Aussprache zu den Referaten “Was wird unter Gefährdung verstanden” (R. Gerds) und “Der Begriff Sünde” (J. Vogel) [Textfassung a]
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Aussprache
zu den Referaten
Was wird unter Gefährdung verstanden
(R. Gerds)
und
Der Begriff Sünde
(J. Vogel)

[V21:1] Härter:
Das Referat über Gefährdung hat, wie mir scheint, gezeigt, wie sehr heute von Menschen – speziell von jungen Menschen – gefordert wird, daß sie
funktionieren
. Wenn sie nicht in das an sie herangetragene Funktionsschema passen, wird dies als gefährliche Andersartigkeit konstatiert. Man ergreift Maßnahmen, die sie zur Anpassung an das
Normale
bewegen sollen. [V21:2] Wer dem Individuellen ein bißchen mehr Eigenwert zugesteht und das
Normale
ein bißchen fragwürdig zu finden wagt, muß sagen, daß die gefährdeten Jugendlichen auf diese Weise eher zur Selbstentfremdung als zur Mündigkeit erzogen werden. Zum Referat über
Sünde
möchte ich fragen, ob nicht Sünde und Mündigkeit Begriffe sind, die irgendwie korrespondieren.
[V21:3] Hübner:
Mich hat überrascht, daß das Referat über Sünde vom gestörten Gottesverhältnis handelte und weder dem Begriff noch der Sache nach von Kasuistik. Ist da die Auffassung der Wissenschaft anders als die der Gemeinde? In der Gemeinde wird doch gewöhnlich ein Sündenbegriff vertreten, der dem im Referat von Herrn Gerds umschriebenen Gefährdungsbegriff jedenfalls in den gedanklichen Voraussetzungen ähnelt: Man konstatiert Abweichungen von Normen, deren Inhalt nicht zur Diskussion gestellt wird.
[V21:4] Vogel:
Der von mir vertretene Sündenbegriff hat in der Tat mit moralischer Bewertung von einzelnen menschlichen Handlungen nichts zu tun. Ob mein Gottesverhältnis gestört ist oder nicht, kann ein Dritter nicht feststellen.
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[V21:5] Stetter:
Es mag sein, daß sich bei der Überprüfung der Jugendschutzgesetze durch einen Pädagogen diese Normen als unzulänglich erweisen. Aber die Gesetze schaffen kein Erziehungsprogramm. Vielmehr ist dem Sozialpädagogen die Aufgabe gestellt, den – wie auch immer mangelhaften – Gesetzestext in die Erziehungswirklichkeit zu übersetzen. [V21:6] Im übrigen sind gewisse Gefährdungstatbestände schlechthin nicht zu bezweifeln. Wenn medizinisch einwandfrei feststeht, daß Jugendliche durch das Rauchen schwere Gesundheitsschäden erleiden, dann hat der Gesetzgeber recht, wenn er Jugendlichen bis zu einem bestimmten Alter das Rauchen verbietet. Tiefer angesetzt ist die Frage, warum der Gesetzgeber glaubt, Jugendlichen prinzipiell und gezielt eine ganze Reihe lustbringender Handlungsweisen verbieten zu müssen. Dazu wäre einiges zu sagen. Ich will nur kurz andeuten, was ich meine. Sicher muß man über solche Normen mit Jugendlichen diskutieren. Andererseits: Jugendliche sind keine ausgereiften Persönlichkeiten. Es wäre unverantwortlich, sie in der ungeschützten Erwachsenengesellschaft sich selbst zu überlassen. Ferner: Jugendliche selbst fragen nach einer Autorität, die ihnen in überzeugender Weise Orientierung vermittelt. Schließlich – auf die Gefahr hin, daß ich mißverstanden werde: Auch die Gesellschaft hat ein gewisses Recht auf Kontinuität; sie kann sich nicht dauernd einer
Explosionsgefahr
aussetzen.
[V21:7] Kentler:
Ich will ein paar Beispiele aus einer jugendpsychiatrischen Klinik anführen. [V21:8] Fall 1
A. ist ein 17jähriger Junge, schmächtig, mädchenhafter Typ. Er war Führer einer Bande, die alte Leute beraubte. Allem Anschein nach war er nicht nur gefährdet, sondern verwahrlost. Die Exploration ergab: Er hatte wegen seiner äußerlich-körperlichen Benach|a 145|teiligung jahrelang um Anerkennung kämpfen müssen. Diese erreichte er vorübergehend durch Radfahrkunststücke. Um einem Mädchen zu imponieren, begann er mit der Inszenierung von Raubüberfällen. Ich frage: Wann und wie hätte diesem Jungen mit der Feststellung
gefährdet
geholfen werden können?
In der Klinik wurde ihm durch Anerkennung geholfen. [V21:9] Fall 2
B. ein 16jähriger, fiel als Exhibitionist auf. War er gefährdet? In diesem Alter geschieht derartiges häufig, bald besser, bald schlechter verheimlicht. Dem Jungen konnte durch Einführung in eine Sportmannschaft geholfen werden. [V21:10] Fall 3
In der Klinik gab es eine Bastlerwerkstatt, in der sich zur Freude der Ärzte viele Jugendliche beschäftigten. Eine Gruppe hatte dafür nichts übrig.
Waren diese jungen Menschen arbeitsscheu und damit gefährdet? Eine genauere Nachfrage ergab, daß es sich um Feinmechaniker handelte. Für sie waren die groben Holzarbeiten minderwertig, weil sie einen differenzierteren Qualitätsbegriff hatten. [V21:11] Fall 4
In der Klinik gab es auffallend viele Stotterer. Man kam schließlich auf die Idee, ihnen ein Bassin mit Schlamm und Wasser einzurichten, in dem sie sich austoben konnten. Im Eifer dieser wilden Spiele entdeckten die Jungen plötzlich, daß sie ungehemmt schreien konnten. Ähnliche Erfolge hatte man, wenn man den Stotterern gestattete, während des Berufsverkehrs aus dem Fenster zu sehen und Passanten freche Bemerkungen nachzurufen. [V21:12] Fall 5
C. fiel in einem Heim durch Bettnässen auf. Man wies ihm schließlich ein Strohlager im Keller an, womit er sich zufrieden gab, obwohl das Lager binnen kurzem greulich schmutzig wurde. C. störte niemanden.
So half ihm niemand. [V21:13] Ich glaube, die Fälle verdeutlichen, was ich meine: |a 146|Durch die Gefährdungsdiagnose kann nicht geholfen werden. Hilfe kann den Jugendlichen nur der bringen, der ihnen etwas zutraut und sie anerkennt.
[V21:14] Mollenhauer:
Die Beispiele sind instruktiv. Sie sagen aber nichts gegen einen richtig verstandenen Gefährdungsbegriff. Richtig ist, daß der einseitig moralisierend umschriebene Gefährdungsbegriff sich als pädagogisch unfruchtbar erweist. Der Mangel liegt darin, daß dieser Begriff beim Symptom stehenbleibt, statt nach der Ursache zu fragen.
[V21:15] Ich bestreite aber, daß ein wissenschaftlich gefaßter Gefährdungsbegriff nichts hergibt. Wie schon gesagt wurde, gibt es Sachverhalte, die physiologisch einwandfrei aufweisbare gesundheitsschädliche Folgen haben (zu viel Arbeit, zu wenig Ferien, Rauchen bei Kindern, vielleicht auch Dauerfernsehen). Das sind klare Gefährdungssachverhalte. Richtigerweise darf man nun nicht von deren Feststellung unmittelbar zu einer Therapie übergehen, die notwendig nur eine bewahrende Behandlung am Symptom sein wird. Wer nach der Ursache weiterfragt, kann auch zur zutreffenden Behandlungsweise kommen. In diesem Zusammenhang behält die Gefährdungsdiagnose ihren guten Sinn. Andererseits gibt es im Jugendschutzgesetz Gefährdungssachverhalte, bei denen ein physiologischer Schaden nicht droht, sondern eine moralische Regelwidrigkeit. Hier sind die Fragen nach den zugrundeliegenden sittlichen Werturteilen berechtigt.
[V21:16] Gerds:
Es liegt mir nichts daran, eine Ideologie von der Wertlosigkeit der Gefährdungsdiagnose aufzustellen. Für wichtig halte ich nur, daß Normen und Werte in den Prozeß einer Diskussion mit den Jugendlichen eingebracht werden. Nur wenn man darüber zu diskutieren wagt, kann man erwarten, daß die Jugendlichen die Normen bejahen.
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[V21:17] Stetter:
Aus meiner Praxis kann ich sagen, daß Normen sehr wohl zwischen Heimleitern und Jugendlichen diskutiert werden.
[V21:18] Kentler:
Offenbar sind Praktiker weit fortschrittlichere Pädagogen als die Theoretiker des Jugendschutzes.
[V21:19] Mollenhauer:
Bei der Umschreibung des Gefährdungsbegriffs könnte die Erziehungswissenschaft wohl ihren Beitrag leisten. Allerdings ist es nicht ihre Aufgabe, Normen herauszustellen. [V21:20] Im übrigen liegt es in der Natur der Sache, daß die Theorie immer einen Schritt hinter der Praxis einhergeht. Die Praxis steht stärker in den sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten, während die Theorie die Erfahrungen der Praxis erst verarbeiten muß. Von Bedeutung dürfte auch sein, daß die deutsche Erziehungswissenschaft sich hauptsächlich auf die Schule ausrichtet und die pädagogische Problematik des Jugendschutzes in ein Randgebiet verweist.
[V21:21] Stetter:
Seit der Jugendschutz in die Hand der Konfessionen geraten ist, wird kaum noch ein Gespräch zwischen Jugendlichen und Erwachsenen über die Normen des Jugendschutzes geführt.
[V21:22] Hübner:
Hängt das nicht mit dem in der Gemeinde verbreiteten falschen Sündenbegriff zusammen? Warum tun die Theologen nichts dagegen?
[V21:23] Sudermann:
Die Kirche versündigt sich, indem sie glaubt, zu allen erdenklichen Lebenserscheinungen sagen zu müssen, dies oder jenes sei christlich oder nichtchristlich.
[V21:24] Müller-Schöll:
Solche Äußerungen tut nicht nur
die Kirche
, sondern |a 148|auch gerade einzelne Gemeindeglieder. Dabei ist zu vermuten, daß die meisten evangelischen Christen ihre theologischen Urteile auf die Kenntnisse gründen, die sie vom Konfirmandenunterricht behalten haben. Vielleicht sollten unsere Gemeinden mehr Belehrung über theologische Grunderkenntnisse erhalten.
[V21:25] Wagner:
Man sollte nicht bloß die Pfarrer als Urheber eines falschen Sündenverständnisses beschuldigen. In der evangelischen Gemeinde ist weit verbreitet die katholische kasuistische Auffassung von der Sünde. Ob daran allein die Pfarrer schuld sind, bezweifle ich.
[V21:26] Jahn:
Gewiß müssen wir mit dem kasuistischen Sündenbegriff aufräumen. Ich halte es aber für unbarmherzig, nun eine radikale Situationsethik zu proklamieren. Dadurch wird das einzelne Gemeindeglied überfordert. Ich war auch einmal der Meinung, nur Situationsethik sei theologisch haltbar, bin aber durch die Praxis mit Jugendlichen anders belehrt worden. [V21:27] Paulus selbst hatte den Mut, konkrete Verhaltensanweisungen zu geben. Luther konnte nicht umhin, die
evangelische Freiheit
durch Leitlinien seines Katechismus näher zu umschreiben. Es mag sein, daß dieser Katechismus heute nicht mehr zeitgemäß ist. Aber gerade das stellt uns neu vor die Aufgabe, aus der Vollmacht des Evangeliums Normen anzubieten. [V21:28] Ob Werte postuliert werden müssen, ist eine andere Frage. Ohne Normen aber kommt Sozialpädagogik nicht aus. Dabei verstehe ich Normen nicht als autoritativ aufgezwungene Gesetze sondern als Hilfen für den, der danach fragt. Solche Normen können durchaus von ganz kurzzeitiger Verbindlichkeit sein.
[V21:29] Bäumler:
Fräulein Hübner hat die
schweigenden Theologen
apostrophiert. Die von ihr vermißte Weitergabe des von Fräulein Vogel erläuterten Begriffs der Sünde |a 149|kommt daher, daß hierüber auch unter den Theologen noch keine Einigkeit besteht. [V21:30] In der theologischen Ethik stehen wir in einer Umbruchsituation. Die Diskussion wird hauptsächlich in der Oekumene und zwischen solchen Christen geführt, die nicht zu den traditionellen
Kerngemeinden
gehören. [V21:31] Nun zu dem Beitrag von Herrn Jahn. Paulus hat keine Normen gesetzt. Richtig ist, daß sich bei ihm, vor allem in den Haustafeln, Sätze der stoischen Moralphilosophie finden. Aber die scheinbare Übernahme dieser Lehren durch Paulus erweist sich bei näherem Zusehen als kritische Auseinandersetzung. Ausgangspunkt ist bei ihm nicht eine Philosophie, sondern das Sein in Christus. Ziel ist nicht Gesetzeserfüllung sondern die (unvermeidbare) Strukturierung des Gemeindelebens. Herrn Jahns Berufung auf Luther kann ich eher beipflichten. Bei ihm wirkte sich die Trennung von Müntzer verhängnisvoll aus. Luther war darauf angewiesen, vorhandene Ordnungsstrukturen zu übernehmen, und sah sich darum veranlaßt, sie theologisch zu legitimieren. Das scheint mir eine Hypothek zu sein, die wir heute abtragen müssen. [V21:32] Heute ist uns aufgegeben, dem Menschen zu helfen, als Mensch zu existieren. Dabei lassen sich Normen nicht vermeiden. Es sollten aber nicht geschriebene und damit
verewigte
Regeln sein, sondern von vornherein als vorläufig verstandene gelebte Verhaltensmuster.
[V21:33] Mollenhauer:
Wenn ich die theologische Kontroverse richtig verstanden habe, so zeigt sich hier eine höchst aufschlußreiche Parallele zu einem Problem der Erziehungswissenschaft. [V21:34] Bonhoeffer wendet sich an eine aus sich selbst mündig gewordene Welt. Die Theologen nach ihm stehen vor der Frage, woher sie das Recht oder die Pflicht begründen oder verneinen sollen, moralische Empfehlungen auszusprechen. [V21:35] Die modernen Sozialpädagogen stehen vor der Frage, wie sie einen Weg zwischen permanenter Relativität |a 150|und ideologisch erstarrter Autorität finden sollen. Relativismus allein führt in die dauernde Reflexion und damit zur Auflösung der Gesellschaft. Ohne stabilisierende Kategorien (Normen) entartet Gesellschaft in einen Auflösungsprozeß.