[108:1] Die pädagogischen Diskurse haben in der Regel ihren Referenten im
Kinde bzw. in den kulturell eingespielten Vorstellungen von Kindheit,
Entwicklung und zweckdienlichen Interaktionsmustern. Das sagt schon der
Name. Die andere Seite des pädagogischen Umgangs, der Erwachsene, bleibt
merkwürdig im Nebel. Die Psychoanaiyse und die sozialwissenschaftliche Professionalitäts-Forschung, auch
neuerdings Mode gewordene auto-analytische Selbstberichte von Erziehern über
ihre Probleme, haben in diese nebelhafte Seite des Erziehungsverhältnisses
ein wenig Durchsicht hineinzubringen versucht. Alle diese Versuche aber
halten – wenn ich recht sehe – an der (normativen) Vorstellung fest, daß das
Ich sich als biographisch und sozial, in den Dimensionen der Zeit und des
sozialen Beziehungsraumes,
„identisches“
entwerfen müsse.
Ein Individuum, das damit Schwierigkeiten hat, scheint, wenn es sich einer
Erziehungsaufgabe zuwendet, irgendwie defizitär zu sein, und zwar schon
deshalb, weil, nach neuzeitlicher Vorstellung, das Kind zu einer
zuverlässigen Lokalisierung im gesellschaftlich-kulturellen System nur
kommen könne, wenn der erziehende Erwachsene diese Zuverlässigkeit
repräsentiere, in seiner eigenen Selbstlokalisation also als erfolgreich
sich darstellen kann. Ergeben sich in dem Verhältnis der Generationen
dennoch Schwierigkeiten – und zwar auf der Seite des Erwachsenen –, müssen
sie tunlichst bereinigt werden. Irren vertraut man keine Kinder an; der
Psychopath Rousseau tat gut daran – wenn er welche hatte –, die seinen
wegzugeben; daß van
Gogh keine hatte: Welch ein Glück! Pädagogik – das jedenfalls ist
offenbar die Essenz unserer Erziehungsmoral – beginnt erst dort, wo auch das
anfängt, was wir
„Normalität“
nennen; also: kein
zergrübelndes Suchen nach dem, was
„Ich“
, der Erwachsene,
bin; keine Irritation im Hinblick auf meine Zukunft; keine beunruhigenden
Ungewißheiten im Hinblick auf meine Lokalisierung im sozialen Feld. Ein
guter Erzieher ist, wer in dieser Hinsicht Klarheit geschaffen und Antworten
gefunden hat; ein guter Erziehungswissenschaftler ist, wer an
„Identität“
glaubt.
[108:2] Wie immer nun die identitätstheoretische Möglichkeitsbedingung von
Erziehung beschaffen sein mag – eine derartige Einstellung verdrängt, durch
ihre Normalisierungsattitüde, eine – wie mir scheint – wesentliche Seite
unserer spätmodernen Existenz. Wir können diese Attitüde nur
aufrechterhalten, sofern wir die Ich-Zweifel, die seit Rousseau, Goya und Fichte in unserer Kultur
thematisch |b 112|wurden, nicht an uns herankommen lassen.
Wir sind gewohnt zu meinen – jedenfalls sofern wir meinen, Erziehung
verantwortlich zu betreiben und erziehungswissenschaftlich zuverlässig zu
denken –, daß derartige Verunsicherungen des Ich bereinigt sein müssen, ehe
wir uns der Pädagogik zuwenden. Was heißt
„bereinigen“
?
Ich will versuchen, zu dieser Frage etwas beizutragen, und zwar durch die
Interpretation und vielleicht etwas umständliche Auslegung eines Bildes von
Francis Bacon.
Francis
Bacon, Portrait of George Dyer in a mirror
1967/68, Oil on canvas, 78 x 58 in/198 x 147cm|b 113|
[108:3] Das Bild ist zwischen 1967 und 1968 gemalt worden. Es gehört nicht
zu seinen besten – wenn ich das sagen darf – aber doch zu denen seiner
Bilder, die die Ich-Thematik prononciert zur Darstellung bringen. Geboren
1909 in Irland, hat er in seinen jungen Jahren sich mit Industrie-Design
beschäftigt; sein Vater hatte Schwierigkeiten mit ihm, weil er homosexuell
war. Berlin, wo er sich einige Zeit aufhielt, erschien ihm wie ein
„erotisches Gymnasium“
. Er beginnt erst spät zu malen, aber ist von Anfang an eigenwillig in
seiner Malweise; die in den letzten vier Jahrzehnten je herrschend gewesenen Malmoden hat er nicht mitgemacht.
Er malt fast nur ein einziges Sujet: den menschlichen Körper, aber den in
einer in der modernen Malerei nur mit van Gogh oder Beckmann vergleichbaren Intensität.
[108:4] Kunstkritiker haben seine Bilder gelegentlich
„gewalttätig“
genannt. Er selbst hat dem widersprochen und derartige
Deutungen einer schiefen konventionellen Betrachtungsweise zugeschrieben.
Was also sagt das Bild?
[108:5] Leicht zu erkennen ist, daß es sich um eine männliche Figur
handelt, deren Kopf, zurückgewandt, sich spiegelt. (Ich weise zunächst nur
auf das Offensichtliche hin, was sich ohne weitere Kontext-Kenntnisse jedem
aufmerksamen Beobachter zeigt.) Das Bild ist zwar andeutungsweise perspektivisch gemalt, aber dennoch
behandelt es den
„Raum“
ambivalent: Hinter- und
Untergrund sind fast abstrakte Flächen; es fehlen, mit Ausnahme von Figur
und Gestell, Hinweise auf Interieur; die Figur ist weder im Freien noch
eindeutig im umbauten Raum lokalisiert. Allerdings deutet die Kreisfläche
zusammen mit der weißen Bogen-Linie oben einen Innenraum an, wenngleich, wie
es scheint, ohne gegenständlich-bedeutungsvolle Referenten. Es ist Innenraum "überhaupt, nach hinten nur abstrakt begrenzt, nach vom zum Betrachter hin
offen.
[108:6] Figur und Spiegel befinden sich wie auf einem Podest. Zunächst
irritiert, ob man beim Spiegel – der übrigens ebenso gut ein Monitor sein
könnte – oder bei der Figur beginnen sollte, lenkt die Malweise den Blick
auf den linken Fuß – und verstärkt die Irritation noch einmal; unsicher, ob
der Fuß nur gestreckt ist oder ob er tritt, gerät die Blick-Lese-Bewegung an dieser
Stelle in eine Ambivalenz; die gemalte Geste zieht den Blick in das Bild
hinein und stößt uns zugleich zurück. Wandert das Auge über den Körper zum
Kopf, wiederholt sich hier Ähnliches: Wir erwarten, gemäß der Bildunterschrift, ein Porträt, aber das Gesicht ist uns
abgewandt; fast teilen wir nun mit der Figur die Blickrichtung; jetzt sind
wir, die Betrachter, fast im Bild, denn wir blicken
mit der Figur, wenngleich nicht im selben
Blickwinkel, in den Spiegel. Was sehen wir?
[108:7] Das Spiegelbild unterstreicht noch einmal die Leere des Raums.
Gesicht und Wand- bzw. Deckenfläche ist alles, was wir sehen. Zudem ist der
Kopf gespalten. Zwischen Gesicht und Hinterkopf entsteht eine Art
„Nichts-Figur“
, wie ein Keil, der sich da hineinschiebt.
Dieser Keil wiederholt sich noch zweimal, wenn wir in der Lesebewegung nun
wieder zurückgehen: am rechten Spiegelrand und als hochgeklappter Kragen,
von dem ausgehend eine dünne weiße Linie noch einmal die ganze Figur in der Längsrichtung zerteilt.
|b 114|
[108:8] Das Bild ist, so scheint es, eine moderne Ich-Metapher. Aber
könnten wir es so lesen, wenn wir nicht bereits andere Metaphern im Kopf
hätten:
„zerrissenes Bewußtsein“
,
„Reflexion“
,
„Entfremdung“
? Handelt es sich also
nur um die Bebilderung literarischer Ereignisse oder sind umgekehrt diese
literarischen Metaphern unzureichender Ausdruck eines Leibgeschehens, das im
Bild genauer getroffen wird? Derartige Fragen lassen sich auch theoretischer
ausdrücken: Verfehlt nicht gerade eine Deutung, die die Bildinformation auf
ihren pro-positionalen Gehalt in den Formen der Rede zu reduzieren versucht,
das Eigentümliche der ästhetischen Darstellung, die an die
„Sprache“
der Sinne gebunden ist und deshalb nicht nur
Kognition/Struktur, sondern auch Affektion/Empfindung auf den Weg bringt,
auf einer Grenze also zwischen Sagbarem und
Unsagbarem? Wie von einem Maler, der nicht nur Literarisches oder
„propositionale Sätze“
illustrieren will, nicht anders
zu erwarten, verweigert Bacon
die Antwort auf dieses Problem. Gefragt, ob es ihm darum ginge,
„etwas über die Natur des
Menschen auszusagen“
, antwortet er:
[108:9]
„Sicher nicht. Ich versuche nur,
Bilder zu machen, die so genau wie möglich meinem Nervensystem
entnommen sind. Ich weiß nicht einmal, was die Hälfte davon
bedeutet. Ich sage gar nichts aus. Ob man etwas aussagt für andere
Leute, weiß ich nicht. Ich sage schon deswegen nichts aus, weil ich
vermutlich viel mehr mit den ästhetischen Qualitäten eines Werkes
beschäftigt bin als Munch vielleicht. Ich kann mit aber auch nicht vorstellen, was ein Künstler überhaupt
versuchen könnte zu sagen, die banalsten einmal ausgenommen.“
(Sylvester 1982, S. 84)
[108:10] Was bedeutet es, wenn Bacon sagt (und darin würden ihm wohl alle bedeutenderen Maler
der Neuzeit recht geben), er sei
„mit den ästhetischen Qualitäten eines Werkes“
beschäftigt und
denke nicht daran, etwas
„auszusagen“
? Die Antwort auf diese Frage verweist unmittelbar
auf die Ich-Thematik des vorliegenden Bildes: Bacon fertigt, wie sonst in der Malerei bis
weit in die Moderne hinein üblich, für seine Bilder keine Skizzen an. Er
beginnt sofort, die Farbe aufzutragen, und dann verläuft, nach seinen
eigenen Worten, der Produktionsprozeß
„wie eine Reihe von unvorhergesehenen Ereignissen,
von denen das eine notwendig auf das andere folgt“
(a. a. O., S. 12)
. Das Ich also artikuliert sich nicht zunächst als (begrifflicher)
Entwurf und folgende Ausführung, sondern nur im Prozeß der
Selbstdarstellung. Bacon beschreibt seinen Produktionsvorgang als ein
Wechselspiel zwischen gleichsam spontaner Entäußerung im Setzen eines
Farbzeichens und der Reflexion auf die Bedeutung des so gesetzten Zeichens.
Er entfaltet also sein Projekt des modernen Ich nicht im Rahmen eines
formulierten Mythos (wie etwa in allegorischer Malerei), nicht im Rahmen
christlicher Subjektivitätsüberlieferung (wie etwa die Porträts des 15.
Jahrhunderts bis hin zu Runge), auch nicht im Rahmen sozial-säkularer Figurationen, sondern
einzig in der Auseinandersetzung mit den Vergegenständlichungen, die in dem
Prozeß seines eigenen malerischen Hervorbringens entstehen.
[108:11] Das tönt nun fast so, als wäre Francis Bacon mit diesem Bild und vielen
ähnlichen ein Propagandist
„neuer Unmittelbarkeit“
, der
auf emotionelle Selbsterfahrung, auf Spontaneität, auf Expression, auf Bruch
mit der Überlieferung, auf
„Echtheit“
u. ä. als den entscheiden den Bezugspunkt für die Bildung des Ich |b 115|setzt. Eine solche Meinung wäre völlig abwegig. Ich
will mit Bezug auf das vorliegende Bild nur drei Argumente geltend
machen:
[108:12] 1.Die Spiegel-Metapher. Die Verwendung des Spiegels selbst steht in der europäischen Malerei
mindestens in zwei Bedeutungsreihen: als Sinnbild für ein breites Spektrum
von Weisen der Selbstbetrachtung – Narziß, Vanitas, Melancholie,
das Du im Ich, Selbstsicherheit, etc. – und als Visualisierung dessen, was im Bild selbst nicht
anwesend ist. Der spanische Maler Velázquez hat im 17. Jahrhundert beide Bildtypen gemalt. Bacon hat Velazquez sehr genau studiert und sogar Bilder nach dessen Vorlagen angefertigt. Wir dürfen also annehmen, daß das in Bacons Porträt-Bild exponierte
Thema auf einer Auseinandersetzung mit der Tradition beruht – so wie er eine
Kreuzigung als Auseinandersetzung mit einem
Altarbild Cimabues, ein Ödipus-Bild als Auseinandersetzung mit Ingres bzw. Sophokles, ein Schlachthaus-Bild in
Auseinandersetzung mit Rembrandt malte. Die Güte seiner Bilder
verdankt sich nicht – wie manche pädagogischen Zeitgenossen meinen könnten,
die auf spontane Innerlichkeit, auf Ganzheit, auf Selbsterfahrung,
Expression, gar auf unvermittelte Leib-Kosmos-Erfahrungen setzen oder auch
nur,
„antipädagogisch“
, an die reine Natur im Kinde
glauben – einem bloß reichen und
„kreativen“
Innenleben.
Diese Kreativität hat er sich vielmehr gebildet und konturiert in der
Verarbeitung geschichtlicher Überlieferung. Der Spiegel im Bild nun
komprimiert in der angedeuteten Tradition das Motiv der Selbstbetrachtung
mit dem die Bildrealität erweiternden Motiv: Der Blick wird vom Spiegelbild
zerstört und präsentiert zugleich die nicht-sichtbare Wirklichkeit des
zerrissenen Bewußtseins. Wurde in der frühneuzeitlichen Malerei das
„Vanitas“
-Bild meist mit planen Spiegeln, das
realitätserweiternde Bild dagegen zumeist mit Wölbspiegeln gemalt, macht
sich Bacon eine moderne
Erfindung zunutze, um beide Bedeutungsrichtungen in einem Bildelement zusammenzufügen: Man weiß nicht, ob der
„Spiegel“
nicht vielleicht ein
„Monitor“
ist (und
damit etwas anderes sichtbar macht, als das Spiegelbild George Dyers).
[108:13] 2. Das Bild präsentiert kein solipsistisches
Subjekt, nur mit sich und seiner eigenen Innerlichkeit in der
Transzendenz der Spiegel-Metapher allein. Obwohl von fast allen Requisiten,
die als Referenten der Deutung behilflich sein könnten, gereinigt, sind zwei
Referenten unübersehbar: das technische Gestell (man mag hier an Heideggers Reflexionen über das
„Gestell“
als Metapher der Technik denken) von
Spiegel/Monitor und Drehstuhl, an dem sich die sonst naiv gebliebene
Ich-Geste bricht, einerseits und andererseits vor allem die durch den
vorgestreckten Fuß zwingend einbezogene Perspektive des Betrachters, der
dadurch mit Figur und gespiegeltem Bild gleichsam in Interaktion tritt. Das
von Bacon gemalte Ich-Projekt
– in dem Sinne, in dem nicht nur Selbstbildnisse, sondern auch Porträts vom
„Ich“
, wenn auch vom Ich des porträtierten Du handeln
– ist also offenbar zwischen Geschichte, Technik und Interaktion lokalisiert
oder eingespannt.
|b 116|
[108:14] 3. Schließlich enthält das Bild auch noch eine archaisch-anthropologische Dimension. Am menschlichen Körper
werden nicht die Eigentümlichkeiten einer besonderen historischen Gestalt
hervorgehoben, sondern
„Leibhaftes
überhaupt“
. Das wird allerdings an dem Porträt George Dyers weniger
augenfällig als bei den meisten anderen Körperbildern Bacons. Die Physiognomik der Leibformen ist
nicht individualisierend gemalt, sondern so, daß an ihr das Allgemeine der
Leibhaftigkeit menschlicher Existenz hervortreten kann. In einem Interview
mit David Sylvester sagt
Bacon:
[108:15]
„Wenn man in eines dieser großen Lagerhäuser geht
und diese riesigen Hallen des Todes durchschreitet, kann man das
Fleisch und die Fische und die Vögel und vieles andere sehen, das da
tot daliegt. Und selbstverständlich wird man als Maler ständig daran
erinnert, daß die Farbe von Fleisch tatsächlich sehr, sehr schön ist
... Wir sind ja schließlich selbst Fleisch, potentielle Kadaver.
Jedesmal, wenn ich einen Fleischerladen betrete, bin ich in Gedanken
überrascht, daß nicht ich dort anstelle des Tieres hänge.“
(A. a. O., S. 46)
[108:16] Das malerische Interesse an der Farbigkeit rohen Fleisches – in
diesem Bild nur im Spiegel-Bild angedeutet – und
das archaische Thema des
„Seins zum Tode“
hängen hier
offenbar zusammen. Das wie aus rohen Fleischwunden bestehend gemalte und
gespaltene Spiegelgesicht im
„Porträt George Dyers“
steht
also auch in der
„Memento“
-Tradition der Todesbilder, in
einer Tradition jedenfalls, die die jeweiligen historisch besonderen
Ich-Projekte einer Thematik konfrontiert, die zu den anthropologischen
Grundfiguren unserer Gattung gehört. Es verwundert deshalb nicht, wenn wir
derartig archaischer Thematik in Bacons Bildern immer wieder begegnen: nicht nur dem Mythos des
Narziß – von dem ich denke, daß er hinter aller
Spiegelmetaphorik anwesend ist –, nicht nur den Vorgängen von leiblicher
Vereinigung (nicht von Zeugung, denn Bacons Bilder sind durchweg in dieser Hinsicht Zeugnisse von
Homosexualität) und Vergänglichkeit des Fleisches, sondern auch den
Eumeniden, der Sphinx, dem Ödipus, dem Orestes, dem Schrei der Gorgo,
schließlich auch dem Christus
als Schlachtopfer (vgl. Zimmermann
1986).
[108:17] Man kann offenbar, ohne das Wort zu verwenden, auch so über
„Ich-Identität“
reden, wie dieser Maler. Und vielleicht
bekommt das modische Identität-Thema auf diese Weise eine differenziertere
Kontur als in der gewöhnlichen wissenschaftlichen, besonders
sozialisationstheoretischen Rede. Vielleicht gewinnt es auch eine größere
Tiefe als in den historisch zumeist etwas seichten Gewässern sogenannter
„neuer Paradigmen“
.
[108:18] Der Dreh- und Angelpunkt allen Erziehens, Bildens, Sich-Bildens
liegt nicht etwa an seinem Anfang, sondern an seinem Ende. Wenn es heißt, daß der Sinn des Erziehens darin liege, daß
der Erzieher überflüssig werde, oder wenn es gleichbedeutend heißt, daß die
Erziehung dann ende, wenn der heranwachsende Mensch psychosozial seine
Selbständigkeit erlangt habe, dann wird der ganze Erziehungs- und
Bildungsprozeß vom Ende her konstruiert. An diesem Ende steht immer, nicht
notwendig als normatives Muster, aber doch wohl als Beispiel, |b 117|der Erwachsene, der sich nun in pädagogischer Absicht dem
jungen Menschen zuwendet. Schlechterdings unausweichlich ist deshalb das
Datum, daß dieser Erwachsene so ist, wie er ist, und daß er sich –
„irgendwie“
– zu seinem So-Sein verhält. Sofern wir als
Erwachsene überhaupt mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt geraten, ist
dies ein Datum, das sich schlechterdings nicht verleugnen läßt. Und da wir,
wie gesagt und notwendig, in dieser Relation als Beispiele (nicht unbedingt
als Vorbilder oder Muster) ins Spiel kommen, ist die erste Frage der Pädagogik die nach unserem eigenen
Selbstverhältnis.
[108:19] Das gilt von Individuen wie von Epochen bzw. epochalen
Kollektiven. Ich orientiere mich also an einer Hypothese, die der Meinung
des Psychohistorikers De Mause (1977) strikt zuwiderläuft: Veränderungen der
pädagogischen Praxis, insbesondere auch solche in den persönlichen
Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern, werden nicht durch die
mikrosozialen Vorgänge kontinuierlich anwachsender Empathie gleichsam
zwangsläufig von Generation zu Generation sich verbessernder
Verständnisfähigkeit für die Situation des Kindes in Gang gebracht, sondern
dadurch, daß die Kulturbewegung je neue, andere Ich-Konzepte hervorbringt.
Alles Pädagogische folgt daraus. In diesem Sinne brachte beispielsweise die
frühneuzeitliche Stadtkultur ein Ich-Konzept hervor, das die Transformation
des mittelalterlichen Schul- und Armen-Wesens zur Folge hatte: die
Aufklärung ein Konzept, das die Erwachsenen veranlaßte, Kinder unter dem
Gesichtspunkt systematischen Lernens zu betrachten: die Klassik und Romantik ein Konzept, das die Idee der Gesamtschule und der
Individualisierung von Bildungsprozessen möglich machte: die Arbeiterbewegung ein Konzept, das im Kinde den künftigen Klassenkämpfer sah usw.
Kern derartiger Konzepte ist die Art und Weise, in der das reflektierende
Ich sich selber denkt und damit auch sich in den Dimensionen seiner Welt
bestimmt, in denen es zu existieren vermeint oder in denen zu existieren es
als Entwurf seiner selbst für sich projektiert. Francis Bacon hat in dem erörterten Projekt
eine nicht nur individuelle, schon gar nicht individualistische Formel
vorgeschlagen: Seine Formel macht das Allgemeine der Ich-Thematik – und zwar, um ein Theorem Schleiermachers zu verwenden, im unverwechselbar Individuellen – in der zweiten Hälfte unseres
Jahrhunderts zum Thema; und sie macht das auf eine Weise, die uns den
Kontakt mit den Traditionen, selbst mit archaischen Problemstellungen, nicht
vergessen läßt.
[108:20] Meine Interpretation bliebe schief, wenn ich es dabei beließe: Wie
die meisten Bilder Bacons ist
auch dieses Bild eine Zerstörungsmetapher. Es steht
damit in einer Tradition, die in der Frühromantik begann und nun schon über
fast 200 Jahre reicht, bis hin zu den Surrealisten und den Texten von Bothe Strauß. Ein Kern-Theorem dieser Metapher ist die
„Subjektpriorität“
(K.-H.
Bohrer), die
„These“
(wenn man so sagen darf),
daß nach dem Zerbrechen der älteren Sinnorientierungssysteme, Religionen und
Weltanschauungen, Gewißheit im Hinblick auf den Anfangspunkt des Nachdenkens
über sich nur noch sich einstellen könnte, wenn die Gerüste, die es noch
halten und also täuschen können, zerstört werden. Im Sinne dieser Tradition
schrieb Walter
Benjamin 1931 über den
„Destruktiven
Charakter“
:
|b 118|
[108:21]
„Der destruktive Charakter ist
gar nicht daran interessiert, verstanden zu werden. Bemühungen in
dieser Richtung betrachtet er als oberflächlich. Das
Mißverstandenwerden kann ihm nichts anhaben. Im Gegenteil, er
fordert es heraus, wie die Orakel, diese destruktiven
Staatseinrichtungen, es herausgefordert haben. Das
kleinbürgerlichste aller Phänomene, der Klatsch, kommt nur zustande,
weil die Leute nicht mißverstanden werden wollen. Der destruktive
Charakter läßt sich mißverstehen; er fördert den Klatsch nicht ...
Der destruktive Charakter sieht nichts Dauerndes ... Weil er überall
Wege sieht, steht er selbst immer am Kreuzweg ... Das Bestehende legt er in Trümmer,
nicht um der Trümmer, sondern um des Weges willen, der sich durch
sie hindurchzieht.“
(Benjamin 1980, S. 397 f.)
[108:22] Das liest sich wie eine sprachliche Paraphrase auf die Bilder
Bacons. Noch mehr
vielleicht die viel früheren Verse Baudelaires:
„Ich bin die Wunde und das
Messer! Ich bin die Wange und der Backenstreich! Ich bin die Glieder
und das Rad, das Opfer und der Scherge!“
[108:23] Das ist eine Reduktion der Weltverhältnisse auf das
Ich-Verhältnis. Die damit gesetzte Belastung des Ich hat Schwierigkeiten zur
Folge, denen die Alltags-Iche sich nur ungern aussetzen. Es ist irgendwie –
immer noch – plausibel, wenn das Alltags-Ich, wenn der
„Etui-Mensch“
(Benjamin) sich nicht so sehen will,
wie die Porträt-Figur Bacons
im Spiegel/Monitor, wie Bacon
sich in seinen Selbstporträts (z. B. in den wiederholten Versuchen, einen Teil des Gesichtes
„leer“
zu lassen). Wir sagen deshalb vielleicht gern, es
seien Schreckensbilder, die vor möglicher Zerstörung warnen wollen. Aber das wäre eine sentimental-moralische
Interpretation; idyllische Naturen freilich könnten sie wohl so lesen, es
träfe aber nicht die Sache. Denn die Bilder sind schön, sie haben in Bacons Worten eine
„ästhetische Qualität“
, wenngleich eine zerstörerische.
Was zerstören sie? Alles, was außerhalb der Selbstempfindung liegt; alles,
was dem reflektierenden Ich Umwege suggerieren könnte, die die Konfrontation
mit der Leibhaftigkeit verstellen: alles, was als gewohnheitsmäßige Stützen unserer alltäglichen
Lebensführung gilt – und zwar dies alles in der Perspektive des
Homosexuellen, dem auch noch die scheinbar zuverlässigste unserer
Gewohnheiten, das heterosexuelle Verhalten, kein zuverlässiger Grund
ist.
[108:24] Das Durchbrechen der Gewohnheiten, in den routinierten Alltagsverrichtungen, den für bewußt geplant und
also gewollt gehaltenen Handlungen, schließlich auch
der gleichsam selbstverständlichen Vorstellungen
über sich und die Welt – dies alles ist nicht neu, sondern eine
Interpretationsfigur der jüngeren Moderne, die Baudelaire wohl erstmals auf die Spitze
getrieben und in dem Ausdruck
„choc“
konzentriert hat. Kein Wunder, daß Existenzphilosophen, besonders Sartre, davon fasziniert waren.
Der
„choc“
kann einen treffen (vorsichtig und
„pädagogisch“
gesprochen) in einer
Selbsterfahrungsgruppe, beim Spaziergang im Wald, in einer der Pariser
Passagen, beim Anblick eines Kindes, angesichts eines Bildes von van Gogh oder Bacon usw. In jedem Falle aber
wirft er uns auf uns selbst zurück (
„Ich bin die Wunde und das Messer“
), auf die Frage,
was
„Bewußtsein“
, gar noch
„Selbstbewußtsein“
, schließlich auch
„Ich“
eigentlich sei.
[108:25] Wie gesagt: Derartige Fragen sind kein
„neues
Paradigma“
, sondern relativ alte Problemstellungen. Jean Paul
beispielsweise (um 1812) formulierte sie in einer autobiographischen Notiz
so:
|b 119|
[108:26]
„An einem Vormittag stand ich als
ein sehr junges Kind unter der Haustür und sah links nach der
Holzlege, als auf einmal das innere Gesicht, ich bin ein Ich, wie
ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr und seitdem leuchtend
stehenblieb: Da hatte mein Ich zum ersten Mal sich selber
gesehen.“
[108:27]
„Wie ein Blitzstrahl vom
Himmel“
: Er zerstört, was vorher war, und setzt einen Neubeginn.
Die Zerstörungsmetapher, auch in der Figur der
„romantischen
Ironie“
, markiert also genau den geistesgeschichtlichen Ort, an dem das europäische Ich aus den religiösen
Traditionen heraustrat und sich nun genötigt sah, sein Weltverhältnis in
sich selbst hervorzubringen. Daß es sich dabei allerdings immer noch um
Religion handeln könnte, d.h. um etwas, das sich dem wissenschaftlichen
Diskurs entzieht, wenngleich nicht in der Form orthodox-kirchlicher
Religiosität, hatte Schleiermacher ungefähr gleichzeitig mit Jean Paul vermutet: Das Ich könne sich seiner
selbst erst dann voll bewußt werden, wenn es sich dem schlechterdings
Fremden oder Anderen konfrontiere: und zwar sei dies nur möglich nicht als
Akt des Bewußtseins, sondern des Gefühls, nur so,
„daß wir uns unserer selbst als schlechthin abhängig
... bewußt sind“
– abhängig vom Universum oder – in religiöser Metaphorik gesprochen –
„was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit
Gott“
. In einem solchen
„Anerkennen des Fremden“
liege zugleich ein
„Vernichten des
Eigenen“
. Man muß also zerstören, um – auf gleichsam höherer Stufe – im Gefühl
„schlechthinniger Abhängigkeit“
zu sich selbst zu finden.
[108:28] Dieser Gedankengang müßte freilich genauer erläutert werden. Hier
und jetzt mag genügen, die Tradition der Zerstörungsmetapher und ihre
bewußtseinstheoretische Bedeutung nur zu erwähnen. Die Tradition reicht
indessen noch ein Stück weiter zurück als nur bis zu Jean Paul oder Schleiermacher. Um 1762 nämlich schrieb Diderot einen
Dialog zwischen sich und
„Rameaus Neffen“
, in dem dieser sich als Mensch darstellt,
der in allen sozialen Rollen gleichermaßen überzeugend auftreten kann und
sich selbst als das Allgemeine derart monströser Anpassungsleistungen wähnt.
Der Dialog schließt mit der leichtfüßigen Ironie des Autors Diderot:
[108:29]
„Er: ... Ist’s nicht wahr,
Herr Philosoph, ich bin immer derselbe? Ich: Ja wohl,
unglücklicherweise. Er: Laßt mich das Unglück noch vierzig
Jahre genießen. Der lacht wohl, der zuletzt lacht.“
(Diderot 1984,
S.
219)
[108:30] Diderot läßt keinen
Zweifel, daß, um zu sich selbst zu kommen, dieses im endlosen Rollenspiel
befangene
„immer
derselbe“
-Steinzerstört werden müsse. In der schier unendlichen Imitation sozialer
Inszenierungen ist Rameaus Neffe zwar
immer
„derselbe“
, aber
eben
„unglücklicherweise“
nie er selbst. Was er selbst sein könnte,
käme nur um den Preis der Zerstörung jener
Inszenierungen zutage. Diderots Freund Jean-Jacques Rousseau hätte ihm darin gewiß recht gegeben. Im
selben Jahr, in dem Diderot
„Rameaus Neffe“
schrieb, erschien Rousseaus
Niederschrift der ersten pädagogischen Zerstörungsmetapher, der
„Emile“
, die, wie jeder weiß, mit diesen Sätzen beginnt:
|b 120|
[108:31]
„Alles ist gut, wenn es aus
den Händen des Schöpfers hervorgeht; alles entartet unter den Händen des Menschen. Er zwingt ein
Land, die Produkte eines anderen hervorzubringen, einen Baum, die
Früchte eines anderen zu tragen; er vermischt und vermengt die
Klimata, die Elemente, die Jahreszeiten; er verstümmelt seinen Hund,
sein Pferd, seinen Sklaven; er stürzt alles um, er verunstaltet
alles; er liebt das Unförmliche, die Mißgestalten; nichts will er
so, wie es die Natur gebildet hat, nicht einmal den Menschen; man
muß ihn wie ein Schulpferd für ihn abrichten; man muß ihn wie einen
Baum seines Gartens nach der Mode des Tages biegen.“
[108:32] Die Kultur, die so etwas hervorgebracht hat, muß also zerstört
werden, um zur wahren Natur des Menschen vordringen zu können, was immer
dies sein könnte.
[108:33] Bacons Bilder
treiben die Zerstörungsmetapher in verschiedener Hinsicht auf eine Spitze:
Die Konfrontation des
„Ich“
mit
„sich“
wird von allen konventionellen Zeichen gereinigt (wie bei Rousseau und Diderot); die noch solcher zerstörenden Reinigung übrigbleibende
„Natur“
des Menschen, also beispielsweise sein
„Leib“
, wird dem auf diese
„Natur“
sich richtenden
„Ich“
konfrontiert (wie im
„Blitzstrahl“
Jean Pauls); das Ich erkennt
seine
„Natur“
als gespalten oder zerrissen (
„Ich bin die Wunde und das
Messer“
bei Baudelaire). Dem Bildbetrachter ist
auferlegt, wenn denn überhaupt weitere Deutungsbemühungen sinnvoll und dem
Bilde angemessen sein sollten, einen Weg nach der Diagnose Bacons zu finden oder,
dringlicher noch, die diagnostische Bewegung auf sich selbst zu beziehen. An
der Stelle, an der Rousseau
von
„Natur“
gesprochen hätte, spricht Bacon in den zitierten Interviews mit David Sylvester von
„Nervensystem“
. Auch dies ist,
wie bei Rousseau, eine
Metapher; sie steht für
„Selbstempfindung“
, für die
Instanz, die
„Ich“
sagt und
„Mich“
meint und
„Es“
empfindet, und für die Dramatik, die sich
zwischen diesen dreien entfaltet, zwischen Geist, Seele und Leib also.
[108:34] So gesehen weist das Bild auf Descartes, also weit hinter Rousseau und Diderot, zurück. Es ist, als
führe Bacon mich gleichsam
unwillkürlich auf Descartes
hin, so als hätte er nicht nur das Ich-Problem des 20. Jahrhunderts, die
Zerstörungsmetapher der letzten 200 Jahre gemalt, sondern – vielleicht ohne
es zu wissen oder zu wollen – das Problem des sich selbst konfrontierten
Ich, wie schon Descartes es
skizzierte, und zwar in den 1641 in Amsterdam geschriebenen
„Meditationen über die Grundlagen der Philosophie“
.
[108:35] Dort, in der ersten Meditation, kündigt Descartes an, daß er, nachdem er entdeckt
habe,
„wieviel Falsches ich in meiner Jugend habe gelten
lassen“
, nun zu einem
„allgemeinen Umsturz
meiner Meinungen schreiten“
wolle; und er will
„den Angriff
sogleich auf eben die Prinzipien richten, auf die sich alle meine
früheren Meinungen stützten“
.
[108:36] Es folgt, wie in den Philosophischen Lehrbüchern nachlesbar, noch
besser freilich am Text selbst nachgeprüft werden kann, eine der
gründlichsten Untersuchungen der Frage, auf welche Gewißheiten sich das Ich
eigentlich verlassen könne. Auch dieser Text also beginnt mit der
Zerstörungsmetapher (mit
„Umsturz“
und
„Angriff“
); und er knüpft diese Metapher an die Ich-Problematik
an. Offenbar haben wir es bei der Frage nach den Selbstgewißheiten des Ich
in der |b 121|modernen Version mit einer Problemstellung zu
tun, bei der sich gleichsam notwendig das Bild der Zerstörung einstellt.
Aber für alle diese Zerstörer gilt:
„Wer etwas zerstört, hat etwas anderes im
Blick“
(Bohrer)
.
[108:37] Die Zerstörungsmetapher dürfen wir also lesen als den historischen
Hinweis auf die Möglichkeitsbedingungen des sich selbst zum Thema machenden
Ich. Bacons Porträts und
Bacons
„Kreuzigung“
schließen diese Bewegung, über die große geschichtliche Distanz hinweg,
zusammen. Die Gewalttätigkeit, die man in seinen Bildern gesehen hat, ist
demnach diejenige, die wir uns selbst antun müssen, wenn wir dahinterkommen
wollen, ob uns unser Ich irgend zuverlässig gegeben ist. Über die vielen
Transformationen unserer Geschichte hinweg gab es dazu immer andere
Antworten: Das Ich müsse sich von kulturell erzeugten Vorurteilen befreien
(Descartes), es müsse die
Kultur zerstören, um zu seiner
„Natur“
zu finden (Rousseau), es solle sich von
der falschen Allgemeinheit der Rollenverhältnisse distanzieren (Diderot), es könne die Geburt
seines Ich wie einen
„Blitzstrahl“
erfahren (Jean Paul), es müsse sich als Täter und Opfer zugleich begreifen
(Baudelaire), es dürfte nichts
„Dauerndes“
, nur
„Wege“
suchen (Benjamin).
[108:38] Das alles sind historische Variationen der Zerstörungsmetapher,
von Bacon prägnant ins Bild
gebracht. Ich denke, daß wir sie als Metapher für die moderne
Ich-Problematik akzeptieren können. Die Frage, ob diese Metapher und ihre
verschiedenen Erscheinungsweisen über ihre
Beschreibung hinaus ein wissenschaftlich
explizierbares Wissen meint, lasse ich dahingestellt. Schleiermachers Ermahnung,
zwischen
„Bewußtsein“
einerseits und verschiedenartigen
Ich-
„Gefühlen“
andererseits zu unterscheiden,
zwischen dem also, was dem rationalen Diskurs zugänglich ist und dem, was
der metaphorisch-ästhetischen Darstellung vorbehalten bleiben muß, diese
Mahnung oder Warnung gilt nach wie wor. Auf jeden Fall aber gilt: Diese Metapher hat
„Pädagogik“
in dem modernen Sinne des Wortes allererst möglich
gemacht, obwohl sie selbst seitdem alles daran gesetzt hat, sie zu
verleugnen.
[108:39] Zum Schluß noch eine Anmerkung zur Charakteristik
„ästhetischer Erfahrung“
: Die literarischen Paraphrasen und
Assoziationen aus Anlaß des Bildes von Bacon können naturgemäß gar nichts anderes
sein als bloße Annäherungen. Ich glaube nicht, daß sich Bilder (noch weniger
Werke der Musik) interpretieren lassen, so wie wir sprachliche Texte
interpretieren. Das hat seinen Grund in der vorbegrifflichen Tätigkeit der
Sinne. Die Bilder Bacons
greifen die letzte Bastion des neueuropäischen Ich-Projekts an, den Leib.
Indem sie das tun, nötigen sie uns eine selbstreflexive Bewegung im Hinblick
auf unsere eigene Leibhaftigkeit auf. Was sich in dieser Selbstbezüglichkeit
abspielt, läßt sich nicht mehr sagen. Andererseits
ist wohl auch, im pädagogischen Prozeß und besonders an seinem Beginn, eben
diese Unsäglichkeit der Anfang von allem.
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Literatur
[108:40] Bacon, Francis: herausgegeben
von der Staatsgalerie Stuttgart/Nationalgalerie Berlin, London 1985 (Ausstellungskatalog)
[108:41] Bohrer, Karl Heinz: Erinnerung
an die Zerstörungsmetapher, in Merkur, 39. Jg. 1985, S. 725–733
[108:42] Benjamin, Walter: Der
destruktive Charakter, in: Gesammelte Schriften, Bd. iv, 1, Frankfurt/M.
1980, S. 396–398
[108:43] Descartes, René: Meditationes de prima philosophia, Hamburg 1977
[108:44] Sylvester, David: Gespräche mit
Francis Bacon, München 1982
[108:45] Zimmermann, Jörg: Francis
Bacon. Kreuzigung. Versuch, eine gewalttätige Wirklichkeit neu zu sehen,
Frankfurt/M. 1986