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Die Unentschlossenheit vor der Erziehung
Bericht über die Jahrestagung der Gilde Soziale Arbeit vom 25. bis 29. Mai 1960 in
Dassel
[007:1] Es war das eigentümliche und bemerkenswerte der Jahrestagungen der
Gilde Soziale Arbeit im Laufe
der letzten Jahre, daß in den Themen eine zunehmende Tendenz auf Grundlagen,
Besinnung auf die Voraussetzungen, Reflexionen über einen möglichen Rest
unbezweifelbarer Sicherheiten in der sozialen, vor allem der pädagogischen
Arbeit sichtbar wurde. Eigentümlich und bemerkenswert ist diese Tendenz indessen
nicht dadurch, daß es lediglich um die Formulierung von Sicherheiten ging – das
wäre freilich kaum etwas Besonderes – sondern daß man immer den angestrengten
und sehr anstrengenden Versuch unternahm, solche Sicherheiten einer
traditionellen päd|a 415|agogischen Theorie, einer lange
bewährten Praxis, einer religiös gesicherten Überzeugung aufzulösen, das
Bezweifelbare vom Unbezweifelbaren, das heute Notwendige vom Überlieferten, die
Ideologie von den Fakten zu trennen. Daß das, wenn es wirklich um die Praxis
geht, eine äußerst schwierige Aufgabe ist, haben die Tagungen und hat besonders
die diesjährige gelehrt.
[007:2] Das diesjährige Thema nun wurde gewählt, weil sich an ihm die
Grundprobleme der aktuellen Theorie wie der Praxis besonders eindringlich
erörtern lassen, denn die Resignation, die Unentschiedenheit, Unentschlossenheit
derer, die die Erziehungsaufgabe zu leisten haben, ist ein augenfälliges und
besorgniserregendes Symptom unserer Erziehungslage; und es gehört zu unserer
Lage, daß uns auf die einfache Frage, wie es dazu gekommen und wie diese
Situation zu überwinden sei, die Antwort außerordentlich schwer fällt.
[007:3] Zwei Probleme oder Problemkreise waren es vor allem, die auf dieser
Tagung zur Sprache kamen: Die Veränderung der Fakten, die den Erziehungsraum
bestimmen und anfüllen und zur
„Unentschlossenheit“
der
Erziehenden geführt haben – und die Veränderung der Sichtweisen auf diesen Raum,
der Begriffe, der Deutungen, der Theorien, des sozialpädagogischen
Selbstverständnisses.
[007:4] Dieser Zweiteilung entsprachen die beiden Hauptreferate der Tagung:
„Die Entmutigung in der Sozialarbeit und die Möglichkeit ihrer
Überwindung“
(Prof. C. Bondy – Hamburg) und
„Die Fragwürdigkeit
pädagogischer Aktivität“
(Dr. K. Eyferth – Hamburg).
[007:5] Bondy gab in seinem Referat zunächst eine eindringliche
Situationsbeschreibung. Er zeigte, daß hinter der pädagogisch-organisatorischen
Geschäftigkeit sich im Grunde ein Nachlassen der erzieherischen Kraft verberge.
Heimerzieher, Fürsorger, Lehrer und Eltern seien in Gefahr, pädagogisch
entmutigt zu werden. Wie etwa das Ansteigen der Jugendkriminalität zeige,
bleiben die Erfolge aus. Die Erzieher wagen nicht mehr, Forderungen zu stellen.
Ihnen selbst fehle weitgehend die verpflichtende Haltung, die sie an die
heranwachsende Generation weitergeben könnten. Von einer Sicherheit
erzieherischen Wertens und Entscheidens könne schon lange nicht mehr die Rede
sein. Bondy wies auf die
vielfältigen Gründe hin, die solche Entmutigung bewirkt haben: Organisatorische
Mängel, Unzulänglichkeiten der personellen Besetzung in Heimerziehung und
Jugendamt, mangelhafte Ausbildung, unzureichende Methoden. Daneben wies Bondy auf die entscheidende Rolle
derjenigen Ursachen hin, die innerer Art und im Bewußtsein der Erziehenden zu
suchen sind. Hier sei es vor allem das scheinbare Fehlen eindeutiger und
weitreichender moralischer Maßstäbe, die dadurch bedingte Unsicherheit im
Werten, das Unvermögen, klare Entscheidungen in der Lebensführung zu treffen und
dem Heranwachsenden moralischen Halt zu bieten.
[007:6] Eine solche Situation würde, wenn sie nicht mehr rückgängig zu machen
wäre, den Verlust dessen bedeuten, was wir Erziehung nennen. Diese Konsequenz
aber könne nur ein durch die schwierige Situation verwirrtes Bewußtsein ziehen.
Die gründliche Analyse dagegen zeige, daß es durchaus Möglichkeiten gebe, die
Resignation zu überwinden. So zeige eine Reflexion der moralischen Probleme, daß
der Relativismus und die Willkür nur scheinbar unvermeidlich seien, daß eine
ideologisch neutrale
„feste innere Haltung“
zu gewinnen
möglich sei sowohl als Haltung des Erziehenden wie auch als Forderung an den
Heranwachsenden. In diesem Sinne sei die von Bollnow beschriebene
„einfache
Sittlichkeit“
ein moralischer Bestand, der durch keine
Ideologiekritik aufgelöst und relativiert werden könne. Darauf sich zu besinnen,
sei eine der ersten Aufgaben des Erziehers und Sozialarbeiters heute, um seine
Sicherheit und erzieherische Kraft wiederzugewinnen. Weiter: Die Jugend habe
nicht in der Weise ein anderes Bewußtsein, lebe nicht so sehr in einer anderen
Welt, daß es kaum noch verbindende Vermittlungen gebe. Vielmehr zeige sich immer
wieder, daß dort, wo die Möglichkeit zu Gesprächen genutzt werde, diese auch
dann fruchtbar würden und wirkliche Hilfen enthielten, wenn die Stellungnahme
des Erwachsenen von den Jugendlichen nicht akzeptiert werden könne. Der
Jugendliche suche geradezu solche Gespräche, nicht um die Position des
Erwachsenen verbindlich zu übernehmen, sondern um auf diese Weise die
Orientierung zu lernen, zu einer Klärung seiner Probleme zu kommen. Das heiße
aber, daß eine Besinnung auf den
„pädagogischen Bezug“
und seine nach wie vor entscheidende Bedeutung für
den Erziehungsvorgang immer wieder notwendig sei. Schließlich wies Bondy darauf hin, daß eine
Wiedergewinnung der pädagogischen Sicherheit nur möglich sei, wenn Hand in Hand
mit solchem Bemühen eine Verbesserung der Methoden und deren Anpassung an unsere
Lage gehe, insbesondere eine wirksamere und ausgedehntere Verwendung von
Gruppenarbeit und Einzelfallhilfe, schließlich eine verbesserte
sozialpädagogische Ausbildung, verstärktes Einbeziehen wissenschaftlicher
Forschungsergebnisse, differenziertere Praxishilfen (Supervision), um den Schock
der ersten Begegnung mit der sozialen Wirklichkeit zu mindern, eine wirksamere
Beteiligung der Öffentlichkeit, eine größere sozialpolitische Aktivität.
[007:7] Der rote Faden aber, der alle Vorschläge Bondys durchzog, war der immer wieder
ausgesprochene Hinweis auf die Notwendigkeit einer erhöhten Bewußtmachung. Eine
nüchterne Erziehung, eine wirksame Hilfe und die Sicherheit des erzieherischen
Handelns seien immer und besonders heute abhängig von der Kontrolle, die der
Erzieher über sich selbst auszuüben imstande sei. Nur wenn er seine eigenen
Voraussetzungen, seine Emotionen und Vorurteile, seine möglichen Fehlerquellen
und Fehlreaktionen kenne, sei er fähig, die Reichweite seiner Wirksamkeit
richtig einzuschätzen, sich realistisch zu verhalten und nicht in der
Resignation zu versinken.
[007:8] Auch Eyferth ging aus von der – wie er es nannte –
„Verfahrenheit der pädagogischen Situation“
, aber seine
Erörterung vollzog sich doch unter einem anderen Aspekt. Für Eyferth liegt das wesentliche Merkmal dieser
Situation darin, daß die Sozialpädagogik faktisch sich zunehmend vom eigentlich
Erzieherischen entfernt hat, ohne aber theoretisch mit dieser Entwicklung
Schritt zu halten; mit anderen Worten: Der Sozialpädagoge verlangt von seiner
Arbeit Ergebnisse, die diese ihrer augenblicklichen Art nach einfach nicht mehr
hervorbringen kann. Erziehung sei – so führte Eyferth aus – im Wesentlichen emotionales Lernen
oder knüpfe doch wesentlich an dieses Phänomen an. Prototypisch dafür sei die
Erziehung des Kindes durch die Mutter. Was indessen der Sozialpädagoge tue, sei
im Laufe unseres Jahrhunderts etwas völlig anderes geworden. Er erziehe, bilde,
forme nicht mehr, sondern
„er repariert Verhaltenspannen“
, er
bessert aus, er verhilft zur Anpassung an eine gegebene Situation. In der
Terminologie moderner Sozialarbeit drücke sich dieser Wandel anschaulich aus:
man verwendet rationale, einer Technologie verwandte Begriffe wie Klient,
Sozialarbeiter, Diagnose, Therapie etc. Die Desorientierung des Sozialpädagogen,
soweit er noch in den Begriffen der
„Erziehung“
denkt, sei
daher unvermeidlich. Seine Zielvorstellungen und seine
„Erziehungstheorie“
seien prinzipiell antiquiert und damit seiner
faktischen täglichen Praxis nicht mehr angemessen. Zwei Ideale konkurrieren in
seinem Bewußtsein: die Persönlichkeitsbildung (Erziehung) und die Anpassung
(Soziale Arbeit).
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[007:9] Diese Beobachtung nun gewinnt im ideologiegeschichtlichen Zusammenhang
besondere Bedeutung: Integrierende Leitbilder, ganzheitliche Menschenbilder
seien keine reale Möglichkeit der Zukunft mehr. Der Erzieher könne sie daher
auch nicht mehr vermitteln. Wo aber die verbindlichen und das soziale Ganze
integrierenden Vorstellungen fehlen, gibt es auch keine das Ganze verbindenden
Wertungen mehr.
„Wer will resozialisieren, wenn wir nicht
wissen, was sozial ist?“
Der Diebstahl eines Bleistiftes sei unmoralisch,
eben Diebstahl, die Steuerhinterziehung aber verursache kein schlechtes
Gewissen. Was bleibe, sei ein Werten in Einzelheiten, eine gleichsam punktuelle
Moral, der
„Erzieher ohne Eigenschaften“
An die Stelle der Erziehung trete die Therapie, anstelle des emotionalen
Lernens rationale Methoden, anstelle der Persönlichkeitsbildung eine Reparatur
nicht angepaßter Verhaltensweisen.
[007:10] Die Forderung Bondys
war damit noch weiter getrieben: nicht nur eine Überprüfung der Arbeitsweisen
Sozialer Arbeit und Besinnung auf das eigentlich Pädagogische, sondern
Überprüfung dieses Pädagogischen selbst, der Grundbegriffe unserer täglichen
Arbeit.
[007:11] Wie notwendig eine solche Überprüfung ist, und welchen Schwierigkeiten
man dabei begegnet, zeigten die Diskussionen der Tagung.
Die Worte, in denen wir uns unsere Praxis je zum Bewußtsein bringen, sind längst
nicht mehr allen so unmittelbar verständlich, wie es noch bei den Generationen
vor uns der Fall war. Die Bedeutungen der Begriffe – und das zeigte sich
besonders auf dieser Tagung in den Gesprächen zwischen Älteren und Jüngeren –
haben sich verschoben, alte Worte werden von den Jüngeren anders verstanden,
neue Worte werden von den Älteren nicht verstanden. Das aber ist nicht nur ein
Unterschied in der Theorie, sondern zeigt symptomatisch eine Veränderung der
Praxis an. Wenn daher Eyferth
vom
„Erzieher ohne Eigenschaften“
, von
„Verhaltenspannen“
, von
„Reparatur“
als
der Aufgabe sozialer Arbeit sprach, war damit mehr als nur provozierender Jargon
formuliert: es war die Formulierung einer bestimmten Erfahrung mit einem
Phänomen, das wir ehemals
„Erziehung“
nannten, der Erfahrung,
daß dieses Phänomen sich wesentlich verändert hat. Nicht also – und das wurde in
den Diskussionen geklärt – die Erziehung als Möglichkeit der Sozialen Arbeit hat
„abgewirtschaftet“
(Eyferth), sondern sie ist in ihrer Art eine
andere geworden, sie ist nicht mehr dasselbe, wie noch zu der Zeit, als der
naive und im wesentlichen emotional wirkende Umgang der Mutter mit dem Kind ihr
Prototyp war; dieser Typus ist heute nur eine Weise der
Erziehung unter anderen. Rationalität, Methode, Planung, Tendenz auf
Bewußtmachung und
„Therapie“
gehören heute wesentlich zu den
außerfamiliären Erziehungsformen.
[007:12] Noch ein anderes Problem erregte die Tagungsteilnehmer, nun wieder in
unmittelbarer Beziehung zum Tagungsthema. In der Formulierung
„Erzieher ohne Eigenschaften“
ist die Skepsis, in Anlehnung an Musil, bis zur Wertabstinenz
getrieben. Handeln, d. h. also auch erziehen, scheint so völlig unmöglich, da in
jedem Handeln Eigenschaften entstehen oder doch sichtbar werden müssen, denn es
beruht ja auf Stellungnahme, Festlegung, Entscheidung, Maßstab. So wurde denn im
Verlauf der Tagung deutlich, daß hier nur gleichsam metaphorisch eine Haltung
angedeutet ist, die immer in allem Erziehen heute gegenwärtig sein muß, damit es
nicht ideologisch, nicht rückwärtsgewandt, nicht an veraltete Traditionen
gebunden bleibt: die Skepsis dem eigenen Maßstab gegenüber.
„Erzieher ohne Eigenschaften“
ist die Formel für den Erzieher im Moment
des Reflektierens. So paradox es klingt: dies ist die eine Voraussetzung dafür,
daß die erzieherische Kraft wiedergefunden wird, denn nur so können wir uns vor
unangemessenen und nicht realisierbaren Wünschen, Erwartungen und
Zielvorstellungen schützen. Aber auch dieses Reflektieren kann in die Irre, in
die Entmutigung führen, wenn nämlich sämtliche sicheren Maßstäbe verschwinden.
Diese Konsequenz aber ist nicht notwendig, sie ist nicht einmal realistisch;
denn der Fortbestand unseres kulturellen Zusammenhanges liegt auch in der
Verantwortung des Erziehers. Es gibt ein Minimum an Werten, ohne das Erziehung
nicht denkbar ist: die
„kulturellen
Selbstverständlichkeiten“
, die politisch in der Formel
„Demokratie“
, moralisch möglicherweise in der
„einfachen
Sittlichkeit“
zusammengefaßt werden können. Die große Schwierigkeit und
die dauernde Gefährdung des pädagogischen Selbstbewußtseins, der Sicherheit und
erzieherischen Kraft liegt nur darin, daß der Umfang dieser kulturellen
Selbstverständlichkeiten im Vergleich zu früheren Epochen erheblich geschrumpft
ist, daß dagegen aber der Bereich veränderlicher Werte, täglich notwendig anders
ausfallender Entscheidungen sich erweitert hat und so verständlicherweise den
Erzieher, den Sozialarbeiter einer Belastung aussetzt, die zu tragen er erst
lernen muß. Damit war der gemeinsame Boden mit dem Referat Bondys wieder gewonnen: Dieses Lernen zu
ermöglichen, zu erleichtern, zu sichern ist eine der wesentlichen Aufgaben
moderner Sozialarbeit in Praxis, Ausbildung und Theorie.
[007:13] Die Tagung schloß mit einer Zusammenfassung, in der Dr. h. c. W. Mollenhauer – Hamburg über die Arbeit der verschiedenen Diskussionsgruppen berichtete. Er gliederte die Ergebnisse der
Auseinandersetzungen in 6 Punkten: 1. ist das Verhältnis von Theorie und Praxis,
die Möglichkeit einer fruchtbaren gegenseitigen Erhellung eindrucksvoll deutlich
hervorgetreten; 2. hat sich herausgestellt, daß zwar nicht die Erziehung
„abgewirtschaftet“
hat, daß aber doch die so genannte
„naive Erziehung“
einen immer kleineren Raum beanspruchen
muß, das ganze Phänomen der Erziehung infolgedessen einen wesentlichen
Strukturwandel erfährt; gerade dadurch aber ist auch 3. deutlich geworden, daß
nach wie vor der Erzieher selbst Träger der
„erzieherischen
Substanz“
bleibt; 4. ist nun klar, daß man die Skepsis nicht beliebig
weit treiben kann, sondern daß sie in den
„kulturellen
Selbstverständlichkeiten“
eine minimale Sicherheit findet; das bedeutet
nun aber keinesfalls eine Beruhigung des pädagogischen Gewissens; durch immer
erneute Bewußtmachung muß 5. der Blick für die Bedingtheit der eigenen Position,
für die Variabilität der Maßstäbe außerhalb der kulturellen
Selbstverständlichkeiten in der täglichen Erziehungspraxis wach gehalten werden;
immer bleibt der Sozialarbeiter in Gefahr, dem minimalen Wertbestand Werte
zuzuordnen, die dem Bereich der Variablen angehören und so wiederum ein unserer Situation unangemessenes menschliches
Gesamtbild, ein integrierendes Leitbild zu formulieren und zu fordern. Neben
diesen, auf die Soziale Arbeit im engeren Sinne bezogenen Ergebnissen ist aber
in den Erörterungen der Tagung ein Sachverhalt deutlich geworden, der allgemeine
Bedeutung hat (6.): es hat sich nämlich gezeigt, daß Anpassung an eine gegebene
Situation immer nur die eine Seite der menschlichen, auch der erzieherischen
Aufgabe ist; daneben bleibt die Forderung nach Widerstand, das heißt die
Verantwortung einer Entwicklung gegenüber, die prinzipiell offen ist, der
gegenüber es keine Resignation geben darf, sondern die im Gegenteil die
Stellungnahme des Einzelnen erfordert. Zu dieser Fähigkeit zu erziehen,
Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit gleichermaßen in der heranwachsenden
Generation, in jedem Klienten, in jedem Sozialarbeiter hervorzubringen, ist die
immer gleichbleibende Aufgabe aller erzieherischen und helfenden Maßnahmen.