Was heißt „Sozialpädagogik“ [Textfassung a]
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Was heißt
Sozialpädagogik

I

[024:1] Die Vieldeutigkeit des Ausdrucks
Sozialpädagogik
ist alles andere als fruchtbar; sie ist in hohem Maße lästig und verwirrend, sie fördert nicht eine sinnvolle Diskussion, sondern verhindert sie. Unter solchen Umständen wäre es wünschenswert, daß das Wort verschwände und nicht mehr über dies, sondern nur noch über die Sache geredet werden müßte.
[024:2] Um diese Lage zu illustrieren und zugleich eine Begründung des Unbehagens zu geben, sollen einige Zitate aus der jüngeren Literatur hier folgen und kritisch betrachtet werden. In einem Lexikon der Pädagogik steht: Sozialpädagogik sei
Erziehung zu gesellschaftlichen Gebilden wie Dorfgemeinschaft, Volk ... Sie bezweckt ... eine bestimmte Gestalt der Gemeinschaft und ein dementsprechendes Verhalten ihrer Glieder
1
1 Lexikon der Pädagogik, 3 Bände, Bern 1950–52.
; in einem anderen, Sozialpädagogik sei
die Lehre vom sittlichen Sozialverhalten
, sie beabsichtige die
Wiedererweckung echter sozialer Gesinnungen und Haltungen
. 2
2 Lexikon der Pädagogik, 4 Bände, Freiburg 1952–55.
In einer anderen Neuerscheinung
3
3 H. Rünger, Einführung in die Sozialpädagogik, Witten 1964 .
heißt es, Sozialpädagogik sei zu verstehen als
inhaltlich bestimmte Gegenwartsaufgabe in einem umfassenden Sinn, als besondere Gestalt der Erziehung in unserer Zeit, als Bildungsideal
; im Vorwort des Handbuches der Sozialerziehung steht:
Sozialpädagogik war eine der neuen zukunftverheißenden Wissenschaften
, die allerdings nach dem 2. Weltkrieg ihre einmalige Bedeutung nicht wiedererlangt habe, weil die Methoden der Sozialarbeit sich verändert hätten; infolgedessen sei
eine Neubesinnung notwendig
; mit einem
neudurchdachten Begriff der Sozialerziehung
werde deshalb versucht,
die vielfältigen Bestre|a 33|bungen der praktischen Sozialerziehung zusammenzufassen und in dem System einer Wissenschaft zu vereinigen
. 4
4 Handbuch der Sozialerziehung, Freiburg 1962, Band 1.
Lattke schließlich will das Wort nur adjektivisch verwendet wissen, und zwar – im Anschluß an Aloys Fischer – zur Bezeichnung all jener Erziehungsfelder, in denen
die Gemeinschaft als Erziehungsmittel
auftritt, in denen eine
Arbeit mit sozialen Beziehungen und Prozessen in sozialen Gebilden im Interesse der Erziehung
5
5H. Lattke , Sozialpädagogische Gruppenarbeit, Freiburg 1962, S. 46.
stattfindet.
Soweit der Sozialarbeiter also erzieherisch wirkt oder wirken will, sind sein Bemühen und sein Tun im engeren Sinne und im Kern Sozialpädagogik
; das gleiche gelte für den Lehrer, sofern er
die vielgestaltigen sozialen Beziehungen im Schulleben planmäßig als Mittel benutzt, z. B. im Gruppenunterricht oder in der Schülerselbstverwaltung
.
6
6 A. a. O., S. 47
[024:3] Ordnet man dieses etwas unerfreuliche Bild, dann zeigen sich offenbar 4 Vorstellungen, die jeweils mit dem Wort
Sozialpädagogik
verbunden sind:
[024:4] 1. Sozialpädagogik als eine Lehre von besonderen Erziehungszielen oder sogenannten Bildungsidealen. Abgesehen von dem Unsinn einer Formulierung wie
Erziehung zum Volk
und deren barbarischen Folgen, ist eine solche Lehre natürlich denkbar. Aber sie ist völlig überflüssig, denn es gibt schlechterdings kein Erziehungsziel, das mit dem sozialen Zusammenhang, in dem es verwirklicht werden soll, nicht unauflöslich verwoben wäre. Jede andere Meinung wäre nicht nur
Individualpädagogik
, wie oft gesagt wird, sondern sie wäre entweder ideologisch oder einfach falsch. Da aber auch die Allgemeine Pädagogik nichts Ideologisches oder Falsches zu sagen beabsichtigt, ist nicht einzusehen, warum für das allein Richtige – in der Beschreibung Richtige – das Wort Sozialpädagogik herangezogen werden soll.
[024:5] 2. Sozialpädagogik als die Anwendungslehre einer bestimmten Sozialethik. Wenn behauptet wird, Sozialpädagogik sei diejenige Erziehungslehre, in der die
Wiedererweckung echter sozialer Gesinnungen und Haltungen
beabsichtigt werde, dann ist zunächst zu fra|a 34|gen, was denn inhaltlich mit dem eher verschleiernden als klärenden Beiwort
echt
gemeint sein soll. Handelt es sich hier um eine besondere, von einer oder einigen gesellschaftlichen Interessengruppen vorgetragene Sozialethik, wäre es genauer, diese Ethik deutlich zu bezeichnen, als einen Ausdruck zu verwenden, der sich den Anschein gibt, ein allgemeiner pädagogischer Begriff zu sein. Ist aber nicht eine besondere Ethik gemeint, sondern der Komplex von Problemen und Wegen, der mit dem Zustandekommen sozialer
Gesinnungen und Haltungen
überhaupt zusammenhängt, dann ist wiederum nicht einzusehen, warum es dafür eines besonderen Wortes bedarf, denn es gibt schlechterdings keine Erziehung, in der
Gesinnungen und Haltungen
– was immer die Verfasser solcher Formeln sich dabei gedacht haben mögen – keine Rolle spielen, wie es keine Theorie der Erziehung gibt, in der sie nicht berücksichtigt werden.
[024:6] 3. Sozialpädagogik bzw. Sozialerziehung als
System einer Wissenschaft
. Wie das unter solchem Anspruch verfaßte Handbuch der Sozialerziehung zeigt, entsteht auf diese Weise nicht das
System einer Wissenschaft
, sondern, geleitet von einer praktischen Frage, eine geordnete Sammlung von Beiträgen aus verschiedenen Wissenschaften und nichtwissenschaftlichen Theorien. Wenn man überdies sieht, welche methodologische Schwierigkeit die Erziehungswissenschaft selbst mit sich hat, kann man kaum vermuten, daß es einer sich von der Erziehungswissenschaft abtrennenden
Sozialpädagogik
besser ergehen wird. Und schließlich zeigen die vorliegenden Bände des zitierten Handbuches, daß sie als nichts anderes verstanden werden können, denn als eine allgemeine Erziehungslehre, in der lediglich einige Akzente spezieller verteilt sind, als es in der Allgemeinen Pädagogik gewöhnlich geschieht. Damit ist bereits das vierte Verständnis des Wortes Sozialpädagogik angedeutet:
[024:7] 4. Sozialpädagogik als ein spezieller Aspekt des Erziehungsgeschehens, der überall dort hervortritt, wo das Erziehungsfeld durch Gruppenstrukturen bestimmt wird, wo – wie Lattke sagt – eine
Arbeit mit sozialen Beziehungen und Prozessen in sozialen Gebilden im Interesse der Erziehung stattfindet
. Wir können hier die gleiche Art von Kritik anwenden, wie angesichts der drei anderen Bedeutungsgehalte des Ausdrucks Sozialpädagogik: Nehmen wir |a 35|den Autor beim Wort, dann zeigt sich, daß sich auch hier ein besonderer Terminus für das Gemeinte erübrigt, denn es wird kaum irgendeine Form von Erziehung geben, die ohne soziale Beziehungen und außerhalb sozialer Gebilde sich vollzieht. Allerdings variiert in der Praxis das Maß, in dem die im Erziehungsfeld auftretenden sozialen Vorgänge bewußt werden; diese Varianten aber konstituieren keinen eigenen Praxisbereich, sondern lediglich eine besser oder schlechter reflektierte Erziehung oder Erziehungstheorie. Solche künstlichen Abstraktionen dienen weder der Praxis, noch machen sie die Theorie besser, weil sie von dem in jedem Fall höchst komplexen Charakter aller Erziehungsvorgänge ablenken und damit die Sache verfälschen.
[024:8] Noch unter einem anderen Gesichtspunkt versucht Lattke, dem Adjektiv
sozialpädagogisch
eine brauchbare Bedeutung abzugewinnen. Er schreibt:
Wenn der Sozialarbeiter ... pädagogisch wirkt, dann tut er das vornehmlich
sozialpädagogisch
, nicht wie der Lehrer in der Schule
sachpädagogisch
.
7
7A. a. O., S. 46.
So plausibel diese Unterscheidung auf den ersten Blick erscheint, so sinnlos wird sie nach genauerer Überlegung. Was hier unterschieden wird, sind zwei Faktoren des Erziehungsprozesses: die sozialen Prozesse, in denen die Erziehung verläuft, und die in den Bildungsplänen vorformulierte Informationsmasse, die die Schule zu vermitteln hat. Neben diesen beiden Faktoren gibt es jedoch noch eine Reihe weiterer, die ihnen nebengeordnet sind: die im Erziehungsfeld auftretenden Normen, die Reize der materiellen Umwelt, die erziehenden Personen, die Institutionen usw. Mit dem gleichen Recht, mit dem sich Sach- und Sozialpädagogik unterscheiden läßt, ließe sich auch eine Norm-, Personal-, Institutions- etc. Pädagogik konstituieren. Die Sinnlosigkeit solchen Unternehmens wird hier deutlich: die Faktoren lassen sich nur in der theoretischen Abstraktion voneinander trennen. Im konkreten Erziehungsgeschehen aber sind sie alle an den Vorgängen beteiligt.
[024:9] Nur in der wissenschaftlichen Analyse, zur methodischen Erleichterung der Forschung, bietet sich das Entwickeln solcher Aspekte an, |a 36|so daß dort, in Anwendung auf ein gegebenes Erziehungsfeld, nacheinander die sozialen, didaktischen, normativen, personalen, institutionellen Komponenten des Geschehens hervorgehoben werden können.
[024:10] Schließlich steckt in der Unterscheidung von sozial- und sachpädagogischen Vorgängen noch ein bemerkenswertes Mißverständnis. Die besondere Bedeutung, die das Zur-Kenntnis-Nehmen von Sachverhalten in der Schule spielt, verleitet dazu, diesen Aspekt pädagogischer Vorgänge außerhalb der Schule gering zu achten, so, als wären hier die Sachen und Informationen gleichgültig. Daß diese Annahme falsch ist, zeigt sich z. B. in der Analyse von Gruppenprozessen so gut wie in der von Beratungsvorgängen. Informationen haben hier zwar einen anderen Stellenwert, sie sind im Prozeß anders lokalisiert als in der Schule, sie sind aber ebensowohl ein selbstverständlicher Bestandteil des Geschehens wie in allen Erziehungsverhältnissen. Es ist vielleicht Schuld der Erziehungswissenschaft, daß sie ihre didaktischen, also auf die Inhalte, die Sachen der Erziehung und Bildung gerichteten Untersuchungen bisher auf den Unterricht beschränkt hat.

II

[024:11] Das Ergebnis unserer Kritik ist unbefriedigend. Woran liegt es, daß auch in neueren Veröffentlichungen immer wieder so unzureichende Bestimmungen des Begriffs Sozialpädagogik gegeben werden? Hier ist ein unglückliches Bedürfnis nach Theorie am Werk, unglücklich deshalb, weil das gewählte Objekt ungeeignet ist. Bemerkenswerterweise wird in allen Bedeutungsbestimmungen der Versuch unternommen, das
Wesen
der Sozialpädagogik zu bestimmen, einer Sache also, der man nur mit Hilfe des Ausdrucks
Sozialpädagogik
ansichtig zu werden hofft. Man meint, da es das Wort gebe, müsse sich auch die Sache finden lassen, und zwar durch eine Analyse der Bedeutung beider Wortteile: Sozial und Pädagogik. Die entscheidende Schwierigkeit dabei macht das Wort
sozial
. Alle Bedeutungsbestimmungen sind Versuche, diesem Wort einen deutlichen Inhalt zu geben; sie können mehr oder weniger gescheit ausfallen; da es aber, wie ich zu zeigen versuchte, die in diesen Bedeutungsbestim|a 37|mungen gemeinte Sache nicht gibt, es sei denn, schlicht als
Erziehung
, ohne Zusatz, müssen sie vergeblich bleiben. Auch dazu noch einmal, statt vieler anderer, Herbert Lattke:
Was die Sozialarbeit als eigenes Gebiet der Menschenhilfe konstituiert, das ist eben das Soziale, die Arbeit mit dem Sozialen in den Menschen und zwischen ihnen.
8
8A. a. O., S. 48.
Was hier vermutlich gemeint ist und sich nur in eine merkwürdig substantivische Form des Ausdrucks verirrt hat, ist, daß sowohl in der Sozialen Arbeit wie auch in der Sozialpädagogik Beziehungen zwischen Menschen eine besondere Rolle spielen. Nun, das ist sicher richtig, wenn man vorweg, ohne das Wort, schon weiß, wovon die Rede sein soll, und es gilt zudem für alle Erziehung. Andere Versuche, die Bedeutung von
Sozialpädagogik
vom Wortsinn her festzulegen, beziehen sich auf den mit der
Sozialen Frage
des 19. Jahrhunderts zusammenhängenden Problemkomplex, auf das, was man im alltäglichen Sprachgebrauch als
Soziale Nöte
bezeichnet oder darauf, daß wir bestimmte Tugenden als
soziale
zusammenfassend bezeichnen.
[024:12] Diese letzten Hinweise führen – so scheint mir – nun doch aus der terminologischen Sackgasse, in die wir geraten sind, wieder hinaus.
Soziale Frage
,
Soziale Notstände
, die Aufmerksamkeit, die die Beziehungen der in einer Gesellschaft miteinander verbundenen Menschen erheischen, die formulierte Hervorhebung aller sozialen Aspekte des Erziehungsgeschehens weisen auf gesamtgesellschaftliche Grundlagen dieser einzelnen Symptome hin. Diese Grundlagen haben für das Erziehungswesen in unserer Gesellschaft zweierlei bewirkt: Sie haben dazu geführt, daß nach und nach eine Reihe von neuen Institutionen entstanden, die den Sozialisierungsprozeß der heranwachsenden Generation sichern und fördern sollen: von den altershomogenen Gesellungen junger Menschen bis zur Erziehungsberatung oder Bewährungshilfe. Sie haben andererseits gesellschaftliche Zustände hervorgebracht, die an die Soziabilität des Menschen ein erhöhtes Maß an Anforderungen stellen, also auch von dem Erziehungswesen im Ganzen eine größere Differenziertheit und Leistungsfähigkeit verlangen. Es ist nicht zufällig, daß dieser Zusammenhang, |a 38|wenn auch mit anderen Worten, bereits von Gertrud Bäumer bei den Beratungen zum Reichsjugendwohlfahrtsgesetz formuliert wurde: bei dieser Gelegenheit wurde zum erstenmal unmißverständlich klar, daß sich unser Erziehungswesen um einen neuen institutionellen Bereich erweitert hatte. Seitdem gliedert sich das Erziehungswesen in Familienerziehung, Schule, Berufsausbildung und Jugendwohlfahrt bzw. – mit dem neueren Ausdruck – Jugendhilfe. Entsprechend differenziert sich die allgemeine Pädagogik in einzelne Theorien, die jweils die Theorien eines dieser institutionellen Komplexe sind, nicht von der allgemeinen Pädagogik abgelöst, sondern diese im Hinblick auf die Aufgaben der einzelnen Bereiche konkretisierend. Weil die allmähliche Entwicklung und Ausgestaltung der Jugendhilfe-Institutionen in besonders intensiver Auseinandersetzung mit den Prozessen gesellschaftlicher Veränderung geschah, da die Jugendhilfe selbst den Schattenseiten dieses Veränderungsprozesses gleichsam näher war, die sozialen Probleme aller Erziehung deutlicher sah, geschah es, daß auch sie – neben den anderen Wortbedeutungen – den Ausdruck Sozialpädagogik für sich verwendete.
[024:13] Das ist ein glücklicher Umstand. Er gestattet es nämlich, den Ausdruck als Kunstwort zu verwenden, d. h. zur Bezeichnung eines bestimmten definierbaren institutionellen Zusammenhangs innerhalb unseres Erziehungssystems. Es ist dann müßig, nach dem
Wesen
der
Sozialpädagogik
zu fragen, da sich die Einrichtungen der Jugendhilfe recht gut ohne solche Wesensfrage beschreiben lassen. Der Ausdruck
Sozialpädagogik
wäre demnach gleichbedeutend dem Ausdruck
Theorie der Jugendhilfe
. Der Wortbestandteil
sozial
wäre nur geschichtlich motiviert; der Sache nach ist seine Wahl nicht geboten. Es ist, wenn man will, eine Verlegenheitslösung, nur dadurch motiviert, daß sich der Terminus den schon vorhandenen Bezeichnungen Familienpädagogik, Schulpädagogik, Berufspädagogik einreihen läßt.
[024:14] Indessen bleibt doch ein entscheidendes Problem noch zu klären: Sind die in der Sozialpädagogik zusammengefaßten Einrichtungen und Maßnahmen wirklich derart zusammenhängend, daß eine zusammenfassende Theorie auch sinnvoll bleibt, und welcher Art ist |a 39|dieser Zusammenhang? Auf die Schwierigkeit der Beantwortung dieser Frage hat Furck schon hingewiesen:
Während die Bereiche von Familie und Schule verhältnismäßig leicht beschrieben und institutionell abgegrenzt werden können, ist dies für den der Sozialpädagogik noch nicht in gleicher Weise möglich, schon deshalb nicht, weil hier sehr verschiedenartige Formen der Erziehung vorgefunden werden.
9
9C.-L. Furck, Die Aufgaben der Sozialpädagogik in der Gegenwart.
Diese Verschiedenartigkeit der Formen oder Institutionen legt es in der Tat nahe, ihre Zusammenfassung in einem vereinheitlichenden Begriff gewaltsam zu finden, sei dieser nun Jugendwohlfahrt, Jugendhilfe, Sozialpädagogik oder Soziale Arbeit. So scheinen etwa die Arbeit der Jugendverbände, die Familienberatung, die Bewährungshilfe und die Altershilfe sehr weit voneinander entfernt zu sein. Aber ist wirklich die Zusammenfügung des Verschiedenen im Gesetz, im Jugendamt, in den Ausbildungsstätten, nur vom Prinzip verwaltungsmäßiger Zweckmäßigkeit diktiert? Ist es nur eine Verlegenheitslösung unseres Erziehungssystems, die in dem Augenblick revidiert wird, in dem ein Bereich der Jugendhilfe, z. B. die Jugendarbeit oder Jugendpflege, so an Umfang gewonnen hat, daß er sich neben der Schule als eigener, von den anderen Jugendhilfemaßnahmen unabhängiger institutioneller Zusammenhang etablieren kann?
[024:15] Mir scheint, daß es keine Verlegenheitslösung ist und daß diejenigen gute Gründe haben, die seit langem die hartnäckigen Differenzen zwischen den verschiedenen Jugendhilfe-Bereichen zu beseitigen trachten, weil ihnen aller Jugendhilfe eine gleiche pädagogische Struktur zugrundezuliegen scheint. Die Beschreibung und Analyse dieser Struktur ist, neben den vielen Einzelproblemen, eine der Hauptaufgaben einer Theorie der Jugendhilfe bzw. der Sozialpädagogik.
[024:16] Eine solche Analyse kann ich hier nicht vorlegen, nicht nur, weil der beschränkte Raum dazu nicht ausreichen würde, sondern weil die Theorie noch nicht so weit ist. Deshalb möchte ich mich auf einige Andeutungen beschränken:
[024:17] Die Institution Schule, das pädagogische Geschehen in ihr wie ihre Theorie, stützt sich auf den für sie konstituierenden Sachverhalt |a 40|des gemeinschaftlichen Unterrichts. D. h., sie geht aus von gesellschaftlich objektiven Leistungsanforderungen, die der augenblicklichen Bedürfnislage des jungen Menschen gegenüber indifferent sind; ihr Gegenstand ist das kanonisierbare Wissen, dessen es, nach Meinung der Gesellschaft, bedarf, damit diese weiterexistieren kann; dieses Wissen und die Techniken zu ihrem Erwerb werden mitgeteilt oder vermittelt in der Form einer kollektiven Lehre. Das im Vergleich zur Schule Charakteristische aller von der Sozialpädagogik ins Auge gefaßten Erziehungsfelder liegt demgegenüber darin, daß hier
  1. 1.
    [024:18] nicht eine gesellschaftlich objektive Leistungsanforderung, sondern ein Konflikt den Anlaß aller Maßnahmen darstellt,
  2. 2.
    [024:19] nicht ein kanonisierbares Wissen, sondern die subjektive Erfahrungs- und Schicksalslage eines einzelnen den Gegenstand der Erziehungstätigkeit bilden und
  3. 3.
    [024:20] das Erziehungsgeschehen nicht die Struktur der kollektiven Lehre hat, sondern, aus der Struktur der Beratung sich entwickelnd, jede beliebige Form annehmen kann, ja gerade durch die Vielfalt und den methodisch eingesetzten Kombinationsreichtum ausgezeichnet ist.
[024:21] Nicht die Versuche, die ledige Vieldeutigkeit des Wortes
sozial
zum Ausgangspunkt der Theorie zu machen, sondern allein die Analyse der Struktur des Geschehens scheint mir erfolgversprechend zu sein. Wie man den Bereich, in dem solches Geschehen dann stattfindet, bezeichnet und die dazugehörende Theorie überschreibt, ist ein relativ unwichtiges Problem und mir nahezu gleichgültig, sofern nur über die in Rede stehende Sache Einigkeit erzielt und deutliche Vorstellungen entwickelt werden können. Aber gerade das stößt auf eine Schwierigkeit besonderer Art, die an den genannten drei Merkmalen des sozialpädagogischen Feldes hervortritt. Sie wird bezeichnet durch die Frage, ob das, was die drei Merkmale umschreiben, nicht über den gewohnten Bedeutungsumfang des Wortes Erziehung und des Wortes Jugendhilfe hinausgeht und infolgedessen auch in einer pädagogischen Theorie keinen legitimen Ort mehr habe.
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III

[024:22] In der Tat: reichert man die gegebene formale Charakterisierung mit Inhalten an und denkt sie im Hinblick auf die praktischen Formen durch, in denen sie sich konkretisiert, dann zeigt sich, daß der Bedeutungsumfang des Wortes
Sozialpädagogik
größer ist als der des Ausdrucks
Theorie der Jugendhilfe
, daß die entsprechenden Gegenstände im JWG nicht erschöpfend aufgezählt sind; man befindet sich im Felde dessen, was in der Regel als
Soziale Arbeit
bezeichnet wird. Aber: die Fürsprecher des Begriffs
Soziale Arbeit
legen viel Wert auf die Feststellung, daß Soziale Arbeit nicht gleich Erziehung sei, der Ausdruck also auch nicht gleichbedeutend mit dem Ausdruck
Sozialpädagogik
sein dürfe, wenngleich nicht geleugnet wird, daß auch innerhalb der Sozialen Arbeit Erziehung geschähe. Ein – wie man immer wieder bemerken kann – tiefes Mißtrauen dem Worte Erziehung gegenüber ist hier am Werk, und dies, wenigstens in einer Hinsicht, zu recht.
[024:23] In der Regel wird von Erziehung nur dort gesprochen, wo es sich um den Umgang mit Unerwachsenen handelt, wo überdies der zu Erziehende sich in einer persönlichen Abhängigkeit dem Erziehenden gegenüber befindet und wo die Autorität des Erwachsenen sich u. a. darin bekundet, daß er eine deutliche Vorstellung von dem Ergebnis seiner Bemühungen hat und diese Vorstellung nachdrücklich zu realisieren trachtet. Erziehung ist eine Form direkter Beeinflussung und vollzieht sich in personaler Abhängigkeit: Dies ist der Alltagssprachgebrauch nicht-professioneller Erzieher wie auch die Vorstellung, die bei vielen Sozialarbeitern ihr Unbehagen angesichts der Versuche, ihre Tätigkeit als Erziehung zu bezeichnen, motiviert. Die Abneigung gegen eine solche Vorstellung von Erziehung und ihre Gleichsetzung mit dem Verständnis der eigenen Arbeit teilt nun aber der Sozialarbeiter durchaus mit dem professionellen Erzieher und dem Theoretiker dieses Geschäftes. Was sich hier – zunächst – gegenübersteht, ist nicht Erziehung einerseits und eine anders geartete Form der Hilfe andererseits, sondern sind zwei verschiedene Vorstellungen von der Eigenart einer bestimmten Gruppe unter den Sozialisationsprozessen.
|a 42|
[024:24] So wie jede Gesellschaft das ihr angemessene System sozialer Aufzucht des Nachwuchses entwickelt, entwickeln die mit der Aufzucht befaßten Erwachsenen auch die entsprechenden Vorstellungen von dem Charakter ihrer Tätigkeit. Mit den gesellschaftlichen Veränderungen verändern sich nicht nur diese Aufzuchtsysteme, sondern auch die Inhalte derjenigen Ausdrücke, die auf diese Systeme Bezug nehmen. Die Worte bleiben zwar häufig gleich, sie verändern aber – wenn das auch langsamer geschieht als die Veränderung der gesellschaftlichen Praxis selbst – ihre Bedeutung. Tun sie das nicht, dann bezeichnen sie eben nicht mehr das, was sie bezeichnen sollten. Ein Stück der damit angedeuteten Problematik steckt auch im gegenwärtigen Erziehungsbegriff. Die Veränderungen, die durch die gesamtgesellschaftlichen Vorgänge auch im System sozial-integrierender Institutionen, also auch in dem ganzen
Erziehung
benannten Bereich hervorgerufen wurden, sind sowohl der Menge wie der Art nach erheblich. Es würde ein falsches Bewußtsein verraten, wollte man nach wie vor hier von Erziehung sprechen in eben dem Sinne, in dem das 18. oder das bürgerliche 19. Jahrhundert diesen Ausdruck gebrauchte. Verschiedene Vorgänge in der Praxis und in der wissenschaftlichen Theorie haben das deutlich gemacht.
Das Gesamtsystem erzieherischer Institutionen hat sich um Einrichtungen neuer Art erweitert: Einrichtungen der Gesellung Gleichaltriger, Einrichtungen der Beratung, der Unterstützung der erziehenden Generation selbst, Einrichtungen, in denen der als Person gegenwärtige und unmittelbar Einfluß nehmende Erzieher zurücktritt zugunsten eines methodischen Arrangements von Erziehungsbedingungen, wie in Freizeitheimen, Kinderspielplätzen; Veränderungen im pädagogischen Verfahren wie indirekte Methoden, Gruppenpädagogik, Selbstverwaltungstechniken; Mißtrauen gegen autoritäre Stile; das Eindringen der Beratungsstruktur in die verschiedensten Erziehungsfelder; Einrichtungen der erzieherischen Planung. Parallel zu dieser Entwicklung der Praxis schlägt die Veränderung sich auch in den Problemen der wissenschaftlichen Theorie nieder: Das Interesse, das die Probleme des Stils und der Atmosphäre finden; die Diskussion des Begriffs der
funktionalen Erziehung
; die Erweiterung des Begriffs der
Erziehungswirklichkeit
; die Einführung des Begriffs der
er|a 43|zieherisch bedeutsamen Wirklichkeit
; die Einführung des Begriffs des
Erziehungsfeldes
.
[024:25] Diese Aufreihung soll andeuten, wie erheblich die Strukturveränderungen innerhalb des Erziehungssystems sind und wie stark durch sie auch der Inhalt unseres traditionsreichen Wortes
Erziehung
mitbetroffen wird, so daß man sich fragen mag, ob dieses Wort überhaupt noch geeignet ist, das Ganze der uns interessierenden und die Praxis bewegenden Probleme zu beschreiben. Indessen gilt auch hier, was ich über das Verhältnis des Ausdrucks
Sozialpädagogik
zu dem genannten Praxiszusammenhang sagte: die strukturelle Verflochtenheit der Probleme und Prozesse scheint unabweislich zu sein.
Wie ich dann dieses Ganze benenne, ist eine nichts mehr entscheidende Frage. Oder anders formuliert: Die Alltagsbedeutung des Wortes Erziehung reicht nicht mehr aus, um den Umkreis dessen, auf das sich die von ihm ausgegangene Theorie bezieht, zu umschreiben. Das hat die Erziehungswissenschaft schon immer empfunden und deshalb von Erziehung und Bildung gesprochen. Aber auch diese Erweiterung erweist sich heute schon als unstatthafte Beschränkung: mehr und mehr verwendet auch die Erziehungswissenschaft den Begriff des Lernens, der von allen heute gebräuchlichen und auf unseren Gegenstand anzuwendenden sich durch die größte Allgemeinheit auszeichnet. Diese Veränderungen in der erziehungswissenschaftlichen Theorie muß derjenige berücksichtigen, der es unternimmt, seine Tätigkeit gegen
Erziehung
abzugrenzen. So richtig solche Abgrenzung angesichts der Alltagsbedeutung dieses Ausdrucks ist, so fragwürdig wird sie, wenn sie damit zugleich den Gegenstand derjenigen Wissenschaft meint, die sich Erziehungswissenschaft nennt.
Damit ist aber auch der Punkt erreicht, an dem eine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Sozialpädagogik und Sozialer Arbeit erfolgen müßte. Wir möchten die Frage hier nicht beantworten, um nicht einen verfrühten und damit gewaltsamen Schluß zu ziehen. Lediglich einige Probleme sollen abschließend formuliert werden, die die Frage ihrer Beantwortung näherbringen könnten:
[024:26] 1. Mir scheint die Frage nicht durch Hinweise auf Altersgrenzen beantwortet werden zu können, so, als müsse bis zu einem festgesetzten Alter von Sozialpädagogik – danach aber von Sozialer Ar|a 44|beit geredet werden. Entschieden werden könnte die Frage lediglich von einem Nachweis struktureller Andersartigkeit des Praxisbereiches. Alle bisher unternommenen mir bekannten Versuche dieser Art scheinen darauf hinauszulaufen, daß ein solcher Nachweis nicht gelingt, wenn man die von mir angedeutete Veränderung des Erziehungssystems und seines Begriffs in Rechnung stellt.
[024:27] 2. Es ist vielleicht ein meist verborgenes, aber in der Diskussion dennoch wirksames Moment, das die Lösung des Problems erschwert: Die unterschiedliche Geschichte, auf die sich die Soziale Arbeit einerseits und die Sozialpädagogik andererseits bezieht: jene ist eng verbunden mit der Geschichte des Fürsorgewesens aus der sog. christlichen Liebestätigkeit und der Armenpflege herkommend – diese entstand ganz aus dem Erziehungssystem und Erziehungsdenken heraus, sich erst allmählich erweiternd und umstrukturierend. Die Geschichte erklärt zwar die Verschiedenheit der Begriffe, ist aber ungeeignet, gegenwärtige Praxis zu begründen. Solche Begründung kann allein aus dem Zusammenhang des gesellschaftlichen Systems, dessen Praxis beide sind, gegeben werden.
[024:28] 3. Diejenigen Praktiken der Sozialarbeit, die kaum noch als pädagogische Phänomene interpretiert werden können, sind verschwindend gering. Es ist zu fragen, ob sie dennoch so ins Gewicht fallen, daß eine ausdrückliche Unterscheidung sinnvoll ist. Der Katalog eines amerikanischen Lehrbuchs der Sozialarbeit bringt nur zwei Tätigkeiten des Sozialarbeiters unter insgesamt mehr als 15, bei denen der pädagogische Charakter fraglich ist: Materielle Unterstützung und Altenhilfe.
[024:29] 4. Auch bei der wissenschaftlichen Begründung und Erforschung der Praxis unterscheiden sich – wenn ich recht sehe – Soziale Arbeit und Sozialpädagogik nicht. Hier sind die gleichen wissenschaftlichen Disziplinen am Werk, die gleichen Forschungseinrichtungen, ja es sind sogar die gleichen Veröffentlichungen, Forschungen und Theoreme, die bei der Ausbildung und dem Ausbau der Praxis herangezogen werden.
[024:30] Nicht daß die beiden Ausdrücke
Sozialpädagogik
und
Soziale Arbeit
das Wort
sozial
enthalten, würde eine gemeinsame Theorie rechtfertigen können, sondern nur die Tatsache, daß die Tätig|a 45|keiten in beiden
Bereichen
mit gleichen Problemen zu tun haben, vor gleichen, der Sache nach zusammengehörigen Aufgaben innerhalb ein und desselben gesellschaftlichen Horizontes stehen.