Jugend und Beruf [Textfassung a]
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Jugend und Beruf

[003:1] Berufserziehung ist heute nicht mehr nur eine Frage der Berufs- und Fachschulen. Nach den Möglichkeiten einer Berufserziehung heute fragen, heißt weit über den Kreis der Bildungs- und Lehrprobleme im engeren Sinne hinaus die Frage nach den Möglichkeiten und Wegen gesellschaftlicher Eingliederung von Jugendlichen stellen. Die Aufgaben einer Berufshilfe werden daher auch nur dort richtig verstanden werden können, wo sie im Zusammenhang des weiteren Feldes der Jugendhilfe gesehen werden. So etwa war der Ansatz der diesjährigen Tagung der Gilde Soziale Arbeit unter dem Thema: Wie findet die Jugend ihren Platz in Beruf und Leben? – Neue Aufgaben der Jugendarbeit (Dassel vom 9.–13. Mai 1956).
[003:2] Ein solcher Versuch, die Weite der Aufgaben zu erfassen, darf von sich keine Ergebnisse im Sinne von Forschungsvorhaben erwarten. Es war daher auch das wesentliche Anliegen der Tagung, den Kreis der Phänomene in das Licht einer Besinnung zu rücken, die die Vielfältigkeit der Aufgaben, die neue Verantwortlichkeit und die Verschiedenheit möglicher Positionen und Lösungen hervortreten läßt. Wenn so einerseits präzise Resultate weniger hervortraten, wurde doch andererseits Erhebliches gewonnen durch eine solche Besinnung des handelnden Sozial-Arbeiters auf den Zusammenhang seines Tuns und seine Verantwortung. Nur durch diese Behandlung des Themas, dadurch daß etwas anderes im Vordergrund stand als eine reine Analyse der Phänomene und Schwierigkeiten, konnte die Spannung deutlich werden, in der alle soziale Arbeit sich befinden muß: Das Verhältnis von notwendig vorwegnehmender Deutung der gegenwärtigen Situation, der Stellungnahme und Beurteilung – und der konkreten nicht zu umgehenden Anforderungen, die durch die wirtschaftlich-soziale Lage gegeben sind.
[003:3] Die Tagung wurde durch ein Referat Präsident Minzenmays eingeleitet, in dem der Referent versuchte, die gegenwärtigen Aufgaben besonders im Hinblick auf die Entwicklungstendenzen der industriellen Gesellschaft zu bestimmen. Alle Bemühungen – so führte er aus – müssen unter dem Gesichtspunkt der
Menschenbildung
stehen. Dabei komme die industrielle Entwicklung den persönlich-menschlichen Bedürfnissen durchaus entgegen. Eine weitere Industrialisierung und Automatisierung bedeute keineswegs eine notwendige Enthumanisierung unseres Lebens, sondern biete in besonderer Weise die Möglichkeit echter Menschenbildung, wenn nur diese Möglichkeiten erkannt und genutzt würden. Gegen eine solche positive Betrachtungsweise und vorausgesetzte
Harmonie von Mensch und Wirtschaft
mußten sich Einwände erheben. Kann man eine solche Harmonie als gegeben annehmen? Beruhen
Anpassungsschwierigkeiten
des Einzelnen nur auf falscher Organisation und Methode? Ist überhaupt
Anpassung
ein pädagogisch sinnvoller Begriff? Sind die Aufgaben, die durch die Jugend im Hinblick auf ihre beruflich-gesellschaftliche Eingliederung gestellt werden, nicht zugleich auch Fragen an die moderne Welt und ihre Qualität? So gingen auch die beiden Referate zum
Bild der heutigen Jugend
Dr. von Vacanos und Elisabeth Plates von der Frage aus: Können wir die Erziehungsaufgaben einfach aus der wirtschaftlich-sozialen Entwicklung ableiten und sind nicht eine Reihe von Erscheinungen der modernen Gesellschaft der Jugend unzuträglich? Die Frage nach der Situation der Jugend wurde auf diese Weise zugleich zu einer selbstkritischen Frage der Erziehergeneration.
[003:4] Die beiden Positionen sind nicht zu fassen mit der Alternative von Optimismus und Pessimismus. Sie weisen nur zwei Aspekte auf, in denen gerade die Vielschichtigkeit der Probleme deutlich wird. Gesellschaftliche Eingliederung ist eben nicht nur
Anpassung
, sondern immer auch Neugestaltung. Und Erziehung kann gerade heute nicht nur eine solche Anpassung bedeuten, sondern sie muß zugleich als gemeinsame Aufgabe zweier Generationen gesehen werden, deren Situation in vielen Bereichen – wie in Beruf, Öffentlichkeit, Freizeit etc. – die gleiche ist.
[003:5] Dieser Art waren die Fragestellungen und Leitfäden, die sich durch die Diskussionen der Arbeitsgemeinschaften zogen. Die Problemstellungen wurden hier auf die einzelnen Bereiche der beruflichen Eingliederungshilfen hin konkretisiert. Aus den protokollarischen Ergebnissen einige Auszüge:
[003:6] Zur Berufsförderung: Es wurde besonders empfohlen,
die bestehenden Grundausbildungslehrgänge zu erhalten und zu Grundbildungslehrgängen zu entwickeln, um sie als Ansatz für eine neue Form der Berufsbildung zu nutzen
.
Die Problematik einer Berufsplanung heute liegt in der Schwierigkeit, eine Prognose der Wirtschaftsentwicklung zu geben. Auch aus diesem Grunde ergibt sich die Notwendigkeit, die Berufsausbildung aus den ständig sich verändernden wirtschaftlichen Gegebenheiten zu lösen und dem Nachwuchs eine möglichst universelle Grundbildung zu vermitteln.
[003:7] Zur Berufsschule:
Die Aufgaben der Vorbereitung, der Überleitung und der Ausbildung für den Beruf in der Schule müssen neu durchdacht und gestaltet werden
.
Nach allgemeinen Erfahrungen ist eine Verlängerung der Volksschulbildung um 1–2 Jahre notwendig
.
Anstelle der traditionellen Lehrformen (der Berufsschule) wird eine – in der Industrie bereits verbreitete – stufenförmige Berufsausbildung treten, die mit einer breitangelegten Grundbildung beginnt
.
Die schwierige Erziehung zu persönlicher Lebenserfüllung und verantwortlicher Teilnahme am öffentlichen Geschehen muß weitgehend von der Berufsschule mitgestaltet werden, zumal der Betrieb in seiner Struktur meist nicht genügend auf den jugendlichen Menschen eingestellt ist und die aktiven Jugendgruppen nur einen Bruchteil der Berufsschüler erfassen
. Nach Klärung der Aufgaben durch Forschung und Modellversuche
müßte eine gesetzliche Neuordnung der Berufsbildung geschaffen werden
.
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[003:8] Zur ländlichen Jugend:
Technisierung und Marktwirtschaft zwingen dazu, in wirtschaftlichen und persönlichen Anliegen frei zu entscheiden, die vordem in Sitte und Gewohnheit vorentschieden waren. Diese Situation ist im bäuerlichen Raum in voller Schärfe erst heute gegeben
.
Die natürliche Generationsspannung ist heute verstärkt durch die technische Revolution innerhalb des landwirtschaftlichen Betriebes und wird in den kommenden Jahrzehnten abklingen
.
Die landwirtschaftliche Arbeitsverfassung leidet an der Unzulänglichkeit des Gesindesystems. Der menschlich und beruflich anerkannte landwirtschaftliche Facharbeiter wird in dem Maße zur Notwendigkeit, in dem sich der Betrieb der modernen Wirtschaftsweise zuwendet
.
[003:9] Zur Berufshilfe für die gefährdete und verwahrloste Jugend:
Die Heime sollten in die Lage versetzt werden, die Lehrwerkstätten nicht mehr nach Heimbedürfnissen, sondern nach den Erfordernissen der heutigen Wirtschaft auszubauen. Daneben sind neue Möglichkeiten für die Grundausbildung in heute wichtigen Wirtschaftszweigen, z. B. Metall, Bau, Holz zu schaffen
.
Hilfe bei der Berufsfindung und -ausbildung ist Erziehungsarbeit. Der Jugendliche muß dabei persönlich aktiv eingeschaltet werden
.
Wirtschaftliche Einschränkungen aus Konkurrenzgründen dürfen für Betriebe der Heime und der Strafvollzugsanstalten im Hinblick auf den pädagogischen Auftrag nicht erfolgen
.
[003:10] Nachdem in dieser Weise das Grundproblem auf die verschiedenen Bereiche hin variiert wurde, war es möglich, in Diskussion und einem kritischzusammenfassenden Referat Prof. Achingers noch einmal die Gesamtheit der Fragen in den Blick zu nehmen. Die Ausgangsposition fand sich bestätigt, nämlich daß die Frage nach einer angemessenen Lösung der Schwierigkeiten, die der Jugend aus der beruflich-gesellschaftlichen Eingliederung erwachsen, nur dann zu lösen ist, wenn neben die Aspekte der Verwahrlostenerziehung und der Jugendpflege der Gesichtspunkt einer Berufshilfe tritt, die sich nicht mehr nur als Lehre und Didaktik versteht, sondern als Zusammenhang vielfältiger Erziehungsmaßnahmen. Daß mit einer solchen Wendung die Jugend als Subjekt viel stärker in das Blickfeld treten muß, hat die Tagung gezeigt. Ihre Bedürfnisse und Forderungen, Bereitschaften und Fähigkeiten werden so immer Ausgangspunkte und auch Kontrolle der erzieherischen Maßnahmen sein, wie sie aber u. U. andererseits auch an den gesellschaftlichen Notwendigkeiten und sittlichen Entscheidungen ihre Grenze und Korrektur erfahren müssen.
[003:11] An der Frage der Berufshilfen wurde beispielhaft deutlich – Prof. Achinger wies darauf hin – wie das Feld der sozialpädagogischen Aufgaben und darüber hinaus der größere Bereich der Sozialen Arbeit sich zunehmend erweitert hat und wie dementsprechend auch die in vergangenen Zeiten gewonnenen Begriffe (
Verwahrlosung
) ihre Funktionsfähigkeit zum Teil einbüßen mußten. Schließlich zeige sich auch in diesem Sektor eine der Grundschwierigkeiten der gegenwärtigen Gesellschaft, die sich aus dem Verhältnis von Wirtschaft und Kultur ergibt, da jedes der beiden besonderen Gesetzen unterliegt. Das Verhältnis von Wirtschaft und Erziehung ist parallel. Alles sozialpädagogische Bemühen muß sich daher auch dieser Situation bewußt werden. Die Tagung zeigte so an einem eindrucksvollen Beispiel von heute zentraler Bedeutung, wie einerseits die besonderen Aufgaben von dem ökonomischen Entwicklungstempo und den faktischen Veränderungen des Wirtschaftslebens wesentlich bestimmt werden (
Für den Beruf von morgen erziehen
), wie andererseits aber die pädagogische Verantwortung des Erziehers von keiner anderen Institution ihm abgenommen werden kann, obwohl ihr gerade durch die soziale Entwicklung neue Bereiche (die Wahrung des erzieherischen Anliegens gegenüber den Abrichtungsbedürfnissen der Industrie, das Bewältigen des Funktionsverlustes der Familie im Hinblick auf die Berufsausbildung etc.) zugewiesen werden.