Ich-Irritationen [Werkkommentar]

1 Werk: Formale Beschreibung

1.1 Leittext

[1] Mollenhauer, Klaus. Ich-Irritationen. Interpretation eines Bildes von Francis Bacon (Beitrag 1989; KMG 108-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqgd&edition=a.
[2] Basierend auf:
  • [3] Mollenhauer, Klaus (1989). Ich-Irritationen – Interpretation eines Bildes von Francis Bacon. In Franz Stimmer (Hrsg.), Vortragsreihe des Instituts für Sozialpädagogik (S. 45–60). Lüneburg: o. V.
[4] Der Aufsatz wurde erstmals 1989 in einem Band zur Vortragsreihe des Instituts für Sozialpädagogik der Universität Lüneburg, herausgegeben von Franz Stimmer veröffentlicht. Er umfasst 16 Druckseiten, inklusive eines knappen, sechs Titel umfassenden Literaturverzeichnisses und einer eine Seite einnehmenden schwarz-weißen Abbildung des Gemäldes
Portrait of Georg Dyer in a mirror
von Francis Bacon.

1.2 Weitere Fassungen

[5] Mollenhauer, Klaus. Ich-Irritationen. Interpretation eines Bildes von Francis Bacon (Beitrag 1993; KMG 108-b). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqgd&edition=b.
[6] Basierend auf:
  • [7] Mollenhauer, Klaus (1993). Ich-Irritationen – Interpretation eines Bildes von Francis Bacon. In Barbara Wichelhaus (Hrsg.), KUNST theorie. KUNST psychologie. KUNST therapie. Festschrift für Hans-Günther Richter zum 60. Geburtstag (S. 111–122). Berlin: Cornelsen.
[8] Der Aufsatz wurde mit wenigen, hauptsächlich formalen Abweichungen, erneut veröffentlicht in einer Festschrift für Hans-Günther Richter zum 60. Geburtstag. Hier umfasst der Text 12 Druckseiten, inklusive des Literaturverzeichnisses und der, allerdings in besserer Auflösung gedruckten, schwarz-weißen Abbildung des Gemäldes von Bacon.

1.3 Übersetzungen

[9] Übersetzungen liegen unserem Kenntnisstand nach nicht vor.

1.4 Unveröffentlichte Quellen

[10] SUB Göttingen, Cod. Ms. K. Mollenhauer
  • [11] Korr. All. Scholz: 23.11.–1.12.1987, Korrespondenz zwischen Otfried Scholz und Klaus Mollenhauer (bzgl. des Vortragstextes)
  • [12] Korr. All. Stimm: 21.2.1988–15.6.1989, Korrespondenz zwischen Franz Stimmer und Klaus Mollenhauer (bzgl. der Einreichung des Manuskripts)
  • [13] Korr. All. Wichel: 17.7.1992, Brief von Barbara Wichelhaus an Klaus Mollenhauer(Verabredungen zum Text und zur Gestaltung des Manuskripts)
  • [14] Manu. pub. 80 57: ohne Titel (o. D.). (Entwurf des Aufsatzes, ohne erste Textseite und mit Änderungen zum publizierten Text, sowie mit zahlreichen inhaltlichen Anmerkungen einer dritten Person)
  • [15] Manu. pub. 80 58: Klaus Mollenhauer (o. D.). Ich-Irritationen – Interpretationen eines Bildes von Francis Bacon von Klaus Mollenhauer (Manuskript des Textes, Umfang: 23 Seiten)
  • [16] Uni-Lehre 80 11-002: Vortragsmanuskript der Vorlesung Stationen neuzeitlicher Bildungstheorie. Interpretationen von Bildern aus fünf Jahrhunderten, Sommersemester 1986

2 Inhalt und Kontexte

[17] Die Entstehung des Aufsatzes geht mindestens ins Jahr 1986 zurück, denn das Manuskript der in diesem Jahr gehaltenen Vorlesung Stationen neuzeitlicher Bildungstheorie. Interpretationen von Bildern aus fünf Jahrhunderten enthält bereits fast deckungsgleich den 1989 publizierten Text (Uni-Lehre 80 11-002, S. 3–17). Aus der Korrespondenz mit Otfried Scholz (von der Hochschule der Künste, Berlin) geht hervor, dass der Aufsatz eigentlich für den 26. International Society for Education through Art (INSEA) Weltkongress vom 24.-28. August 1987 gedacht war und dort unter dem Titel Zur Genealogie des modernen Ichs angekündigt war. Aufgrund von Krankheit konnte Mollenhauer ihn dort aber nicht halten und antwortete an Scholz, der im Nachgang um eine Kopie des Manuskripts bat, dass er den Titel geändert habe,
als ich merkte, daß der erste Titelvorschlag doch wohl ein wenig zu anspruchsvoll für das war, was ich leisten konnte.
(Mollenhauer an Scholz, 1.12.1987, Korr. All. Scholz, S. 1)
. Auf Einladung der Universität Lüneburg hielt Mollenhauer dort einen Vortrag auf Basis des Manuskripts und der Text erschien unter dem geänderten Titel im Band zur Vortragsreihe des Instituts für Sozialpädagogik der Universität Lüneburg, herausgegeben von Franz Stimmer. Mollenhauer bat in einem Brief um den Vermerk, dass es sich bei dem Text um einen Vortrag von 1987 handelt (Mollenhauer an Stimmer, 15.6.1989, Korr. All. Stimm).
[18] Mollenhauer nimmt das Gemälde
Portrait of George Dyer in a mirror
von Francis Bacon als Ausgangspunkt für die Beschreibung einer Komponente der modernen Ich-Thematik und diskutiert sie im Hinblick auf den Prozess der Erziehung. Sein Ausgangspunkt ist hier die Beobachtung, dass in der Pädagogik über den Erwachsenen im Erziehungsprozess merkwürdig wenig gesagt ist, dieser vielmehr als ein mit sich identisches Subjekt immer schon vorausgesetzt sei. Andererseits sei aber das Thema der Moderne das zweifelnde, zerrissene, sich selbst fremde Ich. Um dies auch für die Pädagogik zur Sprache bringen zu können, interpretiert Mollenhauer das Bild Bacons, das ihm viele Facetten des Zweifels und der Unsicherheit des modernen Ich zu enthalten scheint. Für ihn zeigt es in seiner Bildsprache deutlicher und eindrucksvoller als die meisten Texte eine Reihe von Irritationen und Metaphern, in denen die Zerrissenheit des Selbst ästhetisch erfahren werden kann.
[19] In drei Schritten entfaltet Mollenhauer seine Argumentation, indem er zunächst das Bildelement des Spiegels als eine metaphorische Darstellung der Schwierigkeiten von Selbsterkenntnis analysiert, dann die Einbeziehung des Betrachters und der Betrachterin thematisiert und schließlich die anthropologische Dimension der Leibhaftigkeit in der von Bacon gezeigten Weise als besonders geeignet für eine spezifische Selbsterfahrung darstellt. So ist der Leib dem Menschen einerseits als unhintergehbar gewiss gegeben, scheint andererseits in der exzentrischen Position immer wieder als befremdlich und distanziert auf. Bacons Bilder
nötigen [...] uns eine selbstreflexive Bewegung im Hinblick auf unsere eigene Leibhaftigkeit auf. Was sich in dieser Selbstbezüglichkeit abspielt, läßt sich nicht mehr sagen.
(KMG 108-a, Abs. 108:39)
Die Gewalttätigkeit in Bacons Bildern ist für Mollenhauer
diejenige, die wir uns selbst antun müssen, wenn wir dahinterkommen wollen, ob uns unser Ich irgend zuverlässig gegeben ist
(KMG 108-a, Abs. 108:37)
. Für Mollenhauer formuliert Bacon die Identitäts-Frage bildsprachlich; diese sei in der Pädagogik zwar nicht neu, treffe aber den Betrachter als Bild in seiner Gleichzeitigkeit aller verwendeten Mittel und Elemente viel unmittelbarer als ein Text. Bacons Bilder könnten als Variation der Zerstörungsmetapher gelesen werden, die auch schon bei René Descartes, Jean-Jacques Rousseau, Denis Diderot, Jean Paul, Charles Baudelaire und Walter Benjamin auftauchen. Sie verweisen in je spezifischer Weise auf den
choc
(Baudelaire), der eintritt, sobald das Ich sich erkennt (KMG 108-a, Abs. 108:23–27, Abs. 108:34–38). Damit erläutert Mollenhauer ein Problem und zugleich ein Potential, das allen Interpretationen von Werken der Kunst und Musik gemein, ist: die ästhetische Erfahrung, basierend auf der vorsprachlichen Tätigkeit der Sinne, ist nicht in gleicher Weise interpretierbar und beschreibbar wie es sprachliche Texte sind. Diese vorsprachliche Leiblichkeit steht jedoch zu Beginn des pädagogischen Prozesses, wenn nämlich der Säugling und das Kleinkind noch ohne Sprache bereits erzogen werden. Aber auch disziplingeschichtlich sind diese ästhetischen Werke insofern hoch relevant, weil sie metaphorisch auch auf eine Bedingung moderner Pädagogik in ihrer Orientierung an Veränderbarkeit, Wachstum und Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung des Subjekts verweisen.
Diese Metapher hat Pädagogik im modernen Sinne des Wortes allererst möglich gemacht, obwohl sie selbst seitdem alles daran gesetzt hat, sie zu verleugnen.
(KMG 108-a, Abs. 108:38)
[20] Mollenhauer setzt hier etwas fort, was er schon in anderen Werken begonnen hatte, nämlich die Suche nach
Aussagen
von Bilddokumenten, die sich für grundlegende Probleme und
blinde Flecken
einer ganz auf Text und Wortsprache ausgerichteten pädagogischen Disziplin beziehen lassen. So widmete er etwa den Schwierigkeiten mit Identität in den Vergessenen Zusammenhängen (KMG 081-A) das Abschlusskapitel, indem er Selbstbildnisse von Malern und Selbstzeugnissen von Literaten interpretierend, ebenfalls dem Rätsel des Selbstverhältnisses auf die Spur zu kommen versucht (KMG 081-A, Abs. 081:405-445 und Werkkommentar dazu).

3 Rezeption

[21] In seinem Nachruf
Entdeckt, was ihr wollt
(1998) nennt Michael Parmentier die Ich-Irritationen in einer Reihe von Texten Mollenhauers aus den 1980er Jahren als Beispiel für die an die Vergessenen Zusammenhänge (KMG 081-A) anknüpfenden Texte.
Mollenhauer war davon überzeugt, daß künstlerische Sinnobjektivationen aller Gattungen als
Quellen
für die historische Konturierung unserer Bildungsvorstellungen besonders privilegiert sind.
(Parmentier, 1998, S. 35)
In ihrer Dissertation greift Martina Koch (1993) auch auf die Ich-Irritationen zurück. Sie nennt den Text widersprüchlich in Bezug auf seine Behauptung, ein
Text oder ein Bild könne Selbstreflexion ausschließlich über nicht-thematisierende Stilfiguren aufgreifen
(Koch, 1993, S. 115)
. Zudem setzt sie sich mit Mollenhauers Theorem ästhetischer Metaphern auseinander, das er hier in KMG 108-a am Beispiel der Ich-Zerstörung des modernen Subjekts entfaltet (Koch, 1993, S. 389).

4.1 Andere hier verwendete Werke von Klaus Mollenhauer

    [22] Mollenhauer, Klaus. Vergessene Zusammenhänge. Über Kultur und Erziehung (Monografie 1983; KMG 081-A). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqkc&edition=A.

4.2 Weitere Literatur

    [23] Koch, Martina (1993). Die Konstellation der Rationalitäten im interrationalen Bildungsprozeß: J. Habermas, D. Kamper und M. Seel im fiktiven Gespräch über eine Bildinterpretation von K. Mollenhauer. Weinheim: Deutscher Studien-Verlag.
    [24] Parmentier, Michael (1998). Entdeckt, was ihr wollt. Zum Tode von Klaus Mollenhauer. Eine Würdigung. Erziehungswissenschaft, 9(17), 23–42.
[25] [Lisa-Katharina Heyhusen & Cornelie Dietrich]