[V77:1] An den Rändern pädagogischer Tätigkeit geschieht derzeit
Empörendes. Frauen und Männer, die vermutlich für sich beanspruchen, im
Interesse des Wohles und des Rechtes des Kindes tätig zu sein, schlagen auf
Menschen ein, buchstäblich, die unbequeme Argumentationen vortragen. Opfer
derartiger Gewalttätigkeiten waren beispielsweise die Schriftstellerin Katharina Rutschky in Berlin
und der Sozialpädagoge Helmut
Kentler in Hannover. Beide wurden durch tätliche Gewaltangriffe
gehindert, Argumentationen zum Sachverhalt der Kindesmißhandlung
vorzutragen. Daß es sich dabei um einen empörenden Sachverhalt handelt,
haben sie durch ihre jahrzehntelange Veröffentlichungstätigkeit
unmißverständlich zu erkennen gegeben. Daß dieser schlimme Sachverhalt in
der veröffentlichten Meinung von Medien, Trägern, Administrationen eine
Zurichtung erfährt, die ihrerseits der kritischen Analyse bedarf, das hat
besonders Katharina Rutschky
in sorgfältigen Analysen zu bedenken gegeben. Es ist – innerhalb einer
Medienkultur, deren Mitgliedern die Unterscheidung von Wirklichkeit und
Konstrukt gelegentlich verschwimmt – verständlich, daß manche das
gesellschaftlich erzeugte Bild für die Realität halten. Eine Kritik dieses
Bildes von
“Kindesmißhandlung”
muß ihnen deshalb – da sie
zu jener Unterscheidung offenbar unfähig sind – wie Gleichgültigkeit
gegenüber dem Phänomen erscheinen.
[V77:2] Unfähigkeit oder Unwilligkeit zu sorgfältig-kritischem Denken führt
so in die Barbarei der gedankenlosen Tat – das ist bei rechtsradikalen
Gewalttätern nur wenig anders. Bürgerinnen und Bürger werden körperlich
beschädigt, weil sie denken und sich nicht naiv einer Ideologie
verschreiben. Dieser Habitus zeigt sich übrigens nicht nur in unserem
Fach.
[V77:3] Die Gewalttäterinnen und Gewalttäter in den angesprochenen beiden
Fällen haben, jedenfalls zum Teil, eine sozialpädagogische Ausbildung
absolviert und/oder arbeiten in entsprechenden Einrichtungen. Wir, die
Mitglieder der Deutschen Gesellschaft
für Erziehungswissenschaft, sind betroffen davon, daß sich
derartige Gegenvernunft in Zusammenhängen zeigt, für die wir, mehr oder
weniger, gesellschaftliche Mitverantwortung tragen. Die Wege zu einer
argumentierenden Kultur des Streiten-Könnens über elementare Probleme des
Kindes-Wohls sind offenbar wesentlich länger, Emanzipation ist
offensichtlich schwieriger zu erreichen, als manch ein Hitzkopf denken kann.
Es gibt nicht nur die empörende Tatsache von Kindesmißhandlung – es gibt
auch falsches Reden und Bebildern dieser Tatsache. Wer darauf aufmerksam
macht, verdient gehört zu werden. Wer schon das Hören, schon solche
nachdenkliche Aufmerksamkeit verhindern möchte, und zwar gewalttätig,
schließt sich selbst aus dem Kreis derer aus, die über das gelegentlich
Miserable unseres gesellschaftlichen Zustandes noch irgendetwas Vernunftgemäßiges beizutragen versuchen, gleichviel in welchen quasi-religiösen oder
fundamentalistischen Verkleidungen solche Gewalttätigkeiten sich ihre
Rechtfertigungen sucht.