Versuch 3 [Textfassung a]
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Versuch 3

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Zur Funktion einer pädagogischen Theorie

[017:1] Eine Theorie der Jugendarbeit sollte als eine pädagogische Theorie konzipiert werden. Das heißt nicht, daß es sich in der Jugendarbeit in jedem Falle um Erziehung in der traditionellen Bedeutung dieses Wortes handelt. Es heißt nur, daß dasjenige, was innerhalb der Jugendarbeit geschieht, seinem unausgesprochenen Sinne oder erklärten Zweck nach auf das Heranwachsen der jungen Generation hin geordnet ist. Als eine Theorie des Handelns junger Menschen oder des Handelns am jungen Menschen im Hinblick auf Heranwachsen und Mündigwerden ist die Theorie der Jugendarbeit eine pädagogische Theorie.
[017:2] Auch eine soziologische Theorie der Jugendarbeit wäre denkbar. Sie würde aber etwas anderes als den hier unterstellten Sinn der Jugendarbeit zum Thema haben. Diese meine Unterstellung ist eine hypothetische Prämisse, deren Brauchbarkeit sich in der Entfaltung der Theorie erweisen muß.
[017:3] Die Aufgabe der pädagogischen Theorie besteht darin zu beschreiben. Sie muß zeigen, was ist. Das geschieht in der Weise einer verstehbaren Anordnung der Beobachtungen. Die Theorie ist ferner analysierend. Sie versucht zu zeigen, warum etwas so ist, wie es ist. Sie ist schließlich kritisierend. Darin, daß sie analysiert, enthält sie schon den Gedanken daran, daß die Wirklichkeit, die sie beschreibt und analysiert, auch anders sein könnte als so, wie sie ist.
[017:4] Diese Kritik der Theorie wird nicht nach einer beliebigen Vorstellung vom Anders-Sein-Können der Wirklichkeit vorgenommen, sondern nach Maßgabe eines bestimmten Prinzips: des Prinzips der Mündigkeit. Der Begriff der Mündigkeit ist nicht nur für unser kulturelles System im Ganzen wesentlich, sondern auch im Hinblick auf die Absicht, die unser Erziehungssystem leitet [womit nicht gesagt ist, daß diese Absicht im Erziehungssystem auch schon realisiert sei]. Er konstituiert insbesondere die wissenschaftliche Theorie, die in der Anwendung rationaler Verfahren eben jene Mündigkeit praktiziert.
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[017:5] Die Analyse, indem sie Verhältnisse von Zwang, Herrschaft, Unterdrückung, Vorurteil – kurz: indem sie die Verhinderung der Mündigkeit aufdeckt, kritisiert damit dieses Festgestellte im Namen einer besseren Realisierung des Begriffs von Mündigkeit und im Wissen, daß auch die Realisierung dieses Besseren wiederum der Kritik unterzogen werden muß. Die Beschreibung und Analyse im Rahmen einer pädagogischen [und nicht nur dieser] Theorie enthält immer einen besseren Begriff von der Sache [der Erziehung], als die zutage liegenden Verhältnisse anzubieten scheinen; die Theorie entwickelt diesen besseren Begriff in ihrem eigenen analytischen Verfahren.
[017:6] Die Aufgabe einer Theorie der Jugendarbeit sehe ich also nicht darin, Jugendarbeit lediglich zu beschreiben, sondern ihren
»besseren«
Begriff aus dem Material der Praxis zu gewinnen. Da eine solche Theorie den Vorgriff auf ein Handeln darstellt, eine wirkliche mit einer möglichen Praxis konfrontieren will, schließt sie die empirische Überprüfung ihrer Aussagen nicht aus, sondern ausdrücklich mit ein. Auch die kritische Theorie muß kritisiert werden; wieviel mehr aber ein
»Versuch«
, der zudem nicht die ausgeführte Theorie selbst, sondern nur deren Umriß zu geben hofft.

Die Eigenart des pädagogischen Ansatzes der Jugendarbeit

[017:7] Man kann – angesichts der gesamten Erziehungswirklichkeit – zwischen relativ starren und relativ beweglichen Erziehungsfeldern unterscheiden. Um die erste Art würde es sich handeln, wenn pädagogische Verhältnisse als formell institutionalisierte Sozialverhältnisse auftreten, also überall dort, wo Rolle und Auftrag, Funktion und Verfahren der erziehenden Person vorgeschrieben und festgelegt sind, wo die Form, in der Erziehung geschieht, dem Prozeß selbst vorgegeben ist: in der Schule, dem Heim, der Berufsausbildung und ähnlichen Bereichen. Von der zweiten Art würde man dort sprechen können, wo die |a 92|Form pädagogischer Abläufe nur zu geringem Teil institutionalisiert ist und sich infolgedessen jeweils aus der konkreten Aufgabe entwickelt.
[017:8] Von dieser zweiten Art ist die Jugendarbeit, wie sich aus der Vielfalt ihrer Formen und deren Veränderlichkeit unschwer ablesen läßt. Wenn das auch nicht heißt, daß sie von institutionellen Bedingungen und vorgegebenen Sozialformen frei sich entfalten kann – allein der Hinweis auf die Jugendverbände würde genügen, um eine so weit getriebene These zu widerlegen –, so gibt ihre relativ größere Beweglichkeit doch Anlaß, den pädagogischen Ansatz nicht in einem bestimmten Erziehungsverhältnis zu suchen, also nicht – wie es in der traditionellen Pädagogik geschieht – vom sogenannten
»Erzieher-Zögling-Verhältnis«
auszugehen.
[017:9] Dadurch wird eine Gefahr vermieden, der andere pädagogische Theorien, sofern sie von der Erziehung als einem Sozialverhältnis zwischen Erziehenden und
»Zöglingen«
ausgehen, immer ausgesetzt sind: Jede Sozialform, in der Erziehung geschieht, reproduziert in gewisser Weise ein Herrschaftsverhältnis, wenn auch auf der Ebene des erzieherischen Umgangs; ein unkritischer Ausgang von der Sozialform, in der Erziehung sich darstellt [dem Verhältnis Vater-Kind, Lehrer-Schüler, Gruppenleiter-Gruppenmitglied, Heimleiter-Besucher usw.], wird daher die Mündigkeit – durch Herrschaft beschränkte Mündigkeit – eher reduzieren als ihre Chancen vergrößern. Es scheint mir deshalb sinnvoll zu sein, nicht davon auszugehen, daß in der Jugendarbeit ein
»Erwachsener«
[oder die erziehende Generation] einen
»Unerwachsenen«
[oder die heranwachsende Generation] mit inhaltlich präzisierbarer Absicht und in der Form bestimmter Abhängigkeitsverhältnisse erziehen oder bilden will, sondern davon, daß die Jugendarbeit ein zwar geordnetes, aber bewegliches Feld darstellt, das dem Heranwachsenden seine Selbstveränderung in Richtung auf ein Mündigwerden erleichtert.
[017:10] Dieser Ansatz liegt nicht nur im Interesse einer Theorie, die sich als kritische versteht, sondern zugleich im Inter|a 93|esse der heranwachsenden Generation selbst, jedenfalls dann, wenn es erlaubt ist, aus der Geschichte einer Sache auf ihren aktuellen Sinn zu schließen:
[017:11] Das Generationenproblem in der uns überlieferten und heute noch diskutierten Fassung entstammt dem Ende der Aufklärung. Damals formierte sich jene
»Sturm-und-Drang-Generation«
, die in kulturkritischer und gesellschaftsreformerischer Absicht den gegebenen kulturellen Horizont – freilich mit untauglichen Mitteln – zu überschreiten suchte. Seitdem ist der Widerspruch der jungen Generationen gegen das je herrschende System gesellschaftlicher Eingliederungspraktiken nicht verstummt. Im Zusammenhang mit diesem Widerspruch entstanden in dem von den traditionellen Erziehungseinrichtungen freigelassenen Raum neue Erziehungsfelder, in denen – ausgehend von den bildenden Formen freier Geselligkeit, in Vereinen, Gruppen und Klubs – sich ein neuer Typus von Erziehungstätigkeit formierte: die Jugendarbeit.
[017:12] Dieses neue Erziehungsfeld war von Anfang an in besonderer Weise
»sozialschöpferisch«
, ein Experimentierfeld für bessere Möglichkeiten des sozialen Daseins, beweglich und dauernd in Umbildungen begriffen, das genannte Moment des Widerspruchs stärker oder schwächer realisierend. Wenn in der Gegenwart diese Merkmale nicht mehr so offen zutage liegen, bedeutet das nicht, daß sie verschwunden sind. Allerdings werden sie nicht mehr durch die Initiative der jungen Generation allein hervorgebracht, denn die objektiven gesellschaftlichen Bedingungen unterdrücken sie eher, als daß sie sie unterstützen. Sie zu realisieren, ist verantwortliche Sache derer geworden, die Jugendarbeit veranstalten. Der freie Raum jugendlicher Gesellungen, Experimente, Widersprüche und Engagements gehört damit zur pädagogischen Verantwortung, deren besondere Form zum erstenmal in den Formulierungen Schleiermachers hervortrat: die heranwachsende Generation sei nicht nur auf die Erhaltung des bestehenden Guten, sondern auf seine Verbesserung, das heißt, den gesellschaftlichen Fortschritt vorzubereiten.
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[017:13] Damit kann die Jugendarbeit als dasjenige Erziehungsfeld bezeichnet werden, in dem das hohe Maß an Soziabilität, an sozialer Beweglichkeit, Distanz und Kritikfähigkeit eingeübt werden kann, dessen die demokratische Gesellschaft zu ihrem Fortbestand wie zu ihrer Verbesserung bedarf. Familie, Schule und Beruf können das, ihrem Auftrag wie ihrer institutionellen Strukur nach, nur beschränkt und peripher leisten. Für die Jugendarbeit indessen sind dies primäre, konstitutive Aufgaben. Insofern steckt in der Jugendarbeit auch ein fundamental politischer Sinn, wenn nämlich
»politisch gebildet«
derjenige zu nennen ist, der in kritischer und verantwortlicher Teilnahme an gesellschaftlichen Veränderungen mitwirkt.

Der Ort der Jugendarbeit im Erziehungssystem

[017:14] Das Auftauchen von Jugendarbeit im System unserer Erziehungseinrichtungen bedeutet also nicht eine einfache Erweiterung und Ausdehnung der traditionellen Einrichtungen. Sie bringt diesem System ein neues Moment ein, das sich zu ihm gleichsam komplementär verhält. Es wäre daher nur eine sehr grobe und für die Kenntnis noch unzureichende Bestimmung, wenn wir sagen würden, Jugendarbeit sei Bildung außerhalb von Schule und Familie. Deshalb ist es zweckmäßig, die Frage, wie die Jugendarbeit zu lokalisieren sei, unter verschiedenen Aspekten zu beantworten und jeweils die für sie charakteristischen Merkmale im Vergleich mit den traditionellen Erziehungseinrichtungen zu nennen.
[017:15] 1. Lokalisierung nach der Intensität der Erziehungsabsicht: Denkt man sich eine Skala, auf der alle Erziehungsfelder eingetragen werden könnten, dann ließe sich die Anordnung so vornehmen, daß an dem einen äußersten Ende diejenigen Erziehungsfelder stünden, in denen das Interesse der Gesellschaft an ihrem eigenen Fortbestand am nachdrücklichsten zur Geltung gebracht wird, am ander|a 95|ren Ende der Skala dagegen solche Erziehungsfelder, in denen jenes Interesse ein Minimum erreicht. An dem einen Ende würde man etwa den Jugendstrafvollzug eintragen können, an dem anderen Ende freie Formen der Gesellung oder der selbstbildenden Tätigkeit, in denen eine pädagogische Verantwortung von außen, in denen eine
»erziehende Generation«
nicht mehr auftritt. Auf der einen Seite würden, sich vom Jugendstrafvollzug zur Mitte hin entfernend, die erziehungsfürsorgerischen Maßnahmen, die Heimerziehung, die Schule stehen. Die Jugendarbeit müßte – unter diesem Aspekt betrachtet und wahrscheinlich trotz vieler Bedenken in einzelnen Fällen – aufs Ganze und von den genannten Einrichtungen her gesehen zur anderen Seite hin eingetragen werden. Die Durchsetzung vorgegebener Normen mit erzieherischen Mitteln spielt zwar auch hier eine gewisse Rolle, jedoch mit weit geringerer Intensität als etwa in der Schule, in der auf jeden Fall, mit den Mitteln sozialer Sanktionen [Schulpflicht] ein Kanon kultureller Techniken an die Jugend weitergegeben wird.
[017:16] Der Widerspruch zwischen Freiheit und Gebundenheit, Spontaneität und Repression, erstrebter Mündigkeit und faktischer Abhängigkeit, Beweglichkeit und Reglementierung taucht freilich in jedem dieser Felder auf; keines gehört der einen oder anderen Seite ganz an, nur das Gewicht ist anders, mit dem das eine oder das andere Moment jeweils ins Spiel kommt und damit den besonderen Charakter des einzelnen Erziehungsbereichs konstituiert.
[017:17] 2. Lokalisierung nach den ins Spiel kommenden Inhalten: Durch die Eintragung der Schule auf der eingeführten Skala wird bereits deutlich, daß sich eine Bestimmung des pädagogischen Ortes der Jugendarbeit auch unter dem Aspekt von Art und Funktion der Inhalte vornehmen läßt. Die Schule hat es mit einem Kanon vorgegebener Inhalte und einer begrenzten Zahl von Techniken zur Aneignung dieser Inhalte zu tun. Die Wahl der Inhalte und Techniken steht dem Schüler nicht frei. In der Jugendarbeit ist die Situation prinzipiell anders. Zwar spielen |a 96|auch hier Inhalte eine Rolle. Sie stehen aber nicht, wie in der Schule, in den Umrissen bereits fest, ehe der jugendliche Teilnehmer in sie eintritt. Solche Umrisse gibt es allenfalls als Erfahrungs-Durchschnitt, der aber keinerlei kanonische Funktion erfüllen kann. Vielmehr – und das ist die didaktische Eigentümlichkeit der Jugendarbeit – entstehen die Inhalte erst im Prozeß der Kommunikation, dadurch nämlich, daß dabei – in der geselligen Auseinandersetzung – die Erfahrungswelt des Einzelnen zum Vorschein kommt und sich als Inhalt der Jugendarbeit prozessual artikuliert. So wie es nicht die ausschließliche Funktion der Schule ist, einen vorgegebenen Kanon von Wissensinhalten zu vermitteln, so tritt auch dieser gleichsam
»reine Fall«
von Jugendarbeit vermutlich selten auf. Man muß nicht so weit gehen und überall einen – wenn auch vielleicht unausgesprochenen – Konsensus der Beteiligten über die in Frage kommenden Inhalte ermitteln, sondern es genügt, auf die ausgesprochene Vorliebe traditioneller Jugendpflege für bestimmte kulturelle Veranstaltungen oder das inhaltlich festgelegte Engagement mancher Jugendverbände hinzuweisen, um zu zeigen, daß die
»prozessuale Artikulation«
der Inhalte zwar ein entscheidendes Merkmal, nicht aber die vollständige Beschreibung der didaktischen Vorgänge ist.
[017:18] 3. Lokalisierung nach der gesellschaftlichen Funktion: Die Aufgabe der Erziehung ist sozial-integrativ oder, mit einer allgemeineren Bezeichnung, Sozialisation. Wenn auch dieser Begriff kaum ausreicht, um das zu kennzeichnen, was in den Erziehungsvorgängen geschieht, so ist damit doch ein Aspekt benannt, unter dem man jede Form von Erziehung betrachten kann. Tut man dies, dann fällt ins Auge, daß offenbar jedes Erziehungsfeld einen besonderen, eigentümlichen Beitrag zur Soziabilität der heranwachsenden Generation leistet. In der Familie werden die fundamentalen Verhaltens- und Charakterstrukturen hervorgebracht; die Schule stellt in der Sozialform
»Klasse«
ein Erziehungsfeld bereit, das über die intimen Sozialbeziehungen der Familie hinaus neue Verhaltensanforde|a 97|rungen an die junge Generation stellt und ihr so den objektiven Charakter der sozialen Welt zum Bewußtsein bringt; diese Reihe ließe sich fortsetzen. Nun unterscheidet es die Jugendarbeit wesentlich von allen anderen Erziehungseinrichtungen, daß in ihr die Jugend selbst am Hervorbringen sozialer Strukturen wie an deren Veränderung entscheidend beteiligt ist. Man könnte sogar noch entschiedener formulieren: sie, die Jugend allein, entscheidet hier über die Art der Sozialbeziehungen, die das pädogogische Feld strukturieren; jedenfalls hat die junge Generation in der Jugendarbeit diese Möglichkeit. Daß diese Möglichkeit faktisch häufig nicht realisiert wird, könnte infolgedessen bedeuten, daß die soziale Bildungschance, die in der Jugendarbeit liegt, nicht wahrgenommen, ihr eigenständiger sozialer Bildungssinn verspielt wird.
[017:19] 4. Lokalisierung nach den angewandten Methoden: Im Hinblick auf die pädagogischen Methoden fällt es schwer, die verschiedenen Erziehungsfelder und -einrichtungen voneinander zu unterscheiden bzw. ihre Beziehungen zueinander festzustellen. Es wird sich kaum eine Methode finden lassen, die nur für eine erzieherische Institution charakteristisch ist. Allenfalls im Hinblick auf die Methodenvielfalt ließen sich Differenzen bestimmen. So quantitativ und unerheblich dieser Gesichtspunkt auch zunächst erscheinen mag: er erbringt für die Jugendarbeit doch einen bemerkenswerten Sachverhalt. Wegen ihrer Offenheit, der Einbeziehung der jungen Generation selbst bei der Gestaltung des pädagogischen Feldes und des Fehlens eines eindeutigen institutionellen Rahmens wie eines inhaltlichen Kanons ist sie – im Hinblick auf die in ihr verwendeten und möglichen Methoden – das variantenreichste aller Erziehungsfelder. Alle Lehrverfahren, alle außerunterrichtlichen Formen des Wissenserwerbs, alle Methoden der Gruppenführung und -lenkung, der Einzelbetreuung oder Einzelhilfe, der Übung und des Spiels, des modellhaft Exemplarischen und des Ernstfalls können in ihr auftauchen. Auch hier läßt sich sagen, daß die Jugendarbeit eine ihrer spezifischen Bildungschancen verpaßt, wenn sie |a 98|die Möglichkeit dieses Kombinationsreichtums nicht nutzt, sondern sich einseitig beschränkt. Sie hat nämlich – wenn ich recht sehe – die in unserem Erziehungswesen einzigartige Möglichkeit, alle im Erziehungsgang eines Heranwachsenden bis dahin aufgetauchten oder noch zu erwartenden Inhalte und Formen noch einmal oder vorwegnehmend in einem anderen methodischen Licht erscheinen zu lassen. Der
»Verfremdungseffekt«
ist für sie konstitutiv; sie kann zeigen, daß man alles auch anders sehen, anders angehen, anders beantworten kann. In der methodisch heterogenen Struktur der Jugendarbeit ist die Bildung eines kritischen Bewußtseins bereits angelegt. Methodische Einsinnigkeit produziert hier nicht nur Langeweile – und enttäuscht damit die Erwartungen der Teilnehmer –, sondern bringt die Jugendarbeit um eins ihrer fruchtbarsten Prinzipien. Gerade an dieser Stelle zeigt sich, wie wichtig ihre Funktion im Hinblick auf Ergänzung, Kritik und Korrektur der Schule ist, deren Erziehungsarbeit sie voraussetzen muß, um sinnvoll tätig sein zu können, und die ihrerseits der Jugendarbeit bedarf, damit die institutionellen Beschränkungen, auf die sie angewiesen ist, nicht zur Beschränktheit des Bewußtseins werden.
[017:20] 5. Lokalisierung nach den Altersstufen: Jugendarbeit ist eine erziehungsbegleitende Veranstaltung oder – im Sinne eines weiteren Erziehungsbegriffs – begleitende Erziehung. Damit ist gesagt, daß sie sich, im Hinblick auf die von ihr betroffenen Altersstufen, von anderen Erziehungseinrichtungen nicht eindeutig abgrenzen läßt. Was in ihr betrieben wird, läuft neben Familie, Schule und Beruf einher. Sie hat es indessen nur mit Jugendlichen zu tun. Diese altersmäßige Einschränkung ist nicht nur aus Zweckmäßigkeitserwägungen sinnvoll und weil es sich eben um
»Jugend«
-Arbeit handelt, sondern weil die besondere pädagogische Feldstruktur, die ich hier zu skizzieren versuche, und in der jener schon häufiger genannte
»Bildungssinn«
als ein der Jugendarbeit Eigentümliches hervortritt, nur im Umgang mit Jugendlichen zu realisieren ist.
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[017:21] Ich bin nicht sicher, ob es zutreffend ist, auf Grund dieser Charakteristik von der Jugendarbeit als der
»dritten Institution«
unseres Erziehungswesens
[Helmut Kentler]
zu sprechen oder ob diese Institution nicht vielmehr die Jugendhilfe als Ganzes wäre. Sicher scheint mir indes zu sein, daß sie anderen Erziehungsfeldern der Jugendhilfe näher steht, als der Erziehung in Familie, Schule und Beruf, dadurch nämlich, daß diese anderen Erziehungsfelder entschieden die Erfahrung und das Schicksal des jungen Menschen zum alleinigen Inhalt haben.

Bedingungen und Faktoren

[017:22] Die bisher hervorgehobenen Merkmale der Jugendarbeit entstehen – und setzen sich durch – nicht unabhängig von der Vielfalt der Bedingungen, denen das konkrete Erziehungsgeschehen ausgesetzt ist, und die selbst ein Bestandteil dieses Geschehens sind. Es müßte deshalb an dieser Stelle ein Faktorenmodell [Hermann Giesecke] entwickelt werden, das den gesellschaftlichen Zusammenhang klärt, in dem Jugendarbeit überhaupt erst wirklich wird. Für die Überprüfung der Realität der Jugendarbeit ist ein solches Modell unerläßlich. Da es sich hier jedoch nicht um eine ausgeführte Theorie, sondern nur um deren Umriß handelt, möchte ich nur diejenigen Bedingungen zur Sprache bringen, die unmittelbar das pädagogische Klima, den Stil und die Struktur des Erziehungsgeschehens bestimmen.
[017:23] 1. Die für die Jugendarbeit folgenreichste Bedingung ist vermutlich die Tatsache, daß die Teilnahme an ihren Veranstaltungen freiwillig ist. Die Bedeutung dieser scheinbar so äußerlichen Tatsache ist kaum zu überschätzen. Mit dieser Tatsache ist gesetzt:
[017:24] [a] daß das Fehlen von Zwang für die Jugendarbeit konstitutiv ist und jeder Versuch, Zwangsverhältnisse in irgendeiner Form [und sei es die geschickte Verwendung von Vorurteilen] hinter dem Rücken der Teilnehmer wie|a 100|der einzuführen, eine Täuschung dieser – gutgläubigen – Teilnehmer darstellt [die Jugendarbeit hätte sich damit moralisch disqualifiziert];
[017:25] [b] daß die Jugendarbeit durch ihr Angebot, durch ihre für andere sichtbare Struktur ihrer Veranstaltungen selektiv wirkt, daß die Schrumpfung von Teilnehmerzahlen ausschließlich ihr selbst zuzuschreiben ist und das Ausbleiben von Teilnehmern sie als überflüssig qualifiziert;
[017:26] [c] daß die Bildsamkeit ihrer Teilnehmer vermutlich erheblich größer ist als in den unausweichlichen pädagogischen Einrichtungen, was zugleich auch die Verpflichtungen erhöht, die sie gegenüber den Erwartungen ihrer Teilnehmer hat.
[017:27] Da der Begriff der Freiwilligkeit das Moment der Freiheit von gesellschaftlichem Zwang enthält, und da darin nicht nur ein pädagogisch-organisatorisches, sondern ein fundamental anthropologisches Problem angesprochen ist, könnte dieser Begriff nicht nur eine unter anderen Bedingungen der Jugendarbeit beinhalten, sondern den fundamentalen Begriff einer Theorie der Jugendarbeit darstellen.
[017:28] 2. Ist die Freiwilligkeit eine fundamentale Bedingung der Jugendarbeit, mit der sie steht und fällt, so stellen die Bedürfnisse einen Faktor dar, der innerhalb der Jugendarbeit sehr unterschiedlich fungieren kann und dessen Einschätzung davon abhängig ist, mit welcher Entschiedenheit aus der Tatsache der Freiwilligkeit Konsequenzen gezogen werden. Jeder Mensch hat Bedürfnisse und das Verlangen, sie zu befriedigen. Mit ihrer Befriedigung stellt sich das Glück ein. Diesem Glück gegenüber sind aber die Erziehungsmeinungen skeptisch: Sind alle Bedürfnisse zulässig? Gibt es Bedürfnisse, deren Befriedigung versagt werden muß? Man kann von der Annahme ausgehen, daß die unmittelbare Befriedigung mindestens bestimmter Bedürfnisse versagt werden muß, wenn Kultur entstehen soll, daß diese Versagung erst die Energien liefert, die für Lernen und Arbeit erforderlich sind. An diesem Sachverhalt ist kaum zu zweifeln, indessen ist es aber entscheidend, wie seine Bedeutung für den Zusammenhang der Jugend|a 101|arbeit eingeschätzt wird. Identifiziert man sich mit dem fortschreitend repressiven Charakter unserer Kultur, dann wird man es normal finden, wenn auch in der Erziehung vorwiegend repressiv verfahren wird, wenn ein dem Umfang und der Art nach festgesetzter Kanon von Bedürfnisbefriedigungen von vornherein das Erziehungsgeschehen bestimmt. Im normativen System des Erziehers oder Jugendleiters ist dann schon alles entschieden, er hat eine bestimmte Gruppe von Bedürfnissen und deren Befriedigung pädagogisch disqualifiziert; das ursprüngliche Spaß-Haben-Wollen und das Glück des erfüllten Augenblicks sind ihm keine pädagogisch ernst zu nehmenden Kriterien. Demgegenüber ist zu fragen, ob nicht gerade die Jugendarbeit die Chance hat – von der Familie, in der alles möglich ist, einmal abgesehen – etwas anderes zu sein, als die Verlängerung gesellschaftlicher Unterdrückung in der Erziehung. Nicht die Zulässigkeit bestimmter Bedürfnisbefriedigungen wäre dann das pädagogisch regulierende Kriterium, sondern die Möglichkeit einer kultivierten Befriedigung. Jugendarbeit wäre damit dasjenige Erziehungsfeld, in dem prinzipiell jedes Bedürfnis seine Befriedigung finden kann, unter der Voraussetzung, daß es sich kultivieren läßt. Das System gesellschaftlich-kultureller Repressionen würde darin nicht naiv normativ vorausgesetzt, sondern im Prozeß der Kommunikation sowohl einer Kritik unterzogen wie – allerdings – auch immer wieder neu hergestellt. Darin, in diesem Ernst-Nehmen der Bedürfnisse als einem Ausgangspunkt und bleibenden Faktor der Jugendarbeit, liegt zum Beispiel der pädagogische Sinn der vielzitierten Jugendtanzkaffees. Wenn die schon erwähnte Bestimmung der Jugendarbeit als eines Experimentierfeldes für die junge Generation und als
»erziehungsfreier Raum«
einen Sinn hat, dann ergibt sich jetzt eine wichtige methodische Konsequenz: Der pädagogische Trick, die Energien nicht befriedigter Bedürfnisse im Lernprozeß für Zwecke einzusetzen, die vom jungen Menschen selbst gar nicht gewollt werden [dieser
»Trick«
ist übrigens in anderen Erziehungseinrichtungen legitim und unum|a 102|gänglich], darf in der Jugendarbeit keine erzieherisch entscheidende Stelle innehaben.
[017:29] 3. Jugendliche haben nicht nur Bedürfnisse, sondern auch
»Interessen«
. Bedürfnisse sind ein entscheidender Faktor im Hinblick auf die in der Jugendarbeit auftretenden Formen, im Hinblick auf Kommunikation und Stil als Medien kultivierter Bedürfnisbefriedigung. Die Interessen dagegen entscheiden über die in den Raum der Jugendarbeit eintretenden Inhalte. Interessen treten – im Unterschied zu Bedürfnissen – ausschließlich in verbalisierter Form auf. Nur was ein Jugendlicher in Worten als sein Interesse zum Ausdruck bringt, kann auch als Interesse erkannt werden. Interesse ist also immer auch bewußtes Interesse, während Bedürfnisse dem bedürfenden Subjekt unbewußt und damit verborgen bleiben können.
[017:30] Im Interesse wird ein pädagogisch höchst wichtiger Sachverhalt deutlich: Der junge Mensch zeigt sich in ihm nicht nur, wie er ist, sondern zugleich wie er sein will. Das Interesse enthält einen Zukunftsbezug. Während das Bedürfnis nach Befriedigung und damit nach seinem eigenen Erlöschen strebt, einen vorübergehend gestörten Gleichgewichtszustand wiederherzustellen sucht, strebt das Interesse nicht nach
»Befriedigung«
, sondern nach Realisierung und Vertiefung. Das Bedürfnis und das Interesse zu tanzen sind verschiedene Dinge. Das Interesse ist nicht nur ein Faktor der Jugendarbeit unter vielen, sondern es ist bereits pädagogisch strukturiert, es ist schon die Formulierung voraufgegangener bildender Prozesse.
[017:31] Aus diesem Grund möchte ich das Interesse den entscheidenden Faktor in der Jugendarbeit nennen. Gerade weil es in sich schon von pädagogischem Wert ist, ist die Jugendarbeit gehalten, das Interesse ihrer Teilnehmer rückhaltlos ernst zu nehmen und als den Inhalt ihrer Arbeit festzusetzen. Es gibt also in der Jugendarbeit keine didaktische Überlegung, in der vorweg entschieden würde, welche Inhalte in ihren Zusammenhang eintreten dürfen, sondern jeder Inhalt, sofern er als das Interesse eines Jugendlichen artikuliert ist, muß als Inhalt der Jugendarbeit zugelassen |a 103|werden, wenn die Jugendarbeit nicht zu einer quasi-schulischen Einrichtung pervertieren will. Das bedeutet allerdings nicht, daß mit dem Eintritt eines Jugendlichen in eine Einrichtung der Jugendarbeit die Inhalte durch dessen Interessen bereits festgelegt sind oder daß der Inhalt der Jugendarbeit nichts als die Summe der Interessen ihrer jugendlichen Teilnehmer bei ihrem Eintritt sein soll. Im Prozeß der Jugendarbeit summieren sich nicht nur die Interessen, sondern sie verändern sich, artikulieren sich neu oder entstehen überhaupt erst im Gespräch und in der Auseinandersetzung mit dem, was als profilierter Inhalt schon in den Kommunikationen enthalten ist. Insofern Jugendarbeit auch beim Zustandekommen von Interessen hilft, befördert sie auch neue Bildsamkeiten in ihren Teilnehmern.
[017:32] Daß dieser Faktor von der Jugendarbeit schon seit längerem ernst genommen wird, zeigt der Trend in Richtung auf die zunehmenden Interessen- und Hobby-Gruppen: das Arrangement von Jugendarbeit als ein Interesse-förderndes Angebot. Die im ernsthaften Ansatz bei dem Interesse des Jugendlichen liegende spezifische Bildungsmöglichkeit wird aber beständig dadurch gefährdet, daß jede Einrichtung der Jugendarbeit dazu neigt, schon im vorhinein ein bestimmtes, begrenztes und differenziertes Interessen-Angebot zu machen. Die Vielfalt jugendlicher Interessen wird damit auf einen eingeschränkten Kanon reduziert. Nicht mehr das Interesse des Teilnehmers, sondern dieser Kanon ist dann der Inhalt der Jugendarbeit. Der dynamische Prozeß, der Jugendarbeit sein könnte, ihre Beweglichkeit und die die Bildung des Einzelnen fördernde variationsreiche dauernde Veränderung stagniert in unterrichtsähnlichen Veranstaltungen. Diese aber sind der Jugendarbeit eigentlich fremd, auch wenn sie mit methodisch geschickten Mitteln arrangiert werden. Die Gefahr solcher Kanonisierung kann nicht vermieden werden. Nie geschieht Erziehung in völliger Offenheit gegenüber den Interessen der Heranwachsenden; so etwas anzunehmen, wäre utopisch, so utopisch, wie die
»Päd|a 104|agogik vom Kinde aus«
es gewesen ist. Kein pädagogisches Verhältnis entsteht ohne – wenn auch nur schwach profiliertes – Angebot, ohne Anforderung, ohne
»Vorwegnahme«
. Nicht nur kann keine Veranstaltung der Jugendarbeit auf solche Vorwegnahmen verzichten, sondern auch das Interesse der Jugendlichen selber realisiert sich ja nur in einer gewissen Konstanz und Dauer, so daß unvermeidlich in jedem Erziehungsvorgang eine
»Auswahl aus der wirkenden Welt«
[Buber]
stattfindet, eine Kanonbildung einsetzt. Allerdings ist damit kein Interessenkanon für die Jugendarbeit legitimiert, welcher Art er auch sein mag, sondern nur die Schwierigkeit bezeichnet, mit der sie sich auseinandersetzen muß, wenn sie die ihr eigene Bildungschance nutzen will.
[017:33] Jeder Inhalt ist ein möglicher Gegenstand von Interesse. Wenn wir von Interessen sprechen, dann also nicht nur im Sinne jener sogenannten Freizeitbeschäftigungen, die sich mit dem Herstellen kutureller Produkte beschäftigen, sondern ebenso im Sinne des politischen Interesses, das einen Jugendlichen bewegt, der Gewerkschaft oder einem Jugendverband beizutreten, das er mitbringt, wenn er eine Freizeitstätte betritt, das kritische Interesse, das ihn bewegt, immer neue Auseinandersetzungen zu suchen. Gerade dieser kompromißlose Ausgang von der Vielfalt und Heterogenität der Interessen junger Menschen heute und das spannungsreiche Feld, das dadurch entsteht, sichert der Jugendarbeit jene erzieherische Potenz, deren sie bedarf und die allein sie neben den traditionellen Erziehungseinrichtungen unerläßlich macht.
[017:34] 4. Spannungsreich wird dieses Feld aber erst dadurch, daß die Verschiedenartigkeit der Bedürfnisse und Interessen in Kommunikationen sichtbar wird, die solche Spannungen ertragen statt sie zu vernichten, das heißt dadurch, daß Jugendarbeit sich als Geselligkeit vollzieht. In den sozialen Rahmen der Geselligkeit kann man ein- und austreten, ohne ihn zu gefährden und ohne sich selbst zu disqualifizieren. Sie steht und fällt mit der Reichhaltigkeit subjektiver Erfahrungen, die in ihm zur Sprache kommen, |a 105|mit der Reichhaltigkeit subjektiven Könnens, das in ihm zur Darstellung kommt. Es gibt in unserem Erziehungssystem keinen Ort, an dem das Zusammensein von jungen Menschen der Möglichkeit nach so wenig fremdbestimmt ist, wie in der Jugendarbeit. Insofern ist Jugendarbeit in der Tat eine Art
»freier Raum«
oder
»Pädagogische Provinz«
: Im geselligen Prozeß kann der Heranwachsende sich nicht nur als das, was er ist, sondern auch als das, was er sein möchte, darstellen. Mit Recht ist deshalb in der Geschichte der Jugendarbeit die
»Gruppe«
das ausgiebigste und bisweilen sogar ausschließliche Thema gewesen, und sie tritt gerade jetzt – in den zweckmäßigeren Differenzierungen der modernen Gruppentheorie – entschieden in den Mittelpunkt aller Erörterungen über Fragen der Jugendarbeit. Sind in den Begriffen Bedürfnis und Interesse die entscheidenden subjektiv-psychischen wie didaktisch-inhaltlichen Bedingungen der Jugendarbeit formuliert, so enthält der Begriff der freien Geselligkeit die entscheidende Bedingung für das Zustandekommen einer sozialen Form, die die im Sinne der Jugendarbeit spezifischen Bildungswirkungen ermöglicht und das pädagogische Feld als Feld strukturiert.
[017:35] 5. In dieses durch Geselligkeit formierte, durch Bedürfnisse und Interessen methodisch und inhaltlich bestimmte, unter der Voraussetzung der Freiwilligkeit sich entwickelnde Feld wirken außerdem eine Reihe von Faktoren hinein, die die konkrete Form der Jugendarbeit, das was in ihren Einrichtungen jeweils wirklich geschieht, nachhaltig bestimmen. Diese Faktoren sind nicht so unmittelbar wirksam wie die genannten Bedingungen. Sie sind mittelbar insofern, als sie schon in den Bedürfnissen und Interessen enthalten sind, wie auch insofern, als sie die konkreten Formen, in denen Geselligkeit sich abspielt, präjudizieren: die ganze Skala gesellschaftlicher Bedingungen, denen auch der
»freie Raum «
der Jugendarbeit nicht entgehen kann. Nur die wichtigsten dieser Faktoren-Gruppen möchte ich hier nennen:
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[017:36] Die Freizeit ist nicht nur ein chronologisches Phänomen, sondern zugleich ein Zusammenhang von Konsumgewohnheiten und -inhalten. Dieser Zusammenhang existiert außer und vor der Jugendarbeit, die sich ihm aber, da er ein Stück der objektiven gesellschaftlichen Wirklichkeit ist, nicht entziehen kann. Vielmehr ist Jugendarbeit unausweichlich in diesen Zusammenhang eingebunden: Die Erwartungen, die junge Menschen an die Jugendarbeit stellen, sind Erwartungen, die in eben diesem außerpädagogischen Freizeitzusammenhang entstanden sind. Das Angebot der Jugendarbeit selbst – auch und gerade wenn es sich als Konkurrenz oder Widerspruch gegen die industrielle Freizeitwelt versteht – erweist in dieser Relation seine Abhängigkeit. Weder in ihren Formen noch in ihren Inhalten kann die Jugendarbeit davon absehen, wenn sie Wirkungen beabsichtigt, die sich nicht nur auf ihren internen Raum beschränken.
[017:37] Wenn meine anfängliche These von dem fundamental politischen Sinn der Jugendarbeit akzeptabel ist, dann ließe sich eine zweite Faktoren-Gruppe unter der Bezeichnung politisches Klima zusammenfassen. Das Maß an Freiheit, das Jugendarbeit genießt, das Maß ihrer Beweglichkeit, die Möglichkeit ihrer Veränderung sind nicht unbeträchtlich abhängig von den politischen Bedingungen, denen sie unterworfen ist. Solche Feststellung bezieht sich nicht nur auf die durch die Träger der Jugendarbeit in diese eingeführten politischen Strukturen [etwa in den Jugendverbänden], auf die Problematik des Bundesjugendplans und ähnlicher Förderungsprogramme, sondern auch auf die in der Jugendarbeit selbst als deren Inhalt auftretende politische Thematik, auf die Möglichkeit oder Unmöglichkeit politischer Bildung, schließlich auf die Möglichkeit, solche Abhängigkeiten selbst zum Thema von Jugendarbeit zu machen: als die Realisierung der Kritik und des Widerspruchs, in der sich ein kritisches Bewußtsein und eine freie Jugendarbeit erst als das erweisen kann, was sie zu sein beansprucht. Wie stark indessen diese Abhängigkeiten sind, haben die vergleichenden Untersuchun|a 107|gen zum politischen Bewußtsein der deutschen Jugend erwiesen. Was für das Bewußtsein der Jugend gilt, wird für die Struktur der Jugendarbeit kaum minder gelten.
[017:38] Die dritte hier anzusprechende Faktoren-Gruppe sind die sozialen Konventionen. Obwohl wir die vorherrschenden Kommunikationsformen der Jugendarbeit als freie Geselligkeit bezeichnen können, kann damit doch nicht behauptet werden, daß diese Geselligkeit in der Variation ihrer Formen unbegrenzte Möglichkeiten habe. Auch die Geselligkeit unterliegt der Wirkung von Faktoren, die nicht aus dem Erziehungszusammenhang selbst stammen. Das soziale Umfeld der Jugendarbeit präjudiziert, was in ihr möglich ist. Geselligkeit findet auch außerhalb der Jugendarbeit statt. Nur in den seltensten Fällen wird die Form der Geselligkeit in der Jugendarbeit produziert, in der Regel ist sie der außerpädagogischen Wirklichkeit entlehnt und erfährt durch ihre Aufnahme in die Jugendarbeit lediglich spezifische Modifikationen. Aber nicht nur die faktischen Formen geselliger Kommunikation im sozialen Umfeld bedingen die Möglichkeiten, die der Jugendarbeit verbleiben, auch die Gewohnheiten und Vorstellungen der Teilnehmer wie der Veranstalter von Jugendarbeit begrenzen das, was für die Realisierung möglich ist. Die jahrelangen Diskussionen um den Begriff der Gruppe und der Gemeinschaft zeigen, wie hartnäckig Ideologien und Vorurteile in die
»gesellige Struktur«
der Jugendarbeit hineinragen und deren Realisierung bestimmen oder begrenzen, wie andererseits aber auch der Versuch, alle Vorurteile dieser Art abzubauen und ein Feld geselliger Beliebigkeit zu konstruieren, vor der faktischen Macht gesellschaftlicher Determination scheitern kann.
[017:39] Die Aufzählung dieser Bedingungen und Faktoren ist unvollständig. Sie enthält zudem nichts als den formalen Umriß, ohne die Wirklichkeit in ihren konkreten Formen und Inhalten selbst zu beschreiben, zu analysieren und zu kritisieren, was Sache einer ausgeführten Theorie der Jugendarbeit wäre.
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[017:40] Aus den bisher aufgeführten Begriffen lassen sich jedoch einige Konsequenzen entwickeln, die für das Erziehungsgeschehen der Jugendarbeit charakteristisch sind und sich in vier Thesen zusammenfassen lassen:
[017:41] Erstens: Das Feld der Jugendarbeit ist ein Feld kommunikativer Selbstregulierungen. Seine besondere pädagogische Bedeutung liegt darin, daß seine Form nicht von vornherein institutionell dekretiert ist, sondern daß das Herstellen dieser Form in einem Vorgang ständiger Korrekturen die Eigenart der Erziehungsprobleme und -phänomene bestimmt.
[017:42] Zweitens: Die Inhalte der Jugendarbeit, mithin der didaktische Ausgangspunkt, sind die Erfahrungen der jugendlichen Teilnehmer, das, was sie als Material in das Erziehungsfeld einbringen, bzw. was sich, in der
»Bewegung«
dieses Materials im geselligen Prozeß artikuliert, verändert oder neu formt. Das bedeutet zum Beispiel, daß auch die Gruppenprozesse selbst zum Inhalt der Jugendarbeit gehören.
[017:43] Drittens: Alle Methoden der Jugendarbeit sind durch die Konzentration auf den Jugendlichen gekennzeichnet, auf Form und Inhalt seiner Existenz und deren gesellschaftliche Bedingungen; sie sind, mit einem amerikanischen Ausdruck,
»client-centered«
.
[017:44] Viertens: Der
»Erzieher«
kann in einem so strukturierten Feld nicht mehr die Rolle der
»erziehenden Person«
spielen. Er ist weder persönlich direkt Einwirkender, Führer, Vorbild noch erfüllt er die Erzieher-Rolle in einem anderen, durch die traditionellen erzieherischen Sozialverhältnisse vorbestimmten Sinn, sondern er ist allenfalls Beispiel, am ehesten
»Dramaturg«
des Erziehungsgeschehens.
|a 109|

Die Modalitäten der Jugendarbeit

[017:45] Der bisherige Gedankengang leidet – jedenfalls kann man ihn so interpretieren – an einer bemerkenswerten Einseitigkeit: Alle Inhalte, alle möglichen Objekte der Bildung scheinen sich in die subjektive Verfassung derjenigen, die an Jugendarbeit teilnehmen, aufgelöst zu haben; sie scheinen innerhalb der Jugendarbeit nur als Merkmale oder Inhalte subjektiven Bewußtseins zu fungieren; sie scheinen keinen
»objektiven«
Anspruch mehr zu erheben; sie scheinen unverbindlich zu sein.
[017:46] Ich will die darin liegende Frage hier nicht beantworten, da die Antwort zu umständlich ausfallen würde. Ich will dazu nur bemerken, daß
[017:47] [a] die Bildungschance der Jugendarbeit darin liegt, alle Verbindlichkeiten so zu behandeln, als seien sie unverbindlich und alles unverbindlich Vorgestellte so zu behandeln, als sei es Teil einer verbindlichen Realität; daß
[017:48] [b] jedes Subjekt, indem es sein Gesellschaftlich-Vermittelt-Sein erfährt und zum Bewußtsein bringt, darin schon dem Objektiven gegenübertritt; und daß
[017:49] [c] keine Jugendarbeit denkbar ist, in der nicht die Personen der sie begleitenden Erwachsenen durch sich selbst, durch ihr Verhalten darstellen, was für sie als Erwachsene Verbindlichkeit besitzt [also religiöse Inhalte, politische Urteile, sittliche, ästhetische Wertungen usw.].
[017:50] Dieser Gedankengang, der es wert wäre, begründet und ausgeführt zu werden, besonders im Hinblick auf die
»engagierte«
, an vorgegebenen Inhalten orientierte Jugendverbandsarbeit, soll hier in dieser Andeutung stehen bleiben, zumal im Folgenden noch einige Bemerkungen dazu gemacht werden, denn in den
»Modalitäten«
der Jugendarbeit wird sich zeigen, daß das Prinzip des
»client-centered«
eine entschiedene Grenze hat.
[017:51] Die fundamentale Modalität und gleichsam das Grundmuster aller Jugendarbeit ist die Geselligkeit. Alle folgenden modifizieren und konkretisieren sie in je bestimmte |a 110|Richtungen. Da ich sie als
»Bedingung«
schon behandelt habe, gehe ich hier nicht weiter auf sie ein. Sie muß aber bei jedem der folgenden Begriffe mitgedacht werden.
[017:52] 1. Jugendarbeit ist Übung. Kein Erziehungsfeld kommt ohne Stetigkeit aus, ohne die Kontinuität relativ gleichbleibender Verhaltensweisen, Haltungen und Normen. Gelerntes wird nicht gelernt, um gleich wieder vergessen zu werden. Es befestigt sich in Wiederholungen, neuen Erprobungen an wechselnden Situationen, in der Übung. Dies zu betonen ist deshalb nötig, um die von mir bisher hervorgehobene Beweglichkeit der Jugendarbeit nicht Mißverständnissen auszusetzen. Die Gegenstände der Übung sind vornehmlich Formen des sozialen Daseins, die Einübung einer freien und anpassungsfähigen Soziabilität. Diese Einübung allerdings darf hier nicht in die Starre einer geschlossenen und sich selbst nicht verändernden Sozialform einmünden, sondern ist eher die Einübung von Fähigkeiten, die dynamische Vorgänge ermöglichen und erhalten. Der exponierteste Fall solchen Lernens und Übens ist wahrscheinlich die Gruppenpädagogik. Jede endgültige und als unveränderlich festgehaltene Form der Jugendarbeit – sei es ein bestimmter Party-Typus, die Struktur einer Interessengruppe, eine konsolidierte Jugendgruppe, ein Typus informativer Veranstaltung – verhindert den besonderen Übungseffekt, den die Jugendarbeit enthalten kann. Aus diesem Grunde genügt es nicht, die einzelnen Formen so weit wie möglich veränderbar zu halten; erst durch das Nebeneinander einer Vielfalt von sozialen Möglichkeiten entsteht jene
»erhöhte Soziabilität«
, die hervorzubringen die spezifische Aufgabe der Jugendarbeit ist.
[017:53] 2. Jugendarbeit ist Begleitung. Aus der Lokalisierung der Jugendarbeit in unserem Erziehungssystem geht hervor, daß sie neben den traditionellen Erziehungseinrichtungen einherläuft, diese begleitend, ergänzend und korrigierend. Es gibt heute kein Erziehungsfeld mehr, das die ganze Komplexität pädagogischer Aufgaben bewältigen könnte. |a 111|Die Arbeitsteilung hat auch die Pädagogik nicht unverschont gelassen – erfreulicherweise. Es wäre unrealistisch, wollte man Jugendarbeit als die Wiederherstellung einer
»ganzheitlichen«
Erziehung in dem sozialen Sinne des Wortes betreiben; diese Jugendarbeit wäre nicht
»ganzheitlich«
, sondern ideologisch. Begleiten tut die Jugendarbeit insofern, als sie die Erziehungs- und Bildungsbedürfnisse, die in den spezialisierten Einrichtungen wenig Berücksichtigung finden können, aufnimmt und aktiviert, wozu sie gerade durch die Vielfalt und Heterogenität ihrer Veranstaltungen disponiert ist. Sie begleitet aber nicht nur die anderen Erziehungseinrichtungen, sondern auch den jungen Menschen selbst, sein Heranwachsen und Erwachsenwerden. Sie tut dies insofern, als sie auf Bedürfnisse und Interessen antwortet, deren Befriedigung bzw. Realisierung zum Beispiel in der Schule versagt wird, sie tut dies insofern, als ihr Ausgangspunkt das Hineinwachsen des jungen Menschen in Kultur und Gesellschaft, sein eigenes Schicksal, und nicht ein vorformulierter Bildungsauftrag ist.
[017:54] 3. Jugendarbeit ist Beratung. In einem präziseren Sinn als alle Erziehung sonst ist Jugendarbeit eine Antwort auf Fragen. Ihr Angebot unterscheidet sich darin von der öffentlich-kommerziellen Freizeitindustrie, daß es die Struktur des Rates hat, eines Rates, der auf eine ernsthaft gestellte Frage versucht, eine ernsthafte, die Lebensführung des jungen Menschen betreffende Antwort zu geben. Das gilt aber auch in einem engeren Sinne: Ihr Erziehungsfeld ist so strukturiert, daß der Jugendliche als Einzelner zur Frage ermuntert wird, daß Fragen nicht nur möglich sind, sondern zur
»Natur der Sache«
gehören. Eine Jugendarbeit, in der nicht gefragt wird, wäre eine schlechte Jugendarbeit. Der in der Jugendarbeit tätige Erwachsene ist deshalb weitgehend Berater, und dies nicht nur im Hinblick auf die gestellten Fragen einzelner Teilnehmer, sondern im Hinblick auf das ganze Geschehen. Das zeigte sich schon lange in der Rolle der Erwachsenen in der Jugendverbandsarbeit, von Funktionären, Pfarrern, beteiligten Eltern usw.; es wird nachdrücklich offenbar in der neuen |a 112|Berufsgruppe der Jugendbildungsreferenten und in der Funktion, die dem Gruppenpädagogen [im terminologischen Sinne dieses Wortes] zugeschrieben wird.
[017:55] 4. Jugendarbeit ist Information. Wo Antworten gegeben werden, geschieht auch Information. Diese Seite der Jugendarbeit wurde im bisherigen Gang der Darstellung wenig berücksichtigt. Es ist nicht nur so, daß das vom Jugendlichen in die Jugendarbeit eingebrachte eigene Erfahrungsmaterial lediglich bewegt, in Kommunikation gebracht und modifiziert wird. Er erfährt auch Neues. Die Jugendarbeit hat geradezu die Aufgabe, die Inhalte der gesellschaftlichen Wirklichkeit in ihrem Feld zur Darstellung zu bringen. Daß das nicht in der Form des Unterrichtes geschieht, sondern in jenem geselligen Prozeß, ändert nichts an der Tatsache. Der junge Mensch wird hier nicht nur sich selbst, seinesgleichen oder einem
»erziehenden«
Erwachsenen konfrontiert, sondern zugleich den Daten unserer Welt. Da die Jugendarbeit kein
»Pensum«
, kein
»Klassenziel«
erreichen muß, hat sie Zeit. Sie ist nicht gehalten, aus einer wie auch immer verstandenen
»pädagogischen Verantwortung«
die Information zu reduzieren oder zu präparieren. Ihre Inhalte sind deshalb nicht die Inhalte eines Bildungsplans oder ‑kanons, sondern die Inhalte der Welt der Erwachsenen. Es sind zugleich die Inhalte ihrer eigenen Existenz, die – ins Bewußtsein gehoben – zur Information über sich selbst werden.
[017:56] 5. Jugendarbeit ist Aufklärung. Information ist immer nur ein Schritt auf einem Wege, an dessen Ende nicht die Inhalte als Informationsmasse, sondern ein bestimmtes Verhältnis zu diesen Inhalten steht. Indem nämlich die Information zur Information des Jugendlichen über sich selbst und die Bedingungen seiner gesellschaftlichen Existenz wird, wird sie zur Aufklärung. Diese Aufklärung ist kritische Aufklärung, da sich mit der Einsicht in die Bedingungen zugleich der Begriff einer besseren Möglichkeit solcher Bedingungen einstellt. Indessen stellt sich dieser Begriff oder eine solche Kritik im Zusammenhang mit Information nicht von selbst ein. Er stellt sich nur dann |a 113|ein, wenn Jugendarbeit nicht nur Aufklärung zuläßt, sondern nachdrücklich als solche betrieben wird. Der Begriff der Geselligkeit ist für die Jugendarbeit unbrauchbar, wenn er dieses dialektische Moment der Aufklärung nicht enthält. Denn Geselligkeit kann auch als Anpassung, als Einübung in die Konformität betrieben werden. Das aber wäre ein defizienter Begriff von Geselligkeit. Das sie konstituierende Gespräch ist die Realisierung der Aufklärung: Geselligkeit geschieht als freies Gespräch der gebildeten, sich aufklärenden und aufgeklärten Bürger. Daraus folgt die konstitutive Funktion, die der Sprache in der Jugendarbeit eingeräumt werden muß. Daraus folgt ferner die Grenze der musischen Bildung: Sie verdient den Namen Bildung nur, wenn sie über das Experimentieren mit dem Herstellen kultureller Produkte hinaus in eine Kritik dieser Herstellung und dieser Produkte einmündet, wenn die Tätigkeit nicht nur erlebt, sondern auch formuliert wird. Daß politische Bildung überhaupt nicht anders als im Medium des Wortes vollzogen werden kann, ergibt sich daraus unmittelbar. Aufklärung impliziert Distanz, Reflexion und Kritik. Sie kann sich nur entfalten in einem Bewußtsein, das von den gesellschaftlichen Zwängen wenigstens vorübergehend freigestellt ist, in einem Bewußtsein, das den in der Erziehung sonst reproduzierten gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen gegenübertreten kann, in einem freien, durch Geselligkeit strukturierten Erziehungsfeld. Kritische Aufklärung ist deshalb die vornehmste Aufgabe der Jugendarbeit.
[017:57] Diesen fünf Modalitäten sollen nun noch drei hinzugefügt werden, die sich in ihrer Art von den vorangegangenen unterscheiden. Sie durchziehen nicht die Jugendarbeit als Ganzes, sondern stellen exemplarische pädagogische Strukturen dar, in denen die Jugendarbeit je ein besonderes Profil gewinnt:
[017:58] 6. Das Engagement. Es mag richtig sein, daß Erziehung überhaupt und Jugendarbeit im besonderen ohne entschie|a 114|denes Engagement nicht möglich ist. Ich glaube das persönlich in dieser Allgemeinheit nicht. Es ist aber zuzugeben, daß einem Erziehungsfeld, das durch ein solches entschiedenes und inhaltlich festgelegtes Engagement bestimmt wird, spezifische Bildungswirkungen innewohnen. Das eindrucksvollste Beispiel sind die politisch oder konfessionell engagierten Jugendverbände. Sie ermöglichen dem Jugendlichen ein Experimentieren mit Identifikationen und quasi-ernsten Entscheidungen, in dem die Rolle des verantwortlichen Bürgers vorweggenommen wird. Hier kann sich – leider eher prinzipiell als faktisch – die Aufklärung in gesellschaftliche Aktion umsetzen, die nichts mehr vom Odium einer pädagogischen Bevormundung an sich hat. Mir scheint – trotz des Einwandes in der Parenthese – eine Struktur der Jugendverbandsarbeit möglich zu sein, die trotz des Engagements die Aufklärung nicht verhindert, allerdings um den Preis einer tiefgreifenden Revision der Jugendverbandsarbeit.
[017:59] 7. Das Team. In der Regel jedoch wird es kaum möglich sein, Jugendarbeit so einzurichten, daß ein solches Engagement die gesamte Arbeit durchherrscht; das erscheint mir auch kaum wünschenswert. Auf die Darstellung von Engagement kann indessen die Jugendarbeit nicht verzichten. Dies ist möglich in der Weise des Teams. Es reicht für die Jugendarbeit nicht aus, ernsthafte Lebens- und Entscheidungsmöglichkeiten nur in der Person des einzelnen erziehenden Erwachsenen darzustellen. Solche Darstellung braucht, um plausibel und übertragbar zu sein, des sozialen Kontextes mindestens in Form einer überschaubar agierenden Gruppe. Das leistet das Team [Helmut Kentler ]. Das Team als eine Institution diagnostischer und Erziehung planender Kooperation versteht sich gleichsam von selbst, obwohl auch in dieser Hinsicht die pädagogische Praxis viel zu wünschen übrig läßt. Die unmittelbar auf die Bildung der jungen Menschen wirkende Chance des Teams besteht darin, daß es Möglichkeiten einer zeitgenössischen Existenz exemplarisch vorführt. Dazu gehört, daß es für die Teilnehmer der Jugendarbeit anschaubar |a 115|ist: in seiner sozialen Struktur, in seinen Entscheidungen, in der Art, wie man dort zu Entscheidungen kommt, in der Weise des Miteinander-Lebens. Solche anschaulichen Selbstdarstellungen einer Gruppe Erwachsener sind noch viel zu wenig erprobt und praktiziert. Sie sind vermutlich nur wirkungsvoll, wenn die Arbeit in einer Einrichtung auf zwei Ebenen sich vollzieht, wenn Vergleich möglich ist, wenn das Team der Mitarbeiter eines Heimes, einer Bildungsstätte, eines Lagers oder einer anderen Einrichtung einen Stil repräsentiert und ihn – in seiner Weise zu diskutieren, zu spielen, zu entscheiden, Feste zu feiern – anschaulich und deutlich vor die jungen Menschen hinstellt. Die Bildungswirkung ergibt sich hier vermutlich nicht so sehr aus dem Vorbildcharakter, sondern aus dem deutlich werdenden Kontrast, der nicht zur Nachahmung auffordert, sondern eher durch die Radikalität der Darstellung das Problem moderner Lebensführung exponiert.
[017:60] 8. Die Aktion. Die exponierteste und vielleicht auch problematischste Modalität der Jugendarbeit findet sich in den geschlossenen Aktionen im Dienste eines Engagements oder gesellschaftlichen Eingriffs. Eine ihrer möglichen Realisierungen sehe ich in den Jugendgemeinschaftsdiensten, wo allerdings die Fragwürdigkeit solcher Unternehmungen auch besonders deutlich wird. Was indessen für einzelne Fälle gilt, muß noch nicht für diese Modalität im allgemeinen gelten. Das zeigen Aktionen wie
»Student für Berlin«
oder immer wieder stattfindende Exkursionen mit provozierendem Engagement [Falken in Auschwitz], exponierte Maßnahmen zur politischen Bildung und schließlich auch Experimente wie die Kurzschulen Baad und Weißenhaus, so problematisch sie sein mögen. Mir scheint, daß dem ganzen Feld moderner Jugendarbeit etwas Wichtiges fehlen würde, gäbe es diese, die Diskussion und den Spannungsreichtum, aber auch den Widerspruch und die Veränderungslust reizende Modalität nicht.
|a 116|

Stil, Veränderung und Konflikt

[017:61] Jugendarbeit wurde in dieser Analyse dargestellt als ein Erziehungsfeld voller Widersprüche und Heteronomien. Es wurde behauptet, daß ihre spezifischen Bildungschancen nicht in der Geschlossenheit und Einsinnigkeit liegen, die andere Erziehungsfelder auszeichnen, vielmehr gerade in ihrer Widersprüchlichkeit und Heterogenität, in der dadurch bedingten Variationsbreite der Formen und Veränderbarkeit der Einrichtungen und Inhalte. Das ist aber nur zum Teil richtig. Ebenso richtig ist es nämlich, daß Jugendarbeit, wo sie sich überzeugend darzustellen vermag, auch als Einheitliches erscheint, als ein geformtes und durchgebildetes Netzwerk von Kommunikationen, als geglückte Geselligkeit. Diese geglückte Form der Darstellung von Jugendarbeit nenne ich ihren Stil [Wolfgang Müller ].
[017:62] Jede pädagogische Einrichtung bringt ihren eigenen Stil hervor. So gibt es einen Schul-, einen Familien-, einen Heimstil, einen Erziehungsstil handwerklicher oder industrieller Arbeitsstellen usw. Auch innerhalb dieser Einrichtungen kann der Stil sich wandeln, so gibt es zum Beispiel patriarchalisch und partnerschaftlich strukturierte Familien, autoritär und demokratisch gelenkten Unterricht. Der Stil bleibt hier aber jeweils an die Einrichtung und ihre besonderen Institutionen gebunden, er ist nicht beliebig veränderbar.
[017:63] Eine solche stilistische Geschlossenheit hat die Jugendarbeit nicht aufzuweisen. Sie kann so etwas gar nicht erreichen, da die Tätigkeiten, Inhalte und Einrichtungen, deren sie sich bedient, zu vielgestaltig sind, um auf einen stilistischen Nenner gebracht werden zu können. Es ist kein Stil denkbar, der in der Jugendarbeit nicht möglich wäre [ob jeder wünschenswert wäre, ist eine andere Frage], kein Stil, dessen Einführung die Sache
»Jugendarbeit«
auflösen würde. Hier gilt allerdings eine Einschränkung: Ein Stil, der einen totalen Anspruch stellt und praktiziert, der sich nicht als eine Möglichkeit unter vielen begreifen ließe, der |a 117|das Ganze der Jugendarbeit nach dem Vorbild geschlossener Institutionen zu formen versuchte, würde in der Tat Jugendarbeit, jedenfalls nach dem hier explizierten Begriff, aufheben.
[017:64] Diese Eigentümlichkeit der Stil-Problematik macht es nachdrücklich erforderlich, stilistische Reflexionen anzustellen. Was etwa die Schule dem Lehrer zum Teil dadurch abnimmt, daß sie als Institution stilistisch vorgeprägt ist und nur eine geringe Variationsbreite der Möglichkeiten offenläßt [sie sind immer noch groß genug; das Gesagte gilt nur in Relation zur Jugendarbeit], das hat die Jugendarbeit immer neu zu leisten: die kultivierte, die ästhetische Darstellung dessen, was junge Menschen heute sind, sein können und sein wollen, die ästhetische Darstellung von Geselligkeit als eines Stückes der gesellschaftlichen Wirklichkeit.
[017:65] Mit Recht kann man gegen den Begriff des Stils einwenden, daß er den Prozeßcharakter der Jugendarbeit nicht in sich aufnehmen kann. Eine Jugendarbeit unter
»stilistischem«
Aspekt könnte schließlich nichts anderes sein als eine besonders lukullische Form der Anpassung. Sie würde sich damit gerade jener Möglichkeiten der Bildung begeben, die sie doch eigentlich intendiert. Daraus ergibt sich: Stil als ein Grundbegriff der Jugendarbeit ist nur zu rechtfertigen, wenn er den Stilbruch, die Ironie, die Verfremdung enthält. Stil schließt die Distanz dessen, der sich in ihm bewegt, nicht aus. Solche Distanz aber wird nur durch Kontraste erzeugt. Das Nebeneinander verschiedener Stile und ihre Konkurrenz ist deshalb für die Jugendarbeit konstitutiv. Der
»Verfremdungseffekt«
ist vermutlich – und nicht nur im Zusammenhang mit der Frage des Stils – ein ausgezeichnetes Bildungsmittel, das in der Jugendarbeit seinen legitimen Ort hätte.
[017:66] Auf diese Weise enthält die Jugendarbeit, auch wenn sie sich als stilistisch-ästhetische Darstellung versteht, bis in ihre Konventionen, in ihre Geselligkeit hinein das Moment der Veränderungen. Dieses Moment bleibt nur wirksam, wenn es nicht nur vorgestellte, sondern auch wirkliche |a 118|Konflikte gibt. Man hat sich immer bemüht, die Konflikte innerhalb der Erziehung zu reduzieren, weil sie die Kontinuität in der Durchsetzung oder Verwirklichung der Erziehungsabsicht erschweren. Das trifft wahrscheinlich auch häufig zu. Mindestens ebenso zutreffend ist es aber, daß auch das Bewältigen von Konflikten gelernt werden muß, zumal in einer Gesellschaft, von der gesagt wird, sie zeichne sich dadurch aus, daß Konflikte in ihr geregelt statt unterdrückt würden. Ein Erziehungsfeld, das für sich beansprucht, in fundamentaler Weise politisch zu bilden, wird kaum umhin können, den Konflikt als einen wesentlichen Teil des Bildungsvorganges in sich aufzunehmen, Differenzen nicht nur zuzulassen, sondern herauszustellen, Widersprüche nicht nur zu dulden, sondern auszusprechen.
[017:67] Es ist eine naive oder eine bösartige Unterstellung, daß es in unserer Gesellschaft keine Unterdrückung gebe. Unterdrückt wird gerade der fundamentale Konflikt, mit dem die junge Generation aufwächst: der Konflikt zwischen der ihr suggerierten, ihr versprochenen oder von ihr hervorgebrachten Vorstellung einer besseren, freieren, glücklicheren Möglichkeit des Lebens einerseits und dem, was sie als dessen Realität tagtäglich erfährt, andererseits. Diesen Konflikt, der in der Unterdrückung durch das unglückliche Bewußtsein schwelt, zum Bewußtsein zu bringen, die Unterdrückung zu mindern und das Glück zu vermehren, ist nicht nur eine unter anderen, sondern die vornehmste, die eigentlich humane Aufgabe der Jugendarbeit. Damit aber ist sie bereits mehr als bloß Erziehung oder Bildung: Realisierung einer kritischen Theorie, Moment des gesellschaftlichen Fortschritts.