Einige erziehungswissenschaftliche Probleme im Zusammenhang der Erforschung von „Alltagswelten Jugendlicher“ [Textfassung a]
|a 97|

Einige erziehungswissenschaftliche Probleme im Zusammenhang der Erforschung von
Alltagswelten Jugendlicher

[068:1] In mehr oder weniger dichtem Zusammenhang mit einem Jugendforschungsprojekt1
1Die folgenden Ausführungen beruhen im wesentlichen auf der von der DFG geförderten gemeinsamen Arbeit der Forschungsgruppe: Marianne Kieper, Inge Lübbers, Wolfgang Keckeisen, Rüdiger Müller.
möchte ich einige Probleme zur Diskussion stellen, die sich teils auf die sogenannte
Alltagswende
(vgl. Thiersch 1978a, b), teils auf theoretisch-methodische Aspekte des Forschungsprojekts, teils aber auch auf die Frage beziehen, inwiefern in solchen Projekten noch eine pädagogische Problemstellung durchzuhalten ist. Das Projekt selbst befindet sich noch in den Anfangsstadien; die Datenerhebung – es werden 96 Jugendliche im Alter von 14/15 Jahren interviewt – ist fast abgeschlossen und erste exemplarische Interpretationen wurden von uns vorgenommen im Sinne einer Erprobung der Brauchbarkeit der von uns gewählten interpretationsleitenden Kategorien. Das Untersuchungsziel besteht, in grober Vereinfachung gesprochen, in folgenden Fragen:
  • [068:2] Unter welchen Problembelastungen stehen Jugendliche dieses Alters?
  • [068:3] Wie definieren diese Jugendlichen ihre Probleme selbst?
  • [068:4] Welche Problemlösungsperspektiven verbinden sie mit den so definierten Problemen?
  • [068:5] Wie verhalten sich diese Definitionen zu den institutionellen Problemdefinitionen, denen sie in der Regel unterworfen sind, nicht nur in der Schule, sondern auch an anderen Orten unseres Erziehungssystems?
[068:6] Da unserer Vermutung nach solche Problemdefinitionen am ehesten in der, wenn man so sagen mag, Alltagssprache der Jugendlichen formulierbar sind, und da außerdem solche Probleme am ehesten, unserer Vermutung nach, im Kontext von Geschichten, die Jugendliche erzählen, zum Ausdruck kommen, haben wir die folgende methodische Entscheidung gefällt: Wir gründen diese Untersuchung auf autobiographisch strukturierte Interviews. Ein solches Vorhaben ist seit einiger Zeit in Pädagogik und Soziolo|a 98|gie in Mode gekommen. Die Beispiele dafür aus der jüngeren Zeit sind bereits zahlreich. Ich will hier nur einige nennen: So z. B. die Arbeiten von Jürgen Zinnecker2
2vgl. den Beitrag in diesem Band. S. 61 ff.
(1975, 1979a) bzw. der Projektgruppe Jugendbüro und Hauptschülerarbeit (1977), die Arbeiten von Thomas Heinze (autobiographisch strukturierte Interviews mit Studenten, 1979), die Untersuchung von Werner Fuchs (1979) über Arbeiter in Offenbach, eine Untersuchung von Bernd Rabe (1978) über Arbeiter in einem hannoveraner Wohnquartier usw. Dies alles sind Untersuchungen, die sich, wenn überhaupt, dann nur sehr zaghaft, aber jedenfalls nicht im Zentrum der in der empirischen Sozialforschung vorwiegend gebräuchlichen Methoden bedienen und statt dessen, wie es auch häufig heißt,
qualitative
Verfahren der Datenerhebung bevorzugen und zwar so, daß in diesen Daten so etwas wie autobiographische Ereignisse zur Sprache gebracht werden. Daß dieses Interesse nicht nur vereinzelt ist, sondern in der Erziehungswissenschaft auch in strategischer Absicht Fuß zu fassen beginnt, zeigt die Arbeitsgruppe des Tübinger Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, die kürzlich einen Sammelband vorgelegt hat zu der Frage, wie überhaupt und in welcher Absicht Autobiographien zum sinnvollen Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Forschung werden können (vgl. Baacke/Schulze 1979).
[068:7] Es scheint also, als würde die Vorliebe der Handlungsforschung nun durch eine Vorliebe für die qualitative Rekonstruktion von Alltagswelten und der in ihnen enthaltenen subjektiven Erfahrungen abgelöst. Nur: Wenn ein Sozialwissenschaftler eine solche Entdeckung macht, nämlich daß er in seiner Neigung, bestimmte Gegenstände und Verfahren zu bevorzugen, sich in einem Trend befindet, der vielleicht modische Züge trägt, dann sind für ihn mindestens zwei Alternativen denkbar; die eine: Er nutzt diesen Trend aus, weil der Trend noch Originalität verspricht, jedenfalls solange sich ihm noch nicht jedermann angeschlossen hat, man sich also noch in einer Minderheit befindet; die zweite Möglichkeit: Er fragt sich, ob es angesichts der Sache, der er verpflichtet ist, theoretische und praktische Gründe gibt, diesem Trend zu folgen oder nicht zu folgen.
[068:8] Man kann das auch so ausdrücken: Der Forscher wendet die Argumentationsfigur des Ideologieverdachtes auf sich selbst an (dies scheint mir ohnehin die produktivste Form von Ideologiekritik zu sein) und fragt sich erneut, an welcher Sache, an welcher Art von Problemstellung er eigentlich interessiert ist. Für den Gang der folgenden Überlegungen und Darstellungen möchte ich diese Gliederung wählen: In einem ersten Schritt möchte ich einige Vermutungen äußern über die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung |a 99|dieses neuen methodischen Trends und dort auch vielleicht einige Vorbehalte geltend machen. In einem zweiten Schritt möchte ich etwas über die pädagogische Bedeutsamkeit der Kategorie Zukunft oder, in empirischer Terminologie gesprochen, etwas über die Problematik der empirischen pädagogischen Prognose sagen. In einem dritten Schritt dann werde ich das Beispiel unserer kleinen, relativ bescheidenen Untersuchung zur Diskussion stellen.

1.

[068:9] Daß die Erziehungswissenschaft in eine kritische Situation geraten ist, muß man heute wohl kaum mehr eigens explizieren. Freilich sind die Diagnosen dank dieser kritischen Situation verschieden. Ich will dazu einige Anmerkungen machen im Hinblick auf Schwierigkeiten, die mir im Augenblick wichtig zu diskutieren sind. Ich denke, wir sind gegenwärtig dabei, einige Hoffnungen im Hinblick auf die praktische Perspektive erziehungswissenschaftlicher Tätigkeit der vergangenen Jahre wenigstens vorerst wieder zurückzustellen. Dazu gehört z. B. die auffällige Zurücknahme ideologiekritischer Positionen und Analysen angesichts der Tatsache, daß es offenbar möglich ist, mit ihrer Hilfe auf unvernünftiges pädagogisches Handeln hinzuweisen, nicht aber vernünftiges pädagogisches Handeln zu begründen. Dazu gehört ferner die Vermutung, daß eine strikt empirisch sozialwissenschaftliche Forschungspraxis im Hinblick auf die Normproblematik eigentümlich leer bleibt; dazu gehört schließlich die vielleicht allzu kurzatmig aufgegriffene Hoffnung, der
Diskurs
-Begriff
könne der Pädagogik den drohenden Verlust der praktisch-normativen Perspektive zurückbringen. Endlich haben solche Verunsicherungen oder Weglosigkeiten im Hinblick auf die Erziehungswissenschaft als praktische Disziplin dazu geführt, die Normativitätsfrage den sogenannten
Bedürfnissen und Interessen der Betroffenen
zu überantworten, eine immer noch viel gehörte Formel, die indessen eine Täuschung über das pädagogische Grundproblem der Asymmetrie von Erziehungsverhältnissen nahelegt
Bedürfnisse und Interessen
von Kindern und Jugendlichen sind ja allererst das Produkt von Erziehungshandlungen und erst in zweiter Linie auch Voraussetzungen; die normativ praktische Frage also liegt vor diesen.
[068:10] In dieser Situation nun liegt es nahe, sich auf Beschreiben und Verstehen zurückzuziehen. Und da gibt es gegenwärtig – wenn ich recht sehe – folgende Angebote: Immer noch, wenngleich schon vor zehn Jahren in die erziehungswissenschaftliche Diskussion eingeführt, spielen Interaktionismus und Kommunikationstheorie eine große Rolle, und ein beträchtlicher |a 100|Teil erziehungswissenschaftlicher Forschung wendet sich Fragestellungen zu, die aus diesem theoretischen Zusammenhang stammen. Seit ungefähr vier bis fünf Jahren taucht innerhalb der Pädagogoik die Ethnomethodologie auf, als eine neue Welle sozialwissenschaftlicher Rezeption, ein Versuch, sich dem Gegenstand der Erziehungswissenschaft in ethnographischer Manier zu nähern, so als handle es sich um eine fremde Kultur, so als sei man selbst nicht Teilhaber derselben, – auch ein Versuch also, sich auf das Beschreiben, das Rekonstruieren, das Explizieren zurückzuziehen. Ähnlich steht es – wie mir scheint – mit der Bereitschaft, beim französischen Strukturalismus Anleihen zu machen; auch dies vielleicht ein Symptom dafür, sich der Normativitätsproblematik pädagogischer Fragestellungen nicht mehr ernsthaft zu stellen, sondern stattdessen auf andere Problemstellungen auszuweichen.
[068:11] Es sind Ausweichmanöver, erstens vor der Frage nach der gesellschaftlichen Formierung der pädagogischen Tätigkeit; dafür stehen mir Interaktionismus und Kommunikationstheorie. Es sind Ausweichmanöver zweitens vor der normativen, der praktischen Fragestellung, die nicht nur den tätigen Pädagogen, sondern auch den Erziehungstheoretiker betrifft; dafür steht mir die ethnomethodologische Orientierung. Und es sind drittens auch Ausweichmanöver vor der Aufgabe, die Reflexion auf die Struktur der eigenen Vorstellungswelt zu richten und nicht nur auf die der anderen, vergangener Jahrhunderte oder anderer Kulturen; dafür steht mir der Strukturalismus.
[068:12] Charakteristisch für die drei ist, und sicher könnte man bei genauerer Überlegung noch weitere theoretische Richtungen hinzufügen, daß in ihnen allen die Zukunft fehlt. Zukunft kommt im Interaktionismus oder in der Kommunikationstheorie allenfalls als Diskurs oder als eine abstrakte Antizipation von ungestörter Kommunikation vor, zeitlich wenig lokalisiert. Zukunft kommt in der Ethnomethodologie überhaupt nicht vor, allerhöchstens in den Zukunftsvorstellungen derer, die man zum Gegenstand der Untersuchung gemacht hat. Innerhalb des Strukturalismus, jedenfalls bei Michel Foucault, taucht Zukunft nur noch in Form irrationaler Aphorismen auf, in denen von einer ausgefüllteren Zukunftsvorstellung nichts Rechtes mehr zu sagen bleibt (wenn ich die Selbstkommentare Foucaults zu seinen Büchern richtig verstehe). Demgegenüber möchte ich geltend machen oder möchte ich die These vertreten, daß Zukunft die integrale pädagogische Kategorie ist, von der alles abhängt.
|a 101|

2.

[068:13] Die These ist, so scheint es, trivial. Denn natürlich ist es ein analytischer Satz, daß pädagogisches Handeln auf Zukunft bezogen sei. Um die Trivialität ein wenig zu lüften, möchte ich an Friedrich Schleiermacher erinnern. An ihn deshalb, weil er problemgeschichtlich die interessante Umschlagstelle von Pädagogik als praktischer Philosophie in Pädagogik als empirischer Wissenschaft markiert. Diese Stelle, wenn ich recht sehe, ist auch heute noch von systematischem Interesse. Deshalb lohnt sich, wie ich meine, die Erinnerung. Schleiermacher hatte im allgemeinen Teil seiner Vorlesung von 1826 (vgl. Schleiermacher 1966) zwei Gegensatzpaare aufeinander bezogen. Einerseits das Gegensatzpaar
Erhalten und Verbessern
: also die Frage, ob das Gemeinwesen, so wie es beschaffen ist, erhalten werden und die junge Generation zum Erhalten tüchtig gemacht werden solle, oder ob es nicht vielmehr verbessert und die junge Generation fähig werden solle, in solche Verbesserung
mit Kraft
einzutreten. Dieses eine Gegensatzpaar hat Schleiermacher bezogen auf ein zweites, in dem er den
Moment
und die
Zukunft
einander gegenüberstellte, also die Frage, ob der Pädagoge den Moment des jungen Menschen einer doch im Grunde ungewissen und schwer vorhersehbaren Zukunft aufopfern dürfe oder nicht vielmehr alles daran setzen müsse, daß jeder Augenblick im Leben des jungen Menschen der erfüllte Augenblick ist, ohne Rücksicht auf irgendwelche Zukunftsantizipationen. Die Frage
Erhalten oder Verbessern
bezieht sich also auf den Zustand des Gemeinwesens, auf dessen Zukunft und auf die politische Rolle, die das pädagogische Handeln in dieser gesellschaftlich-geschichtlichen Bewegung spielen soll. Die Frage, ob der Moment der Zukunft aufgeopfert werden dürfe, bezieht sich auf das sich bildende Individuum. Es ist die Frage danach, ob es zu rechtfertigen sei, wenn der Erzieher im Namen einer von ihm vor gestellten, phantasierten, gewünschten Zukunft dem Kinde Beschränkungen auferlegt oder ihm Lernleistungen abverlangt, die nur durch Hinweise auf Zukünftiges begründet werden können. Das Verhältnis zur Zukunft taucht also, wenn wir darin Schleiermacher folgen mögen, in drei Problemstellungen auf, die ineinander verwoben sind:
[068:14] Erstens die Zukunft als die Idee eines besseren Gemeinwesens, zweitens die Zukunft als Antizipation des Erziehers und also als Regulativ seines Handelns und drittens die Zukunft des Kindes im Sinne seines individuellen Bildungsprozesses.
[068:15] Der Gedankengang Schleiermachers versucht dabei zwei Extrempositionen zu vermeiden und die pädagogische Fragestellung in Auseinandersetzung mit beiden zu entfalten. Die eine Extremposition ist gleichsam der |a 102|Verzicht auf Zukunft, und zwar dadurch, daß diese Zukunft lediglich als Verlängerung des Vergangenen betrachtet wird. Auf der einen Seite bloßes Erhalten und bloßes Befriedigen des Augenblicks. Die andere Extremposition ist die inhaltlich bestimmte Projektierung von Zukunft ohne Rücksicht auf die gesellschaftlichen Traditionen und ohne Rücksicht auf das, was der Moment dem einzelnen Kind an Befriedigung zu bieten hätte. Sind nun aber die pädagogischen Problemstellungen in Abgrenzung von diesen beiden Positionen anzusiedeln, dann kann geltend gemacht werden, daß erstens Zukunft als offene gedacht werden müsse, also nicht nur als Fortsetzung vergangener Erfahrung, und daß andererseits die ins Spiel gebrachten Zukunftsantizipationen doch begründbar gemacht werden müssen, und zwar mit Bezug auf die Bildungsgeschichte der konkreten Individuen, der Kinder und Jugendlichen. Diese Art von Problemstellung hat aber nun mit dem zu tun, was wir in methodologischer Terminologie
Prognosen
nennen. Ein großer Teil unseres erziehungswissenschaftlichen Wissens, mindestens aber dasjenige Wissen, das handlungsanleitend sein will, bekommt seinen Sinn für das pädagogische Handeln offen oder verdeckt dadurch, daß es prognostisch relevant ist oder sich selbst als prognostisches Wissen darstellt. Das ist zunächst nicht nur verständlich, es ist auch unausweichlich. Denn jede pädagogische Handlung enthält nicht nur irgendeinen Zukunftsbezug, sondern darin, daß sie überhaupt eine Handlung ist, einen bestimmten Bezug; keine Handlung ist denkbar ohne – mindestens – Annahmen über die Möglichkeit allernächster Schritte. Dieser bestimmte Zukunftsbezug muß dem Erzieher im Augenblick der Handlung nicht unbedingt bewußt sein. Er ist in der Handlung aber insofern immer enthalten, mindestens in der Form schematisierter Unterstellungen, als die Handlung ein Ziel hat und Schritte zu diesem Ziel, also Mittel und auch Randbedingungen realisiert usw. Kurz: Der der Handlung mindestens innewohnende Handlungsplan hat die Form einer empirischen Prognose. Empirische Prognosen haben nun aber die folgende Eigentümlichkeit: da sie empirisch sind, können sie nur auf Erfahrung beruhen. Erfahrung ist aber immer Erfahrung von Vergangenem. In der empirischen Prognose muß also unterstellt oder geltend gemacht werden, daß die in den handlungsleitenden Hypothesen formulierten Zusammenhänge zwischen Zielen, Mitteln, Randbedingungen, Schlußregeln usw. auch für die Zukunft gelten. D.h., jede empirische Prognose enthält notwendigerweise ein Moment von Konventionalität. Dies nun ist, wenn ich recht sehe, nicht nur ein theoretisches, sondern auch ein praktisches Problem im Sinne der Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft. Für die je besondere pädagogische Handlung nämlich steht nicht nur das Problem des in die Zukunft projizierten Geltungsanspruchs von empirischen Hypothesen in Rede, sondern auch |a 103|die praktische Frage, ob der Handelnde überhaupt will, daß diese Momente weiterhin gelten. Und das bezieht sich nicht nur auf die Handlungsziele, sondern auf alle anderen Momente der Handlung auch. Wenn das so ist, dann müßte die Konventionalität in jeder empirischen Handlungsprognose nicht nur im Hinblick auf ihre theoretische Geltung überprüft werden, sondern auch daraufhin, ob die in der Handlung gesetzten Konventionen praktisch Geltung beanspruchen können; mit anderen Worten: ob sie mit Gründen gewollt werden können. Die Quellensammlung von Katharina Rutschky (1977) zeigt nun, daß Schleiermacher mit seiner Problemstellung schon zu spät kam. Die Institutionalität der Erziehung und ihre Programmatik hatte die praktische Problemstellung bereits damals (1826), als Schleiermacher seine Vorlesung hielt, zugunsten der theoretischen liquidiert. Es gab sozusagen nur noch das Problem der empirischen Prognostizierbarkeit und das Problem des Ausrichtens praktischer, pädagogischer Handlungen nach Maßgabe solcher empirischer Prognosen. Praktische Fragestellungen verschwanden zunehmend aus der Pädagogik. Aber wie dem auch historisch sei (möglicherweise kann man an dieser Stelle widersprechen und vielleicht ist der Zeitpunkt, zu dem Schleiermacher mit seiner Fragestellung überholt wurde, etwas später anzusiedeln): Die praktische Frage nach dem Gewollten in pädagogischen Handlungsplänen und Handlungen läßt sich auch heute noch aufwerfen und damit freilich auch die Frage, auf welche Weise praktische, pädagogische Entscheidungen argumentationszugänglich gemacht werden können, eine Frage, der die Pädagogik lange Zeit ausgewichen ist. Damit nun bin ich bei unserem Forschungsprojekt, das sich nun freilich im Vergleich mit dieser die Erziehungswissenschaft ja prinzipiell betreffenden Frage relativ bescheiden ausnimmt.

3.

[068:16] Für eine praktische Argumentation im Hinblick auf die gewollte Form einer pädagogischen Handlung scheint mir unerläßlich, sich auch auf die Selbstdeutungen des zu Erziehenden einzulassen oder wenn der Ausdruck
des zu Erziehenden
unpassend sein sollte: auf die Selbstdeutung desjenigen Teils unserer Population einzulassen, die damit befaßt ist, sich mit ihrer zukünftigen Lebenssituation zu arrangieren. Wegen der unhintergehbaren Asymmetrie des Verhältnisses der Generationen zueinander findet nun diese Einlassung im Regelfall nur simuliert statt: Der Erzieher führt eine Art inneren praktischen Dialogs mit dem Heranwachsenden, in dem dieser zunächst nur repräsentiert ist. Der ausgearbeitete äußere Dialog markiert ja gerade das Ende des pädagogischen Verhältnisses. Die pädagogische |a 104|Forschung macht nun dies zum Prinzip. Sie muß es machen, da sie sich im Regelfall nicht in der Situation unmittelbarer pädagogischer Verantwortung befindet. D.h., sie setzt sich simulierend mit den Selbstdeutungen der Heranwachsenden auseinander. Welche Möglichkeiten also gibt es, praktisch relevante Selbstdeutungen von Heranwachsenden zu ermitteln? Folgt man dem bisher Ausgeführten, dann müßte eine solche Untersuchung so angelegt sein, daß sie sowohl theoretisch als auch praktisch argumentationszugänglich ist. Und das hängt zusammen mit dem Übergang von Vergangenem zu Zukünftigem, so, wie es sich im Selbstverständnis von Individuen darstellt, die sich in einem Bildungsprozeß befinden. Wir haben für unsere Studie die Gruppe der 14–15jährigen gewählt, weil wir denken, daß dort die Wahrscheinlichkeit, daß Zukunftsantizipationen über den nächsten Moment hinaus schon virulent werden und sich in den Selbstdeutungen durchsetzen, relativ groß ist.
[068:17] Folgt man einem solchen Interesse, dann scheint es sinnvoll zu sein, zwischen zwei Formen der Argumentation zu unterscheiden (ich möchte sie
substantielle
und
formalisierende
Argumentation nennen). Substantielle Argumentation nenne ich eine solche, die mit einer bereits ausgearbeiteten Theorie operiert (als Beispiel ließe sich an die psychoanalytische Theorie denken), deren Sätze für bereits relativ gut bestätigt hält und nun in einer Untersuchung gesammeltes empirisches Material einer entsprechenden Deutung unterwirft, oder anders, die Theorie auf eine neue Bewährungsprobe stellt. Davon unterscheide ich eine formalisierte Argumentation; das ist eine Argumentation, die versucht, soweit es irgend geht, sich solcher substantiellen Unterstellungen, wie sie in bestimmten Theorien formuliert sind, zu enthalten, um gerade hinter das zu kommen, was die Besonderheit der Argumentation des befragten Jugendlichen (oder wer immer es sei) ausmacht. Mir ist diese Unterscheidung deshalb wichtig, weil das, was ich substantielle Theorie nenne, ja zugleich solche Theorien sind, die in der Institutionalisierung unseres Erziehungswesens bereits
erfolgreich
untergebracht sind (man denke an die Führung von Akten und die Gutachten-Praxis für auffällige Kinder und Jugendliche). Die Heranwachsenden werden dort institutionalisierten Deutungsmustern konfrontiert, denen gegenüber sie nur noch geringe Wahlchancen haben. Es scheint deshalb nützlich zu sein, nicht in allen Forschungen dieses Muster zu wiederholen, sondern auch Zugänge zu versuchen, die sich den etablierten
substantiellen
Theorien gegenüber möglichst abstinent verhalten und so vielleicht eher Zugang finden zu dem, was die subjektiv bestimmte Problematik einer gewählten Population ist.
[068:18] Damit hängt eine methodische Entscheidung zusammen: Soll man die Daten in der Form eines klassifikatorischen Reports sammeln? Das |a 105|anschaulichste Beispiel eines klassifikatorischen Reports ist eine Befragung in der Form standardisierter Items; es wird, nach Maßgabe eines bestimmten theoretisch abzuleitenden und zu begründenden Untersuchungsinteresses, ein Instrument entwickelt, in dem solche Klassifikationen gesetzt sind, mit deren Hilfe das, was als Hypothese überprüft werden soll, am besten der empirischen Argumentation zugänglich gemacht werden kann. Mißtraut man indessen solchen Vorwegklassifikationen, wie sie sich aus der Wissenschaftsgeschichte oder Theoriegeschichte einzelner Disziplinen ergeben mögen, dann empfiehlt sich ein anderes Verfahren. Wir haben uns deshalb entschlossen, Interviews durchzuführen, die nicht einer solchen Vorwegklassifikation folgen, sondern die Jugendlichen zum Erzählen von Alltagsgeschichten anregen.
[068:19] Daraus ergibt sich die Nötigung zu einer weiteren Überlegung: Auch eine solche Interviewsituation ist natürlich notwendigerweise selektiv. Die Selektivität der Interviewsituation läßt sich nicht dadurch eliminieren, daß man einen bestimmten Typus von Fragen nicht mehr stellt oder eine bestimmte Art der Gesprächsführung nicht mehr bevorzugt. Man kann, wenn man sich für derart unstrukturierte Interviews entscheidet, nur versuchen, die möglichen Verzerrungen, die durch die Situation selbst auftauchen, zu minimieren, nicht aber völlig zu eliminieren. Um sie zu minimieren, bedarf es einer besonderen Vorbereitung der Interviewer. Wir haben das dadurch versucht, daß wir die Interviews nach einigen Regeln der Gesprächstherapie geführt haben, um so die Jugendlichen zur Explikation ihrer eigenen Gefühle, Vorstellungen und Erfahrungen zu ermuntern, unabhängig von den theoretischen Annahmen des Interviewers.
[068:20] Ich hatte zu bedenken gegeben, daß jede Handlung und jeder Handlungsplan unter theoretischem Gesichtspunkt konventionelle oder wenigstens als konventionell unterstellte Elemente enthalte. Auch eine praktische Problematisierung solcher Elemente muß natürlich deren theoretische Bedeutung berücksichtigen, sofern es sich überhaupt um rational zugängliche Handlungen handelt. Bezogen auf die Auswertung in einem solchen Projekt bedeutet das, daß man versuchen kann, in der Auswertung der Materialien die theoretischen Bilder praktischer Situationen zu ermitteln. Theoretische Bilder nenne ich den theoretischen Gehalt, der sich in alltagssprachlichen Äußerungen findet (Auf die vielen
Gattungen
alltagssprachlicher Äußerungen will ich hier nicht eingehen). Dafür verwenden wir die folgenden Auswertungsebenen: Wir unterscheiden
  • [068:21] Klassifikationen: Darin ist die Annahme enthalten, daß jede Äußerung, über welchen Gegenstand auch immer, mit einer Art Ordnung der Vorstellungswelt operieren muß, in der bestimmte Klassen von Objekten, Ereignissen, Beziehungen usw. benannt oder unterstellt werden.
  • |a 106|
  • [068:22] Verknüpfungen: In jeder Rede – also nicht nur in der wissenschaftlichen, sondern auch in der alltagssprachlichen – werden die Klassen von Objekten, Gefühlen usw. zueinander in Beziehung gebracht, miteinander verknüpft. Sie werden in ein räumliches Verhältnis gesetzt, in eine chronologische Reihe gebracht, nach den Zeitschemata der Erinnerung verbunden, in kausale Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge eingeordnet, im Sinne zirkulärer Wechselwirkung verknüpft usw. Das geschieht in der Alltags-Rede nicht immer explizit und bedarf deshalb – wie übrigens auch die Ermittlung der Klassifikationen – der interpretativen Bemühung.
  • [068:23] Drittens versuchen wir, mit Hilfe solcher Klassifikationen und Verknüpfungen das zu ermitteln, was wir Problemdefinitionen nennen. Die Klassifikationen und Verknüpfungen sind gleichsam die elementaren Operationen, mit deren Hilfe jemand versucht, ein Problem als solches zu benennen. Damit wird es zugleich an bestimmten Stellen des Lebenszusammenhanges lokalisiert, in Beziehung zu anderen Ereignissen gesetzt und gewichtet; die Probleme nämlich werden offenbar in einer Art Relevanzhierarchie angeordnet, bei denen unterschieden wird zwischen solchen Problemen, die eine starke Belastung für die eigene Lebensführung darstellen und solchen, die im Hinblick auf die Belastung irrelevant sind. Schließlich knüpfen sich an solche Definitionen von Problemen und Belastungen auch häufig Lösungsperspektiven, bei deren alltagssprachlicher Darstellung ebenfalls die genannten Elemente oder Operationen verwendet werden.
[068:24] Im Hinblick auf Klassifikationen und Verknüpfungen will ich das Gemeinte an einigen Beispielen erläutern. In einem Interview heißt es:
[068:25]
Mit meiner Mutter habe ich öfters Streit, sie behandelt mich wie ein Kind, dann hinterher wundert sie sich, wenn ich
Scheiße
baue, aber echt, ich hau dann einfach ab und mach sonstwas, weil, das hältst du wirklich auf die Dauer nicht aus.
[068:26] Hier sind offenbar mindestens folgende Klassifikationen enthalten: Im Hinblick auf Personen sind es zunächst die Mutter und das Ich. Bei
Kind
ist klar, daß durch die Formel
wie ein Kind
hier die Klasse
Kind
in dem Sinn gemeint ist, daß auch der Plural zulässig wäre; bei
Mutter
ist das nicht so eindeutig – es könnte eine Klasse mit nur einem Fall sein. Das
Ich
gehört eindeutig weder zur einen, noch zur anderen Klasse, könnte aber sowohl zu einer Klasse der Gleichaltrigen gehören, die sich nicht als
Kinder
definieren, könnte aber auch – wie
Mutter
– eine Klasse mit nur einem Fall sein. Es läßt sich leicht vorstellen, daß solche Unklarheiten durch weitere Passagen des Interviews beseitigt werden können (beispielsweise, wenn weitere Geschichten gleicher Art |a 107|auftauchen oder wenn der Sprecher Generalisierungen vornimmt). Ebenso läßt sich aber auch vorstellen, daß mit solchen Differenzen wesentliche Unterschiede in der Selbst- und Weltdeutung des Jugendlichen zum Ausdruck kommen.
[068:27] Im Hinblick auf Ereignisse gibt es in dem Zitat die – für viele Jugendliche wesentliche – Klassifikation in
bleiben
und
abhauen
, und die in: jemanden wie ein Kind behandeln, wie einen Jugendlichen (mich), wie seinesgleichen (die letzte Klasse ist allerdings im Text nicht explizit). Zwischen den Klassen des
Behandelns
und denen des
Bleibens
bzw.
Abhauens
wird nun eine Verknüpfung hergestellt im Sinne einer Interpretation von Ursache (Behandlung durch die Mutter) und Folge (abhauen), allerdings mit einem aus dem Text erschließbaren intentionalen Mittelglied (
weil, das hältst du auf die Dauer nicht aus
). Natürlich bleiben solche Interpretationen vorerst riskant; sie stellen Interpretationshypothesen dar, die im Durchgang durch den ganzen Text eines Interviews erst ihre Bestätigung erfahren können.
[068:28] Nachdem das Prinzip der Interpretation damit angedeutet worden ist, nenne ich die folgenden beiden weiter ausgearbeiteten Beispiele, allerdings ohne den Originaltext zu zitieren. Die beiden Skizzen enthalten die Klassifikationen, andeutungsweise auch die Verknüpfungen und Problemdefinitionen zweier Interviews, die sich in einigen Hinsichten charakteristisch unterscheiden. Dabei wurde freilich aus der komplexen Fülle aller im Interview enthaltenen Klassifikationen usw. eine Auswahl getroffen. In beiden Fällen handelt es sich um Mädchen. Die Skizzen können freilich nur demonstrieren, welche Richtung unsere methodischen Versuche nehmen und welche Vereinfachungen der Texte nötig sind:
Hier ist der erste Teil der Klassifikationen aus dem ersten Interview zu sehen.
|a 108|
Hier ist die Fortsetzung der Abbildung der Klassifikationen aus dem ersten Interview zu sehen.
Hier ist eine Abbildung der Klassifikationen aus dem zweiten Interview zu sehen.
[068:29] Diese
Alltagssysteme
von Klassifikationen, Verknüpfungen und Problemdefinitionen sollen inhaltlich nach drei Richtungen hin analysiert werden. Wir möchten die Regeln in der Darstellung und Beurteilung interpersonaler, dingweltbezogener und auf das Selbst der Interviewten gerichteter Problemstellungen ermitteln und – gleichsam quer zu diesen |a 109|Dimensionen – die Form beschreiben, in der sich der Bildungsprozeß dieser Jugendlichen zwischen Vergangenheit und Zukunft befindet. Welche Zukunft antizipieren sie? Nach welchen Regeln folgern sie von vergangener Erfahrung auf Künftiges? Wie lokalisieren sie die mit ihnen verbundenen Erwachsenen in diesem
Zeit-Feld
? Und wie entstehen ihnen in solchen Zusammenhängen die bestimmten praktischen Probleme ihrer projektierten Lebensführung? – Wir hoffen, auf diese Weise auch auf jene Spielräume aufmerksam machen zu können, die zwischen vergangener Erfahrung, institutioneller (zugeschriebener) Klassifikation und projektierter Zukunft das spannendste Feld pädagogischen Handelns sind.
[068:30] Nicht minder spannend ist es für den Wissenschaftler. Durch die Anlage der Untersuchung simuliert er ja nicht nur, wie ich oben sagte, den Part des Educandus in jenem inneren Dialog. Er ruft auch in sich selbst diejenigen Reaktionen hervor, die in der praktischen pädagogischen Dialogsituation zu erwarten sind oder doch wenigstens einen Teil derselben darstellen. Das kann natürlich prinzipiell in jeder empirischen Studie geschehen: empirische Daten über Erziehungsverhältnisse – wenn man sich nicht schon einen strikt szientistischen Habitus angeeignet hat – fordern das praktische Urteil über die Richtigkeit (Begründbarkeit) der ermittelten Zustände heraus. Die Nötigung zu solchem Urteil wird kräftiger, wenn die Daten – wie in unseren Interviews – nicht schon in den abstrakten Klassifikationen einer bestimmten Theorie-Tradition auf mich zukommen, sondern wenn noch die Dynamik ihrer subjektiven Produktion, die kognitive und emotive Leistung bei der Darstellung bildungsperspektivischer Probleme, in der sprachlichen Selbstrepräsentation sichtbar ist. Der Akt der Text-Interpretation gestaltet sich deshalb als theoretischer und praktischer Akt, wenngleich
Praxis
hier nur
simuliert
ist. Die Simulation aber ist
wahr
im Sinne eines
existentiellen
praktischen Bezuges zum Jugendlichen: Die Einklammerung substantieller Argumentation (Theorien) bei der Interpretation macht wahrscheinlich, daß der Interpret genötigt wird, den je gemeinten Sinn sprachlicher Äußerungen des Jugendlichen ernst zu nehmen; die Konzentration auf formalisierte Argumentationen (auf Klassifikationen, Verknüpfungen, Definitionen) macht wahrscheinlich, daß hinter dem subjektiv Gemeinten auch das deutlich wird, was als objektiver Sinn (dem Jugendlichen selbst manchmal mehr, manchmal weniger verborgen) in der Form der sprachlichen Darstellung realisiert wird; durch solche selbstauferlegten methodischen Regeln entsteht jene
existentielle
Herausforderung des Interpreten; die zum Vorschein kommende Suche des Jugendlichen nach einem rechten Leben und einer guten Zukunft verlan|a 110|gen – durch ihre konkrete Anschaulichkeit (oder auch durch ihre Verschlüsselung in Stereotypen und Abstraktionen) – im Interpreten nach einer Konfrontation mit seinen praktischen Optionen.
[068:31] Diese aber dürften – jedenfalls in einem pädagogischen Forschungsprojekt – nicht willkürlich sein, sondern sie sollten begründet werden. Das ist schon deshalb unerläßlich, weil der in der Selbstdarstellung des Jugendlichen enthaltene
objektive Sinn
gar nicht anders ermittelt werden könnte, als dadurch, daß der Interpret mit kategorialen Präferenzen operiert. Dafür will ich abschließend ein knappes Beispiel anführen: Im Hinblick auf den objektiven Sinn, der in der von den Jugendlichen gegebenen Darstellung ihrer Probleme enthalten ist, läßt sich eine Zeit-Dimension ermitteln; allein schon die Wahl dieser Dimension für die Ausarbeitung ist – worauf ich mit Hilfe von Schleiermacher hinweisen wollte – nicht nur die Option für eine theoretisch nützliche Kategorie, sondern enthält eine praktische Entscheidung des Interpreten im Hinblick auf die Relevanz, die Zeitvorstellungen für das Handeln nicht nur faktisch haben, sondern, in der Form bestimmter Zeitvorstellungen, haben sollten; z.B. dann, wenn man bei manchen Interview-Texten darauf stößt, daß die Jugendlichen Schwierigkeiten mit der Synchronisierung verschiedener Handlungsabläufe, zeitlicher Erwartungen von Personen, institutionalisierter Zeitschemata usw. haben. Durch die Dringlichkeit, mit der das Problem im Text dieses einen konkreten Jugendlichen zum Ausdruck kommt, ist die praktische Frage unausweichlich (man könnte sie nur verdrängen), ob er synchronisieren soll oder nicht. Aber dies ist auch meine, des Interpreten, Frage: soll ich dafür optieren, daß Bildungsgänge synchron verlaufen, interpersonelle und institutionelle Zeitrhythmen aufeinander abgestimmt werden, die Uhr das Maß der Ereignisse ist, Befriedigungszeiten gelernt werden, Warten eingeübt wird usw.; soll die Zukunft – und zwar meine wie auch die des Jugendlichen – verlängerte Vergangenheit oder das riskante Neue sein? Die Beantwortung solcher Fragen hat Konsequenzen für die Bedeutung, die eine Kategorie wie
Synchronisierung
für die Interpretation hat und für die Differenzierungen, die innerhalb einer solchen Kategorie vorgenommen werden müßten.
[068:32] Meine Vorstellung über den Vorgang solchen Begründens im Forschungsprozeß ist die, daß die praktischen Optionen weder etwa als
moralische Entscheidungen
,
Erkenntnisinteressen
,
politische Perspektiven
o.ä. dem Forschungsprozeß vorgeordnet werden, so daß eine Art deduktiven Zusammenhangs zwischen diesen und den Forschungsoperationen konstruiert wird; noch daß sie gleichsam als nachträgliche Stellungnahme des Forschers zu seinen Ergebnissen den empirisch-interpretierenden angehängt werden. Ich habe vielmehr die Vorstellung, daß es möglich sein müsse, im Gang des Interpretierens, der Forschungsoperationen selbst, d.h. in der Auseinandersetzung mit den expliziten und impliziten Argumentationen, die in den Texten enthalten sind, mit den Darstellungen, mit deren Bildungssinn, herauszuarbeiten, welche Begründungen für lebensgeschichtliche Problemstellungen zwischen
Erhalten
und
Verbessern
, zwischen
Moment
und
Zukunft
für jeden einzelnen Fall und für typische Lagen möglich sind. Das ist nichts anderes als die durch einen Forschungsprozeß hergestellte zeitliche und argumentative Dehnung einer Komponente des praktischen Erziehungshandelns.
[068:33]
Alltagswende
möchte ich das nicht nennen; das ist eine zu anspruchsvolle und der tatsächlichen Wissenschaftsgeschichte der Pädagogik wenig angemessene Vokabel. Es ist vielmehr der Versuch, auf dem durch Schleiermachers Argumentationen begonnenen, durch sozialwissenschaftliche Fragestellungen erweiterten, durch die Marxismus-Diskussion besser aufgeklärten, Erziehung als verantwortlicher Praxis zustrebenden Weg ein Stück weiter zu kommen.