscheinen noch nicht getrennt. Anders bei Rembrandt: noch zu seinen Lebzeiten erschien ja der
»Orbis pictus«
des Comenius und malte Velazquez jenes zweiflerische Bild der
»Meninas«
. Daß das Ich in der Imitatio Christi zu sich selbst kommen könne, gilt nicht mehr als fraglos verbürgt; die Zuordnung zu Stand oder Rolle gerät in Legitimationsschwierigkeiten bei der Suche nach zuverlässigem Lebenssinn (wenige Jahrzehnte zuvor hatte ja Shakespeare in seinen Stücken schon über das Verhältnis von Rolle und Ich zu philosophieren begonnen:
»... Die ganze Welt ist Bühne,/ Und alle Fraun und Männer bloße Spieler./ Sie treten auf und gehen wieder ab,/ Sein Leben lang spielt einer manche Rollen,/ Durch sieben Akte hin ...«
). Nun gewinnt die Frage, wer ich sei, ihren neuzeitlichen Sinn: sie ist nicht schon dadurch beantwortet, daß ich mich im Zusammenhang von Sozialstruktur und Mythos lokalisiere; es bleibt ein Rest, und der ist wesentlich. Die Selbstbildnisse Rembrandts stehen deshalb in zwei Serien: einer
»Rollen«
-Serie und einer
»Ich«
-|A B 163|
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Gemäldes »Jugendliches Selbstbildnis« von Rembrandt aus dem Jahr 1629 zu sehen.
Abb. 20: Rembrandt, Jugendliches Selbstbildnis, 1629
Serie. Das Jugendbildnis gehört zur
»Ich«
-Serie, zur
»Hinterbühne«
, die nun von den öffentlichen Identitätspräsentationen der
»Vorderbühne«
deutlich unterschieden werden kann; dies ist die Lesart, die ich für dieses Bild vorschlage.
[081:424] Rembrandt porträtiert sich nicht
»identifizierbar«
im Sinne einer Zuordnung von Individuum und sozialem Ort, etwa so, wie eine
»carte d’identité«
, ein Ausweis oder ein für einen bestimmten, an Statuserwartungen gebundenen, gesellschaftlichen Zweck geschriebener Lebenslauf Auskunft gibt. Er porträtiert sich als das Ich, das den Konventionen, Rollen und Öffentlichkeiten, den Mythen und den Malweisen, der Welt und dem Selbst, konfrontiert ist. Die Sinne (Augen, Ohr und Mund) sind offen; sie sind aufmerksam, verharren |A B 164|gleichsam in einer Attitüde des Übergangs von Rezeption und Produktion oder, wie Sartre sagen würde, von
»Konstitution«
und
»Personalisation«
. Die Farben sind teils nicht mit dem Pinsel, sondern mit dem Spachtel aufgetragen, die Haarlocken mit dem Pinselstiel in die Farbe hineingedreht. Dieser
»modernen«
Technik entspricht die Modernität der Selbstauffassung; das Bild ist nicht, wie das Dürers, nach Symmetrien und Analogien konstruiert, auch nicht mit symbolischen Haltepunkten außerhalb gleichsam, sondern in Diagonalen und mit nach außen weisendem offenen Ende: der im Schatten liegende fragende Blick geht hier ins Ungewisse einer offenen Zukunft; Zuverlässigkeit liegt in der Individualität.
[081:425] Die Porträts Dürers und Rembrandts sind
»schöne«
Bilder; die van Goghs und Beckmanns sind es nicht mehr (Abb. 21 und 22). Sie erlauben uns keine Identifikation mit dem dargestellten Ich. Es dominiert die Geste der Selbstausgrenzung. Vielleicht muß man, wie Antonin Artaud, die Psychiatrisierung des eigenen Ich erfahren haben, um van Goghs Selbstbildnisse zu verstehen.
»Wo ist in diesem Delirium der Platz des menschlichen Ich? ... Van Gogh suchte das seine sein ganzes Leben lang mit einer seltsamen Energie und Entschlossenheit ... er hatte es gerade erreicht und aufgedeckt, was er war und wer er war, als das allgemeine Bewußtsein der Gesellschaft, zur Strafe, daß er sich von ihr losgerissen hatte, ihn in den Selbstmord trieb«
(Artaud 1979, S. 13)
. In der Zeit, als er jenes seinem Freund Gauguin gewidmete Selbstbildnis malte, schrieb van Gogh an seinen Bruder:
»Ich bin wieder einmal dem Wahnsinnszustand des Hugo van der Goes auf dem Bild von Émile Wauters nahe. Und hätte ich nicht gewissermaßen eine Doppelnatur, die eines Mönchs und die eines Malers, so wäre ich, und zwar längst und vollständig, in besagten Zustand verfallen.«
Und kurz vorher:
»Ich habe Gauguin geschrieben, es sei wohl auch mir gestattet, meine Persönlichkeit in einem Porträt zu steigern ... Ich habe dieses Porträt aufgefaßt als das eines buddhistischen Priesters, eines schlichten Anbeters des ewigen Buddha.«
Die in dem Bild dargestellte
»Doppelnatur«
enthält noch eine ferne Erinnerung an jene Selbstinszenierungen, für die Dürers Selbstbildnis steht, aber ist doch ganz |A B 165|
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Gemäldes »A mon ami Paul Gauguin« von Vincent van Gogh aus dem Jahr 1888 zu sehen.
Abb. 21: van Gogh, Selbstbildnis 1888
anders, nicht nur wegen des materiellen und psychischen Elends, in dem van Gogh lebte. Das Andere ist dies, daß hier – wie auch in dem Selbstbildnis Beckmanns, wenngleich in völlig verschiedener Attitüde – die
»exzentrische Position«
des Ich
(Pleßner)
gleichsam rein zur Darstellung gebracht werden soll. Das ist nur noch in der Nähe des
»Wahnsinns«
möglich, in ausgegrenzter Position also, die nur noch äußerst dünne Linien mit dem System von Konventionen verbinden. Das reine Ich, als nichts als die exzentrische Position, ist nicht lebensfähig, sondern nichts als eine theoretische Fiktion. Es muß sich lokalisieren. Beckmann lokalisiert sich in der Geste des
»wahnsinnigen«
Schreis (darin Vincent/Artaud vergleichbar) und in der des distanzierten Beobachters (man beachte |A B 166|
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung einer Kaltnadelradierung eines Selbstbildnisses von Max Beckmann aus dem Jahr 1901 zu sehen.
Abb. 22: Max Beckmann, Selbstbildnis, 1901
die Augen) – dies letztere mehr noch in seinen anderen Selbstbildnissen. Am 22. 9. 1940 notiert er in seinem Tagebuch :
»Wenn man dies alles – den ganzen Krieg oder auch das ganze Leben nur als eine Szene im Theater der Unendlichkeit auffaßt, ist vieles leichter zu ertragen«
; gewiß – aber dennoch nicht gerade leicht oder unproblematisch; eine erste Ahnung davon vermitteln Hamlet und Ophelia und Lear, aber auch Velazquez und Comenius. Wenn schon, wie Comenius es sah, das Ich seine exzentrische Position nicht in den Kreis eingespielter gesellschaftlicher Konventionen zu integrieren vermag, es sei denn, diese Konventionen veränderten sich |A B 167|grundlegend, dann muß wenigstens ein Haltepunkt für jene Exzentrizität
»oberhalb«
der alltäglichen Zumutungen bürgerlichen Rollenspiels gefunden werden: van Gogh als
»Anbeter des ewigen Buddha«
(aber das war nur ein knapper, mythischer Augenblick im Leben des Vincent). Vincent van Gogh und Max Beckmann waren, wenn sie malten, und besonders wenn sie sich selbst malten,
»außer sich«
und
»bei sich«
:
»außer sich«
im Sinne jenes konventionalisierten Ich, das die moderne Theorie der Identität gelungener Standard-Entwicklungen von Lebensläufen uns schildert;
»bei sich«
im Sinne der neuzeitlichen Annahme, daß das
»Ich«
nur in Entgegensetzungen darstellbar sei.
[081:426] Das Spiel mit den Formulierungen
»außer sich«
und
»bei sich«
ist natürlich ein erschlichenes Argument, nur spontan plausibel. Genauer müßten wir die Struktur des in den Bildern repräsentierten Selbstverhältnisses so beschreiben: Das
»Ich«
, das
»sich«
darzustellen versucht, ist wie ein
»Auge, das sich selber sieht«
(Fichte), und zwar bei Malern, die ein Selbstporträt anfertigen, buchstäblich (sie sitzen dabei, vor Erfindung der Fotografie, in der Regel vor dem Spiegel). Dieses sich selbst anschauende
»Ich«
ist reiner Blickpunkt, der nicht nur das konventionelle vom sich entgegensetzenden Ich sondert, sondern auch das gegenwärtige vom künftig möglichen, das Sein vom Wollen; im Vorgang der ästhetischen Produktion wird indessen das derart Getrennte in der Einheit des Objekts integriert und damit das Identitätsproblem zur ästhetischen Anschauung gebracht.

Wirklichkeit und Möglichkeit

[081:427] Am Beispiel der Selbstporträts von Malern sahen wir, daß derartige
»Objektivationen«
– man könnte auch sagen, daß es sich um
»Äußerungen«
handelt, um nach außen, für die Erfahrungen anderer zugänglich gemachte Gestalten einer zunächst nur
»inneren«
, den Hersteller dieser Äußerung (manche sagen hier gern
»Entäußerung«
) beschäftigenden Erfahrung – ein Problem zur sinnlichen Anschauung bringen, das der Autor mit sich hat. Dieses Identitätsproblem hat |A B 168|mehrere Dimensionen; eine davon ist das Verhältnis zwischen dem wirklichen und dem möglichen Ich. Insofern sind die Bilder überhaupt nicht
»realistisch«
in dem Sinne dieses Wortes, in dem etwa
»Realität«
das empirisch Gegebene meinen könnte; sie bringen – im Gegenteil – einen Vorbehalt gegenüber der empirischen Gegenwart zum Ausdruck (
»So bin ich, aber ich könnte anders sein«
,
»dies und jenes wird von mir erwartet, aber ist das gerechtfertigt?«
)
[081:428] Aber schon an den vier Selbstbildnissen wird deutlich, daß diese Form des Identitätsproblems nicht universal ist, sondern eine Geschichte hat. Noch klarer als in der Differenz zwischen Dürer und Rembrandt tritt das hervor, wenn wir uns an die Art erinnern, in der Sokrates (nach dem platonischen Text der
»Apologie«
) von seiner Identität redet (vgl. dazu Fuhrmann in Marquard/Stierle 1979, S. 685 ff.). Sokrates rechtfertigt sich dort vor seinen Anklägern, indem er geltend macht, stets derselbe geblieben zu sein. Im ersten Satz benennt er gleich das Problem:
[081:429]
»Was wohl euch, ihr Athener, meine Ankläger angetan haben, weiß ich nicht: ich meines Teils aber hätte ja selbst beinahe über sie meiner selbst vergessen; so überredend haben sie gesprochen«
(Platon, Apologie, 17a)
.
[081:430] Das Selbst – die interaktionistische Sozialpsychologie würde hier sagen: das Selbst in der Dimension personaler Identität – wird hier dadurch zum Problem, daß es in der öffentlich angesonnenen Rolle (Dimension der sozialen Identität) gleichsam keinen Platz mehr hat und für den Träger dieser Rolle in Vergessenheit zu geraten droht. Die Verteidigungsrede hat deshalb zum Inhalt, das dem konventionalisierten Ich entgegengesetzte
»persönliche«
Ich herauszuarbeiten, es vor der Vergessenheit zu bewahren, die Identität des aktuellen Redners und Angeklagten mit dem, der er schon immer war, zu behaupten und zu erläutern, im Unterschied zu den
»falschen«
Anschuldigungen.
[081:431] »Man wird mich mein ganzes Leben hindurch, in der Öffentlichkeit, wenn ich je dort tätig war, und im Privatleben als einen solchen Mann, als stets denselben, befinden
(a. a. O., 33a)
.
|A B 169|
[081:432] Die Differenz zum modernen Identitätsproblem tritt in Brechts
»Geschichten vom Herrn Keuner«
hervor:
[081:433]
»Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten:
Sie haben sich gar nicht verändert.
Oh!
sagte Herr K. und erbleichte«
(Brecht, Gesammelte Werke 12, S. 383)
.
[081:434] Sokrates versicherte sich und seine Zuhörer seiner Identität als immer gleicher (allerdings in nur formaler Hinsicht: als jemand, der immer gleich in der Suche nach dem Wahren und Rechten geblieben sei); Herr Keuner dagegen wird durch die Behauptung, er habe sich nicht verändert, gerade verunsichert, möchte sich selbst, sein Verhältnis zu sich als Problem sehen, als immer neue zur Lösung anstehende Aufgabe, prinzipiell unabschließbar und deshalb den Bildungsprozeß in der Zeit beweglich haltend.
[081:435] Zwischen den Problemtypen Sokrates/Platon und Brecht liegt nicht nur der Schritt, der in der christlichen Form von Subjektivität getan wurde (Augustin), nicht nur der Anthropozentrismus der Neuzeit (Rembrandt), sondern auch der Typus von Selbstreflexion, der in der klassischen Autobiographie um 1800 erreicht war. Ein besonders anschauliches Beispiel dafür, wie komplex nun dieses Problem wird und daß es nur noch als Problem und nicht mehr als Eigenschaft dargestellt wird, ist der Beginn der Autobiographie Jean Pauls (1818):
[081:436]
»Es war im Jahr 1763
wo der Hubertusburger Friede
zur Welt kam
und gegenwärtiger Professor
der Geschichte
von sich; –
und zwar in dem Monate, wo ...
und zwar an dem Monattage, wo ...
und zwar in der frühesten frischesten Tageszeit ...«
(Jean Paul, Selberlebensbeschreibung, S. 4)
[081:437] 1798 schon schrieb er in einer
»poetischen Epistel«
:
[081:438]
»Lieber Otto! Jetzt treibt mich eine Idee durch die Alleen und |A B 170|Gärten, die schon alle Wände meines Kopfes mit Grün und Hesperiden-Fruchtschnüren überzogen hat; – sie soll aber vollends herauswachsen ins Freie mit ihren vollen Zweigen dem Publikum in die Hand. Sieh! ich will meine Lebensgeschichte, die mir noch bevorsteht, treu in poetischen Episteln aufsetzen. Sollt’ ich sie wider Verhoffen nicht erleben: so hab ich doch die Komödienprobe, die gestikulierende Lufterscheinung, das Panorama davon gehabt und halb Europa die Beschreibung«
(a. a. O., S. 80).
[081:439] Dieses Ich wird sich nicht dadurch durchsichtig, daß es sich eindeutig und nur als einerseits konventionelles und andererseits als den Konventionen konfrontiertes Ich deutet, sondern dadurch, daß es sich in die Schwebe bringt (ein beliebter frühromantischer Topos). Die Erläuterung dessen,
»was ich bin«
, wird zu einem Balanceakt nicht nur zwischen Rolle und Ich, sondern auch zwischen Gegenwart und Zukunft, Wirklichkeit und Möglichkeit. Die ironisch-witzige Leichtigkeit der Diktion ist nur scheinbar ein Gegensatz zu dem
»existentiellen«
Ernst der Selbstbildnisse van Goghs und Beckmanns. In der Tiefenstruktur sind sie verbunden durch einen Identitätshabitus, in dem geschichtlicher Kontext, soziale Rolle und redendes Ich in einen Zusammenhang von wechselseitigen Verunsicherungen gebracht wird. Die historische Gleichzeitigkeit des scheinbar Zufälligen (
»Hubertusburger Friede«
), die selbstzugeschriebene soziale Rolle (
»gegenwärtiger Professor der Geschichte«
), die, in dieser Form der Zuschreibung, sich eigentlich wiederum als Rolle aufhebt (
»... der Geschichte von sich«
), und nun das Ganze noch einmal in der Zeit (Monat, Tag, Tageszeit) und zu einem kosmischen Schema in Beziehung gesetzt: das ist der Aufbau einer Problemstruktur von Identität als Irritation. Aber für Jean Paul reicht dies noch nicht, die Verunsicherung muß noch in der Dimension der Zeit weiter getrieben werden: weiß ich denn, wer ich sein werde?
»Die Komödienprobe, die gestikulierende Lufterscheinung, das Panorama«
des künftigen, möglichen Lebenslaufs bringen jene ersten Bestimmungen von Geschichte, Rolle und Ich noch einmal in die Schwebe – allerdings nicht als Luftikus, sondern als fundamentales Problem des Ich, das versucht, sich unter den Bedingungen moderner Sozialverhältnisse in eine zugleich |A B 171|wirklichkeitsadäquate und zukunftsfähige Position zu bringen.
[081:440] Unter den Bedingungen moderner Sozialverhältnisse: dieser Typus des Selbstverhältnisses – bei Jean Paul in witzig-ironischer Version, vordem schon von Philipp Moritz in
»Anton Reiser«
als Phänomenologie von Kindheit und Jugend in der Form des autobiographischen Romans dargestellt, von Fichte philosophisch bearbeitet, in den pädagogischen Theorien von Rousseau bis Schleiermacher zum Thema gemacht – hat die Möglichkeitsbedingung seiner Verbreitung in einer Reihe kultureller und gesellschaftlicher Strukturbedingungen. Man muß sich als
»Individualität«
und also als straflos anders-sein-dürfend denken können; man muß sich denken können als jemand, der Positionen, Rollen, Regionen und Zugehörigkeiten wechseln kann; man muß unterstellen können, daß der Werthorizont, in dem man zunächst aufwuchs, rechtfertigungsbedürftig und revisionsfähig ist, und zwar nach Maßgabe von Vernunftkriterien; man muß über Zeitbegriffe verfügen, in denen Zukunft weder als Wiederholung des immer Gleichen noch als das rational unzugängliche Walten eines Schicksals, sondern als Öffnung auf Möglichkeiten hin repräsentiert ist, die sich im Prinzip einer tätigen Gestaltung durch den Menschen fügen; und man muß dies alles für
»diskutabel«
halten, zugänglich für Verständigungen in der Lebenswelt. Diese kulturellen Deutungsmuster greifen um so wahrscheinlicher Platz, als gesellschaftliche Erfahrungen der folgenden Art häufiger werden: die Erfahrung, daß – neben den in der sozialen Herkunft liegenden Karriere-Bedingungen – soziale Selbstlokalisierung durch
»Leistung«
möglich ist; die Erfahrung, daß gesellschaftliche Veränderungen sich nicht in größter Schwerfälligkeit über viele Generationen erstrecken, sondern von einer Generation erlebbar werden; die Erfahrung, daß
»persönlicher Wert«
über den Markt gesteigert oder verwirtschaftet werden kann; die Erfahrung, daß Systementwicklungen (z. B. Kapitalmarkt, administrative Planung, institutionelle Formierung, soziale Chancen-Strukturen, Arbeitsteilung) sich der praktischen Legitimation entziehen können und in Opposition zu lebensweltlichen Sinnentwürfen geraten können; die Erfahrung, daß das
»Ich«
mit seinen Antrieben, Deutungen und Absich|A B 172|ten dem Horizont gesellschaftlicher Erwartungen nicht kongruent ist.
[081:441] Derartige gesellschaftliche Erfahrungen und kulturelle Deutungen sind seit der Frührenaissance möglich, verbreitern sich allmählich und bilden um 1800 jenen mehrfach gebrochenen Identitäts-Habitus aus – allerdings zunächst nur für diejenigen, die ihn sich leisten konnten: soziale Aufsteiger, Menschen in relativ gesicherten Positionen, dennoch in einiger Distanz zu den ökonomischen Zwängen des Marktes, mit riskanten Selbstentwürfen lebend, nicht nur Statusgewinn erhoffend, sondern auch Statusverlust befürchtend – Künstler, Wissenschaftler, Intellektuelle. Aber sie sind, trotz ihrer
»Randständigkeit«
, Seismographen der gesellschaftlich-kulturellen Tendenzen; besonders gilt das für die Frühromantiker. Der Begriff
»Entfremdung«
wird sinnvoll und bekommt Kontur.
[081:442] Daß diese Personengruppen nur besonders empfindlich registrierten und in Sprache übertrugen, was in den gesellschaftlichen Strukturen sich tendenziell allgemein andeutete, zeigt sich darin, daß von nun an ein
»Jugendalter«
entsteht, dessen Spezifikum in der Identitätsproblematik liegt.
[081:443] Zwar zieht sich durch die ganze Geschichte der Neuzeit der, bisweilen freilich nur dünne, rote Faden – gelegentlich nur spärlich und nur für kleine soziale Gruppen dokumentiert, gelegentlich aber auch für breitere Bevölkerungsteile belegt (vor allem wohl im 18. Jahrhundert) – des allmählichen Entstehens dessen, was wir
»Jugendalter«
nennen, in der Form von relativ erwachsenen-unabhängigen Gesellungsformen der etwa 13- bis 18jährigen. Zwar bildeten diese Gesellungen auch gelegentlich
»kritische«
, gegen die herrschenden Institutionen gerichtete Attitüden aus, jedenfalls aber eigene kollektive Orientierungen, die mit den gesellschaftlichen Erwartungen in Konflikt gerieten. Aber sie lokalisierten sich nur in der gesellschaftlichen
»Vertikale«
von Herrschaftsverhältnissen, nicht aber in der historischen
»Horizontale«
von Überlieferung und Zukunft, von aktueller Wirklichkeit und antizipierter Möglichkeit. Erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts entsteht, allerdings schon im Umkreis des
»Sturm und Drang«
und der Frühromantik sich andeutend, für
»Jugendliche«
das Problem der Selbstlokalisierung im sozialen System. |A B 173|Naturgemäß und verständlicherweise beginnt das in der Gruppe der intellektuellen
»Aufsteiger«
: gebildete, aufsässige Gesellen, studierwillige Kinder des Kleinbürgertums, um wissenschaftliche Karrieren sich bemühende Pastorensöhne u. ä. – eine relativ kleine Gruppe also, die indessen das Kommende vorwegnimmt:
[081:444] Zwischen Kindheit als Phase des Vertrautwerdens mit den Grundregeln sozial-kulturellen Lebens und den Status des Erwachsenen als selbständig-selbsttätig Beteiligter an den Prozessen gesellschaftlicher Produktion und deren Geschichte schiebt sich die Phase des Jugendalters, in der nun – vielleicht zum erstenmal in der Geschichte – das Identitäts-Problem zur spezifischen Bildungsaufgabe wird. Die Dimension, in der diese Aufgabe sich formiert, ist die Zeit. Da das Überlieferte nicht mehr ohne weiteres als beglaubigt gelten kann, entsteht ein Begründungsproblem: Jugendliche erwarten (mit Recht!), daß die ihnen angesonnenen Verhaltens- oder Handlungszumutungen rechtfertigungsfähig sind, und zwar nicht im Hinweis auf das bewährte Alte, sondern in bezug auf das gute Künftige. Das ist für den Erwachsenen, für Eltern, Erzieher und Lehrer, freilich eine Strapaze – aber auch für die Jugendlichen selbst, denn die Rechtfertigungserwartung muten sie nicht nur den Erwachsenen zu, sondern im Prinzip auch sich selbst: sie wollen auf den Grund der Gründe kommen, die ihre Lebens- und also Zukunftsentwürfe sinnvoll machen. Das geht nicht ohne Distanz zum Hier der sozial formierten Lebenswelt und zum Jetzt der zu überschreitenden Gegenwart.
[081:445] Das Spiel des Jugendlichen mit Selbstentwürfen, deren symbolische Repräsentation in Bildern von Einzigartigkeit und Zugehörigkeit ist seitdem eine kulturell notwendige Komponente seiner Bildebewegung. Um so wichtiger wird – wenn darin die wesentliche pädagogische Aufgabe des Jugendalters liegt – die Repräsentation des Identitätsproblems durch den Erwachsenen, das Modell, das er durch sich selbst ist: seine Möglichkeiten nicht dem Wirklichen, den
»Zwängen«
von Sachen und Verhältnissen zu opfern, ohne dem Wahn zu verfallen. Die Anmaßung, die in jeder Erziehung und Bildung liegt, kann nur so gerechtfertigt werden.
|A B 180|

Verzeichnis der Abbildungen

    [081:446] Abb. 1: Bäuerliche Familie bei der Arbeit. Holzschnitt aus: Spiegel der menschlichen Behältniß, Basel, Vernhart Richel 1476.
    [081:447] Abb. 2: Bäuerliches Leben. 1502, Holzschnitt, Illustrationen zu Vergil, Straßburg 1502, nach Entwürfen von Sebastian Brant.
    [081:448] Abb. 3: Kaufmann inmitten seiner Familie. Holzschnitt aus: Regiment der jungen Kinder. Augsburg, H. Schauer 1477.
    [081:449] Abb. 4: Nadelmacher mit Tochter. Holzschnitt um 1500.
    [081:450] Abb. 5: Mutter gibt Kindern, bevor sie zur Schule gehen, Frühstücksbrot. Kpfr. von Jan Saenredam, 16.–17. Jahrhundert. Berlin Kupferstichkabinett.
    [081:451] Abb. 6: Unterricht der Mädchen in weiblichen Handarbeiten. Holzschnitt aus: E. Porzelius, Curioser Spiegel, Nürnberg 1689.
    [081:452] Abb. 7: Johann Amos Comenius: Orbis sensualium pictus, 1658. Invitatio – Einleitung, S. 2/3.
    [081:453] Abb. 8: Comenius, a. a. O., Convivium – Die Mahlzeit, S. 118/119.
    [081:454] Abb. 9: Comenius, a. a. O., Mercatura – Die Kauffmannschafft, S. 256/257.
    [081:455] Abb. 10: Velazquez, Las meninas – Die Ehrenfräulein, 1656. Madrid, Prado.
    [081:456] Abb. 11: Plan des Alcázar, Untergeschoß, 1626, Detail. Rom, Biblioteca Vaticana; Zit. nach Asemissen 1981, S. 21.
    [081:457] Abb. 12: Mosaik, San Apollinare, Ravenna, um 550.
    [081:458] Abb. 13: Donatello (1386–1466), Madonna mit Kind. Berlin, Staatliche Museen.
    [081:459] Abb. 14: Ghirlandajo (1449–1494), Großvater und Enkel, Louvre Paris.
    [081:460] Abb. 15: Philipp Otto Runge, Die Eltern des Künstlers, 1806, Hamburger Kunsthalle.
    [081:461] Abb. 16: Analphabetismus und soziale Schichtung: Das Beispiel Narbonne 1575–1593. In: Mieck, Ilja: Die Entstehung des modernen Frankreich, 1450–1610, Stuttgart 1982.
    [081:462] Abb. 17: Mutter lehrt ihr Kind das Laufen, ca. 1520, Holzschnitt eines Elsässer Meisters, Berlin, B Kupferstichkabinett.
    [081:463] Abb. 18: Kinderzeichnung und griechisch-archaisches Schema der Menschendarstellung, nach Snell 1955, S. 24.
    [081:464] Abb. 19: Albrecht Dürer, Selbstbildnis im Pelzrock, 1500. Alte Pinakothek München.
    [081:465] Abb. 20: Rembrandt, Jugendliches Selbstbildnis, 1629, Alte Pinakothek, München.
    [081:466] Abb. 21: van Gogh, Selbstbildnis, 1888, Fogg Art Museum, Cambridge (Mass).
    [081:467] Abb. 22: Max Beckmann, Selbstbildnis, 1901. In: Der Zeichner und Grafiker Max Beckmann, Kunstverein in Hamburg, 8. September bis 4. November 1979.
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Verzeichnis der literarischen Dokumente in der Reihenfolge ihres Entstehens bzw. ihrer Erstveröffentlichung

    [081:468] Homer (ca. 8. Jh. v. Chr.): Ilias, Berlin/Darmstadt 1957
    [081:469] Platon (ca. 428–347 v. Chr.): Des Sokrates Verteidigung, Sämtliche Werke Bd. 1, Reinbek 1957
    [081:470] Augustinus, Aurelius (354–430): Confessiones/Bekenntnisse, München 1955
    [081:471] Alberti, G. B. (1404–1472): Über das Hauswesen, Zürich 1962
    [081:472] Erasmus v. Rotterdam (1466–1532): Vertraute Gespräche, Köln 1947
    [081:473] Pirckheimer, Ch. (1466–1532): Denkwürdigkeiten, in: M. Beyer-Fröhlich (Hg.): Aus dem Zeitalter des Humanismus und der Reformation, Leipzig 1931
    [081:474] Ignatius von Loyola (1491–1556): Die Exerzitien und aus dem Tagebuch, München 1978
    [081:475] Montaigne, M. de (1533–1592): Essais, Zürich 1953
    [081:476] Comenius, J. A. (1592–1670): Orbis sensualium pictus, hrsg. von J. Kühnel, Leipzig 1910 (Faksimile der Ausgabe von 1658)
    [081:477] Ders.: Große Didaktik, Düsseldorf/München 1954
    [081:478] Rousseau, J. J. (1712–1778): Abhandlungen über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, Hamburg 1955
    [081:479] Ders.: Emile oder über die Erziehung, Paderborn 1958
    [081:480] Ders.: Bekenntnisse, Leipzig 1956
    [081:481] Pestalozzi, H.H. (1746–1827): Brief an einen Freund über seinen Aufenthalt in Stanz, in: Sämtliche Werke, Bd. 13, Berlin/Leipzig 1932
    [081:482] Kleist, H. v. (1777–1811): Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, in: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, München 1952
    [081:483] Jean Paul (Friedrich Richter) (1763–1825): Selberlebensbeschreibung. Konjektural-Biographie, Stuttgart 1977
    [081:484] Schleiermacher, F.D. (1768–1834): Pädagogische Schriften, Bd. 1, Düsseldorf/München 1957
    [081:485] Kaspar Hauser (ca. 1812–1833): Ich möchte ein solcher werden, wie ... Materialien zur Sprachlosigkeit des Kaspar Hauser,B Frankfurt 1979
    [081:486] Flaubert, G. (1821–1880): Briefe, Zürich 1977
    [081:487] Häuptling Büffelkind Langspeer erzählt sein Leben, München 1958
    [081:488] Brecht, B.: Geschichten vom Herrn Keuner, in: Gesammelte Werke, Bd. 12, Frankfurt 1967
    [081:489] Bernhard, Th.: Der Keller, Salzburg 1976
    [081:490] Mannoni, M.: Ein Ort zum Leben, Frankfurt 1978
    [081:491] Canetti, E.: Die gerettete Zunge, München 1977
    [081:492] Jegge, J.: Dummheit ist lernbar. Erfahrungen mit
    »Schulversagern«
    , Bern 1976
    [081:493] Bernhard, Th.: Die Kälte, Salzburg 1981
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Verzeichnis der verwendeten Sekundärliteratur

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    B
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    [081:498] Barthes, R.: Mythen des Alltags, Frankfurt 1964
    [081:499] Baxandall, M.: Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts, Frankfurt 1977
    [081:500] Bechtel, H.: Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands, München 1967
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    [081:502] Benner, D.: Hauptströmungen der Erziehungswissenschaft, München 1978
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    [081:525] Habermas, J.: Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus, Frankfurt 1976: Kapitel
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    [081:558] Plessner, H.: Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin 1965
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    [081:560] Rutschky, K: Deutsche Kinderchronik. Wunsch- und Schreckensbilder aus vier Jahrhunderten, Köln 1983
    [081:561] Rutschky, K. (Hg.): Schwarze Pädagogik, Frankfurt 1977
    [081:562] Sartre, J. P.: Der Idiot der Familie, Bd. 1 und 2, Reinbek 1977
    [081:563] Sartre, J. P.: Die Wörter, Reinbek 1965
    [081:564] Schaller, K.: Die Pädagogik des J. A. Comenius, Heidelberg 1962
    [081:565] Schlumbohm, J. (Hg.): Kinderstuben. Wie Kinder zu Bauern, Bürgern, Aristokraten wurden 1700–1850, München 1983
    [081:566] Schöne, A.: Aufklärung aus dem Geist der Experimentalphysik. Lichtenbergsche Konjunktive, München 1982
    [081:567] Settis, S.: Giorgiones
    »Gewitter«
    . Auftraggeber und verborgenes Sujet eines Bildes der Renaissance, Berlin 1982
    [081:568] Snell, B.: Die Entdeckung des Geistes, Hamburg 1955
    [081:569] Stettner, M.: Manipulation und Pädagogik, Graz/Wien 1973
    [081:570] Timm, H.: Die heilige Revolution. Das religiöse Totalitätskonzept der Frühromantik. Schleiermacher – Novalis – Friedrich Schlegel, Frankfurt 1978
    [081:571] Tugendhat, E.: Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, Frankfurt 1979
    [081:572] Wingler, H. M.: Das Bauhaus, 3. Auflage 1975
    [081:573] Winkler, M.: Stichworte zur Antipädagogik. Elemente einer historisch-systematischen Kritik, Stuttgart 1982
    [081:574] Wittgenstein, L.: Philosophische Untersuchungen, in: Schriften I, Frankfurt 1960
    [081:575] Ziehe, Th./Stubenrauch, H.: Plädoyer für ungewöhnliches Lernen, Reinbek 1982
B
1785
B
;
B
in Deutschland
B
Ziehe/Stubenrauch
B
Feuerbach in Hörisch 1979, S. 119 ff.
B
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14Für das Folgende vgl. Oelkers/Lehmann 1983, S. 88 ff.
B
ø
B
Präsentation
B
dem
B
Bildausschnitt aus: Hans Schäufelein, Der Tod und die Lebensalter, um 1517.
B
ø
B
Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz,
B
L.
B
Erasmus v. Rotterdam (1466–1536): Ausgewählte pädagogische Schriften, hrsg. von A. J. Gaul, Paderborn 1963
B
hrsg. von J. Hörisch,
B
[081:496] Artaud A.: van Gogh, der Selbstmörder durch die Gesellschaft, Frankfurt 1979