Erklärung [Textfassung a]
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13. Erklärung

[V77:1] An den Rändern pädagogischer Tätigkeit geschieht derzeit Empörendes. Frauen und Männer, die vermutlich für sich beanspruchen, im Interesse des Wohles und des Rechtes des Kindes tätig zu sein, schlagen auf Menschen ein, buchstäblich, die unbequeme Argumentationen vortragen. Opfer derartiger Gewalttätigkeiten waren beispielsweise die Schriftstellerin Katharina Rutschky in Berlin und der Sozialpädagoge Helmut Kentler in Hannover. Beide wurden durch tätliche Gewaltangriffe gehindert, Argumentationen zum Sachverhalt der Kindesmißhandlung vorzutragen. Daß es sich dabei um einen empörenden Sachverhalt handelt, haben sie durch ihre jahrzehntelange Veröffentlichungstätigkeit unmißverständlich zu erkennen gegeben. Daß dieser schlimme Sachverhalt in der veröffentlichten Meinung von Medien, Trägern, Administrationen eine Zurichtung erfährt, die ihrerseits der kritischen Analyse bedarf, das hat besonders Katharina Rutschky in sorgfältigen Analysen zu bedenken gegeben. Es ist – innerhalb einer Medienkultur, deren Mitgliedern die Unterscheidung von Wirklichkeit und Konstrukt gelegentlich verschwimmt – verständlich, daß manche das gesellschaftlich erzeugte Bild für die Realität halten. Eine Kritik dieses Bildes von
Kindesmißhandlung
muß ihnen deshalb – da sie zu jener Unterscheidung offenbar unfähig sind – wie Gleichgültigkeit gegenüber dem Phänomen erscheinen.
[V77:2] Unfähigkeit oder Unwilligkeit zu sorgfältig-kritischem Denken führt so in die Barbarei der gedankenlosen Tat – das ist bei rechtsradikalen Gewalttätern nur wenig anders. Bürgerinnen und Bürger werden körperlich beschädigt, weil sie denken und sich nicht naiv einer Ideologie verschreiben. Dieser Habitus zeigt sich übrigens nicht nur in unserem Fach.
[V77:3] Die Gewalttäterinnen und Gewalttäter in den angesprochenen beiden Fällen haben, jedenfalls zum Teil, eine sozialpädagogische Ausbildung absolviert und/oder arbeiten in entsprechenden Einrichtungen. Wir, die Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, sind betroffen davon, daß sich derartige Gegenvernunft in Zusammenhängen zeigt, für die wir, mehr oder weniger, gesellschaftliche Mitverantwortung tragen. Die Wege zu einer argumentierenden Kultur des Streiten-Könnens über elementare Probleme des Kindes-Wohls sind offenbar wesentlich länger, Emanzipation ist offensichtlich schwieriger zu erreichen, als manch ein Hitzkopf denken kann. Es gibt nicht nur die empörende Tatsache von Kindesmißhandlung – es gibt auch falsches Reden und Bebildern dieser Tatsache. Wer darauf aufmerksam macht, verdient gehört zu werden. Wer schon das Hören, schon solche nachdenkliche Aufmerksamkeit verhindern möchte, und zwar gewalttätig, schließt sich selbst aus dem Kreis derer aus, die über das gelegentlich Miserable unseres gesellschaftlichen Zustandes noch irgendetwas Vernunftgemäßiges beizutragen versuchen, gleichviel in welchen quasi-religiösen oder fundamentalistischen Verkleidungen solche Gewalttätigkeiten sich ihre Rechtfertigungen sucht.