Erziehung und Emanzipation [Textfassung A]
Hier ist das Cover der ersten Auflage von Erziehung und Emanzipation von 1968 zu sehen.
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[028:1]
Kalle: Was Ihre Gesinnung angeht: Sie haben mir zu verstehen gegeben, daß Sie auf der Suche nach einem Land sind, wo ein solcher Zustand herrscht, daß solche anstrengenden Tugenden wie Vaterlandsliebe, Freiheitsdurst, Güte, Selbstlosigkeit so wenig nötig sind wie ein Scheißen auf die Heimat, Knechtseligkeit, Roheit und Egoismus. Ein solcher Zustand ist der Sozialismus. [028:2] Ziffel: Entschuldigen Sie, das ist eine überraschende Wendung. [028:3] Kalle: Ich fordere Sie auf, sich zu erheben und mit mir anzustoßen auf den Sozialismus – aber in solch einer Form, daß es hier im Lokal nicht auffällt. Gleichzeitig mach ich Sie darauf aufmerksam, daß für dieses Ziel allerhand nötig sein wird. Nämlich die äußerste Tapferkeit, der tiefste Freiheitsdurst, die größte Selbstlosigkeit und der größte Egoismus. [028:4] Ziffel: Ich habs geahnt.
[028:5]
Bert Brecht: Flüchtlingsgespräche
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Einleitung

[028:9] Der Titel dieser Sammlung von kleineren Arbeiten aus den letzten vier Jahren enthält in noch roher und unentwickelter Form eine These, die sowohl theoretisch wie praktisch gemeint ist. Theoretisch betrifft sie die Gestalt der Erziehungswissenschaft, ihre Probleme, Verfahren und Sätze. Die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg haben gezeigt, daß die
»geisteswissenschaftliche Pädagogik«
nur begrenzt leistungsfähig ist im Hinblick auf die Aufklärung derjenigen Zusammenhänge, die die Wirklichkeit der Erziehung ausmachen. Die Kritik an einer Pädagogik-Konzeption, die durch verstehendes Auslegen und Deuten pädagogischer Texte und pädagogischer Praxis einen Begriff des
»eigentlich Pädagogischen«
zu gewinnen suchte, um dann von ihm her die geschehende Erziehung beurteilen zu können, diese Kritik wurde zunächst – durch die Fortschritte der empirischen Sozialwissenschaft angesichts pädagogischer Sachverhalte begünstigt – vornehmlich von erfahrungswissenschaftlichen Positionen her vorgetragen.1
|A 169|1Vgl. dazu u. a. W. Brezinka, Die Pädagogik und die erzieherische Wirklichkeit, in: Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 1959, S. 1 ff.; ders., Über den Wissenschaftsbegriff der Erziehungswissenschaft und die Einwände der weltanschaulichen Pädagogik, in: Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 1967, S. 135 ff.; R. Lochner, Deutsche Erziehungswissenschaft, Meisenheim/Glan 1963 ferner Arbeiten von H. Roth, besonders: Die realistische Wendung in der pädagogischen Forschung, in: ders., Erziehungswissenschaft, Erziehungsfeld und Lehrerbildung, hrsgg. von H. Thiersch und H. Tütken, Hannover 1967.
[028:10] Aber während diese Auseinandersetzung noch im Gange ist, melden sich Zweifel, ob die Alternative: hier hermeneutisch verfahrende Pädagogik – dort empirisch verfahrende Erziehungswissenschaft2
|A 169|2Für solche Vereinfachungen vgl. vor allem Brezinka und Lochner, a. a. O.
richtig formuliert ist.3
|A 169|3Dazu H. Blankertz, Pädagogische Theorie und empirische Forschung, in: Zur Bedeutung der Empirie für die Pädagogik als Wissenschaft, Neue Folge der Ergänzungshefte zur Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik, Heft 5, hrsgg. von M. Heitger, Bochum 1966; I. Dahmer, Theorie und Praxis, in: Geisteswissenschaftliche Pädagogik am Ausgang ihrer Epoche – Erich Weniger, hrsgg. von I. Dahmer und W. Klafki, Weinheim 1968; P. M. Roeder, Zur Problematik der historisch-systematischen Methode, in: Die Deutsche Schule, Jg. 1962; H. Thiersch, Hermeneutik und Erfahrungswissenschaft – zum Methodenstreit in der Pädagogik, in: Die Deutsche Schule, Jg. 1996.
Verfolgt man nämlich die wissenschaftstheoretischen Diskussionen der letzten Jahre in der Sozialwissenschaft, dann läßt sich mindestens das Problem nicht übersehen, das sich nun für die Erziehungswissenschaft aus der Kritik an einer
»positivistisch halbierten Rationalität«
ergibt, einer Wissenschafts-Konzeption nämlich, nach der Wert- und Zweck|A 10|setzungen nur noch beschrieben, aber nicht mehr wissenschaftlich diskutiert werden können. Eine solche Verkürzung der Erziehungswissenschaft um die Reflexion derjenigen Probleme, die die Orientierung im Handeln betreffen, ist vielleicht das letzte Wort nicht. Aufklärung ist ja nicht nur die Intention der Wissenschaft; sie sollte auch, sofern sie Selbstbestimmung ermöglicht, der Zweck der Bildungs- und Erziehungspraxis sein. Oder anders formuliert: Für die Erziehungswissenschaft konstitutiv ist das Prinzip, das besagt, daß Erziehung und Bildung ihren Zweck in der Mündigkeit des Subjektes haben; dem korrespondiert, daß das erkenntnisleitende Interesse der Erziehungswissenschaft das Interesse an Emanzipation ist.
»Eine so verstandene Theorie gewinnt die Maßstäbe der Kritik durch ihr Interesse an der Aufhebung von Verdinglichung und Selbstentfremdung des Menschen.«
4
|A 169| 4H. Blankertz, a. a. O., S. 74.
Sie wendet sich also kritisch gegen all jene Erziehungsverhältnisse, die die Verdinglichung – die Unterdrückung der Vernunft im Dienste empirischer Heteronomien – weiter betreiben, oder auch gegen solche, die ihr nicht entgegenzuwirken vermögen.
[028:11] Dafür allerdings ist Empirie unerläßlich und ein notwendiges Instrument der Emanzipation. Dafür ist aber ebenso unerläßlich die Interpretation des Verständigungszusammenhanges, in dem die Praxis ihre Zwecke diskutiert.
[028:12] Die folgenden Beiträge sind Versuche, diese für die Erziehungswissenschaft sich stellende Problematik am Beispiel verschiedener Gegenstände zu reflektieren. Das Bemühen geht dabei immer darauf, das Emanzipationsproblem in dem sich an Rationalität bindenden Bewußtsein zu lokalisieren und auf die empirischen, das heißt aber im wesentlichen gesellschaftlichen, Bedingungen wenigstens hinzuweisen, sofern sie solches Bewußtsein verhindern oder einschränken. Das gilt für die
»Disfunktionalität«
der Erziehung wie für die Bildungsfunktion der Wissenschaft, für die
»Selbstrolle«
des Erziehers oder Lehrers, für die emanzipatorische Funktion der Geselligkeit oder eine kritische politische Bildung.5
|A 169|5Die Diskussion, die in der unter Anmerkung 3 genannten Literatur und an anderen Orten in der Erziehungswissenschaft seit einigen Jahren geführt wird, wäre vielleicht nicht entstanden, wenn die theoretischen Schriften von J. Habermas nicht so genau die Verlegenheit bezeichnet hätten, in |A 170|der sich die Erziehungswissenschaft befindet. Vgl. dazu vornehmlich J. Habermas, Theorie und Praxis, Neuwied 1963; Zur Logik der Sozialwissenschaften, Philosophische Rundschau, Beiheft 5, Tübingen 1967.
|A 11|
[028:13]
»Kritik«
heißt dabei nichts anderes als intersubjektiv prüfbare Analyse der Bedingungen für Rationalität.
»Emanzipation«
heißt die Befreiung der Subjekte – in unserem Fall der Heranwachsenden in dieser Gesellschaft – aus Bedingungen, die ihre Rationalität und das mit ihr verbundene gesellschaftliche Handeln beschränken. Die These selbst –
»Erziehung und Emanzipation«
– wird allerdings nicht gesondert expliziert werden. Eine solche für die Erziehungswissenschaft meines Erachtens unerläßlich gewordene Explikation würde eine eigene systematische Begründung verlangen, um sie zu legitimieren und um zugleich den Verdacht abzuweisen, es handele sich hier, wie bei anderen Werturteilen auch, um eine beliebig überholbare historische Entscheidung. Eine solche systematische Absicht kann eine Sammlung wie diese nicht beanspruchen, sie kann nur auf die Unerläßlichkeit ihrer Durchführung hinweisen. Das wissenschaftstheoretische Problem soll jedoch mit einigen umrißhaften Bemerkungen wenigstens angedeutet werden.
[028:14] Die These, daß der Gegenstand der Erziehungswissenschaft die Erziehung unter dem Anspruch der Emanzipation sei, muß jedem suspekt erscheinen, der als wissenschaftliche Theorie nur gelten läßt, was dem in den Naturwissenschaften entwickelten empirisch-analytischen Wissenschaftsbegriff entspricht. Die zunehmende Verbreitung empirischer Verfahren in der pädagogischen Forschung, die Einsicht in die Unerläßlichkeit solcher Verfahren für Erkenntnis und Planung pädagogischer und bildungspolitischer Vorgänge legt es nahe, mit solchen Verfahren auch zugleich den Wissenschaftsbegriff zu übernehmen, der ihnen in anderen Wissenschaften korrespondiert. Die Verführung ist groß, die Tätigkeit des Erziehungswissenschaftlers für um so wissenschaftlicher zu halten, je ausschließlicher er sich jenem empirisch-analytischen Wissenschaftsbegriff verpflichtet zeigt.
[028:15] Nachdem die wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung in der Erziehungswissenschaft lange Zeit ruhte, hat sie |A 12|Wolfgang Brezinka wieder neu entfacht, und zwar als Apologet einer Erziehungswissenschaft als Erfahrungswissenschaft:
[028:16]
»Von der Physik bis zur Geschichtswissenschaft, von der Archäologie bis zur Erziehungswissenschaft kann man mit guten Gründen für sie alle die gleiche deduktiv-empirische Methode fordern: Aus einer vorläufig noch unbegründeten Annahme, aus einer Hypothese oder einem theoretischen System werden auf deduktivem Wege Folgerungen abgeleitet, die logisch wie anhand der Tatsachen (empirisch) geprüft werden können. Wer als Erfahrungswissenschaftler anerkannt werden will, muß sich der Übereinkunft über diese allgemeinsten Grundsätze der erfahrungswissenschaftlichen Methode anschließen.«
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|A 170|6W. Brezinka, Über den Wissenschaftsbegriff der Erziehungswissenschaft und die Einwände der weltanschaulichen Pädagogik, in: Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 1967, S. 156.
[028:17] Brezinka setzt damit allerdings ein wenig außerhalb des Diskussionsrahmens ein, in dem die Kontroversen in der Sozialwissenschaft gegenwärtig geführt werden. Nach ihm scheint es so, als sei die gebräuchliche Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften bzw. von empirisch-analytischen und hermeneutischen Wissenschaften für die Pädagogik irrelevant, ja als sei diese Unterscheidung selbst ein überspannter Gedanke und als seien alle Wissenschaften ein und derselben Erkenntnisweise zu unterwerfen. Er läßt keinen Zweifel daran, daß er damit eine Entscheidung für einen bestimmten Wissenschafts- und Theoriebegriff fällt, und nennt dies seine vorwissenschaftliche Basisentscheidung. Er erweckt damit den Anschein, als sei diese Entscheidung nicht mehr sinnvoll diskutierbar. Gerade das aber wird durch die genannte sozialwissenschaftliche Diskussion widerlegt: Die von Brezinka so genannte Basisentscheidung, der für die Wissenschaft angenommene Zweck, wird dort diskutiert.
[028:18] Welcher Zweck läßt sich für die Erziehungswissenschaft angeben? Brezinkas These klingt einleuchtend:
[028:19]
»Stellt man die Frage nach den Beziehungen zwischen Wissenschaft und Werturteilen im allgemeinsten Sinne, so hängt die Antwort natürlich davon ab, was man unter Wissenschaft versteht und welche Aufgaben man ihr zuweist. Wer ihren Zweck darin sieht, die Wirklichkeit zu erforschen und über sie zu in|A 13|formieren, entscheidet sich damit für einen anderen Wissenschaftsbegriff als jemand, der fordert, sie solle auch die moralischen Überzeugungen, die Einstellungen und Handlungen der Menschen beeinflussen. Hier geht es um vorwissenschaftliche Entscheidungen.«
Es handelt sich
»um das Problem der Wertbasis der Wissenschaften, also um die Frage, inwieweit den wissenschaftlichen Aussagen Wertungen zugrunde liegen oder vorausgehen müssen.«
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|A 170|7A. a. O., S. 159.
Brezinka schreibt weiter, er habe diese Basisentscheidung getroffen, da ihm
»beim Wissenschaftsbegriff seine Fruchtbarkeit für die Erkenntnisgewinnung wichtiger ist als sein Nutzen für die normativ-emotionale Steuerung des menschlichen Verhaltens«
.
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|A 170|8A. a. O., S. 160.
[028:20] Das Einleuchtende verdankt diese Behauptung einer Ungenauigkeit und einer Unterschlagung. Was bedeutet es, daß die Erziehungswissenschaft ihren Zweck darin zu sehen habe,
»die Wirklichkeit zu erforschen und über sie zu informieren«
? Eine eindeutige Basisentscheidung kann hier nur vorliegen, sofern der Ausdruck
»Wirklichkeit«
eindeutig ist. Wenn wir Brezinka richtig verstehen, müssen wir diesen Ausdruck so auslegen, daß
»Erforschung der Wirklichkeit«
eine Verarbeitung sensorischer Daten in erklärenden Sätzen meint: eben das, was die Naturwissenschaft tut. Die Information über die
»Wirklichkeit«
ist dann also die Weitergabe der so gewonnenen erklärenden Sätze. Der Zweck, zu dem das geschieht, ist die Beherrschung jener Wirklichkeit.
[028:21] Die Unterschlagung Brezinkas besteht darin, daß er nahelegt, die ernsthafte Alternative zu seinem Wissenschaftsbegriff sei die Auffassung, nach der der wissenschaftliche Nutzen in der
»normativ-emotionalen Steuerung des menschlichen Verhaltens«
liege. In übertriebener Bescheidenheit nimmt er für den empirisch-analytischen Wissenschaftsbegriff in Anspruch, daß er nur das Interesse an der Erforschung der
»Wirklichkeit«
und an der Information über diese enthalte. Zu welchem Zweck aber will diese Wissenschaft informieren? Ist in Brezinkas Wissenschaftsentscheidung nicht auch schon über diesen Zweck etwas ausgemacht? Wir können mit gutem Grund vermuten, daß dem so ist: Da die Erziehungswissenschaft analog zur Na|A 14|turwissenschaft verstanden werden soll, dürfen wir annehmen, daß ihr Interesse nicht bei der Information endet, sondern durch die Art der Information auch ihre Verwendung nahegelegt ist; es handelt sich um Informationen über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, um kausal-erklärende Sätze, die die Beherrschung naturhafter oder quasi-naturhafter Vorgänge ermöglichen – im Falle der Erziehungswissenschaft also um Sätze, die die Beherrschung pädagogischer Prozesse möglich machen, und zwar durch Einsicht in deren Gesetzmäßigkeiten. Die Ironie der Argumentation Brezinkas ist nun aber gerade, daß derjenige Wissenschaftszweck, den er ausschließen will, in seinem eigenen Wissenschaftsbegriff als dessen Folge enthalten ist: Die
»normativ-emotionale Steuerung«
des pädagogischen Verhaltens wird nämlich gerade durch den empirisch-analytischen Wissenschaftsbegriff wirkungsvoll möglich gemacht; der
»Gegenstand«
der Erziehungswissenschaft wird unterlaufen, sofern dieser Gegenstand durch die dem Anspruch nach rational miteinander kommunizierenden Erziehungssubjekte bestimmt ist. Erfahrungswissenschaftliche und normative Pädagogik sind sich in diesem Punkte näher als sie glauben. Was diese durch normativen Appell zu erreichen hofft, kann jene dadurch verwirklichen, daß sie ein Kausalitätswissen zur Verfügung stellt, das technologisch zur Beherrschung menschlichen Verhaltens verwendet werden kann. In beiden Fällen ist der Respekt vor der Rationalität der im Erziehungsverhältnis miteinander verbundenen Subjekte nicht geboten. Er kann nur noch nachträglich angefügt werden. Der
»vernünftige«
Gebrauch der erfahrungswissenschaftlichen Information soll – wenn wir Brezinka richtig verstehen – nicht mehr Sache der Erziehungswissenschaft sein.
[028:22] Man kann deshalb mit Recht fragen, ob die für die Erziehungswissenschaft relevanten Sachverhalte sich wirklich ohne Not einer derart erfahrungswissenschaftlichen Konzeption fügen. Oder vorsichtiger: Erschöpfen sich die erziehungswissenschaftlich relevanten Daten in jenem von Brezinka hervorgehobenen Wissenschaftsbegriff? Sofern die |A 15|Erziehungswissenschaft zu den Handlungswissenschaften zu zählen ist – und es besteht kein Anlaß, daran zu zweifeln –, können wir für sie in Anspruch nehmen, was Habermas von der Sozialwissenschaft im ganzen behauptet:
[028:23]
»Der Objektbereich der Handlungswissenschaften besteht aus Symbolen und Verhaltensweisen, die nicht unabhängig von Symbolen als Handlungen aufgefaßt werden können. Der Zugang zu den Daten wird hier nicht allein durch Beobachtung von Ereignissen, sondern zugleich durch das Verständnis von Sinnzusammenhängen konstituiert. Wir können in diesem Sinne sensorische von kommunikativer Erfahrung unterscheiden. ... Die kommunikative Erfahrung richtet sich nicht, wie Beobachtung, auf Sachverhalte, sondern auf vorinterpretierte Sachverhalte: Nicht die Wahrnehmung von Tatsachen ist symbolisch strukturiert, sondern die Tatsachen als solche.«
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|A 170|9
J. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, S. 98.
Vgl. dazu auch W. Loch, Empirisches Erkenntnisinteresse und Sprachanalyse in der Erziehungswissenschaft, in: Bildung und Erziehung, Jg. 1967, S. 456 ff.
[028:24] Der Objektbereich der Erziehungswissenschaft ist durch
»kommunikative Erfahrung«
definiert; der Forscher gehört der Kommunikationsgemeinschaft, deren Teil
»Erziehung«
er erkennen will, selbst an. Jeder Forschungsakt ist deshalb notwendig auch ein sinnkonstituierender Akt, ein verändernder Eingriff in diese Kommunikationsgemeinschaft. Oder anders formuliert: Während naturwissenschaftliche Forschung nicht das
»Objekt«
Natur verändert, sondern lediglich ihre Beherrschung ermöglicht, verändert jede erziehungswissenschaftliche Forschung das
»Objekt«
Erziehung, weil dieses
»Objekt«
gar nicht außerhalb der Sinn-Intentionen einer Kommunikationsgemeinschaft existiert, die sich fortwährend über den
»Gegenstand«
Erziehung neu verständigt.
[028:25] Am Beispiel: Daß die Erziehungsforschung sich immer intensiver der Frage nach der Herstellung der Chancengleichheit im Bildungswesen zuwendet, ist nicht ein für ihren Begründungszusammenhang zufälliges, forschungspsychologisches Datum, sondern gehört selbst notwendig zum Objektbereich dieser Wissenschaft und verändert den Interpretationszusammenhang, in dem
»Erziehung«
sich konstituiert. Die empirisch zu sichernde Feststellung, daß die Chancengleichheit im Bildungswesen nicht verwirklicht ist, ist über|A 16|haupt nur bedeutungsvoll in einer Kommunikationsgemeinschaft, in der ein Interesse an Chancengleichheit mindestens vorkommt. Sonst wäre solche Feststellung nicht interessanter als die, daß es Menschen mit blonden und Menschen mit schwarzen Haaren gibt. Die Feststellung der Chancenungleichheit und die damit zugleich erkennbar werdende Norm der Chancengleichheit bedeuten, daß der Sinn von Erziehung unter anderem darin besteht, im Heranwachsen Voraussetzungen für eine Beteiligung an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen zu schaffen. Das sind dann allerdings keine normativ-emotionalen Steuerungsvorgänge mehr, sondern allenfalls normativ-rationale. Das durch Untersuchungen zur Chancengleichheit erworbene Wissen darf dann kein solches sein, das zur Beherrschung von Menschen verwandt werden kann – so wie das Wissen über die Natur zu ihrer Beherrschung dient –, sondern nur ein Wissen, das die Emanzipation aus den Ungleichheiten fördert. Nicht die erfahrungswissenschaftliche Ermittlung von Daten ist für die Theorie das Primäre, sondern der Kommunikationszusammenhang, in dem Tatsachen sich als bedeutungsvoll konstituieren.
[028:26] Nun ist gerade am Beispiel der Chancengleichheit leicht zu sehen, daß es sich bei der Wahl des einen oder anderen Wissenschaftsverständnisses – empirisch-analytischer oder hermeneutischer Erkenntnisweisen – nicht um die ausschließliche Entscheidung für eine der beiden Alternativen handeln kann. Würde die Erziehungswissenschaft nach der Empfehlung Brezinkas sich nur erfahrungswissenschaftlich verstehen, dann würde sie vermutlich einem Erziehungshandeln Vorschub leisten, das sich am technologischen Erkenntnis-Modell orientiert: Kommunikationsprozesse zwischen Subjekten würden als instrumentelles Handeln des Erzieher-Subjekts am Kind-Objekt interpretiert. Motive des Handelns im Sinne von Intentionen, die dem Bewußtsein des Handelnden verfügbar sind, würden als Ursachen mißverstanden.
»Aber wäre es sinnvoll zu versuchen«
, so schreibt Peter Winch,
»den Einfluß, den Romeos Liebe zu Julia auf sein Verhalten ausübt, in denselben Begriffen zu |A 17|erklären, welche wir etwa auf eine Ratte anwenden, die durch ihre sexuelle Erregung dazu getrieben wird, ein elektrisch geladenes Gitter zu überwinden, um ihren Geschlechtspartner zu erreichen? Beschreibt Shakespeare das nicht viel besser?«
10
|A 170|10P. Winch, Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie, Frankfurt/Main 1966, S. 100.
[028:27] Würde dagegen die Erziehungswissenschaft sich ausschließlich hermeneutisch verstehen, sich in der Analyse von
»Sprach-Spielen«
erschöpfen, in denen das Erziehungshandeln sich orientiert, dann bliebe gerade auch die Abhängigkeit der Sprache von sozialen Gewalten undurchsichtig, ihr ideologischer Charakter ungeklärt, ihre Funktion als Vehikel materieller Interessen verborgen. Die Analyse eines pädagogischen Erfahrungsberichtes, sei er nun von einem der sogenannten pädagogischen Klassiker oder einem Erzieher unserer Tage verfaßt, würde zwar das dort geltende Sprach-Spiel zum Vorschein bringen können, sie würde aber zur Kritik des Textes nur beschränkt fähig sein:
[028:28]
»Sprache als Tradition ist offenbar ihrerseits abhängig von gesellschaftlichen Prozessen, die nicht in normativen Zusammenhängen aufgehen. Sprache ist auch ein Medium von Herrschaft und sozialer Macht. Sie dient der Legitimation von Beziehungen organisierter Gewalt. Soweit die Legitimationen das Gewaltverhältnis, dessen Institutionalisierung sie ermöglichen, nicht aussprechen, soweit dieses in den Legitimationen sich nur ausdrückt, ist Sprache auch ideologisch. Dabei handelt es sich nicht um Täuschungen in einer Sprache, sondern um Täuschungen mit Sprache als solcher. Die hermeneutische Erfahrung, die auf eine solche Abhängigkeit des symbolischen Zusammenhangs von faktischen Verhältnissen stößt, geht in Ideologiekritik über.«
11
|A 170|11J. Habermas, a. a. O., S. 178.
[028:29] Das gilt also nur unter der Voraussetzung, daß den Handelnden ihre Motive wie auch die Sprache, in der sie sie auszudrücken versuchen, nicht durchweg durchsichtig und ihnen deshalb rational nicht voll verfügbar sind. Aber gerade hier kommt das Interesse der Erziehungswissenschaft zum Vorschein: Sie will dazu beitragen, die Durchsichtigkeit, Aufgeklärtheit, Rationalität des Erziehungshandelns zu steigern, um damit zugleich zu ermöglichen, daß die heranwachsende Generation solche Rationalität in sich hervor|A 18|bringt. Man könnte deshalb in vereinfachender Zuspitzung sagen, daß es die Aufgabe der Erziehungswissenschaft sei, undurchsichtig wirkende Motive des pädagogischen Handelns (Ursachen) in rationale Intentionen zu überführen; mit der gleichen Formulierung ließe sich auch die praktische Erziehungsaufgabe benennen.
[028:30]
»Die Menschen haben bis jetzt weder ihre politisch-soziale Geschichte
gemacht
, noch sind ihre sogenannten geistigen Überzeugungen, wie sie in sprachlichen Dokumenten niedergelegt sind, reiner Ausdruck ihrer geistigen
Intentionen
. Alle Resultate ihrer Intentionen sind zugleich Resultate der faktischen Lebensformen, die sie bislang nicht in ihr Selbstverständnis aufnehmen konnten.«
12
|A 170|12
K.-O. Apel, Szientistik, Hermeneutik, Ideologie-Kritik: Entwurf einer Wissenschaftslehre in erkenntnisanthropologischer Sicht, in: Man and World, Jg. 1968, S. 56.
Dieses für die Erziehungswissenschaft entscheidend wichtige Problem, die Transformation von Unbegriffenem in Begriffenes, von nur faktisch Wirkendem in rational Gewolltes, von
»Ursachen«
in
»Motive«
als die Funktion von Erziehungsvorgängen, spielte schon in den Anfängen der deutschen Erziehungswissenschaft eine zentrale Rolle, so besonders in den frühen Arbeiten Theodor Litts. Von der Sozialisationstheorie her ist dieses Problem u. a. auch thematisiert bei H. Gerth / C. W. Mills, Character and Social Structure, New York 1964.
[028:31] Das bedeutet, daß eine empirisch-analytisch verstandene Forschungspraxis unter solchen Voraussetzungen unabdingbar ist. Gerade die Erforschung des
»Naturhaften«
in den beobachtbaren Erziehungsverhältnissen und -vorgängen ist unerläßlich, wenn das hermeneutische Verfahren selbst nicht zur Ideologie werden will.
Denn mit Hilfe solcher Erforschung allein kann ja jenes Unbegriffene, jenes naturhaft Wirkende, das die faktische Verdinglichung des Menschen unter dem Eindruck sozialer Zwänge ist, begriffen und dadurch in rationale Motive überführt werden.
[028:32]
»Ist nun Erziehung trotz ihrer letzten Bindung an das transzendentale Subjekt ein gesellschaftliches Phänomen, so hat Pädagogik als Theorie ihr erkenntnisleitendes Interesse in Mündigkeit und Emanzipation. Solches Sollen, im Primat der Vernunft begründet, setzt das erzieherische Interesse am Subjekt in eins mit dessen gesellschaftlicher Funktion, in dem die Macht der empirischen Gesellschaft überboten ist mit dem Anspruch auf ein menschliches Leben. Eine so verstandene Theorie gewinnt die Maßstäbe der Kritik durch ihr Interesse an der Aufhebung von Verdinglichung und Selbstentfremdung des Menschen.«
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|A 170|13
H. Blankertz, Pädagogische Theorie und empirische Forschung, in: Zur Bedeutung der Empirie für die Pädagogik als Wissenschaft, Neue Folge der Ergänzungshefte zur Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik, Heft 5, hrsgg. von M. Heitger, Bochum 1966, S. 74.
Blankertz schließt hier an eine kritizistische Auffassung von Erziehungswissenschaft an, wie sie gegenwärtig in der Nachfolge Petzelts u. a. in verschiedenen Arbeiten Wolfgang Fischers vertreten wird.
[028:33] Die Erkenntnisprobleme der Erziehungswissenschaft lassen sich daher paradigmatisch am psychotherapeutischen Vorgang demonstrieren. Karl-Otto Apel verwendet dieses Beispiel, um die besondere Situation der Gruppe
»ideologie|A 19|kritischer«
Wissenschaften zu charakterisieren, unter die er alle Sozialwissenschaften rechnet und der wir die Erziehungswissenschaft – darin mit Brezinka einig – hinzuzählen wollen. Im Modell der Psychotherapie nämlich seien, so meint Apel,
14
|A 170|14K.-O. Apel a. a. O., S. 59.
die Momente beider so leicht als Alternative aufgefaßter Erkenntnisweisen vermittelt. Es handelt sich einerseits um eine
»objektiv-distanzierte Verhaltenserklärung«
, in der keine rationale Kommunikation zwischen Subjekten stattfindet, sondern in der es um
»die quasi naturhafte, erklärbare und sogar voraussagbare Wirkungsweise«
von Variabeln geht, die nach dem empirisch-analytischen Wissenschaftsverständnis zu ermitteln sind;
»insofern macht er (der Psychotherapeut) den Patienten zum Objekt«
. Andererseits aber besteht das therapeutische Verfahren gerade darin, daß jener Objektcharakter des Patienten und damit auch der kausale Zwang, dem er unterliegt, wieder aufgehoben wird, indem der Psychotherapeut
»den Sinn der verdrängten Motive versteht und den Patienten kommunikativ provoziert, diese Sinndeutung zu einer Revision seines autobiographischen Selbstverständnisses zu verwenden«
. Das bedeutet: Im hermeneutischen Moment des Erkenntniszusammenhanges wird ein neuer Sinn produziert, die rationalen Möglichkeiten der Kommunikationsgemeinschaft, deren Teil der Patient ist, werden erweitert. Notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung solcher Erweiterung ist die empirische Aufklärung über diejenigen Abhängigkeiten, die die Rationalität des Subjekts verhindern oder erschweren. Die Verwendung von Verfahren, die dem empirisch-analytischen Wissenschaffsbegriff verpflichtet sind, ist deshalb die Bedingung dafür, daß die Erziehungswissenschaft ihren emanzipatorischen Charakter entfalten kann.
[028:35]
»Sie verlangt ein Bezugssystem, das einerseits die symbolische Vermittlung des sozialen Handelns nicht zugunsten eines bloß zeichenkontrollierten und reizstimulierten Verhaltens naturalistisch unterschlägt; das aber andererseits ebensowenig einem Idealismus der Sprachlichkeit verfällt und gesellschaftliche Prozesse ganz zu kultureller Überlieferung sublimiert.«
15
|A 170|15J. Habermas, a. a. O., S. 179.
|A 20|
[028:36] Verarbeitung sensorischer Daten und Diskussion kommunikativer Erfahrung gehören also für die Erziehungswissenschaft untrennbar zusammen. Welche Daten für das Verständnis von Erziehungsphänomenen relevant sind, sagen diese Daten nicht selbst, sondern es ergibt sich aus jener kommunikativen Erfahrung, in der Bedeutungen, das heißt also auch Bedeutsames und Nicht-Bedeutsames, formuliert werden. Nicht das Experiment sollte deshalb als der Prototyp erziehungswissenschaftlicher Forschung gelten, sondern die teilnehmende oder besser: die beteiligte Beobachtung. In dieser nämlich, wenn man sie – in Abweichung von dem entsprechenden Terminus der empirischen Sozialforschung – als eine Art
»Rahmenverfahren«
versteht, werden empirisch ermittelte Daten beständig mit dem Kommunikationszusammenhang verknüpft, in dem sie für die Subjekte dieses Zusammenhangs ihre Bedeutung haben.
[028:37] Aber auch auf das Experiment kann hier nicht verzichtet werden, und zwar sowohl in seiner empirisch-analytischen wie in seiner gesellschaftlich-praktischen Form. Die
»Kommunikationsgemeinschaft«
ist nicht nur der Interaktionszusammenhang derer, die sich über vorgängige Orientierungen im Handeln verständigen, sondern der Möglichkeit nach zugleich auch eine Experimentiergemeinschaft, in der neue Sinnzusammenhänge entworfen, neue Handlungsorientierungen erprobt werden. Theorie und Praxis folgen hier dem gleichen Zweck: die Befreiung von unbegriffenen Abhängigkeiten voranzutreiben. Diese praktische Experimentiergemeinschaft versucht gegenwärtig ein Teil der jungen Generation in Schulen, Hochschulen, anderen Institutionen und eigens dafür geschaffenen neuen Kommunikationsfeldern wenigstens teilweise zu realisieren. Das ist der nicht nur pädagogische Sinn der Unruhe. Es wäre eine dem rationalen Zweck der Wissenschaft gewiß nicht entsprechende Haltung, wenn durch die Verweigerung der Mittel oder gar durch die Verweigerung der Kommunikation mit diesen Gruppen solche Experimente mit neuen Formen der Beteiligung, neuen Rollen, neuen Prozessen der Aneignung, |A 21|des Handelns, des pädagogischen Kommunizierens verhindert würden. Gerade das nämlich würde dann bestätigen, was durch eine der Emanzipation verpflichtete Erziehungswissenschaft aufgehoben werden sollte: die Reproduktion der Entfremdung schon im Erziehungsprozeß.
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Funktionalität und Disfunktionalität der Erziehung

»Autonome«
Pädagogik

[028:38] Das dominante Thema der deutschen Pädagogik, besonders in ihrer geisteswissenschaftlichen Version, war jahrzehntelang der Versuch, ihre Autonomie zu begründen und zu sichern. Dieser Versuch sollte zwei Funktionen erfüllen. Im Hinblick auf die pädagogische Praxis bedeutete das Autonomie-Postulat, daß die Erziehungsarbeit von den Weltanschauungen und gesellschaftspolitischen Interessen ferngehalten werde und daß die pädagogischen Institutionen, vom politischen und konfessionellen Streit unbeeinträchtigt, den reinen Sacherfordernissen der pädagogischen Aufgabe nachgehen könnten. Die Idee des
»Erziehungsstaates«
und der
»pädagogischen Provinz«
sind dem Autonomie-Postulat adäquat. Andererseits aber sollte der Versuch auch eine theoretische Funktion haben. Er sollte der Pädagogik eine wissenschaftliche Basis sichern, um sie damit über den Status einer Kunstlehre zu erheben und sie zugleich aus der Abhängigkeit anderer wissenschaftlicher Systeme zu befreien. Nachdem Dilthey in seiner Abhandlung
»Über die Möglichkeit einer allgemeingültigen pädagogischen Wissenschaft«
das Thema angeschlagen hatte, wurde es von Frischeisen-Köhler und Litt, von Spranger und Nohl, von Weniger und W. Flitner in immer neuen Versionen aufgenommen und variiert. Nohl hat diese Intentionen und ihr Ergebnis 1933 zusammengefaßt:
[028:39]
»Stand die Pädagogik bis dahin im Dienst objektiver Aufgaben, wo das Individuum nur der an sich unwesentliche Träger solcher objektiven Ziele war, wie Staat, Kirche, Wissenschaft, Stand und |A 23|Beruf, so nahm sie jetzt zum ersten Mal mit vollem Bewußtsein der Tragweite einen radikalen Wechsel des Blickpunktes vor und stellte sich in das Individuum und sein subjektives Leben. War bis dahin das Kind das willenlose Geschöpf, das sich der ältern Generation und ihren Zwecken anzupassen hatte und dem die objektiven Formen eingeprägt wurden, so wird es jetzt in seinem eigenen spontanen produktiven Leben gesehen, hat seinen Zweck in ihm selber, und der Pädagoge muß seine Aufgabe, ehe er sie im Namen der objektiven Ziele nimmt, im Namen des Kindes verstehen. In dieser eigentümlichen Umdrehung ... liegt das Geheimnis des pädagogischen Verhaltens und sein eigenstes Ethos.«
1
|A 170|1H. Nohl, Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie, Frankfurt/Main ³1949, S. 126 f.
[028:40] Es soll hier nicht geprüft werden, ob solche Formulierungen den Kriterien der Wissenschaftslogik zu genügen vermögen und damit in der Tat das zu leisten imstande sind, was sie intendieren: die Begründung der Autonomie der Pädagogik als Wissenschaft. Hier interessieren die Folgen solcher Position.
[028:41] In dieser Subjektivität des zu erziehenden Subjekts – das sich mit Hilfe des Erziehers und der zu sogenannten Bildungsgütern geschrumpften und instrumentalisierten Inhalte der gesellschaftlich-geschichtlichen Gegenwart nach den Prinzipien seines eigenen Telos bildet – glaubte die geisteswissenschaftliche Pädagogik denjenigen Punkt gefunden zu haben, von dem her Autonomie theoretisch und praktisch möglich sein soll: theoretisch als Emanzipation von metaphysischen und geschichtlich relativierbaren Systemen, praktisch als Emanzipation von den geschichtlich-konkreten Herrschaftsansprüchen politischer Gegenwart. Durch Interpretationen der historischen Dokumente pädagogischen Denkens wurde diese Vorstellung angereichert und in einem Zirkelschluß scheinbar legitimiert: Die Interpretationen waren darauf aus, in den pädagogischen Schriften von Comenius bis zu Gaudig jenes Wesen des erzieherischen Verhaltens auszumachen – als einen Grundgedanken, der schon immer vorhanden gewesen sei, sich aber erst in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik zum Begriff entwickelt habe. Geschichte wurde denaturiert zum Steinbruch theoretischer Rechtfertigungen.
|A 24|
[028:42] Der vom Problem der wissenschaftlichen Dignität dieses Verfahrens unabhängige Gedanke, der dieses Bemühen leitete, war praktisch: Die Erziehung sollte dem funktionalen Zusammenhang gesellschaftlicher Bedingungen nicht länger kritiklos ausgeliefert, der Erzieher nicht länger Erfüllungsgehilfe partikularer gesellschaftlicher Interessen, die junge Generation nicht länger Rekrutierungsreservoir im Dienste gerade herrschender Gruppen und Klassen sein. Dilthey, der sonst von dieser pädagogischen Theorie auf weiten Strecken in Anspruch genommen wurde, sollte mit seinem Satz, die Erziehung sei eine Funktion der Gesellschaft, nicht mehr recht haben. Und in der Tat: Dieser Satz ist problematisch, sofern die darin angesprochene Funktionalität der Erziehung nicht genauer expliziert ist.
[028:43] Indessen: Es war keine genaue Interpretation, zu sagen, die praktische Absicht jenes Gedankens habe sich kritisch gegen gesellschaftliche Bedingungen, Interessen und Herrschaftsansprüche gerichtet. Eine solche Kritik, deren begründende Voraussetzung ja eine detaillierte Analyse der gesellschaftlichen Implikation des Erziehungssystems hätte sein müssen, lag nicht im wissenschaftlichen Interesse Litts, Nohls, Sprangers, Flitners und Wenigers. Mehr noch: Die Tatsache, daß Erziehungsprozesse bis hin zu dem im Begriff des
»Pädagogischen Bezuges«
von Nohl theoretisch vergegenwärtigten Grundverhältnis gesellschaftlich vermittelt sind, wurde überhaupt nicht zum Gegenstand der Reflexion. Vielmehr wurde Erziehung in einem vorgesellschaftlichen, herrschaftsfreien, unpolitischen Raum angesiedelt, in dem das Kind zu
»seinem Wohle«
kommen könnte, wenn nur der Erzieher sich entschlösse, das
»Wesen des erzieherischen Verhaltens«
(Nohl) zu realisieren: eine idealistische Konzeption des guten Willens und der reinen pädagogischen Gesinnung. Bei aller konkreten Stellungnahme zu Fragen der Erziehungspraxis und Bildungspolitik, hat sich diese pädagogische Theorie doch mit der empirischen Realität nur soweit eingelassen, wie sie dem dekretierten
»Wesen des erzieherischen Verhaltens«
entsprechen konnte. An ihm wurde die Praxis gemessen, es war der Punkt, von |A 25|dem her kritisches Urteil möglich schien. Mindestens aber waren pädagogische Werturteile möglich, die zudem den Anspruch auf wissenschaftliche Legitimität erhoben.
[028:44] Wie jede pädagogische Theorie wenigstens mit Minimal-Vorstellungen über den Zusammenhang sozialer Phänomene operieren muß, so auch diese: Die Entfaltung eines Zusammenhangs pädagogischer Sätze ist zugleich die Entfaltung eines Gesellschaftsbildes. Die Kriterien pädagogischer Wertung sind damit zugleich solche, die einem bestimmten Verständnis von Gesellschaft zugehören. Und da ergibt sich nun ein eigentümliches Bild. Aus dem dialogischen Mikrokosmos von Erzieher und Zögling, der
»Erziehungsgemeinschaft«
, entfaltet sich das Ganze der Erziehungswirklichkeit als ein Zusammenhang, der dem organologischen Modell prästabilisierter Sozialharmonie ähnlicher ist als der sozialen Realität industrieller Gesellschaften. So heißt es bei Wilhelm Flitner:
»Das Erzieherische läßt sich bestimmen als der Inbegriff des Geschehens und Tuns, das aus dem Regenerationsstreben der geschichtlichen Gebilde und dem geistigen Eingliederungsstreben des natürlich aufwachsenden Individuums hervorgeht«
2
|A 170|2W. Flitner, Allgemeine Pädagogik Stuttgart ²1950, S. 35.
. Es ist die Rede
»von der Sicherheit, mit der jede gesellschaftliche Form und der Geist jeder Gemeinschaft auf den Nachwuchs weitergeleitet wird«
3
|A 170|3A. a. O., S. 36.
; es ist weiter die Rede davon, daß dieses pädagogische Problem nicht nur die junge Generation betreffe; ebenso nämlich könne man
»eine neue soziale Schicht, wie die Industriearbeiterschaft als eine Art neu entstandene soziale Gruppe inmitten einer altertümlichen Kultur ansehen, da das, die beiderseitige Angliederung, auch pädagogisch bedacht sein will«
4
|A 171|4
A. a. O., S. 37.
. Es entspricht diesem idyllischen Anblick der Erziehungs- und Sozialgeschichte, wenn es an anderer Stelle heißt: Der gesittete, also erzogene Mensch
»versteht die Arbeitswelt als etwas Sinnvolles, das ihm von hohem Wert ist. Er dient mit seinem Werk, er gestaltet etwas Bedeutsames, Nützliches oder Schönes, er objektiviert seinen tätigen Geist und teilt sich durch sein Werk anderen mit«
5
|A 171|5A. a. O., S. 42.
. Solche Formulierung, da sie das Maß gelungener Erziehung andeuten will, schließt mindestens die |A 26|Industriearbeiterschaft aus dem Horizont pädagogischer Theorie aus. Aber nicht das ist hier entscheidend, sondern die korrespondierende Tatsache, daß in der Pädagogik eine Vorstellung manifest wird, in der die Erziehungsphänomene und ihre gesellschaftlichen Bedingungen nach dem Vorbild konfliktfreier intimer Sozialkontakte konstruiert werden. (Es entspricht diesem nicht nur falschen, sondern auch ideologischen Konzept, daß – im Unterschied zu anderen Sozialwissenschaften und den erziehungswissenschaftlichen Arbeiten der angelsächsischen Länder – Marx und Freud mit wenigen Ausnahmen nie nennenswert im Zusammenhang der pädagogischen Theorie rezipiert wurden, vor allem aber, daß diese Pädagogik sich strikt geweigert hat, die wissenschaftliche Empirie als notwendige Prüfinstanz ihrer Sätze in sich aufzunehmen.)
[028:45] Auf der Suche nach den Ursachen dieser Entwicklung trifft man auf ein Kernproblem pädagogischer bzw. erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung. Den pädagogischen Autonomie-Tendenzen liegt ein Thema zugrunde, das in seiner neuzeitlichen Fassung seit Rousseau kaum einer pädagogischen Theorie völlig fremd gewesen ist: die Annahme, daß Erziehungs- bzw. Bildungsvorgänge nicht zureichend zu beschreiben sind, wenn man sie lediglich als einen Typus von Überlieferungen versteht, so als erschöpfe sich das pädagogische Problem in der Frage, auf welche Weise sich eine gegebene Gesellschaft in ihrem Nachwuchs wirkungsvoll reproduziere. Rousseau stellte die Frage so: Was muß pädagogisch geschehen, damit die gegebene Gesellschaft nicht so bleibt wie sie ist, oder daß doch wenigstens die Veränderung der Gesellschaft durch die stattfindende Erziehung nicht erschwert oder verhindert wird? Schleiermacher, etwas zurückahltender, formulierte es ähnlich: Wie ist der Erziehungsprozeß einzurichten, damit die junge Generation
»tüchtig werde einzutreten in das, was sie vorfindet, aber auch tüchtig in die sich darbietenden Verbesserungen mit Kraft einzugehen«
6
|A 171|6F. D. Schleiermacher , Pädagogische Schriften, hrsgg. von E. Weniger, Bd. 1, Düsseldorf/München 1957, S. 31.
? Und Condorcet legte 1762 der französischen Nationalversammlung einen Entwurf zur Neuorganisation des Unterrichtswesens vor, der so beginnt:
|A 27|
[028:46]
»Meine Herren, allen Angehörigen des Menschengeschlechts die Mittel zugänglich zu machen, daß sie für ihre Bedürfnisse sorgen, ihr Wohlergehen sichern, ihre Rechte erkennen und ausüben, ihre Pflichten begreifen und erfüllen können; [028:47] jedem die Möglichkeit zu sichern, seine berufliche Geschicklichkeit zu vervollkommnen, sich für gesellschaftliche Funktionen vorzubereiten, zu denen berufen zu werden er berechtigt ist, den ganzen Umfang seiner Talente, die er von der Natur empfangen hat, zu entfalten und dadurch unter den Bürgern eine tatsächliche Gleichheit herzustellen und die politische Gleichheit, die das Gesetz als berechtigt anerkannt hat, zu einer wirklichen zu machen: [028:48] das muß das erste Ziel eines nationalen Unterrichtswesens sein; und unter diesem Gesichtspunkt ist es für die öffentliche Gewalt ein Gebot der Gerechtigkeit.«
7
|A 171|7Condorcet, Bericht und Entwurf einer Verordnung über die allgemeine Organisation des öffentlichen Schulwesens, Weinheim 1966, S. 20.
[028:49] Damit gewinnt der Erziehungsbegriff die emanzipatorische Dimension hinzu. Die praktischen Erziehungsprobleme sind demnach nicht mehr auf dem Niveau gegebener sozialer Bedingungen allein zu formulieren, sondern unter dem Anspruch fortschreitender Demokratisierung immer auch gegen dieses Niveau. Mit anderen Worten: Ein derart emanzipatorischer Begriff von Erziehung ist nicht mehr funktional, sondern im Sinne des gegebenen sozialen Systems disfunktional. Er markiert einen gesellschaftlichen Konflikt.
[028:50] Es ist kein Zufall, daß der Begriff des Konfliktes in pädagogischen Theorien bis heute keine nennenswerte Rolle spielt. Dazu wäre nötig gewesen, den gesellschaftlichen Charakter von Erziehung grundlegend in die Reflexion mit aufzunehmen. Die autonome geisteswissenschaftliche Pädagogik wählte zwar den emanzipatorischen Ausgangspunkt als Motiv, zog aber eine andere Konsequenz. Sie verharmloste und entpolitisierte das Konflikt-Problem durch jene Konstruktion einer pädagogischen Gegenwelt, die sich zwar kritisch gegen das Gegebene richtete, aber – der Preis der schlechten Utopie – gesellschaftlich nichts ausrichten konnte. Diese Gegenwelt war von Konflikten gereinigt, sie hatte – wie ich mit den wenigen Zitaten andeuten wollte – nichts mehr von den tatsächlichen Gegensätzen der Erziehungswirklichkeit, sie war, der Empirie entrückt, die Kon|A 28|struktion eines neuen funktionalen Systems, ja – und das ist die ironische Pointe – sie war oder ist noch die pädagogische Umformulierung des mittelständischen Kulturbegriffs.8
|A 171|8Vgl. dazu H. Marcuse, Über den affirmativen Charakter der Kultur, in: H. Marcuse, Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt/Main 1965, S. 56 ff. Diese ideologische Figur setzt sich bis in die Gesellschaftsvorstellungen der Gegenwart bei Schülern, Studenten und Lehrern hinein fort in der vortheoretischen Meinung, daß Konflikte nicht das notwendige Medium der Politik seien, daß sie den gesellschaftlichen Verhältnissen wie z. B. der Arbeits- und Erziehungswelt nicht strukturell zugehörten, sondern als
»egoistische«
Abweichungen vom Wahren zu gelten hätten (dazu u. a. J. Habermas / L. v. Friedeburg / Chr. Oehler / Weltz, Student und Politik, Neuwied 1961; Zur Wirksamkeit politischer Bildung, Teil I, Eine soziologische Analyse der Sozialkundeunterrichts an Volks-, Mittel- und Berufsschulen, hrsgg. vom Institut für Sozialforschung an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, Frankfurt/Main 1966; V. Nitzschke, Zur Wirksamkeit politischer Bildung, Teil II, Schulbuch-Analyse, Frankfurt/Main 1966; L. v. Friedeburg / P. Hübner, Das Geschichtsbild der Jugend, München 1964). Die These, daß Pädagogik und Schule – offenbar nicht nur in Deutschland – von jenem mittelständischen Kulturbegriff geprägt seien, hat neuerdings sogar im absurdem Theater, in J. Saunders Stück
»Der Schulmeister«
, prägnante Darstellung gefunden.

Werte und Konflikte

[028:51] Die Frage nach der Funktionalität oder Disfunktionalität der Erziehung ist indessen weit über diesen Zusammenhang geisteswissenschaftlich-pädagogischer Theorie-Bildung hinaus interessant. Sie ist eine Frage nach den begrifflichen Standards sozialwissenschaftlicher Theorien, die bis in die Prozesse der empirischen Forschung hinein bedeutungsvoll sind. Das zeigt sich in der Diskussion, die durch die strukturell-funktionale Soziologie, insbesondere durch deren bedeutendsten Vertreter, Talcott Parsons, ausgelöst wurde. Zum Verständnis mag hier der Hinweis genügen, daß der Ausdruck
»Struktur«
im Rahmen dieser Theorie den statischen, der Ausdruck
»Funktion«
den prozessualen Aspekt sozialer Phänomene meint. In diesem Sinne bezeichnet Parsons alle Prozesse als
»funktional«
, die der Stabilität des sozialen Systems dienen.
»Ein Prozeß oder Komplex von Bedingungen
trägt bei
zur Erhaltung (oder Entwicklung) des Systems oder ist
disfunktional
, indem er der Integration oder Effektivität des Systems entgegenwirkt.«
9
|A 171|9T. Parsons, The Present Position and Prospects of Systematic Theory in Sociology, in: G. Gurvitsch and W. E. Moore (Eds.), Twentieth Century Sociology, New York 1945, S. 48.
Das Problem, das Parsons lösen möchte, ließe sich in der Frage formulieren: Wie ist es möglich, daß im sozialen Dasein überhaupt Stabilität ist; das heißt, an welchen Daten entscheidet sich, ob ein gegebenes Phänomen als funktional zu bestimmen ist? Parsons antwortet, daß der Garant der Stabilität in einem gemeinsamen Wertsystem zu suchen sei.
»Treffe ich in der Analyse auf disfunktionale Phänomene oder Prozesse, dann erscheinen sie als Störfaktoren, als etwas, das das analysierte soziale Gebilde eigentlich auszuscheiden habe.«
10
|A 171|10Vgl. R. Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit. Zur soziologischen Analyse der Gegenwart, München 1961, S. 49 ff.
[028:52] Der Pädagogik sind solche Vorstellungen nicht fremd. Auch bei ihr handelt es sich in der Regel um eine Verfahrens|A 29|weise, die zunächst einen sozial-normativen Bezugsrahmen voraussetzt, um dann, in einem zweiten Schritt, die funktionalen Elemente und Prozesse hervorzuheben. In dem zitierten geisteswissenschaftlichen Typus pädagogischer Forschung wird gar der Versuch unternommen, einen solchen Bezugsrahmen eigenständig im Sinne eines autonomen und in sich harmonischen gesellschaftlichen Teilystems zu konstruieren. In anderen Fällen spielen die abendländische Erziehungstradition, die Erziehungsgemeinschaft, die Gruppe, die Schule eine solche Rolle. Immer handelt es sich dabei um Modell-Vorstellungen, denen zweierlei gemeinsam ist: die Meinung, daß Gesellschaften durch Übereinstimmung der Werte zusammengehalten werden, und die Meinung, daß Konflikte als disfunktional, als Störungen des Gleichgewichts zu betrachten seien. Die Analyse von Konflikten bekommt damit die Funktion eines wissenschaftlichen Hinweises auf Sachverhalte, die es abzuschaffen oder einzudämmmen gilt. Solche Charakterisierung trifft nicht nur das geisteswissenschaftlich-hermeneutische, sondern es kann ebenso das neuerdings immer mehr an Bedeutung gewinnende empirisch-analytische Verfahren treffen. Forschungspraktisch folgt daraus, daß die nach Maßgabe des Bezugsrahmens als funktional erscheinenden Gegenstände vornehmlich zum Gegenstand der Forschung werden. Disfunktionale Phänomene werden nicht ausdrücklich oder nur unter dem Gesichtspunkt ihres Störcharakters thematisiert. Indessen hat es den Anschein, als könne die Pädagogik, wenn sie sich als Erfahrungswissenschaft und nicht als normative Disziplin versteht, gar nicht anders als den geschilderten Gesichtspunkt wählen. Es scheint, als seien – der Absicht der autonomen Pädagogik entgegen – alle Erziehungsprozesse bezogen auf den im gegebenen sozialen System definierten Status des Erwachsenen. Die Leistungsfähigkeit der Schule wird gemessen an ihrer Fähigkeit, den gesellschaftlich notwendigen Nachwuchsbedarf zu produzieren, die Bildungsanstrengungen des Gymnasiums daran, wieweit die Abiturienten für ein wissenschaftliches Studium vorbereitet werden, die einzelnen Schüler daran, wieweit sie den der |A 30|Schule immanenten Ansprüchen genügen. Die funktionale Verschränkung geht bis in die Begriffe: Leistung, Reife, Verantwortlichkeit ebenso wie Gemeinschaft, Gruppe, Schulklasse, Beruf sind Markierungen, die auf die funktionale Verknüpfung des Erziehungssystems mit dem übergeordneten System hinweisen. Eine Erziehungswissenschaft, die sich in dieser Weise orientiert und ihr Forschungsinteresse entsprechend zur Geltung bringt, dient ohne Zweifel dem gegebenen sozialen Funktionszusammenhang.
[028:53] Das pädagogische Denken aber hat genau diesen Sachverhalt seit Rousseau mit Recht als unbefriedigend empfunden, ohne jedoch das Problem als ein wissenschaftliches befriedigend zu lösen. Dabei hätte die Bestimmung der pädagogischen Autonomie, wäre der
disfunktionale
Charakter dieser Bestimmung nur hinreichend reflektiert worden, durchaus einen Ansatz zur Lösung abgeben können. Denn der bei Rousseau, Condorcet und Schleiermacher formulierte und von der deutschen Pädagogik nach dem Ersten Weltkrieg wiederaufgenommene Grundtatbestand ist der gleiche, der auch von den modernen sozialwissenschaftlichen Kritikern gegen die strukturell-funktionale Theorie ins Feld geführt wird: Prozesse des gesellschaftlichen Wandels in einem sich demokratisch interpretierenden Gemeinwesen.
[028:54] C. Wright Mills hat vor allem in ideologiekritischer Absicht die Annahme zurückgewiesen, daß soziale Systeme von gemeinsamen Wertorientierungen zusammengehalten werden und infolgedessen auch pädagogische Prozesse nach ihrem funktionalen Verhältnis zu solchen Werten zu beurteilen seien.
»Die
Werte
einer Gesellschaft sind, so wichtig sie auch in der privaten Sphäre des Individuums sein mögen, historisch und soziologisch irrelevant, sofern sie nicht die Institutionen rechtfertigen und die Menschen zum institutionellen Handeln veranlassen.«
11
|A 171|11C. W. Mills, The Sociological Imagination, New York 1959,
deutsch: Kritik der soziologischen Denkweise, Neuwied 1963, S. 79 f.
Vgl. dazu auch Fr. Fürstenberg,
»Sozialstruktur«
als Schlüsselbegriff der Gesellschaftsanalyse, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 1966, S. 439 ff.
Wertorientiertes Verhalten ist ohne Zweifel häufig, ebenso wie wertorientierte Motivierung im Erziehungszusammenhang. Das rechtfertigt jedoch nicht, diesen Sachverhalt zur Basis der Theorie zu machen. Ähnlich lautet der Einwand Dahren|A 31|dorfs:
»Daß Gesellschaften durch eine Art Übereinstimmung der Werte zusammengehalten werden, scheint mir entweder eine Definition von Gesellschaften oder eine Aussage, der empirische Zeugnisse klar widersprechen.«
12
|A 171|12
R. Dahrendorf, a. a. O., S. 93
; ferner W. J. Goode, Mobilität und Revolution, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 1966, S. 227 ff.
Also nicht, daß es Erziehungssysteme gebe, die mit Hilfe des funktionalen Modells befriedigend beschrieben und analysiert werden können, wird bestritten, sondern daß das Modell zur Analyse des gegenwärtigen Erziehungssystems taugt. Ebensowenig wird bestritten, daß Forschungen unter funktionalem Gesichtspunkt sinnvolle Ergebnisse zeitigen und dem Erkenntnisfortschritt dienen; behauptet wird nur, daß die Erziehungswissenschaft, wenn sie sich ausschließlich dieses Aspektes bedient, notwendig ideologisch wird. Um die Probleme der Erziehungswissenschaft zu lösen, um die praktischen Fragen, die im Zusammenhang unseres Erziehungswesens entstehen, angemessen zu formulieren, ist es nötig,
»ein Modell der Gesellschaft vorauszusetzen, in dem Konflikt ... als Regel postuliert und die Position der Einzelphänomene nicht nur im Bezug auf das System, sondern auch in dem auf den umfassenden Prozeß der geschichtlichen Entwicklung bestimmt wird. Gemäß diesem Modell sind nicht Konflikt und Wandel, sondern Stabilität und Ordnung der pathologische Sonderfall des Lebens.«
13
|A 172|13R. Dahrendorf, a. a. O., S. 81.
Es verbietet sich deshalb ein erziehungstheoretischer Ansatz, in dem die von Konflikten durchsetzte gesellschaftliche Realität zu pädagogischen Zwecken auf Stabilität und Ordnung hin stilisiert wird. Auch in den pädagogischen Gebilden reproduzieren sich die sozialen Konflikte. Eine realistische Erziehungswissenschaft wird sie in den Horizont ihrer Interessen mit aufnehmen müssen. Sie wird es gerade deshalb tun müssen, weil die pädagogischen Institutionen, die Familie, die Schulen, Heime, Gruppen, Betriebe dazu neigen – unter häufiger Berufung auf pädagogische Verantwortung –, Konflikte als disfunktional, als unpädagogisch auszuscheiden, zu unterdrücken oder nicht zur Kenntnis zu nehmen. In einer Gesellschaft, die sich nicht nur durch Konfliktreichtum auszeichnet, sondern vor allem dadurch, daß sie die Konflikte rational zu regeln sucht, kann deshalb |A 32|die Erziehungswissenschaft nicht darauf verzichten, den Konfliktcharakter der pädagogischen Felder und Institutionen zu analysieren.

Disfunktionale Momente der Erziehungswirklichkeit

[028:55] Die empirische Erforschung der Erziehungswirklichkeit hat schon seit längerer Zeit auf solche Phänomene aufmerksam machen können. Immer ausdrücklicher wendet man sich den Disfunktionen innerhalb des Erziehungswesens zu, weil es sich hier in der Tat um ein Grundproblem der Erziehungs- und Bildungsprozesse zu handeln scheint. Im Vordergrund steht dabei vorerst die Frage, ob und in welcher Weise unsere Erziehungspraktiken und die Organisation des Bildungswesens geeignet sind, den bestehenden Schichtenaufbau unserer Gesellschaft zu stabilisieren und seine Veränderung zu verhindern, jedenfalls soweit er sich in den Bildungsprozessen reproduziert – also die Frage Condorcets, welche Konsequenzen sich aus dem Demokratisierungspostulat für die Pädagogik ergeben.
[028:56] Bis vor wenigen Jahren noch ist man in der deutschen Pädagogik der Meinung gewesen, daß eine Bildungstheorie möglich sei, die sich auf die allgemeine Bildung für alle beziehen könne und die nicht nur prinzipiell denkbar sei, sondern der Realität unserer Schulen entspreche. Ungleichmäßigkeiten im Begabungsniveau und in der Lernfähigkeit wurden als individuelle Faktoren interpretiert, denen indessen mit geeigneten unterrichtsmethodischen Praktiken beizukommen sei. Disfunktionen wurden auf den Begriff des
»schlechten Schülers«
gebracht, wobei man gerne zugab, daß die schwachen schulischen Leistungen ihre Ursache auch in sozialen Faktoren haben könnten, etwa in ungünstigen Familienverhältnissen, die dann ebenfalls in der Rolle disfunktionaler Störfaktoren erschienen.14
|A 172|14Wie verbreitet solche ideologische Abwehr von nicht harmonistischen Sozialvorstellungen innerhalb der Schulpraxis ist, zeigt neuerdings auch die Untersuchung von E. Höhn, Der schlechte Schüler, München 1967.
Das heißt, das Bildungssystem im Ganzen wurde als funktionales Bezugssystem akzeptiert; die Entdeckung von Disfunktionen veranlaßte – des vorausgesetzten theoretischen Modells wegen |A 33|– nicht dazu, das System in Frage zu stellen, es sei denn in der Form innerer Verbesserungen.
[028:57] Nach neueren Untersuchungen nun werden die dort gemachten Voraussetzungen problematisch. Die beobachteten Disfunktionen lassen sich nämlich als Merkmale kollektiven Bildungsschicksals interpretieren. So hat sich z. B. bei Untersuchungen des kindlichen Sprachniveaus gezeigt, daß es schichtenspezifische Sprachformen gibt, die die schulische Leistungsfähigkeit, also auch das, was wir mit dem Ausdruck
»Begabung«
sinnvoll bezeichnen können, sehr weitgehend bedingen. Andererseits ist kein Zweifel daran, daß unsere Höhere Schule eine Sprachschule insofern ist, als sie ihre Aufgabe vorwiegend in den sprachlichen Fächern betreibt. Konsequenterweise scheitern die meisten Unterschichten-Kinder in eben diesen Fächern. Die Sprachform, deren sich die Lehrerschaft bedient, ist nämlich durchweg die der Mittelschicht.15
|A 172|15B. Bernstein, Social Structure, Language and Learning, in: J. I. Roberts (Ed.), School Children in the Urban Slum, New York 1967; P. M. Roeder / A. Padzierny / W. Wolf, Sozialstatus und Schulerfolg. Bericht über empirische Untersuchungen, Heidelberg 1965; H. G. Rolff, Sozialisation und Auslese durch die Schule, Heidelberg 1967.
Natürlich kann man auch diese Phänomene disfunktional nennen, müßte das aber in einem anderen Sinne tun, denn diese Phänomene sind nicht eigentlich störende Abweichungen, sondern resultieren aus dem sozialen System selbst. Betrachten wir nämlich die Schule als eine Stätte, an der sich der gegenwärtige Schichtenaufbau zu reproduzieren hätte, wären diese Phänomene funktional zu nennen. Mit anderen Worten: Sie indizieren eine durch soziale Ungleichheit bestimmte Konfliktsituation, die für unsere Gesellschaft strukturell ist.
[028:58] Ein zweites Beispiel: Die Erziehungstheorie ist bisher auch insofern allgemein gewesen, als sie davon ausging, daß gleiches Erziehungsverhalten mindestens ähnliche Wirkungen bei allen zu Erziehenden habe. Abweichungen wurden in der Regel auch hier auf individuelle Faktoren zurückgeführt (das lag natürlich nicht nur an dem funktionalistischen Ansatz, sondern weitgehend an dem Mangel jeder Empirie). Auch diese Faktoren scheinen schichtenspezifisch zu sein, und zwar in zweierlei Sinn. Bronfenbrenner hat in der amerikanischen Familienforschung der letzten zwei Jahrzehnte gravierende Unterschiede in der Erziehungspraxis der Mittel- und Unterschicht festgestellt. In einigen |A 34|Untersuchungen hat er die Ergebnisse neuerlich überprüft und die Aussagen im Hinblick auf Unterschiede in der schulischen Leistungsmotivation, der Unabhängigkeit und der Initiative bestätigt gefunden, allerdings mit einer Tendenz in Richtung auf Verringerung der Kluft in der Erziehungspraxis beiden Schichten. Das zweite Ergebnis aber ist, daß die Angleichung der Erziehungspraktiken keine gleichsinnige Angleichung der Erziehungsresultate zur Folge hat.16
|A 172|16U. Bronfenbrenner, Socialization and Social Class through Time and Space, in: Maccoby u. a. (Ed.), Readings in Social Psychology, New York 1958; ders.,Toward a Theoretical Model for the Analysis of Parent – Child Relationships in a Social Context, in: J. C. Glidewell u. a. (Ed.), Parental Attitudes and Child Behavior, Springfield/III. 1961.
Offenbar sind die für die soziale Schicht je charakteristischen sozio-ökonomischen Bedingungen, das heißt also die Bedingungen eines sozialen Subsystems, von größter Bedeutung für die Probleme der Erziehung. Offenbar können wir also nicht davon ausgehen, daß sich Erziehungswissenschaft sinnvoll mit der Annahme eines funktionalen, von durchgehend gleich wirksamen Werten geordneten Bezugssystems betreiben läßt.
[028:59] Noch differenzierter wird das Problemfeld, wenn man folgende Untersuchungsergebnisse zur Kenntnis nimmt: Die abhängigsten und zuverlässigsten, zugleich aber stark leistungsmotivierten Heranwachsenden stammen aus Familienverhältnissen, in denen ein partnerschaftliches Ehe-Verhältnis vorherrscht; dieser Typus des Ehe-Verhaltens wiederum ist am häufigsten in den bürokratischen Berufsgruppen. Das heißt: Der im Sinne eines landläufigen Begriffs von demokratischem Verhalten funktionale Ehe- und Familientyp bewirkt als Erziehungsergebnis gerade disfunktionale Verhaltensmerkmale; jedenfalls sofern man davon ausgehen kann, daß Abhängigkeit kein Verhalten ist, das sich in Richtung auf Demokratisierung förderlich auswirkt. Oder:
»Die Aussicht auf eine Gesellschaft, in der Methoden der Kinderführung darauf ausgerichtet sind, das Leistungsstreben zu maximieren, ist keinesfalls nur angenehm.«
Solche Kinder sind nämlich häufig auch
»aggressiver, angespannter, herrschsüchtiger und grausamer.«
17
|A 172|17U. Bronfenbrenner, Wandel der amerikanischen Kindererziehung, in: L. v. Friedeburg (Hrsg.), Jugend in der modernen Gesellschaft, Köln/Berlin 1965, S. 331.
[028:60] Es gäbe noch viele Beispiele aus der jüngsten Forschung, besonders der Gruppenpädagogik, der Bezugsgruppenforschung, der Jugendforschung, der Bildungsökonomie, die die Unbrauchbarkeit des funktionalistischen Ansatzes er|A 35|weisen können; das gilt freilich nicht durchweg. Nach wie vor bietet dieser Ansatz wie kein anderer eine Möglichkeit erziehungswissenschaftlicher Analyse, dort nämlich, wo es sich um Lern- und Erziehungsprozesse in sozialen Feldern handelt, die durch Werte und Normen für alle Beteiligten eindeutig und verbindlich bestimmt sind. Die erziehungswissenschaftlich vorwiegend interessanten Probleme scheinen in solchen Feldern indessen nicht zu entstehen.
[028:61] Wir können also für die Analyse der Erziehungsgeschehens weder die Gesellschaft als einen vorgegebenen Bezugsrahmen annehmen, der von den heranwachsenden Individuen
»durch mehr oder weniger vollständige Anpassung akzeptiert wird«
18
|A 172|18Fr. Fürstenberg, a. a. O., S. 446.
, noch wäre es wissenschaftlich vertretbar, einen gleichsam utopischen Entwurf der Erziehungswirklichkeit zu konstruieren, an dem wir die empirischen Einzeldaten einfach messen und beurteilen. Vielmehr müssen wir davon ausgehen, daß die Erziehung wie die Gesellschaft, in der sie geschieht, einen
»Wirkungszusammenhang multipler Felder«
(Fürstenberg)
darstellt, für den Konflikte und Antagonismen konstitutiv sind. Auf der Basis dieser Binsenweisheit eine erziehungswissenschaftliche Theorie zu entwickeln, ist – wie das Beispiel der gegenwärtigen Soziologie uns zeigt – vielleicht schwieriger als es aussieht.
|A 36|

Wissenschaft und Praxis – Vorbemerkungen zu einer Wissenschafts- und Hochschuldidaktik

[028:62] Es steht außerhalb jedes ernsthaften Zweifels, daß an Hochschulen gelernt wird, ja, daß die Hochschulen solcher Lernprozesse wegen ins Leben gerufen wurden und sich am Leben erhalten. Der Wissenschaftsrat und der Verband Deutscher Studentenschaften, die Kultusministerien und die Westdeutsche Rektorenkonferenz und wer immer sonst noch bestrebt ist, sich an der Bestimmung, Bewahrung oder Veränderung der deutschen Hochschulen zu beteiligen, sie alle scheinen darin einer Meinung zu sein. Allein: Wie und was wird eigentlich gelernt und sollte gelernt werden? Unter welchen Bedingungen stehen die Lernprozesse? Wie sind sie organisiert und wie wären sie zu organisieren? Welche Gestalt hat eigentlich die in den Ordinarien sich gleichsam personifizierende akademische Lehre? Und trifft die Frage, die sich vor dem Hintergrund ökonomischer Interessen immer nachdrücklicher als die eigentlich moderne Frage der Hochschulreform auszuweisen sucht, die Frage nämlich nach der Optimierung der Lernprozesse, überhaupt das Problem, das sich für die Hochschule in der Demokratie stellt?
[028:63] Verwendet man eine solche Formel –
»Hochschule in der Demokratie«
dann ist damit zugleich behauptet, daß die Probleme der Hochschule sinnvoll nur in dem gesellschaftspolitischen Zusammenhang zu behandeln sind, in dem die Hochschule fungiert. Das bedeutet für die akademischen Lernprozesse wie für die Form der akademischen Lehre, daß sie unter mindestens zwei für sie konstituierenden Gesichtspunkten zu betrachten sind: Es handelt sich |A 37|in der Universität um ein Lernen durch Wissenschaft, und es handelt sich auch bei der Wissenschaft um eine Tätigkeit, deren Realität im Zusammenhang derjenigen Funktionen zu beschreiben und zu kritisieren ist, die sie in der Gesellschaft ausübt oder auszuüben sucht. Das Problem akademischen Lehrens und Lernens schließt mithin die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Praxis ein. Das Thema ließe sich unter Berücksichtigung solcher Bedingungen auch so formulieren: Was ergibt sich hochschuldidaktisch aus der Tatsache, daß die akademische Bildung ein durch Wissenschaft vermittelter Lernvorgang ist?

Wissenschaft und gesellschaftliches Handeln

[028:64] Das Bewußtsein von diesem Zusammenhang zwischen Bildung, Wissenschaft und gesellschaftlicher Praxis ist nicht erst neuerdings entstanden. Es kommt schon in den Gründungstexten der deutschen Universität deutlich zum Vorschein. Unbeschadet der verworrenen irrationalistischen Geschichte, die der Ausdruck
»Bildung«
im deutschen Sprachraum durchlaufen hat, läßt sich für jene klassische Epoche feststellen, daß mit diesem Ausdruck nachdrücklich auf den kritischen Sinn der akademischen Tätigkeiten hingewiesen werden sollte. Dieser kritische Sinn, oder besser: die kritische Funktion der Wissenschaft ergebe sich, so sagt Schelling, daraus, daß die bürgerliche Gesellschaft
»eine entschiedene Disharmonie der Idee und der Wirklichkeit«
zeige.
[028:65]
»Die bürgerliche Gesellschaft, solange sie noch empirische Zwecke zum Nachteil der absoluten verfolgen muß, kann nur eine scheinbare und gezwungene, keine wahrhafte Identität herstellen. Akademien können nur einen absoluten Zweck haben.«
1
|A 172|1F. W. J. Schelling, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, in: Die Idee der deutschen Universität, Darmstadt 1959, S. 22.
[028:66] Der Sinn des akademischen Lernens sollte nicht sein, erworbene Kenntnisse und Fertigkeiten um so effektiver in den Dienst aktueller Zwecke der Gesellschaft und des Staa|A 38|tes zu stellen, sondern sollte sein, solche Zwecke selbst reflektieren zu können.
[028:67]
»Man studiert ja nicht, um lebenslänglich und stets dem Examen bereit das Erlernte in Worten wieder von sich zu geben, sondern um dasselbe auf die vorkommenden Fälle des Lebens anzuwenden, und so es in Werke zu verwandeln; es nicht bloß zu wiederholen, sondern etwas anderes daraus und damit zu machen; es ist demnach auch hier letzter Zweck keineswegs das Wissen, sondern vielmehr die Kunst, das Wissen zu gebrauchen.«
2
|A 172|2J. G. Fichte, Deduzierter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt, die in gehöriger Verbindung mit einer Akademie der Wissenschaften stehe, § 5.
[028:68] Diese praktische Funktion der Wissenschaft, die ihr innewohnende Möglichkeit, die gesellschaftliche Praxis in Richtung auf ein Verschwinden jener von Schelling konstatierten Disharmonie von Idee und Wirklichkeit zu verändern, kann nur wahrgenommen werden, wenn die Universität frei bleibt von den Zwängen und Autoritäten der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates.
[028:69]
»Auch die mindeste Spur von Zwang, jede noch so leise bewußte Einwirkung einer äußeren Autorität ist verderblich;«
»es könnte sonst dazu führen, daß man vergißt, daß das Lernen an und für sich, wie es auch sei, nicht der Zweck der Universität ist, sondern das Erkennen.«
3
|A 172|3F. D. Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn, in: Die Idee ..., S. 161 und 160.
[028:70] Die Distanz von der gesellschaftlichen Praxis, die damit gesetzt werden sollte, konstituiert gerade die kritische Funktion der Wissenschaft, die darin sich erweist, daß sie gesellschaftliche Praxis zu ändern vermag. Die institutionelle Trennung von Wissenschaft und Praxis sollte die Bedingung dafür sein, daß sich im geschichtlichen Prozeß beide einander näherten, und zwar durch das gesellschaftliche Handeln der so akademisch Gebildeten.
[028:71] In dieser Meinung, so wissen wir heute, steckt ein soziologischer Optimismus; sie rechnet nämlich damit, daß schon der Entschluß zu einer freien Republik der Gelehrten als einer gesellschaftlichen Enklave und die Reinheit des theoretischen Verhaltens die Verwirklichung des postulierten Zweckes garantieren könne. Die Verwirklichung dieses Zweckes aber ist von der praktischen Funktion, die Wissen|A 39|schaft im gesellschaftlichen Leben hat, ebenso abhängig, wie von der inneren Organisation dessen, was sich Universität nennt. 4
|A 172|4Vgl. dazu auch die Übersicht über die Forschungslage zur Soziologie der deutschen Hochschule: W. Nitsch, Hochschule. Soziologische Materialien, Heidelberg 1967
Die Frage nach den akademischen Lernprozessen und deren Bedingungen wird damit zu einer Frage nach der didaktischen Organisation von Wissenschaft und ihrer Vermittlung, wie auch zu einer Frage nach der Funktion der Wissenschaft in den Zusammenhängen gesellschaftlicher Praxis.
[028:72] Diese Frage wird nur selten gestellt. 5
|A 172|5Obwohl diese Frage durchaus nicht zum Bestand der Erkenntnisinteressen deutscher Wissenschaften gehört, ist sie doch in letzter Zeit an verschiedenen Stellen deutlich zur Sprache gekommen. Ich nenne hier diejenigen Texte, die für meinen Gedankengang wichtig geworden sind: die Veröffentlichungen des Verbandes Deutscher Studentenschaften; J. Ha|A 172|bermas, Vom sozialen Wandel akademischer Bildung, in: Merkur, Jg. 1963, wiederabgedruckt in: St. Leibfried (Hrsg.), Wider die Untertanenfabrik. Handbuch zur Demokratisierung der Hochschule, Köln 1967; E. Baumgarten, Zustand und Zukunft der deutschen Universität, Tübingen 1963; W. Nitsch / U. Gerhardt / C. Offe / K. Preuß, Hochschule in der Demokratie, Neuwied 1966; H. v. Hentig, Das Lehren der Wissenschaft , in: Frankfurter Hefte, Jg. 1966, S. 162 ff.
Die in den
»Gründungstheorien«
der deutschen Universität behauptete praktische Funktion der Wissenschaft, praktisch im Sinn der moralisch-politischen Bedeutung der Erkenntnis, ist zu einer Art Beiwerk geworden. Der Begriff der wissenschaftlichen Tätigkeit, so scheint es, schließt den der Bildung nicht mehr ein. Neben der wissenschaftlichen Ausbildung wird den Hochschulen ein Erziehungsauftrag zugesprochen. So heißt es in der Denkschrift zur Gründung einer Universität in Bremen:
[028:73]
»In der Forderung nach Anerkennung der außerwissenschaftlichen, das heißt allgemeinen und staatsbürgerlichen Erziehung und Bildung, die unabdingbar die Pflege der Leibesübungen und des Musischen einschließt, als das neben Forschung und Lehre dritte Wesensmerkmal der Hochschule, liegt die entscheidende neue Aufgabe der Universität.«
6
|A 173|6H. W. Rothe, Über die Gründung einer Universität zu Bremen, Bremen 1961.
[028:74] Das ist eine recht fragwürdige Bereicherung der akademischen Aufgaben; fragwürdig deshalb, weil der Begriff wissenschaftlicher Ausbildung sie nicht verlangt. Verständlich jedoch wird solcherart wohlmeinendes Bemühen, wenn man es als Niederschlag eines schlechten Gewissens interpretiert. Allem Anschein nach hat sich nämlich die wissenschaftliche Ausbildung zu einer Form entwickelt, in der die bildende Wirkung gemeinschaftlicher wissenschaftlicher Anstrengung nicht mehr zum Zuge kommt. Mit Hilfe jenes in der Bremer Denkschrift behaupteten
»dritten Wesensmerkmals«
der Hochschulen wird versucht, das Defizit wieder auszugleichen, und zwar nicht dadurch, daß man sich auf die Bildungsfunktionen des Erkennens zurückbesinnt und |A 40|in eine wissenschaftsdidaktische Diskussion eintritt, sondern dadurch, daß man versucht, der Hochschule einige pädagogische Institutionen einzufügen: ein Musterbeispiel für Kurpfuscherei.
[028:75] Die Veränderung der wissenschaftlichen Ausbildung, die zu dieser Bereicherung der Hochschulen Anlaß gibt, ist für viele Disziplinen durch eine Zweckverschiebung charakterisiert, auf die die zitierte Mahnung Schleiermachers paßt:
[028:76]
»Allein man vergißt, daß das Lernen an und für sich, wie es auch sei, nicht der Zweck der Universität ist, sondern das Erkennen.«
[028:77] Dieser Verschiebung des Ausbildungszweckes vom Erkennen auf das Lernen, von der Ausbildung zum Wissenschaftler dazu, die Studenten
»auf wissenschaftlicher Grundlage mit den für ihren Beruf nötigen Kenntnissen zu versehen«
7
|A 173|7
Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Neuordnung des Studiums an den wissenschaftlichen Hochschulen, Bonn 1966, S. 13.
Zur Kritik des dort, und zwar weniger in den Prinzipien des Teils A als vielmehr in den Ausführungen des Teils B, behaupteten Zusammenhangs von Wissenschaft und Berufspraxis, vgl. F. Nyssen, Die gesellschaftspolitischen Implikationen der geplanten
»Neuordnung des Studiums«
, in: St. Leibfried (Hrsg.), a. a. O., S. 97 ff.
, entspricht es, wenn nun der wissenschaftlichen Ausbildung selbst nicht mehr jene bildende Wirkung zugetraut wird, die für Schelling, Fichte, Schleiermacher und Humboldt noch selbstverständlich war. Orientierung im Bereich wissenschaftlicher Tätigkeit und Orientierung im Bereich gesellschaftlich relevanten Handelns haben nichts mehr miteinander zu tun. Das eine – so meint man – werde von der wissenschaftlichen Ausbildung besorgt, das andere sei von einer wie immer gearteten pädagogischen Zusatzveranstaltung zu erhoffen.
[028:78]
»Im Namen einer Bewahrung der Idee unserer Universität wird also deren wichtigste Maxime: Bildung durch Wissenschaft, preisgegeben.«
8
|A 173|8J. Habermas, a. a. O., S. 15.
[028:79] Dafür, daß die mögliche pragmatische Dimension der Wissenschaft aus dem Blick geriet, der Zusammenhang von Wissenschaft und Praxis aus der Diskussion verschwand und also auch die im Hinblick auf die gesellschaftliche Praxis bildende Wirkung der wissenschaftlichen Ausbildung verkümmerte, lassen sich unter anderem zwei Gründe nennen.
|A 41|
[028:80] Der eine Grund liegt in der Entwicklung der Wissenschaft und ist von Habermas skizziert worden als die Verkürzung der Wissenschaften um ihre praktisch-philosophische Dimension im Zuge der Entwicklung zu empirischen Einzelwissenschaften:
[028:81]
»Die Erfahrungswissenschaften im strikten Sinne können zu technischen Fertigkeiten verhelfen, nicht aber zu praktischen Fähigkeiten bilden.«
9
|A 173|9J. Habermas, a. a. O., S. 14.
[028:82] Was in der
»Gründungstheorie«
der deutschen Universität Wissenschaft hieß, entspricht nicht mehr dem, was heute unter diesem Namen betrieben wird.
[028:83] Der andere Grund liegt im Verhältnis der Wissenschaft zu den Berufen. Es war gewiß nicht die Absicht der Universität Humboldts, durch wissenschaftliche Ausbildung berufsnotwendige Kenntnisse zu vermitteln. Ihr praktischer Bezug betraf vielmehr die begründend-argumentierende Orientierung im Handeln, die – über die Teilnahme an der wissenschaftlichen Tätigkeit – zum Bestandteil des Subjekts nicht nur als erkennendes, sondern auch als handelndes wird.
[028:84]
»Was wir mit dem Bewußtsein, daß wir es tätig erlernen, und mit dem Bewußtsein der Regeln dieser erlernenden Tätigkeit, auffassen, das wird zufolge dieser eigenen Tätigkeit und dem Bewußtsein ihrer Regeln ein eigentümlicher Bestandteil unserer Persönlichkeit und unseres, frei und beliebig zu entwickelnden, Lebens.«
10
|A 173|10J. G. Fichte, Deduzierter Plan ..., § 5.
[028:85]
»Denn nur die Wissenschaft, die aus dem Innern stammt und ins Innere gepflanzt werden kann, bildet auch den Charakter aus, und dem Staat ist es ebenso wenig als der Menschheit um Wissen und Reden, sondern um Charakter und Handeln zu tun.«
11
|A 173|11W. v. Humboldt, Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, in: Die Idee ..., S. 379.
[028:86] Die Berufsbezogenheit fehlte indessen nicht völlig, wie sich in dieser Formulierung Humboldts andeutet, nur daß sie sich nicht an einzelnen Berufsrollen konkretisierte, sondern in der gleichsam kollektiv-ständischen Rolle der bürgerlichen Beamtenoberschicht Preußens. Beides, Wissenschaft |A 42|und Beruf, war jedoch nicht durch die Sätze der Wissenschaft miteinander verbunden, sondern durch die in der auf Erkenntnis zielenden Reflexion gewonnene philosophische Fähigkeit. Gerade damit aber verhält es sich heute anders. Der zunehmende wissenschaftliche Charakter der Berufstätigkeiten, im Sinne einer Verwendung wissenschaftlicher Resultate, hat in der wissenschaftlichen Ausbildung durch die Hochschule seine Entsprechung in der Aufmerksamkeit für ebensolche verwert- und verwendbaren Resultate der
»Forschung«
einerseits und der Forschungsmethoden andererseits. Die Bedeutung der wissenschaftlichen Ausbildung für das gesellschaftliche Handeln ist konzentriert auf die technologische Dimension der Berufstätigkeit: einzelwissenschaftliche Kenntnisse und forschungstechnische Verfahrensweisen. Solche Konzentration ist teils gerechtfertigt durch den wissenschaftlichen Charakter der modernen Berufswelt selbst; wenn Wissenschaft bereits ein konstitutives Element der Praxis ist, gehört die wissenschaftliche Aubildung im genannten Sinn zu den notwendigen und unerläßlichen Bedingungen für die Bewältigung der Praxis.
[028:87] Diese Rechtfertigung aber stellt sich als bedenkliche Verkürzung heraus, wenn der soziale Handlungszusammenhang, in dem berufliche Tätigkeit bestimmt und bewertet wird, in dem damit auch die Wissenschaft ihre tatsächlich praktischen Funktionen bekommt, nicht mehr zum Gegenstand der Reflexion in der wissenschaftlichen Ausbildung gemacht wird. Die wissenschaftliche Kritik leistet nicht mehr eo ipso die Kritik der vorwissenschaftlichen Praxis. Es liegt dann nahe, daß man auf den Gedanken verfällt, durch jene pädagogischen Zusatzveranstaltungen den Mangel auszugleichen. Ein solcher Ausgleich aber schwächt dadurch, daß er auf Reflexion verzichtet, die praktische Funktion der wissenschaftlichen Ausbildung, die sich nun erst recht den Studierenden gegenüber als kognitives Leistungstraining darstellen kann: Lernen statt Erkennen.
|A 43|

Das wissenschaftliche Verfahren

[028:88] Was ergibt sich aus solchen Überlegungen für die Wissenschaftsdidaktik? Die folgende Frage ist zu beantworten: Enthält die wissenschaftliche Tätigkeit nicht doch und immer noch – trotz jener skizzierten Funktionsveränderung im Verhältnis von Wissenschaft und Praxis – die auch für die Lösung praktischer Fragen der Handlungsorientierung entscheidenden Elemente?
[028:89] Die Verabschiedung der philosophisch-praktischen Überhöhung der Wissenschaft durch die Reformer von 1807 und der Verzicht auf ihre Absicht, durch wissenschaftliche Ausbildung unmittelbar auf das Wollen der Studierenden zu wirken, kann nämlich auch als erfreuliches Resultat der weiteren Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte verstanden werden. Die Genauigkeit der Einsicht in die besonderen Bedingungen, unter denen wissenschaftliche Sätze zustandekommen, die Einsicht zugleich in die Grenzen wissenschaftlicher Aussagen darf als ein Vorzug der neueren Wissenschaftslogik angesehen werden. Wird dieser Vorzug, wie viele zu meinen scheinen12
|A 173|12Diese Befürchtung, die im Streit zwischen empirisch-analytischer und kritisch-didaktischer Konzeption der Sozialwissenschaft auf wissenschaftstheoretischem Niveau formuliert wird (vgl. dazu vor allem J. Habermas, Theorie und Praxis, Neuwied 1964), findet ihren hochschulpraktischen Niederschlag in einer bisweilen allzu kurzschlüssig erscheinenden Adaption jener
»kritischen Theorie«
, in der der Begriff
»Kritik«
sich schon in einer Ablehnung des Bestehenden zu erfüllen scheint. Beispiele für solchen
»unkritischen«
Gebrauch des Ausdrucks
»Kritik«
finden sich u. a. in St. Leibfried (Hrsg.), Wider die Untertanenfabrik, Köln 1967.
, notwendig erkauft um den Preis der gesellschaftspolitischen Relevanz der wissenschaftlichen Tätigkeit, ihrer praktischen, das heißt die gesellschaftlichen Zwecksetzungen betreffenden Potenz? Folgen wir den Merkmalen, die Patzig für die wissenschaftliche Ausbildung fordert, dann scheint das nicht der Fall zu sein:
[028:90]
»Hand in Hand mit dem Erwerb von Kenntnissen und Fertigkeiten muß die Bemühung gehen, sich von allen vorgefaßten Meinungen freizuhalten, die Voraussetzungen, von denen man ausgeht, stets bewußt zu machen, bei jeder Hypothese nach Gegeninstanzen Ausschau zu halten. Wissenschaftliche Verfahrensweise schließt die Bereitschaft ein, das Gewicht jeder Behauptung der Kraft der zur Verfügung stehenden Argumente feinstens anzupassen, und die Fähigkeit, sich in die Sache selbst bis zur Selbstvergessenheit zu versenken. ... In dem Maße, in dem diese Tugenden eines methodischen Denkens, in einer Fachdisziplin eingeübt, im Umgang mit schon in diesem Sinne disziplinierten Wissenschaftlern (anders sind sie wohl nicht zu erwerben), auch auf Probleme außerhalb des Fachs, z. B. in der poli|A 44|tischen Urteilsbildung und in persönlichen Entscheidungen angewandt werden, hat jede wissenschaftliche Ausbildung der Potenz nach auch eine Erziehungsfunktion.«
13
|A 173|13G. Patzig, Was heißt
»wissenschaftliche Ausbildung«
?, in: Georgia Augusta, Jg. 1967, Heft 8, S. 33.
[028:91] Die bildende Wirkung der wissenschaftlichen Ausbildung – so ist hier die Meinung – liegt einzig in den Regeln, die das wissenschaftliche Verfahren definieren. Praktisch relevant wird solche Ausbildung durch die immer allgemeiner werdende Geltung dieser Regeln, dadurch nämlich, daß sie nicht nur Regeln wissenschaftlicher Erkenntnis sind, sondern des rationalen Verkehrs überhaupt. Auch Baumgarten ist dieser Meinung, noch pointiert durch die behauptete Parallelität von wissenschaftlichem und demokratisch-praktischem Regelsystem, die er in drei Momenten zusammenfaßt: 1. die Disziplin des hypothetischen Denkens, das heißt das Mißtrauen den eigenen Sätzen gegenüber, aus dem erst die Offenheit der Kommunikation folgt; 2. die Abneigung gegen dogmatische Systeme; 3. die Bereitschaft, auch bei nicht bestehender Einigkeit in den Regeln rationaler Kommunikation verbunden zu bleiben.14
|A 173|14E. Baumgarten, Zustand und Zukunft der deutschen Universität, Tübingen 1963, S. 40
[028:92] Danach hat es also den Anschein, als lägen die Prinzipien der Wissenschaftsdidaktik in den Regeln des wissenschaftlichen Verfahrens fest, als sei durch diese Regeln auch die praktische Relevanz der Wissenschaft (jenseits ihrer technisch verwertbaren Ergebnisse) gesichert und als bestehe die didaktische Aufgabe der Hochschule in nichts als einer wirkungsvollen Vermittlung dieser Regeln.
[028:93] Sind solche Überlegungen hinreichend oder sind sie, im Hinblick auf die konkreten gesellschaftlichen Funktionen, nicht doch zu abstrakt? Kommen wir auf diese Weise tatsächlich schon zu einem befriedigenden Begriff des hochschuldidaktischen Problems? Gehören nicht vielmehr auch die empirischen Bedingungen, unter denen Wissenschaft betrieben, verwertet und gelehrt wird zu diesem Begriff? Die Sätze Patzigs und Baumgartens sind Forderungen: sie enthalten kaum Hinweise darauf, wie sie realisiert werden und welche Widerstände – die Trägheit und Uneinsichtig|A 45|keit der beteiligten Personen ausgenommen – einer Verwirklichung im Wege sein könnten. 15
|A 173|15Baumgarten allerdings formuliert seine Postulate durchaus im Zusammenhang einer empirischen Analyse einzelner Aspekte der Hochschulen, die nicht mehr in der Lage seien, ihre Aufgaben zu erfüllen; er tut das insbesondere im Hinblick auf die Einstellungen der Hochschullehrer und im Anschluß an die große Untersuchung von Anger (H. Anger, |A 174|Probleme der deutschen Universität, Tübingen 1960), allerdings ohne das prinzipielle Problem der Verflechtung von Wissenschaft und dem die Wissenschaft ermöglichenden Kommunikationssystem theoretisch aufzunehmen.
Es könnte z. B. sein, daß jenes an die Regel des wissenschaftlichen Verfahrens streng sich bindende Verhalten nur noch von kleinen Gruppen innerhalb der Hochschulen geübt und weitergegeben wird. Es könnte weiterhin sein, daß der Leistungsdruck der Gesellschaft auf die akademischen Ausbildungswege und vermittelt auch auf das Bewußtsein der Studenten eine Verkürzung gerade jenes eigentümlich wissenschaftlichen Verhaltens befördert. Und es könnte schließlich sein, daß die von Baumgarten behauptete Entsprechung von demokratisch-politischem und wissenschaftlichem Regelsystem gar nicht existiert, es sei denn als Vorstellung, und also die Ausbreitung rationaler Formen der Kommunikation eher erschwert als begünstigt wird.

Wissenschaft als Kommunikation

[028:94] Das Reden von Wissenschaft schließt ein, daß das Befolgen der wissenschaftlichen Verfahrensweisen – der Begrenztheit individueller Erkenntnismöglichkeiten wegen – nur im sozialen Zusammenhang mit anderen um Erkenntnis bemühten Individuen geschieht. Eine einsame Einsicht ist noch keine Wissenschaft. Sie wird zur Wissenschaft erst dadurch, daß sie diskutiert wird. Es könne, schrieb Schleiermacher,
[028:95]
»nur ein leerer Schein sein, als ob irgendein wissenschaftlicher Mensch abgeschlossen für sich in einsamen Arbeiten und Unternehmungen lebe. Vielmehr ist das erste Gesetz jedes auf Erkenntnis gerichteten Bestrebens: Mitteilung.«
16
|A 174|16F. D. Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken ..., a. a. O., S. 225.
[028:96] In dieser Tradition benennt auch Hartmut von Hentig das didaktische Prinzip aller Wissenschaft:
»die notwendige Verbindung von Erkenntnis und Kommunikation«
. 17
|A 174|17
H. v. Hentig, a. a. O.
Dieses Prinzip zeige sich darin, daß Wissenschaft angewiesen ist auf
»Mitteilbarkeit, Verständlichkeit, Gewißheit, Kontinuität«
.
|A 46|
[028:97] Alle Bestimmungen zeigen, daß der Zusammenhang von Erkenntnis und Kommunikation notwendig ist, wenn überhaupt von Wissenschaft gesprochen werden soll. Hochschuldidaktik wäre demnach die Theorie und Praxis derjenigen Konsequenzen für akademisches Lehren, die im Zusammenhang mit jenem der Wissenschaft selbst innewohnenden didaktischen Prinzip stehen. Mit dem Prinzip ist gesagt, daß Erkenntnis nur insofern zur Wissenschaft wird, als sie in einen Kontext von Kommunikationen des Sich-Verständigens gebracht wird.
[028:98] Dieser Kontext von Kommunikation aber folgt, worauf wir schon hingewiesen haben, bestimmten Regeln. Es sind, allgemein gesprochen, die Regeln des rationalen Argumentierens. Zu diesen für die Wissenschaft konstitutiven Regeln des rationalen Argumentierens gehört es nun, daß die Rationalität eines Arguments in dem Maße steigt, in dem die Prüfmöglichkeiten erhöht werden. Je genauer die Bedingungen anzugeben sind, unter denen das Resultat eines Erkenntnisprozesses zustandekommt, um so rationaler wird das, was von Hentig
»Kommunikation«
nennt. Nicht im
»Wissen«
der Wissenschaft liegt ihre Rationalität, sondern in ihrem Verfahren. Das bedeutet aber auch, daß die Mitteilung sogenannter
»Ergebnisse der Wissenschaft«
, ihr angesammelter Datenschatz, am wenigsten geeignet ist, jene Rationalität zu vermitteln. Eine didaktische Praxis, die im Ausbildungsgang der Universität die Vermittlung von Kenntnissen trennen will von den Verfahren der Erkenntnisgewinnung, eine Praxis, die sich damit zufrieden gibt, daß solche Kenntnisse ja schließlich
»auf wissenschaftlicher Grundlage«
von der Forschung bereitgestellt seien, befördert die Irrationalität akademischer Bildung.
[028:99] Damit wäre dem bisher Erörterten nichts Neues hinzugefügt, wenn nicht durch den Hinweis darauf, daß die Rationalität der akademischen Bildung eine Funktion des Kommunikationszusammenhangs von Wissenschaft sei, nun auch ihre sozialen Bedingungen angesprochen wären. Je mehr die wissenschaftlichen Veranstaltungen sich ausbilden, so meint Schleiermacher,
|A 47|
[028:100]
»um desto mehr erfordern sie Hilfsmittel, Werkzeuge mancher Art, Befugnis der Verbundenen, auch als solche mit andern auf eine rechtsbeständige Art zu verkehren.«
18
|A 174|18F. D. Schleiermacher, a. a. O., S. 225.
[028:101] Andererseits gilt, was Schelling sagt:
[028:102]
»Es soll auf Akademien nichts gelten als die Wissenschaft und kein anderer Unterschied sein, als welchen das Talent und die Bildung macht.«
19
|A 174|19F. W. J. Schelling, a. a. O., S. 22.
[028:103] Dem Geltungsanspruch steht die empirische Verflochtenheit der Wissenschaft mit der Gesellschaft gegenüber, welche sich daraus notwendig ergibt, daß die Wissenschaft als Kommunikationszusammenhang ein Teil gesellschaftlicher Praxis ist. Das trifft insbesondere dann zu, wenn Wissenschaft gelehrt werden soll, wenn es also darum geht, Studierende mit den Regeln dieses Kommunikationszusammenhangs vertraut zu machen. Das kann – wenn sich die Aufgabe der akademischen Ausbildung nicht in der technischen Verfügung über einschlägige Forschungsmethoden und der Aneignung von Ergebnissen der Forschungspraxis erschöpfen soll – nur dadurch geschehen, daß die Studierenden am Erkenntnisprozeß beteiligt werden. Das in den Hochschulen gegebene didaktische Problem ließe sich also als die Frage nach der Natur von Erkenntnis- und Beteiligungsprozessen bestimmen. In beiden Hinsichten nun machen sich soziale Bedingungen bemerkbar, deren Aufklärung eine Sache der Wissenschaften selbst wäre, soll die Rationalität der Kommunikation nicht nur in einem technischen Sinne gewahrt sein.

Soziale Bedingungen didaktischer Prozesse

[028:104] Der erste Komplex von Bedingungen, die es aufzuklären gilt, sind die Voraussetzungen derer, die Wissenschaft betreiben. Sozial sind solche Voraussetzungen insofern zu nennen, als sie nicht nur in den individuellen Verfassungen der einzelnen Wissenschaftler, sondern in gesellschaftlichen |A 48|Lagen wurzeln. Die Wahl der leitenden Begriffe, der Probleme, der Forschungsverfahren ergibt sich nicht zwingend nur aus einer Art Eigengesetzlichkeit des Erkenntnisfortschritts, sondern ist gesellschaftlich vermittelt. Für Wissenschaften, deren
»Gegenstand«
soziales Handeln ist, wie z. B. die Erziehungswissenschaft, ist solche Aufklärung in besonderer Weise dringlich. Diese Wissenschaften produzieren unmittelbar handlungsrelevantes Wissen; andererseits gehört der Erkennende dem Erkenntnisgegenstand selber an: die Wahl zwischen Alternativen im Erkenntnisprozeß entspringt der vorgängigen Interpretation des Handlungsfeldes und damit einer Entscheidung für bestimmte Interessen-Alternativen. Wird dieser Zusammenhang in der wissenschaftlichen Ausbildung – etwa durch eine Beschränkung auf die Mitteilung von Forschungsergebnissen in der Lehrerausbildung – nicht diskutiert, dann verkümmert sie zu einer Aneignung technisch verwertbaren Wissens auf der einen Seite und zu einer ideologischen Beeinflussung in Form berufsethischer Motivierungen auf der anderen Seite.
[028:105] Der zweite Komplex von sozialen Bedingungen umfaßt solche, die auf den Beteiligungs- bzw. Lehrprozeß unmittelbar wirken:
    [028:106] die Struktur der Ausbildungs- und Berufserwartungen der Studierenden;
    [028:107] die dem Studierenden entgegengebrachten Rollenerwartungen der Hochschule, durch ihre Institutionen wie Institute, Seminare, Übungen, Vorlesungen und durch die Lehrpersonen selbst;
    [028:108] das Selbstverständnis der Lehrenden im Hinblick auf ihre Lehr- und Forschungsaufgabe;
    [028:109] die Hierarchien des Lehr- und Forschungskörpers;
    [028:110] die ökonomischen Bedingungen;
    [028:111] die soziale Herkunft der Studierenden;
    [028:112] die Zahl der Studierenden;
    [028:113] die Formen, in denen Entscheidungen über Lehr- und Forschungsprozesse herbeigeführt werden;
    |A 49|
    [028:114] die Kommunikationsstile zwischen Dozenten und Assistenten, Dozenten und Studenten usw. und ihre Institutionalisierungen.
[028:115] Es ist zu vermuten, daß Variablen dieser Art wirksam werden in Richtung auf die Chancen für eine wissenschaftliche Ausbildung an Hochschulen, die sich als Beteiligung an Erkenntnisprozessen darstellen will.20
|A 174|20Die hochschuldidaktische Forschung in den USA hat für einige dieser Variablen bereits zu interessanten Ergebnissen geführt; vgl. dazu den Sammelbericht von W. J. McKeachie, Research on Teaching at the College and University Level, in: N. L. Grage (Ed.), Handbook of Research on Teaching, Chicago 1963, S. 118 ff.
Diese Variablen aber sind – wie die letzten Jahre hochschulpolitischer Diskussion vermuten lassen – selbst nicht unabhängig. Sie werden ihrerseits beeinflußt von außeruniversitären gesellschaftlichen Faktoren.
[028:116] Als einen dritten Komplex sozialer Bedingungen für didaktische Prozesse innerhalb der Hochschulen können wir deshalb solche annehmen, die die institutionalisierte Wissenschaft und die Organisationsformen der Lehre an außerwissenschaftliche gesellschaftliche Interessen binden. Dazu gehören die ökonomischen Interessen an
»Effektivität«
des Studiums im Hinblick auf die Verwendbarkeit wissenschaftlich qualifizierter Fachleute. Ein solches Interesse muß z. B. nicht zusammenfallen mit dem oben explizierten Begriff wissenschaftlicher Ausbildung. Die Rationalität der wissenschaftlichen Kommunikation von Lehrenden und Lernenden ist nur scheinbar autonom. Das zeigt sich in Sonderheit im Verhältnis der beruflichen Anforderungen zum wissenschaftlichen Ausbildungsprozeß, ferner in den Beziehungen zwischen Forschungsschwerpunkten und wirtschaftlichen Leistungsinteressen, schließlich auch in den Abhängigkeiten zwischen politischen Interessen und den in den Hochschulen gefundenen institutionellen Lösungen. Detaillierte Untersuchungen der Zusammenhänge auf der Ebene der Institute, in denen die Abhängigkeiten zwischen den Variablen Instituts-Ordnung, Forschungsschwerpunkte und ‑Förderungen, Entscheidungsprozesse, Lehrpraxis, Berufserwartungen, politische Einflüsse usw. einer empirischen Kontrolle unterzogen würden, könnten die vermuteten Zusammenhänge auf ihre Bestätigung bzw. Widerlegung hin prüfen. Daß es sich dabei nicht um aus der Luft |A 50|gegriffene, sondern durchaus sinnvolle Vermutungen handelt, geht nicht nur aus den hochschulpolitischen Diskussionen, sondern auch aus den wenigen bereits vorhandenen Arbeiten zu diesem Thema hervor. 21
|A 174|21Vgl. dazu die schon zitierten Arbeiten von Anger, Baumgarten, McKeachie und Nitsch; ferner H. Krauch (Hrsg.), Beiträge zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik. Symposion
»Forschung, Staat und Gesellschaft«
, Berlin, 22.–26. Juni 1964, Studiengruppe Systemforschung, Heidelberg 1966; H. Krauch / W. Kunz / H. Rittel (Hrsg.), Forschungsplanung. Eine Studie über Ziele und Strukturen amerikanischer Forschungsinstitute, München/Wien 1966.

Didaktische Theorie und didaktische Praxis

[028:117] Unser Gedankengang blieb insofern abstrakt, als er sich nur mit der wissenschaftlichen Ausbildung überhaupt befaßte, ohne Rücksicht auf die besonderen Fragen, die durch die Eigentümlichkeiten der einzelnen Fachdisziplinen ins Spiel treten. Aber auch so mag doch einiges deutlich geworden sein, das als Aspekt theoretischer Reflexion und empirischer Analyse für jede Wissenschaft von Bedeutung ist:
    [028:118] die Eigenart des wissenschaftlichen Verhaltens als einer Form von rationaler Kommunikation und die Notwendigkeit, diese Form von Kommunikation zu erlernen durch die Beteiligung am Erkenntnisprozeß;
    [028:119] die Chancen und Formen der hochschulpraktischen Realisierung des Beteiligungs-Postulates in Forschung und Lehre; die Analyse der sozialen Bedingungen, denen jene Kommunikations- und Beteiligungsprozesse unterliegen.
[028:120] Die didaktische Theorie würde demnach in dreierlei Form auftreten müssen:
  1. [028:121]
    1.
    Als Explikation des Begriffs und damit des Anspruchs wissenschaftlicher Ausbildung; der Ort dieses Verfahrens läge in der Wissenschaftstheorie (Wissenschaftsdidaktik).
  2. [028:122]
    2.
    Als Analyse der empirischen Bedingungen für die Realisierung dieses Begriffs in der Praxis wissenschaftlicher Lehre (Hochschuldidaktik).
  3. [028:123]
    3.
    Als Analyse des Verhältnisses von Wissenschaft und Praxis, der je für einzelne Disziplinen oder Disziplinen-Gruppen, für Forschungseinrichtungen oder Theorien, für einzelne Wissenschaftler oder begriffliche Ausgangslagen |A 51|leitenden Interessen, als Analyse der Funktionen von Wissenschaften im gesellschaftlich-politischen System.
[028:124] Das leitende Interesse unserer Überlegungen war das Interesse an einem Maximum rationaler Kommunikation, das heißt aber: das der Wissenschaft selbst innewohnende Interesse. Sie wird an diesem Interesse nur fethalten können, wenn nicht nur die didaktischen Prinzipien immer wieder herausgestellt, sondern die didaktischen Prozesse einer erfahrungswissenschaftlichen Kontrolle unterzogen werden. Rational also wird die hochschuldidaktische Diskussion nur in dem Maße bleiben oder werden, in dem die Hochschule auch sich selbst als Ort wissenschaftlicher Ausbildung erforscht. Das bedeutet für die Einzelwissenschaften, daß sie in ihre Erkenntnisinteressen auch die sozial-wissenschaftliche Frage nach ihrer eigenen Darstellung und Vermittlung, die Frage nach ihrer Praxisbedeutung mit aufnehmen müssen.
[028:125] Die Rationalität der Wissenschaft ist gegenüber dem, was sonst in der Gesellschaft geschieht, nicht prinzipiell neutral. Ihre Entstehung verdankt sie einem gegen viele Widerstände durchgesetzten Interesse an der Emanpipation von Herrschaftsverhältnissen, das heißt an der prinzipiell gleichen Beteiligung aller am Prozeß der gesellschaftlichen Veränderungen. Dieses Interesse also ist nicht nur ein Interesse an der Rationalität wissenschaftlicher Verfahren; die Verfahrens-Rationalität ist vielmehr nur die zur wissenschaftlichen Methode geronnene rationale Diskussion der Bürger um die Gestaltung der gesellschaftlichen Welt, um die Emanzipation von Mächten, die der Verfügung durch den Menschen noch entzogen sind, und zwar dadurch, daß sie unaufgeklärt bleiben. Rationalität der Wissenschaft ist mithin ein Element des Vorganges, der sich zutreffend, wenn auch vielleicht allzu roh, mit Demokratisierung bezeichnen ließe. Die Beschränkung der Wissenschaft auf ihren vielzitierten
»Elfenbeinernen Turm«
bedeutet nicht nur eine Art Neutralitätsschutz gegen politische Einflüsse, die ihre Objektivität gefährden, sondern auch Gleichgültigkeit |A 52|gegenüber gesellschaftlich-politischen Praktiken, die ihr eines Tages den Boden entziehen könnten. Wissenschaft kann die Rationalität des gesellschaftlichen Daseins erhöhen – sie kann aber auch, wenn sie jenen Zusammenhang nicht reflektiert, denjenigen Herrschaftstendenzen dienstbar werden, die am Rückgang des Demokratisierungsprozesses interessiert sind.
[028:126] Konkret wird dieses Problem an dem Verhältnis von wissenschaftlicher Ausbildung an der Universität zu der vom Studenten zu erwartenden Berufsrolle. Auf der einen Seite heißt es, jeder berufspraktische Bezug müsse die Reinheit der wissenschaftlichen Forschung trüben und sei deshalb konsequent von der Universität fernzuhalten. Auf der anderen Seite wird die Ausbildungsfunktion der Universität durchaus auf die Berufsrollen bezogen und als berufs- und damit praxisbezogener Kenntnis- und Methodenerwerb verstanden. Beide Meinungen, soweit sie auch auseinanderliegen mögen, zeichnen sich aber dadurch aus, daß sie gerade nicht dem Postulat einer Reflexion des Verhältnisses von Wissenschaft und Praxis folgen. Beide nämlich liefern den auf solche Weise Ausgebildeten den gerade gegebenen sozialen Bedingungen der Berufe aus, an denen die wissenschaftliche Bildung sich nun bewähren soll. Demgegenüber scheint die Aufgabe der wissenschaftlichen Bildung gerade darin zu liegen, die Funktion von Wissenschaft im sozialen Felde des Berufes theoretisch zu durchdringen, um den Sinn dieser Bildung nicht gerade dort aufzugeben, wo sie ihre kritische Funktion gegen das Gegebene zu behaupten, wo sie ihren emanzipatorischen Zweck zu erfüllen hätte.
[028:127] Als praktische Konsequenzen aus solchen Überlegungen ließen sich unter anderem die folgenden denken:
    [028:128] eine Revision der Vorlesungspraxis in Richtung auf eine Verringerung ihres Umfangs um all das, was auch in Form von Lehrbüchern vermittelt werden könnte; sie würde damit vermutlich nicht ihres eigentlichen Zweckes verlustig gehen, sondern ihn eher zurückgewinnen; 22
    |A 174|22
    »Da unsere Schüler auch Bücher lesen sollen, und wir ihnen überhaupt nichts zu sagen gedenken, was eben so gut im Buch steht, so gehört zu jener enzyklopädischen Rechenschaft eines Lehrers allerdings auch die Aufgabe, welche Lektüre er vorschreibe. Diese Lektüre mag für den Anfang in schon vorhandenen Büchern stehen, und es wird in diesem Falle genug sein, diese zu zitieren.«
    (J. G. Fichte, Deduzierter Plan ..., § 62)
    .
    »Der Lehrer muß alles, was er sagt, vor den Hörern entstehen lassen; er muß nicht erzählen, was er weiß, sondern sein eigenes Erkennen, die Tat selbst, reproduzieren, damit sie beständig nicht etwa nur Kenntnisse sammeln, sondern die Tätigkeit der Vernunft im Hervorbringen der Erkenntnis unmittelbar anschauen und anschauend nachbilden«
    (F. D. Schleiermacher, a. a. O., S. 252)
    .
    [028:129] die Wahl von
    »Einstiegen«
    in eine Wissenschaft, die an aktuelle Forschungsprobleme anknüpfen und den Zusam|A 53|menhang von Wissenschaft und gesellschaftlicher Praxis von Beginn der Ausbildung an zu reflektieren erlauben;
    [028:130] die Wahl von Seminar-Führungsstilen, die ein Maximum von Diskussion erlauben;
    [028:131] die Anleitung zu kollektiven Prozessen wissenschaftlicher Arbeit, von der Herstellung von Referaten in kleinen Gruppen bis zur Beteiligung an Forschungsvorhaben im Zusammenhang der Institute;
    [028:132] die Beteiligung der Studenten an der Planung von Lehr- und Forschungsvorhaben;
    [028:133] die Einführung von regelmäßigen Lehrveranstaltungen, deren ausdrücklicher Gegenstand die Funktion einer Wissenschaft in gesellschaftlichen Praxisbereichen ist;
    [028:134] die Öffentlichkeit aller die Wissenschaft betreffenden Instituts-Entscheidungen, soweit das irgend zu vertreten ist.
[028:135] Lernen an den Hochschulen ist mehr als das Reproduzieren von Daten und wissenschaftlichen Verfahren, und es unterliegt Bedingungen, die sich nicht auf Seminare und Vorlesungen allein beschränken. Die Hochschule kann erst dann eine politisch bildende Wirksamkeit entfalten, wenn die Beteiligung am Erkenntnisprozeß durch politische Beteiligung ergänzt wird. Sie müßte alles tun, um Bedingungen zu schaffen, die solche Beteiligung ermöglichen. Denn unter anderem darin könnte sich erweisen, ob die Universität imstande ist, das Problem zu bewältigen, das mit dem Zusammenhang von Wissenschaft und gesellschaftlicher Praxis heute sich eingestellt hat. Bildung durch Wissenschaft führt zu einer zeitgemäßen Form von Halbbildung, wenn nicht mit ihr die Bildung des politischen Bewußtseins einhergeht. Daß die bisherige Form der wissenschaftlichen Ausbildung in dieser Hinsicht nicht recht leistungsfähig ist, läßt sich aufgrund der Untersuchungen zum politischen Bewußtsein der Studenten- und Lehrerschaft wenigstens vermuten.23
|A 174|23Vgl. dazu die zusammenfassende Darstellung bei W. Nitsch, Hochschule. Soziologische Materialien, Heidelberg 1967 (Bibl.).
[028:136] Ohne daß wir uns schon auf kontrollierte Erfahrungen berufen könnten, scheint die politische Bildungsfunktion der Hochschule vornehmlich in Zweierlei bestehen zu können:
|A 54|
[028:137] darin, daß die Einzelwissenschaften ihre politischen Implikationen ausdrücklich zum Thema machen – und
[028:138] darin, daß den Studenten eine institutionalisierte verantwortliche Beteiligung an den Hochschulentscheidungen eingeräumt wird, zumal an solchen, die die Funktion der Wissenschaft im gesellschaftspolitischen Zusammenhang, die politische Selbstdarstellung der Hochschule betreffen.
[028:139] Wissenschafts- und Hochschuldidaktik als Theorie hätte demnach mehr zu sein als die Analyse von Lehrprozessen im engeren Sinne des Wortes. Die Frage nach den Bedingungen solcher Lehrprozesse setzt
»Wissenschaftsdidaktik«
voraus und macht es erforderlich, das ganze soziale System
»Hochschule«
miteinzubeziehen, sofern es für die empirische Gestalt jener Prozesse von Bedeutung ist.
[028:140] Hochschuldidaktik als Praxis des Umgangs mit Studenten in Forschung und Lehre ist mehr, als Optimierung des Leistungszuwachses durch geschickte Anordnung bestimmter Lehrverfahren; sie umfaßt vielmehr das Ganze der wissenschaftsrelevanten Kommunikationen. Allerdings: Sichere Prognosen darüber, zu welchen Ergebnissen solche oder andere Maßnahmen führen werden, vermögen wir nicht zu stellen. Hochschuldidaktik ist vorerst noch einerseits ein Feld für Vermutungen, soweit es die Realisierung einer didaktischen Praxis betrifft; andererseits aber ist sie ein Feld diskutierender Kommunikation über die Orientierungen, die im Erkenntnis- und Handlungszusammenhang
»Hochschule«
gelten sollen. Meine Überlegungen haben deshalb – empirisch gesprochen – die Form einer Hypothese. Es gilt hier in besonderem Maße, was Popper von der Wissenschaft im ganzen sagt:
»Wir wissen nicht, wir raten!«
|A 55|

Pädagogik und Rationalität

[016:1] Die Erziehung ist ein Vorgang, von dem man der Meinung sein könnte, er stelle sich in der instinktähnlichen pflegenden und liebenden Zuwendung der Mutter zu ihrem Kind in reiner oder – wie man mit Vorliebe sagt – ursprünglicher Form dar. Was an diesem
»Urphänomen«
nicht Natur sei, sei einerseits die spezifisch menschliche personale Liebe, die hier das Kind um seines Wohles willen liebt, andererseits durch humane Gesittung kulturell überformt und festgelegt, ein verläßlicher kultureller Bestand, durch den das Heranwachsen des Kindes gesichert werden müsse. Die darin sich zeigende pädagogische Struktur, so könnte man weiter der Meinung sein, sei ursprünglich nicht nur im genetischen, sondern zugleich im sachlichen Sinne des Wortes; in ihr zeige sich das
»Eigentliche«
der Erziehung, das nicht nur für das Erziehungsverhältnis zwischen Mutter und Kind, sondern allgemein gelte. Diese Meinung, da sie sich für Einsicht in das
»Wesen«
der Erziehung hält, formuliert damit nicht nur das angeblich Faktische, sondern zugleich eine für das Erziehungsgeschäft fundamentale Norm. Um recht erziehen zu können, bedarf es der Anschauung dieses Urphänomens und seiner Transposition in die familienfernen Erziehungsverhältnisse. Die Aufgabe der Erziehungswissenschaft wäre demnach die Explikation dieses Pädagogisch-Eigentlichen, das – nach dem Sprachgebrauch dieser Meinung –
»sich verwirklicht«
, in welchem Bildung
»sich ereignet«
: die Explikation der
»zeitlosen, ewig gültigen Idee der Erziehung«
. Jeder Versuch, neu auftretende Erziehungsprobleme zu lösen, geschieht dann nach Maßgabe der in der pädagogischen Ursituation vorgegebenen Struktur.
[016:2] Diese Meinung ist nicht nur in vielen ihrer Bestandteile falsch – das wäre innerhalb eines sich ständig selbst korrigierenden Systems wissenschaftlicher Aussagen zu verschmerzen –, sondern sie behindert Pädagogik als Wissenschaft und führt an ihrer Statt nicht selten zu einer mehr oder weniger geistreich vorgetragenen Rechtfertigungslehre. Rationalität als Element der Praxis wie als Medium der Wissenschaft läßt sie nur in einem eingeschränkten Sinne zu. Damit aber wird solche Meinung in fataler Weise aktuell. Rationalität, Kritik und Planung werden zwar als Zugeständnisse der modernen Gesellschaft gegenüber in der Erziehung und deren Wissenschaft zugelassen, haben hier indessen aber keine konstituierende Funktion. Während aber die Rationalität in der Form der Bewußtheit als Element der Erziehungspraxis nur einen besonderen historischen Typus charakterisiert und ebensowenig zum
»Pädagogisch-Eigentlichen«
gehört wie eine naiv verfahrende, man also sehr wohl – um welchen Preis auch immer – auf sie verzichten könnte, ist sie doch für die Wissenschaft der Lebensnerv. Dieser wende ich mich daher zunächst zu, um dann einige Entsprechungen in der Praxis aufzusuchen, die Präzisierung des Problems durch den Bildungsbegriff darzustellen und schließlich einige Hypothesen im Hinblick auf die Erziehungswirklichkeit zu wagen.

Irrationale Momente der Erziehungstheorie

[016:3] Der Streit um den Begründungszusammenhang der Erziehungswissenschaft ist von ihrem Anfang an bis auf unsere Tage nicht verstummt. Obwohl ein solcher Streit anders als im Medium strenger Rationalität gar nicht gedacht werden kann, schließt er doch nicht aus, daß seine Lösung dadurch versucht wird, daß aus der Eigenart des spezifischen Gegenstandes dieser Wissenschaft gefolgert wird, ihre Rationalität müsse begrenzt sein, sie sei ihrem Gegenstand zuliebe gezwungen, von wissenschaftlich nicht weiter auflösbaren Entscheidungen und Wertungen auszugehen, sei genötigt, diese in ihrem Verfahren wie in ihren Sätzen ins Spiel zu bringen, Infolgedessen sei nur eine sich selbst beschränkende Rationalität in der Lage, die Erziehungsphänomene der wissenschaftlichen Analyse zugänglich zu machen. Diese Selbstbeschränkung der Rationalität scheint nun aber die Erziehungswissenschaft in die Gefahr gebracht zu haben, in ihrer Theorie an Begriffen und Sätzen festzuhalten, die nur angeblich im Interesse der Erkennbarkeit des Gegenstandes weiteren kritischen Analysen entzogen werden. Ja, es ist bisweilen nicht einmal die Erkennbarkeit, die auf diese Weise gesichert werden soll, sondern das angebliche Ergebnis eines vorgängigen Erkenntnisvorganges, von dem behauptet wird, daß er das pädagogisch Gültige, das Pädagogisch-Eigentliche, das Wesen der Erziehung zutage gefördert habe. So wird mit der Behauptung, Erziehung sei ein irrationales Phänomen, zugleich ein irrationales Moment in die Theorie, die das Phänomen beschreiben, verstehen und erklären soll, eingeführt.
[016:4] Besondere Schwierigkeiten bereitet hier die Rolle, die der Verantwortung in der Erziehungswissenschaft zugedacht wird. Es gehöre
»zu der Denkweise der Pädagogik, wie es zu der Eigenart ihres Gegenstandes gehört, daß sie gewissermaßen allseits von Verantwortung umgriffen ist, daß es in ihr letztlich überhaupt keinen verantwortungsfreien Raum gibt«
; 1
|A 175|1
E. Lichtenstein, Zur Metaphysik der pädagogischen Verantwortung, in: Pädagogische Rundschau, Jg. 1952/53, S. 50.
oder: Voraussetzung der Erziehungswissenschaft sei
»die Befangenheit des Theoretikers in der praktischen Aufgabe und an das pädagogische Tun. Er muß die Verantwortung der Praxis teilen, ihre Ziele bejahen, von der Verantwortung und von den Zielen aus denken ... erst die Befangenheit an die Sache ermöglicht die wahre wissenschaftliche Objektivität«
. 2
|A 175|2
E. Weniger, Die Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis, Weinheim 1952, S. 21.
Diese Verantwortung gehöre also nicht etwa nur in den Entdeckungszusammenhang der Erziehungswissenschaft, insofern nämlich erst durch sie die für die Forschung relevanten Themen in den Blick kommen, sondern in deren Begründungszusammenhang; |A 58|sie konstituiere das erziehungswissenschaftliche Denken. Sie sei darüber hinaus eine spezifisch erzieherische Verantwortung, die sich aus einem pädagogischen Ethos ergebe.3
|A 175|3Vgl. dazu besonders L. Froese, Pädagogisches Ethos und gesellschaftlicher Auftrag, in: Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 1961. S. 11 ff.
Hier nun wird die Schwierigkeit deutlich, in die die Erziehungswissenschaft auf diese Weise gerät: es wird kaum zu leugnen sein, daß der Erziehungstätigkeit immer eine im Hinblick auf die gefaßte Aufgabe besondere Art von Verantwortung korrespondiert; und ebenso, daß sich auf diese Weise im Bewußtsein des Erziehers ein dem Erziehungsprozeß zugehöriger Zusammenhang von Wertungen und Erfahrungen etabliert, der als spezifisch pädagogisch erscheint. Diese im Bewußtsein des Erziehers vor sich gehende Absonderung des Pädagogischen ist aber ein irrationaler Prozeß, der gerade durch das Fehlen von Rationalität und Kritik zustande kommt.4
|A 175|4Diese Absonderung des
»Pädagogischen«
war allenfalls noch in der pädagogischen Reformbewegung, in der Theorie Herman Nohls historisch
»richtig«
, da nur so es der Erziehungstheorie gelingen konnte, sich von der konfessionellen wie der positivistischen Überfremdung zu befreien. Heute noch an einer solchen Position festhalten bedeutet, die damalige Lage der erziehungstheoretischen Diskussion ideologisch reproduzieren.
Das Bewußtsein, das sich und seine Positionen für rein pädagogisch hält, wird getäuscht, da es die Tatsache, selbst gesellschaftlich vermittelt zu sein, nicht reflektieren kann. Die Erziehungswissenschaft, statt dieses Phänomen zum Ausgangspunkt ihres kritisch-rationalen Verfahrens zu machen, bleibt selbst in der irrationalen Partikularität befangen und verhindert damit jene Rationalität, die zu realisieren sie sich doch anheischig machen möchte.
[016:5] Dieses allgemeine Problem nimmt eine Reihe besonderer Formen an, von denen ich nur die auffallendsten nennen möchte. Die Frage nach dem Verhältnis der Erziehungswissenschaft zur Empirie ist so alt wie die Erziehungswissenschaft selbst, seit nämlich Schleiermacher fragte, ob das Verfahren der pädagogischen Wissenschaft empirisch oder spekulativ sein solle. Die von ihm geforderte Verschränkung beider Verfahrensweisen aber ist in der Wissenschaftsgeschichte unter der Hand zu einer Alternativ-Frage geworden: es ging schließlich nicht mehr um das Problem, wie zwei rationale Verfahren in einer Wissenschaft kombiniert werden könnten, sondern um die ausschließliche Gültigkeit des einen oder anderen Wissenschaftsbegriffs. Die zweifelhaften Begründungen ihrer Theorie, mit denen sich die Vertreter einer ausschließlich deskriptiv-empirisch ver|A 59|fahrenden Erziehungswissenschaft versahen, gaben ihren Kritikern scheinbar recht. Diese wiederum reproduzierten die Vorurteile gegen die Empirie und verhinderten die doch mögliche Kontrolle der eigenen Aussagen, die zwar in sich logisch stimmig sein mochten, in ihrem Erkenntniswert indessen sehr beschränkt blieben. So kam es, daß erst die Nachbardisziplinen, besonders Soziologie und Lernpsychologie, die Erziehungswissenschaft auf die ideologischen Bestandteile ihrer Theorie aufmerksam machen mußte. Hat die Nachbarschaft mit der Psychologie schon seit geraumer Zeit ergiebige Formen angenommen, so wird doch der Soziologie immer noch eine hartnäckige Abneigung entgegengebracht, und zwar vermutlich deshalb, weil von ihr am nachdrücklichsten die Eigenständigkeit jenes pädagogischen Ethos in Zweifel gezogen wird. Die Hartnäckigkeit ist verständlich, da erst eine die Vergesellschaftung des Menschen bis in die einzelnen Glieder des Erziehungsprozesses hinein verfolgende Reflexion den pädagogischen Irrationalismus ganz vernichtet, eine Reflexion, die sich anschickt, diesen Irrationalismus nicht als illegitim, unangemessen oder falsch zu qualifizieren, sondern ihn als gesellschaftliches Interesse zu entlarven.
[016:6] Ein weiterer Aspekt des Dilemmas zeigt sich in der Behandlung des Autoritätsproblems. Anstatt das Problem in empirisch gehaltvollen Aussagen einer rationalen Kritik und Kontrolle zugänglich zu machen, was in den benachbarten Sozialwissenschaften längst unternommen wird, wird es immer noch und immer wieder als metaphysische Bedingung des Erziehungsvorgangs dekretiert, als die sogenannte echte Autorität gerechtfertigt und damit, sicherlich gegen den Willen der Autoren, einer irrationalistischen Restauration als wirksames Argument in die Hände gespielt. Hier ließe sich besonders eindringlich zeigen, was es sowohl für die wissenschaftliche Erkenntnis wie auch für die Brauchbarkeit der Ergebnisse bedeutet, wenn die pädagogischen Probleme aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang gelöst werden, in dem sie doch überhaupt erst als wirkliche erscheinen.5
|A 175|5Gerade bei der Analyse pädagogischer Autorität zeigt sich nämlich, wie weitgehend in der Erziehung die in der Gesellschaft vorwaltenden Herrschaftsverhältnisse reproduziert werden. Dieser Zusammenhang wird in der Pädagogik immer noch ignoriert, von wenigen Ausnahmen abgesehen (W. Strzelewicz, P. Roeder, U. Walz).
|A 60|
[016:7] Schließlich ist die immer noch wirksame Vorliebe der Pädagogik für geschlossene Sozialsysteme zu erwähnen. Der Grund für diese Vorliebe scheint mir sowohl in der kulturkritischen Tradition der Erziehungstheorie wie in der Suggestion zu liegen, die von der Familie als dem angeblichen Ursprungsort des Erzieherischen ausgeht. Man muß sich vor Augen halten, daß die pädagogische Theorie seit der späten Aufklärung – ob zu recht oder nicht, bleibe dahingestellt – sich in einem der Gesellschaft gegenüber kritischen Selbstverständnis etabliert hat und dieses in eine gleichsam pädagogische Rolle umzusetzen trachtete. Diese gegen die industrielle Gesellschaft und besonders deren Mobilität gerichtete Kritik assoziierte sich mit dem Wunsch nach sogenannten einfachen, elementaren, volkstümlichen Sozialformen, die ungeschichtlich gedacht wurden.
[016:8] So entstanden nicht nur die literarischen Konzeptionen pädagogischer Provinzen von Goethe und Fichte bis zu Hermann Hesse, sondern zugleich eine auf den pädagogischen Alltag hin entworfene Theorie, für die der Gedanke einer der gesellschaftlichen Wirklichkeit gegenüber abgeschlossenen heilen Welt pädagogischer Prozesse konstitutiv wurde. Durch den pädagogischen Alleingang Pestalozzis in Stans, durch Fröbel, die Heimerziehung, die Jugendbewegung, schließlich durch die Theorie Tönnies’ soziologisch unterstützt, gewann dieser Gedanke seine zweifelhafte Dignität auch für die Erziehungswissenschaft und entwickelte sich jene, allenfalls auf individuelle Erfahrungen sich stützende Option für den geschlossenen pädagogischen Raum, mit der die Hoffnung verbunden wird, der durch ihn hindurchgegangene junge Mensch sei damit imstande, die Menschlichkeit in einer widrigen Welt zu bewahren.6
|A 175|6Selbst bei einem auf empirisch kontrollierbare Argumentation so erpichten Autor wie W. Brezinka finden sich die folgenden Sätze:
»Was (in der Schule und angesichts ihres säkularisierten Charakters) an Zielsetzungen übrigbleibt, ist blaß, inhaltsarm und viel zu unverbindlich, als daß es den Geist beschwingen könnte«
(Erziehung als Lebenshilfe, Stuttgart ²1961, S. 163)
; infolgedessen bedürfe es der
»geschlossenen Gruppe als Ort der Charakterformung«
(S. 250 ff.)
;
»Solange der jugendliche Charakter noch plastisch bleibt, also bis zum Abschluß der Reifejahre, kann die Erziehung nicht darauf verzichten, daß möglichst in allen Gruppen, die auf ihn einwirken, die gleiche Rangordnung der Werte anerkannt wird«
usw.
(S. 261)
.
Nun kann kaum geleugnet werden, daß der Familie gerade ihrer Geschlossenheit wegen fundamentale und unverzichtbare Erziehungswirkungen eignen. Problematisch ist jedoch die Transposition dessen, was in diesem beschränkten Erziehungsraum gilt, in das pädagogische Feld überhaupt. Mit der Festlegung der Familie als der Institution des Pädagogisch-Eigentlichen, als des
»schlechthin exemplarischen Mu|A 61|sterbildes«
der Erziehung7
|A 175|7
H. Döpp-Vorwald, Pädagogie – Pädagogik – Erziehungswissenschaft, in: Pädagogische Rundschau, Jg. 1963, S. 356
. Die frühen und einfachen Stufen pädagogischer Besinnung – wozu vermutlich auch die pädagogische Besinnung in jener musterbildlichen Familie gehört – seien zu verstehen
»als immer gegenwärtige, zeitlose Schichten des pädagogischen Bewußtseins«
(a. a. O., S. 357)
.
wird die Irrationalität der bürgerlichen Familie des 19. Jahrhunderts in die Erziehungswissenschaft eingeführt, ein Akt, dessen Konsequenzen bis in didaktische und schultheoretische Erörterungen hinein verfolgt werden können.
[016:9] Auf diese Weise werden nicht nur die Grenzen zwischen wissenschaftlicher Aussage und Vorurteil bzw. bloßer Meinung ständig neu verwischt, sondern werden auch die ideologischen Bestandteile der Theorie immer wieder reproduziert. Die mangelhafte Rationalität der Theorie ermöglicht es, ungestraft über Erziehung und Bildung zu reden und solches Reden als in den Zusammenhang erziehungswissenschaftlicher Erörterung gehörende Aussagen zu deklarieren, sofern die Aussage sich nur als pädagogisch verantwortlich in dem gesellschaftlich partikularen Sinne des Wortes ausweist.
»Pädagogisch ist unser Denken erst dann, wenn es von sich läßt und die Menschlichkeit dieses oder jenes heranwachsenden Menschen verantwortet.«
8
|A 176|8K. Schaller, Vom
»Wesen«
der Erziehung, Ratingen 1961, S. 16.
Schon die logische Grammatik dieses Satzes ist kaum noch verständlich. Wie soll das Denken
»von sich lassen«
? Soll in diesem Satz von der Praxis die Rede sein und gesagt werden, daß das Denken zugunsten des verantwortlichen Handelns nachlassen, das theoretische dem praktischen Verhalten Raum geben solle, wird man mit einem vernünftigen Streit, über die Funktion der Rationalität in der Erziehungspraxis beginnen können. Indessen über die Erziehungswissenschaft ist offenbar – entgegen dem Anspruch dieses Satzes – nichts ausgesagt, denn sie kann das Denken schon ihrem Begriff als Wissenschaft nicht
»von sich lassen«
, ob man es nun pädagogisch nennen will oder nicht.

Irrationale Momente der Erziehungspraxis

[016:10] Theorie und Praxis der Erziehung zeigen eigentümlich gleichsinnige Tendenzen. Wissenssoziologisch betrachtet ist das kaum verwunderlich: die pädagogische Theorie hat sich immer in großer Nähe zur Praxis befunden, war ein |A 62|Produkt wie auch ein Mittel pädagogischer Ausbildungszwecke, war – selbst noch als Hermeneutik der pädagogischen Praxis – nicht selten deren Rechtfertigung. Sie ist, wie wenige Wissenschaften sonst, seit Diesterwegs Zeiten ein Objekt standespolitischer Interessen gewesen, was ihrer wissenschaftlichen Autonomie ebensowenig bekam, wie die Tatsache, daß sie seit je eher als Lehre denn als Forschung betrieben wurde.
[016:11] Diese Gleichsinnigkeit zeigt sich am Problem der Autorität, das in der Praxis ein ähnliches Schicksal erleidet wie in der Theorie. Die Erziehungswirklichkeit ist immer noch im Wesentlichen hierarchisch geordnet; eine Hierarchie, in der die unteren Positionen von der Jugend, die oberen von der Erzieherschaft besetzt sind. Legitimiert wird diese Struktur durch die
»pädagogische Autorität«
, die dem Erzieher kraft seiner Überlegenheit und seines personalen Gewichtes zukommt. Es ist nicht Sache des Heranwachsenden, diese Autorität zu kritisieren. Er lernt weder das Einsetzen, noch das Absetzen von Autoritäten, sondern nur deren Anerkennung. Die pädagogische Autorität ist deshalb faktisch Herrschaftsautorität. Es charakterisiert diese Autoritätsform, daß sie sich der Rationalität verschließt, d. h. nicht kritisierbar, durch die
»Empfänger«
nicht änderbar ist. Lehrer, Eltern, Heimerzieher scheinen sich nahezu darin einig zu sein, daß es – aus Gründen der pädagogischen Verantwortung – unzulässig ist, die Zöglinge ernsthaft an der Kritik und Veränderung des pädagogischen Feldes zu beteiligen. Die Kritik und das Interesse der Heranwachsenden sind hier allenfalls ein Moment der pädagogischen Taktik; für die Strategie spielen sie keine Rolle.9
|A 176|9Diese Bemerkungen und die folgenden sind als zugespitzt formulierte Tendenzen der Erziehungspraxis zu betrachten.
[016:12] Eine konkrete Variante dieser Struktur findet sich in der politischen Bildung. Sie ist einerseits Kenntniserwerb und methodisch arrangierte Diskussion, deren Ergebnis indessen in den wesentlichen Zügen von vornherein festliegt; andererseits ist sie Einübung in eine als demokratisch bezeichnete Praxis des Umgangs von Menschen miteinander, Ordnung von Gruppenbeziehungen. Information und Einübung sind die Begriffe, mit denen sich der pädagogische |A 63|Vorgang nahezu erschöpfend beschreiben ließe. Die politische Bildung reproduziert damit den kritiklosen politischen Stil, auf den unsere Gesellschaft sich zuzubewegen scheint. Jedenfalls sind Rationalität und Kritik in ihrer institutionellen Struktur kaum untergebracht. Bezeichnenderweise heißt es in einem neuen Kirchenlied, von einer Evangelischen Akademie preisgekrönt und vorwiegend mit Industriejugendlichen gesungen,
»danke für meine Arbeitsstelle«
, ohne daß der politische Quietismus und die Ironie bemerkt würde, die in einer Phase der Überbeschäftigung darin liegt. Arbeitsstellen werden von Unternehmern bzw. von denen gemacht, die gesellschaftliche Herrschaft ausüben.
[016:13] Weniger offensichtlich, darum aber nicht minder wichtig, ist in diesem Zusammenhang die Rolle, die der Sprache im Erziehungsprozeß zugewiesen wird. Der Affekt gegen die Aufklärung, mit dem die deutsche klassische Pädagogik begann, ist immer noch wirksam. Das Postulat Pestalozzis,
»mit den gefährlichen Zeichen des Guten und Bösen, mit den Wörtern«
vorangegangenes Erleben und Handeln als sittliches zu benennen und zum Bewußtsein zu bringen, wird unverändert für gültig befunden, obwohl es sich hier gerade nicht um Reflexion, um kritische Analyse des Erlebten und Erfahrenen handelt, sondern um den Aufweis der Evidenz des angeblich allgemein Geltenden. Was den geschichtlich-gesellschaftlichen Bedingungen und den Erziehungssituationen, die Pestalozzi im Auge hatte, angemessen gewesen sein mochte, das wird in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Lage durchaus fragwürdig. Der Lesebuchstil, dessen sich Volksschullehrer so gut wie Bundeskanzler bedienen und der den deutschen Aufsatz wie einen großen Teil der Protokolle und Referate von Studenten beherrscht, verrät eher die Bekanntschaft mit der Sprache als einem Instrument der Erbauung, nicht aber als Mittel rationaler Analyse.
[016:14] Eine besondere Bedeutung hat im letzten Jahrzehnt die Diskussion um die sogenannte Gefährdung der Jugend erlangt. Die dem pädagogischen Irrationalismus entsprechende Reaktion ist die Praxis der Isolierung vom Jugendschutz bis zu einer Freizeitpädagogik, die nur die nach |A 64|Maßgabe eines bestimmten Begriffs von sozialer Gesundheit erzieherisch verläßlichen Gegenstände und Tätigkeiten an die Jugend herankommen lassen will. Als bester Schutz gegen die Gefährdung, vornehmlich durch die Massenmedien, wurde und wird die Einrichtung pädagogischer Schonräume empfohlen, die dem Heranwachsenden emotionalen Halt und Sicherheit in einsinnigen Sozialordnungen gewähren. Als Kriterium für den Bildungswert der in Frage kommenden Inhalte scheint weithin die Irrationalität des Gegenstandes zu gelten – so etwa in der musischen Bildung –, so, als müsse die Vernunft vor den sogenannten gefährdenden kulturellen Produkten resignieren. Wenn die Rede von der Gefährdung der Jugend durch die Massenmedien empirisch präzisierbare Wirkungen beträfe, wenn in der Tat die subjektive Vernünftigkeit des Kindes und Jugendlichen nachweisbar vor solchen Gegenständen prinzipiell versagen müßte und deshalb Verwahrlosung oder auch nur Verflachung eine notwendige Folge wäre, könnten hier kaum Vorwürfe gegen jenes Verfahren erhoben werden. Indessen befindet die Pädagogik sich in der mißlichen Lage, weitgehend etwas als der Fall seiend zu behaupten, das im wesentlichen doch nicht anders als in der Meinung solcher Pädagogen existiert, deren irrationalistisches Engagement allerdings diese Meinung als das entlarvt, was sie ist: die pessimistische Ideologie des Unpolitischen.10
|A 176|10Das gilt – jedenfalls in jüngster Zeit – weniger für die erziehungswissenschaftliche Literatur, als für die zwischen Wissenschaft und Feuilleton sich ansiedelnde Erbauungs-, Beratungs- und
»Aufklärungs«
-Literatur.
[016:15] Die Liste der im Hinblick auf die Rationalität problematischen Erscheinungen der Erziehungspraxis ließe sich noch vermehren. Indessen sollte hier nur das Problem exponiert werden. In der Entsprechung von Theorie und Praxis zeigt sich ein normativer Zirkel: durch die Beschreibung der Praxis wird diese gerechtfertigt. Da die Verantwortung des Theoretikers als die des Praktikers bestimmt wird, wiederholt sich in der Theorie die normative Befangenheit. Die Theorie bleibt ohne Erkenntniswert. Und umgekehrt ist die Tatsache, daß die Praxis der Theorie entspricht, kein Beweis für die Richtigkeit der Theorie; Theorie und Praxis
»bedingen sich gegenseitig«
, wie es heißt, und reproduzieren ihre Vorurteile.
|A 65|

Rationalität und Bildung

[016:16] In den bisher vorgetragenen Bemerkungen wurde, da es sich um Kritik handelte, ein Kriterium angewandt. Dieses Kriterium soll nun expliziert und damit der Kern des im Begriff der Rationalität implizierten pädagogischen Problems bezeichnet werden.
[016:17] Seit der Zeit Herders und Humboldts hat die deutsche Pädagogik im Bildungsbegriff das Entscheidende ihres Wollens, zugleich aber auch das bis heute aktuell gebliebene Grundproblem formuliert. Der Begriff war beides: normativ und kritisch. Das kritische Moment hat – innerhalb der Geschichte des pädagogischen Denkens – seinen Ursprung bei Rousseau. Es geht auf die Erfahrung zurück, daß das vergesellschaftete Dasein immer schon ein defizienter Modus der Möglichkeiten des Menschen ist, daß die gesellschaftlichen Implikationen des Heranwachsens prinzipiell dasjenige reduzieren, was als Mündigkeit doch die erklärte Norm dieses Vorgangs sein sollte. In die Realität des preußischen Staates und der merkantilistischen Ausbeutung umgedacht, folgte daraus für Humboldt, daß – soll jene Norm der Mündigkeit nicht aufgegeben werden – Erziehung in kritischer Distanz zur Gesellschaft und zum Staat zu geschehen habe, weil nur so der die Unvernünftigkeit perennierende Druck der Herrschaftsverhältnisse und Vorurteile reduziert werden könne.11
|A 176|11Vgl. dazu H. Blankertz, Berufsbildung und Utilitarismus, Düsseldorf 1963.
Bildung ist – im Unterschied zu Erziehung – Aufklärung über die Bedingungen der eigenen Existenz und Konkretisierung der Individualität in der unter solchen Bedingungen möglichen
»Eigentümlichkeit«
.
[016:18] Indessen enthielt der Bildungsbegriff noch eine andere Komponente: die Meinung nämlich, daß die Rationalität sich auf das Subjekt beschränken dürfe, daß es hinreichend sei, auf die Verwirklichung der Individualität als des
»ursprünglichen Ich«
zu dringen, daß durch die Kultivierung der vielen Einzelnen als Glieder eines Ganzen das Ganze auf die Dauer zur Vernünftigkeit umgeformt werde. Dieses privative Moment des Bildungsbegriffes und der Optimis|A 66|mus, daß die menschlichen
»Verfassungen«
– die Gesamtheit gesellschaftlicher und staatlicher Phänomene – vernünftiger und humaner würden durch Bildung als private Vervollkommnung der Individuen, war nicht aus der Luft gegriffen. Solche Humanisierung konnte als realisierbare Möglichkeit erscheinen, solange das Individuum
»sich gegen die öffentliche Macht aufrechterhalten konnte, solange das private Dasein etwas Wirkliches darstellte, etwas, was der Einzelne sich wirklich wünschte und selbst formte.«
12
|A 176|12
H. Marcuse, Eros und Kultur, Stuttgart 1957, S. 9
Die Geschichte hat gezeigt, daß der Optimismus ungerechtfertigt war. Die Kombination von rationalem, gesellschaftskritischem Engagement und vorpolitischer Kultivierung der Individualität wurde widersprüchlich in einer gesellschaftlichen Situation, in der das zweite Moment nur zu retten war, wenn man auf die kritisch-rationale Bewältigung des Verhältnisses von Subjekt und Gesellschaft verzichtete, d. h. wenn man unpolitisch wurde und alle soziologischen Implikationen aus der Bildungstheorie entließ. Und eben dies trat ein. Der progressive Gehalt, der für die Konzeption der Bildungstheorie von Rousseau bis Schleiermacher konstitutiv war, verschwand oder verblaßte allenfalls zu allgemeinen Kategorien des Bildungsprozesses. Die ursprünglich in den Bildungsbegriff investierte Rationalität wurde aufgegeben zugunsten einer Assoziation mit konservativ-bürgerlichen Ideologien. Die Praxis flüchtete in die Geborgenheit der unpolitischen pädagogischen Provinz; die Theorie in eine Explikation des nun irrationalistischen Restbegriffs von Bildung.
[016:19] Ich behaupte nun, daß für die Pädagogik in unserer gesellschaftlichen Situation das erste Moment des Bildungsbegriffs von entscheidender Bedeutung ist, will diese Pädagogik mehr sein als eine Rechtfertigungslehre dessen,
»was ohnehin geschieht«
. Stimmt es nämlich, daß diese Gesellschaft kein bloßes Repetitionsphänomen ist, d. h. daß die gesellschaftlichen Bedingungen in ihrem gegenwärtigen Zustand nicht nur zu erhalten und u. a. auch durch die Erziehung zu reproduzieren seien, dann fällt der Pädagogik als Praxis wie als Theorie die Aufgabe zu, |A 67|in der heranwachsenden Generation das Potential gesellschaftlicher Veränderung hervorzubringen. Insofern Bildung sowohl die kritische Rationalität, d. h. Einblick in die Bedingungen der gesellschaftlichen Existenz enthält, als auch diese Rationalität im Namen einer objektiv geltenden Vernünftigkeit verfährt, enthält sie jenes Potential und schließt sie die Erziehungswissenschaft mit der Erziehungspraxis zusammen: der dem kritisch-rationalen Verfahren, deren sich die Wissenschaft beim Zustandekommen ihres Aussagensystems bedient, zugrunde liegende Begriff der Rationalität ist zugleich Kriterium für gelungene oder mißglückte Erziehung. Allein dieser Sachverhalt rechtfertigt und sichert das Vorhandensein einer Erziehungswissenschaft; er ist die gesellschaftliche Bedingung ihrer Möglichkeit.
[016:20] Daraus ergibt sich nachträglich, daß die Kritik am Zustand der pädagogischen Theorie letzten Endes nicht positivistisch sein kann. Geschichtlich-gesellschaftliche Gegenstände können mit den Mitteln empirischer Erfolgskontrolle allein nicht hinreichend analysiert werden. Andererseits aber bleibt die Gefahr der Ideologisierung auch so lange bestehen,
»als Hermeneutik die Verhältnisse an dem allein mißt, wofür sie sich subjektiv halten«
. 13
|A 176|13
J. Habermas, Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik, in: Zeugnisse. Th. W. Adorno zum 60. Geburtstag, Frankfurt/Main 1963, S. 480. S. 9
Analyse der empirisch nachprüfbaren Prozesse und Kritik der Zwecke, denen solche Prozesse wie auch die Analyse selbst unterstellt werden, sind zusammengenommen erst die unteilbare Aufgabe der Erziehungswissenschaft. Diese, als die institutionalisierte Rationalität der Erziehung, ist ihrem Anspruch nach seit der Aufklärung ein Instrument gegen Dogmatismus in jeder Form. Rationalität läßt sich deshalb nicht, ohne gegen sie selbst zu verstoßen, auf die Lösung pragmatischer Probleme beschränken; sie kritisiert prinzipiell jedes Dekret. Die Vernunft hat ein Interesse an Mündigkeit, Autonomie des Handelns und Befreiung von Dogmatismus. Sie ist, als wissenschaftliche Praxis, nicht nur ein faktisches Moment einer aufgeklärten Gesellschaft, sondern enthält auch zugleich den Willen zur Rationalität. Sie ist, wie Habermas formuliert, entschieden für Gerech|A 68|tigkeit, Wohlfahrt, Frieden, entschieden gegen Dogmatismus; sie ist
»dezidierte Vernunft«
. 14
|A 176|14
J. Habermas, Theorie und Praxis, Neuwied 1963, S. 235.
[016:21] Die irrationalen Elemente der Erziehungswissenschaft können zwar durch konsequente Empirie reduziert werden. Würde die Erziehungswissenschaft aber solche Reduktion als ihre ausschließliche Aufgabe betrachten, dann würde sie dem Irrationalismus außerhalb ihres Verfahrens um so größeren Raum geben. Der Irrationalität ist nicht durch Empirie allein, sondern nur zusammen mit Hermeneutik beizukommen. Hermeneutik darf aber nicht nur verstehender Nachvollzug eines subjektiv so oder so Gemeinten, sondern sie muß zugleich und in diesem Verstehen Kritik sein. Das heißt, daß die immanente Interpretation pädagogischer Gegenstände prinzipiell hinter der hermeneutischen Aufgabe zurückbleibt. Zur Kritik und damit zu einem rationalen Verfahren in dem totalen Sinne des Wortes wird sie nur, wenn sie die subjektive Vernünftigkeit der interpretierten Sache an dem mißt, was objektiv möglich war, wenn das pädagogische Phänomen als ein partikulares nicht nur gesehen, sondern auch im Zusammenhang der je aktuellen gesellschaftlichen Interessen, als ein Teil des Ganzen, bestimmt wird.
[016:22] Eine solche Bestimmung der je gemeinten Sache ist dadurch kritisch, daß sie sie in ihr je Wirkliches und Mögliches auflöst. Eine Erziehungstheorie, die entweder bei der Explikation dessen, was die Sache sein möchte – die Gefahr der traditionellen geisteswissenschaftlichen Pädagogik –, stehenbleibt oder sich mit der Analyse dessen, was sie ist – die Gefahr einer rein empirisch konzipierten Pädagogik –, begnügt, verfehlt damit den totalen Anspruch, den der Begriff der Rationalität enthält. Der Prozeß der Vergesellschaftung begrenzt und beschränkt zwar immer die Realisierung der Rationalität, aber er vernichtet nicht ihren Begriff. Solange dieser noch lebendig ist, enthält die Wirklichkeit auch jene Spannung des Wirklichen zum Möglichen, die zum Bewußtsein zu bringen die Aufgabe der erziehungswissenschaftlichen Theorie ist. Das gelingt aber nur, wenn eine rationale Analyse die Momente der Wirk|A 69|lichkeit, die Vernünftigkeit verhindern, in ihrer ganzen Komplexität kritisiert und als das bezeichnet, was sie sind: Unterdrückung, Verfälschung, Vorurteil, Ideologie.
[016:23] Insofern ist – und das läßt sich an der jüngsten erziehungswissenschaftlichen Forschung unschwer zeigen – Rationalität zunächst immer negativ. Ihre Kritik ist Verneinung der konstatierten Unfreiheit. Sie kritisiert zwar im Namen einer besseren Erziehung – und damit auch im Namen einer besser organisierten Gesellschaft –, tut dies aber dadurch, daß sie die Mangelhaftigkeit des Faktischen durch die Konfrontation mit dem Möglichen erweist. Das bedeutet nicht, daß es Aufgabe der Erziehungswissenschaft sei, inhaltlich detaillierte Entwürfe einer
»besseren Erziehung«
vorzulegen, da diese, wollen sie nicht utopisch sein, ihrerseits ein Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Interessenlagen sein müßten, also von vornherein ein Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Kritik wären. Die Negation, da sie zugleich Aufdeckung eines Möglichen ist, eröffnet lediglich dem geschichtlichen Fortschritt, der Praxis der Vernunft, eine neue Chance. Indessen: Diese Chance der Willkür gesellschaftlicher Interessen zu überantworten, weil ihre Präzisierung mit einem puritanischen Wissenschaftsbegriff nicht mehr zu vereinbaren sei, hieße, die Wissenschaft in ihren Ergebnissen der zufälligen Normativität der Ideologien überlassen, hieße, die Rationalität an einer Stelle aufgeben, wo sie sich überhaupt erst zu bewähren hätte: Die Verantwortung des Wissenschaftlers als Verantwortung für die Realisierung von Mündigkeit schließt die Verantwortung für die Praxis mit ein.
[016:24] Das bedeutet allerdings, daß Verantwortung nun doch ein konstitutives Element der Erziehungswissenschaft ist. Diese Verantwortung aber ist nichts der Erziehungswissenschaft Eigentümliches, es ist keine gesellschaftlich partikulare
»pädagogische Verantwortung«
, die in einem irrationalen Ethos gründet, sondern die Verantwortung für das kritische Potential einer Gesellschaft, die ohne rationale Kontrolle nicht das sein könnte, was sie ist bzw. was zu sein sie vorgibt.15
|A 176|15Entgegen anderen Auslegungen scheint mir E. Weniger diesen Sachverhalt durchaus intendiert zu haben, wenn er schreibt, der Theoretiker müsse
»von der Verantwortung und von den Zielen aus denken«
. Wenn es dann weiter heißt, er müsse
»die pädagogische Haltung besitzen und das pädagogische Ethos in seinem Denken verwirklichen«
, dann bleibt diese Formulierung nur vertretbar, solange
»pädagogisch«
hier soviel bedeutet wie
»im Hinblick auf das Mündigwerden des jungen Menschen«
(E. Weniger, a. a. O., S. 21)
.
»In diesem Sinne ist die pädagogische Wissenschaft durchaus reflexion engagée. Ein verantwortliches Denken, das eine geistige Entscheidung bei sich hat, klärt sich auf, versteht sich aus seinen Voraussetzungen und prüft sich in diesem seinem Wollen und seinem Glauben. Es ist aber keineswegs voraussetzungslos, und objektiv nur im Sinne der Sachtreue und inneren Wahrhaftigkeit – aber nicht im Sinne eines standpunktlosen, uninteressierten Betrachters, der ein Objekt rein vor sich hat, als wolle er nichts von ihm«
(W. Flitner, Das Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft in der Gegenwart, Heidelberg 1957)
. Diese Sätze könnten ganz im Sinne jener entschiedenen Vernunft verstanden werden, wenn in ihnen nicht offenbliebe, welcher Art denn diese
»geistige Entscheidung«
ist.
|A 70|

Hypothesen für eine rationale Erziehungspraxis

[016:25] Die so oft mit Recht geschmähte Kulturkritik der Pädagogen bekommt damit ihren Sinn. Erziehungswissenschaft kritisiert im Namen der vorenthaltenen Rationalität, d. h. im Namen eines Prinzips, das in der Wissenschaft zwar besonders exponiert ist, aber doch in der gesamten gesellschaftlichen Praxis gilt und im Bereich der Erziehung und Bildung als
»Mündigkeit«
zu einem Normbegriff verdichtet wurde. Die praktische Frage, zu deren Beantwortung die Erziehungswissenschaft beizutragen hat, lautet daher: Wie ist das pädagogische Feld zu strukturieren, damit die Vernünftigkeit der zu erziehenden Subjekte nicht verhindert, sondern gefördert werde? Deshalb möchte ich abschließend einige Hypothesen für die Erziehungspraxis andeuten, deren Überprüfung mir sowohl im Hinblick auf die gegenwärtige Praxis wie auch auf den Zustand der gegenwärtigen Theorie sinnvoll zu sein scheint.
[016:26] 1. Aufklärung als ein rationales, im Medium des Wortes sich abspielendes Verfahren wird kaum hinreichend sein, das Erhoffte – die Mündigkeit – hervorzubringen. Das scheint mir schon allein deshalb der Fall zu sein, weil es unwahrscheinlich ist, daß die ganze Breite der heranwachsenden Generation von ihr in einem ernst zu nehmenden und Folgen zeitigenden Ausmaß erreicht wird. Es wäre daher zu prüfen, wie weit das pädagogische Arrangement heterogener Erfahrungen möglich und hier ein sinnvolles Mittel ist. Das traditionelle pädagogische Feld wird so aufgebaut, daß in ihm möglichst Gleichsinnigkeit aller Momente herrscht. An der Geschichte der so genannten Freizeitpädagogik hat sich das im letzten Jahrzehnt deutlich gezeigt: ihr Prinzip war (und ist), nach Maßgabe eines bestimmten Begriffs von gesundem Heranwachsen die Diskrepanzen der gesellschaftlichen Wirklichkeit, da man sie schon aus dieser nicht eliminieren kann, in die Pädagogik nicht eindringen zu lassen, um in bruchlos sich aneinanderreihenden ähnlichen Erfahrungen – in diesem Fall |A 71|einer bestimmten Auswahl musisch-kultureller Tätigkeiten – dasjenige aufzubauen, was man sich als die integre Persönlichkeit des jungen Menschen vorstellt. Stattdessen ist ein pädagogisches Feld denkbar, das zwar nicht die außerpädagogische gesellschaftliche Wirklichkeit abbildet, aber doch diejenigen ihrer Dichotomien, die Rationalität erfordern oder evozieren können, in sich aufnimmt.
[016:27] 2. Damit hängt die Frage nach der pädagogischen Funktion von Konflikten zusammen. Bezeichnenderweise spielen Konflikte weder in der Erziehungspraxis noch in der pädagogischen Theorie irgendeine nennenswerte positive Rolle. Es wäre zu prüfen, ob und in welcher Weise Konflikte in den pädagogischen Prozeß hineingenommen werden können, denn es scheint mir sinnvoll zu sein, zu vermuten, daß ihnen in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Lage ein spezifischer Bildungssinn innewohnt. Die moderne demokratische Gesellschaft wurde von Dahrendorf als eine solche charakterisiert, für die die Regelung von Konflikten statt ihrer Unterdrückung kennzeichnend ist.16
|A 176|16Vgl. R. Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, München 1961; ferner K. Mollenhauer, Einführung in die Sozialpädagogik, Weinheim 1964, S. 83 ff.
Man muß aber wohl Dahrendorf entgegenhalten, daß sich mit mindestens dem gleichen Recht behaupten ließe, daß Konflikte von einem bestimmten Typ eben nicht geregelt, sondern eher beschwichtigt oder verdeckt werden. So gelangt etwa der fundamentale Konflikt des Jugendlichen in der industriellen Arbeitssituation kaum nach außen, sondern setzt sich als unformuliertes Unbehagen, als Mißvergnügen, Unzufriedenheit und das Gefühl subjektiven Unglücks im Heranwachsenden fest. Gesetzt, diese Aussagen treffen wirklich die Sachverhalte, gäbe es mindestens zwei pädagogische Konsequenzen: die Einführung von Konfliktsituationen und die Einführung einer Praxis ihrer Regelung in das pädagogische Feld einerseits; andererseits die Formulierung, Aufklärung und Reflexion latenter Konflikte.
[016:28] 3. Auch die im Erziehungsprozeß auftretenden Sprachphänomene haben noch nicht die Beachtung gefunden, die ihnen in diesem Zusammenhang gebührt. Obwohl die Behauptung von der positiven Korrelation von Sprache und Bildung zum klassischen Bestand der deutschen Bildungstheo|A 72|rie gehört, ist sie von nennenswerter Bedeutung jedoch nur als Rechtfertigungshypothese für den altsprachlichen Unterricht und als didaktische Begründung für muttersprachliche Bildung geworden. Daß kritisches Vermögen nicht anders als im Medium der Sprache gedacht werden kann, Sprache deshalb im Hinblick auf Bildung fundamentale Bedeutung hat, darf eigentlich nicht ohne pädagogische Konsequenzen bleiben. Mir scheint, daß solche Konsequenzen nicht nur für die Höhere Schule oder nur für die Altersklasse der Jugendlichen zu ziehen wären, sondern daß unter diesem Gesichtspunkt der gesamte Prozeß des Heranwachsens betrachtet werden muß.
[016:29] 4. Zu prüfen wäre ferner, wie weit es möglich ist, in die alltägliche Erziehung, auch in die Schule, Situationen oder Vorgänge mit Ernstcharakter einzubauen – ein Problem, das die Erzieher immer wieder beschäftigt hat. Zwei Beispiele mögen das Problem zuspitzen: Die Schülermitverwaltung würde erst dann mehr als soziale Einübung oder Spielerei in einem von der Schulleitung zugelassenen Maß, wenn sie Interessenvertretung würde, d. h. selbst eine politische Situation nicht nur mit untauglichen Mitteln nachzuahmen versuchte, sondern produzierte. Das klingt freilich für die Lehrerschaft erschreckend und würde in der Tat den traditionellen Vorstellungen von Erziehung widersprechen. Mir scheint aber, daß es weder dem Begriff von Bildung noch den didaktischen und psychologischen Bedingungen der Erziehung entgegensteht. Mit dem Fernsehen verhält es sich ähnlich. Abgesehen von den Antipathien, die sich seiner Einführung in die
»Pädagogische Provinz«
widersetzen, befaßt sich die pädagogische Diskussion im Augenblick mit den Fragen der Programmgestaltung. Diese Diskussion führt möglicherweise im Prinzip zu nichts anderem als dem, was wir unter dem Namen des Lehrfilms bereits kennen, jetzt nur mit größeren Möglichkeiten, größeren inhaltlichen Varianten, methodisch geschickter. Eine besondere pädagogische |A 73|Chance des Fernsehens aber liegt vielleicht in der Life-Sendung. Sie schafft eine Situation, auf die sich der Erzieher ebensowenig vorbereiten kann wie der Heranwachsende. Gerade dies aber wird – eine freilich anfechtbare Vermutung – das mehr oder weniger verdeckte Hauptargument gegen den pädagogischen Wert der Life-Sendung sein. Ich indessen meine, daß es das entscheidende Argument für sie ist: der Erzieher ist gezwungen, in spontaner Auseinandersetzung mit dem gegebenen Stoff die Praxis seines eigenen kritischen Bewußtseins zu demonstrieren. Allerdings verlangt das eine gebildete und wissenschaftlich ausgebildete Erzieherschaft, die selbst realisiert, was sie in den Präambeln der Bildungspläne von ihren Schülern erwartet.
[016:30] 5. Schließlich wäre zu fragen, ob eine Bildung zu kritischer Rationalität nicht dadurch gefördert würde, daß die pädagogischen Institutionen beweglich gehalten würden, durch eine möglichst weitgehende Mobilität des pädagogischen Feldes. Dem scheint freilich die faktische Macht und Schwerfälligkeit, z. B. der Schule, entgegenzustehen. Um so größere Möglichkeiten enthält indessen in dieser Hinsicht die Jugendarbeit. Schon das Prinzip der Freiwilligkeit und die Vielzahl der verschiedenen Einrichtungen geben der Jugendarbeit eine mobilere Struktur. Zudem können die Heranwachsenden an den Einrichtungen selbst und ihrer Veränderung in weit wirksamerer Weise beteiligt werden, als das der Schule im Augenblick möglich ist. Insofern nun diese Mobilität nur für eine begrenzte Gruppe von Institutionen typisch ist oder sein kann, entstehen damit zugleich zwei voneinander abweichende Begriffe von Pädagogik. Diese Differenz ist ein Widerspruch, der allerdings nur dann fruchtbar und ein Moment gesellschaftlichen Fortschreitens, hier der Erziehungspraxis im Ganzen, wird, wenn die pädagogischen Institutionen vom Typus der Mobilität die widersprechende Funktion ihres Begriffs von Pädagogik gesellschaftlich-praktisch realisieren und sich nicht ihrerseits als pädagogische Provinzen etablieren.
|A 74|
[016:31] Mit der Institutionalisierung der Wissenschaft dokumentiert die Gesellschaft, daß sie die Kritik an sich selbst nicht nur zuläßt, sondern diese als ein konstituierendes Moment des ihr entsprechenden Bewußtseins verlangt. Die Einschränkung solchen kritischen Vermögens widerstreitet ihrem eigenen Begriff insofern und nur insofern, als sie sich für veränderungswürdig und veränderungsfähig hält. Veränderung ist als eine Veränderung durch die Subjekte nur möglich, solange noch ein Widerspruch gegen die Faktizität der gegebenen Lage erfolgt, solange ein Vernünftigeres als sie nicht nur denkbar ist, sondern auch ausgesprochen wird und als eine neue Praxis in ihren Zusammenhang eintritt. Der Erziehung fällt in diesem Zusammenhang zu, die subjektiven Bedingungen solcher Veränderbarkeit mindestens nicht zu verschütten, im Grunde aber sie hervorzubringen.
|A 75|

Die Rollenproblematik des Lehrerberufs und die Bildung

[009:2] Der sozialwissenschaftliche Begriff der Rolle findet zunehmend auch im Zusammenhang mit erziehungswissenschaftlicher Forschung Verwendung. Das gilt für die Probleme der außerschulischen Jugendbildung, für die Erforschung kriminalpädagogischer Zusammenhänge, überhaupt für die Analyse pädagogisch relevanter Gruppenprozesse, für die Erklärung von Vorgängen, die unter dem Namen
»Sozialisation«
zusammengefaßt werden, insbesondere aber für die Analyse der Schule als eines sozialen Systems. Der hohe Grad von Institutionalisierung des Bildungswesens ließ mit Recht vermuten, daß das Rollenmodell auch für die pädagogische Forschung fruchtbar gemacht werden kann. Es verwundert deshalb nicht, wenn es die Problematik des Lehrerberufs war, an der die Ergiebigkeit dieses Erklärungsmodus im deutschen pädagogisch relevanten Schrifttum zuerst erprobt wurde. In das – durch eine kaum noch übersehbare Literatur unterschiedlichsten Niveaus – von Vorurteilen und ideologischen Programmen verdunkelte Berufsgefüge des
»Lehrers«
konnte auf diese Weise etwas Licht gebracht werden. Dabei ist bemerkenswert, daß die umfangreicheren empirischen Untersuchungen zur Rollenproblematik aus der Feder von Lehrern selbst stammen (Gahlings, Lempert, Schuh, Tuggener). Damit scheint sich in der Forschung zu bestätigen, was unter anderem ein Ergebnis eben dieser Forschung ist: die Ernüchterung des Lehrerstandes im Hinblick auf seine Selbsteinschätzung und die damit verbundene Veränderung von einem ideologischen zu einem realistischen Berufsbild. Die Über|A 76|spanntheit eines hochgestochenen Berufsethos weicht einer der Berufswirklichkeit entsprechenden Würdigung der Möglichkeiten, an die Stelle allgemeiner Tugendforderungen treten berufsspezifische Eigenschaften.
[009:3] Damit begann eine Diskussion, die zunächst unter dem Gesichtspunkt der
»Störfaktoren«
die Lage des Lehrers zu analysieren versuchte. Sie erweiterte sich bald in mehreren Richtungen: in Richtung auf die Abhängigkeit des Lehrers von Gruppen und Verbänden, die an der Schule interessiert sind; in Richtung auf das Gesellschaftsbild des Lehrers, insbesondere die mit seiner Rolle verbundenen Implikationen eines politischen Bewußtseins; und in Richtung auf sein Selbstbild, das heißt die Rollenerwartungen, die er sich zu eigen macht, bzw. jene, die er den an ihn herangetragenen Erwartungen entgegenzusetzen versucht. Zu einer Rollentheorie des Lehrers ist es indessen bisher nicht gekommen. Auch hier kann eine solche Theorie nicht entwickelt werden, es soll lediglich auf einen Aspekt der ganzen Problematik hingewiesen werden.
[009:4] Unter dem Titel
»Die Rollenproblematik des Lehrerberufes«
1
|A 177| 1 J. Kob, Die Rollenproblematik des Lehrerberufes, in: Soziologie der Schule, Sonderheft 4 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, hrsgg. von P. Heintz, Köln und Opladen 1959.
hat Kob sich diesem Problem als erster im deutschen Schrifttum ausdrücklich zugewandt. Der Rollenbegriff scheint in der Tat geeignet zu sein, die besondere Problematik nicht nur des Lehrerberufes, sondern des Verhältnisses von Bildung und Gesellschaft, von Erziehungswissenschaft und Soziologie hervortreten zu lassen, allerdings nur dann, wenn die erziehungssoziologische Analyse die Bildungsproblematik in ihre Fragen mitaufnimmt. In bezug auf den Lehrer und seine Stellung in der Gesellschaft heißt das, daß sein, gern als
»Ideologie«
verdächtigtes, Selbstverständnis erst einmal verstanden sein muß, wenn die soziologische Analyse den gemeinten Sachverhalt erreichen will. Die Arbeit Kobs ist besonders geeignet, diese Klippen der Forschung zu verdeutlichen, denn gerade bei weiter ausgreifenden Analysen und Deutungen, im Unterschied zu enger begrenzten empirischen Feststellungen, macht sich der Mangel an differenzierten Fragestellungen bemerkbar. Oder trivial formuliert: Die Kenntnis der Erziehungswis|A 77|senschaft würde den
»Soziologen der Erziehung«
viel Arbeit ersparen. Denn es ist z. B. falsch und nichts als ein verbreitetes soziologisches Stereotyp, daß eine die Gesellschaft pädagogisierende Erziehungstheorie die bloße Folge neuer Bedürfnisse der sogenannten industriellen Gesellschaft sei. Merkwürdigerweise nämlich sind z. B. die von Kob formulierten
»neuen pädagogischen Funktionen«
bis auf wenige Ausnahmen der Bildungstheorie seit mindestens 150 Jahren bekannt. Damit soll nur gesagt werden, daß Erziehungstheorie und gesellschaftliche Struktur in einem Funktionszusammenhang verstanden werden müssen, dessen Reziprozität in den Ansatz der erziehungssoziologischen Fragestellung eingehen sollte. Analog verhält es sich mit den Stereotypen von der
»zivilisationspessimistischen, antiindustriellen«
Haltung der
»gegenwärtigen Erziehung«
. 2
|A 177| 2 A. a. O., S. 93.
Was meint man, wenn man von dieser
»gegenwärtigen Erziehung«
spricht? Soll damit die Praxis getroffen werden, dann muß man zugeben, daß gewiß manche Beobachtungen eine Vermutung in dieser Richtung zulassen. Indessen ist doch nach den soziologisch-internen Maßstäben einer empirischen Sozialforschung eine solche Feststellung bis heute kaum zu verantworten. Spricht man aber weiter von den
»verbindlichen Deutungen, welche die Kulturkritik zum Prinzip der Erziehung überhaupt erheben«
, dann wären genauere Angaben und explizite Auseinandersetzungen am Platze, ganz abgesehen von der wünschenswerten Auskunft, unter welchen Bedingungen denn eine
»Deutung«
als
»verbindlich«
gelten könne.
[009:5] Nun mag die Feststellung in der Tat richtig sein, daß heute häufig
»Kulturkritik als ein Prinzip der Erziehung«
postuliert wird. Indessen ist doch aber nach dem Sinn dieses Postulates zu fragen, ehe man es polemisch als Outsider-Attitüde desavouiert und gegen den Lehrer als einen angeblichen
»soziological stranger«
ins Bild führt. Allerdings spricht alles dafür, daß die Formel vom
»soziological stranger«
diesen Aspekt der sozialen Situation des Lehrerstandes durchaus trifft. Ist mit ihr aber mehr gemeint, als bestimmte Mangelerscheinungen im Bereich sozialer Kommu|A 78|nikation – und ihre Verknüpfung mit der Behauptung eines kulturkritischen Bewußtseins läßt das vermuten –, dann ist zu fragen, welch pädagogischer Sinn ihr etwa innewohnen kann, und ob es sich nicht um Phänomene handelt, die mit dem Begriff der Bildung und den gegenwärtigen Aufgaben der Erziehung unmittelbar zusammenhängen. Es soll deshalb im Folgenden versucht werden, mit Hilfe des Rollenbegriffs die pädagogische Problematik des Lehrerberufes in einigen wichtigen Merkmalen festzustellen.

Zum Erwartungsfeld des Lehrerberufs

[009:6] Die Deutlichkeit, mit der eine Rolle festgelegt ist, kann sehr unterschiedlich sein. So ist z. B. nach einer Behauptung Hartleys 3
|A 177|3 E. L. Hartley und R. E. Hartley, Die Grundlagen der Sozialpsychologie, Berlin 1955.
die Rolle der Eltern als Erzieher wenig festgelegt. Dies scheint aber nicht nur für die Familie zuzutreffen, sondern überall dort zu gelten, wo erzieherisches Verhalten im engeren Sinne und im Unterschied zum Unterrichten und Ausbilden erwartet wird. Das bedeutet, daß der Interpretation der vage gehaltenen Erwartungen ein relativ großer Spielraum eingeräumt wird, also eine Art gesellschaftlich festgelegter Freiheit des Erziehers; es bedeutet aber auch, daß die Präzisierung der unbestimmten Erwartungen nicht vom Erzieher, sondern von den Bezugsgruppen vorgenommen werden kann und der Erzieher sich einer Anzahl widersprechender Verhaltensvorschriften gegenübersieht. Das scheint nun durchaus die Konsequenz eines demokratisierten Schulwesens in der ein solches Schulwesen ermöglichenden Gesellschaft zu sein. Noch das 18. Jahrhundert vermied alles, was das Erziehungs- und Unterrichtsgeschäft in solche Ambivalenzen hätte bringen und den Lehrer in ein variationsoffenes und interpretationsbedürftiges Rollenfeld hätte setzen können. Landlehrer wurden in den Dorfschulen herangezogen, damit die eindeutig festgelegten Erwartungen schon frühzeitig internalisiert wurden.
[009:7] In der Tat sind die Interpretationsbedürftigkeit der Phä|A 79|nomene Erziehung und Schule und die damit gegebenen divergenten Verhaltenserwartungen der beteiligten Interessengruppen konstitutiv für die Situation des Lehrers heute. Diese Divergenz bringt aber den Lehrer in eine schwierige Lage, denn man erhofft von ihm nicht nur, daß er den Erwartungen der großen Gruppen gerecht wird, das heißt, daß er vermittelnd ständig Kompromisse schließt zwischen den Forderungen nach Leistungssteigerung, Begabtenförderung, Information, persönlicher und sittlicher Bildung, sondern man erwartet ebenso, daß er den je besonderen Vorstellungen von einer
»richtigen«
Erziehung, von angemessenen pädagogischen Mitteln entspricht, die innerhalb der Elternschaft einer Schulklasse durchaus verschieden sein können, ohne zu einem Konsensus im Sinne einer deutlich festgelegten Verhaltenserwartung zu kommen. Es scheint, daß dies schon die Situation des Lehrers im 19. Jahrhundert war. Es scheint außerdem, daß der Lehrer durch solche Struktur des Rollenfeldes in eine kritische Distanz zu dem ihm begegnenden gesellschaftlichen System – hier konkretisiert in Verhaltenserwartungen – geradezu gedrängt wird. Derart heteronomen Forderungen gegenüber ist der Ausweg in einsinnige Schulsysteme, in denen die Divergenzen, mit welchen Mitteln auch immer, zum Verschwinden gebracht werden, freilich auch heute möglich. Allerdings ist dies nur – wenn man von totalitären Systemen absieht – die Möglichkeit kleiner Gruppen. Die Masse der Lehrerschaft muß diese Situation bewältigen; sie kann ihr nicht ausweichen.
[009:8] Das Material, das die vorliegenden Untersuchungen zu diesem Problem beizutragen vermögen, ist nicht sehr umfangreich; es bietet jedoch wenigstens einige Anhaltspunkte. Alle einschlägigen Untersuchungen konnten feststellen, daß der Lehrer eine ausgesprochen starke Belastung durch die an ihn herangetragenen Rollenerwartungen empfindet.
[009:9] So hat eine Analyse der Störfaktoren im Lehrerberuf feststellen können, daß unter 23 Rangplätzen die Eltern als Störfaktoren auf dem 5. Rangplatz erscheinen, die Ansprüche der Industrie, der Elternbeiräte usw. auf dem 11., |A 80|die moralische Überforderung (von welcher Seite auch immer) auf dem 15., das Verhältnis zu den Kollegen auf dem 17. Rangplatz.4
|A 177|4E. Schuh unter Mitarbeit von H. Belser, Der Volksschullehrer, Störfaktoren im Berufsleben und ihre Rückwirkung auf die Einstellung im Beruf, Hannover 1962.
Bei einer Kontrollbefragung nach nur 6 Gruppen von Störfaktoren (soziale Stellung, außerschulische Kritik und Anforderungen, Arbeitsbedingungen, Schulfurcht, schwierige Schüler, Verhältnis zu Kollegen) rückten die soziale Stellung auf den 1., die außerschulische Kritik und Anforderung schon auf den 2. Rangplatz Bemerkenswert ist, daß die genannten Störfaktoren für den Landlehrer eine weit weniger gewichtige Rolle spielen als für den Stadtlehrer. Welche Schlüsse sich daraus im Hinblick auf die Rollenproblematik ziehen lassen, ist unklar. Es ist sowohl zu vermuten, daß die Verhaltenserwartungen auf dem Dorf weniger präzise sind, als auch, daß der Landlehrer den Erwartungen eher zu entsprechen bereit ist. Jedenfalls scheint die von Gahlings und Moehring konstatierte Rollenüberlastung auf dem Lande ein Spezifikum der Frauen, und zwar der unverheirateten Lehrerinnen zu sein. Insgesamt aber entfaltet sich die Problematik am klarsten doch wohl in den städtischen Schulsituationen.
[009:10] Deutlich tritt die Divergenz, ja Rivalität der Verhaltenserwartungen am Gewerbelehrer hervor. Jedenfalls ist dies eines der Ergebnisse einer Studie von Lempert.5
|A 177|5W. Lempert, Der Gewerbelehrer. Eine soziologische Leitstudie. Göttinger Abhandlungen zur Soziologie, hrsgg. von H. Pleßner, Band 7, Stuttgart 1962.
Zum Beispiel wird das Vermitteln zwischen den divergenten Verhaltenserwartungen dem Gewerbelehrer dadurch besonders erschwert, daß die fest umrissenen Vorstellungen der Handwerksmeister von der Rolle des Gewerbelehrers diesem nachdrücklich fühlbar gemacht werden können. Der Gewerbelehrer steht daher beständig in einem von ihm selbst auch stark empfundenen Konflikt, in dem Entscheidungen nur durch Verletzung der einen oder anderen Seite möglich zu sein scheinen. Daß deshalb von einer Integration oft völlig abgesehen wird zugunsten einer Anpassung an die Erwartungen einer der beteiligten Bezugsgruppen (der Handwerkerschaften, der Industrie-Vertreter, der Schulbehörde usw.), ist nicht verwunderlich. Lempert zeigt, wie oft bis in die sprachliche Diktion hinein die Rollenerwartungen ausschließlich einer Bezugsgruppe internalisiert werden.
|A 81|
[009:11] Wichtig zum Verständnis des ganzen Komplexes ist die sozialpsychologische Einsicht, daß die Rollenerwartungen in verschiedenen Graden prägend wirken, und zwar je im Verhältnis zu dem Grad an Genauigkeit, mit dem sie auftreten, und den Sanktionen, mit denen sie verknüpft sind. Die verschiedenen Lehrertypen ließen sich also auch rollensoziologisch bestimmen, und zwar nach dem Gesichtspunkt derjenigen Rollenerwartung, die vorzugsweise internalisiert wird. Nach Maßgabe dieser These muß auch die Schulklasse als Bezugsgruppe betrachtet werden. 6
|A 177|6In der amerikanischen Erziehungssoziologie wird mit Selbstverständlichkeit so verfahren. In Deutschland dagegen bedarf es noch eines ausdrücklichen Hinweises, da das Wissen von der Reziprozität des Verhältnisses von Lehrer und Klasse sich erst neuerdings in der Erziehungstheorie verbreitet.
Derjenige Lehrer, der sich selbst vor seiner Klasse als
»Primus inter pares«
versteht, der
»kameradschaftliche«
Typ, der
»Jugendführer«
– oder wie immer die Lehrertypologien7
|A 177|7Vgl. dazu H.-W. Baumann, Probleme einer Typologie des Lehrers. Diss., Göttingen 1960 (Msch.).
ihn bezeichnen –, spricht eben der Klasse die entscheidende Kontrollfunktion im Hinblick auf sein Verhalten zu, erkennt sie als Bezugsgruppe an, ja er hat dadurch, daß er ein typisches Verhalten produziert, die Erwartungen dieser Gruppe bereits internalisiert. Es handelt sich hier möglicherweise um eine dem Lehrer durch die Art seiner Tätigkeit nahegelegte
»berufsspezifische Beziehungsstruktur«
(Kob), die aber ihre eigenen Gefahren enthält, da sie den Lehrer aus dem Zusammenhang seiner eigenen Generation, aus seiner Rolle als Erwachsener unter Erwachsenen, herauszuziehen imstande ist.8
|A 177|8Vgl. J. Kob, a. a. O.;
ders., Das soziale Berufsbewußtsein des Lehrers an Höheren Schulen, Würzburg 1958, S. 23
; ferner I. Gahlings und E. Möhring, Die Volksschullehrerin; Beiträge zur Soziologie des Bildungswesens, im Auftrage der Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung, Frankfurt am Main, hrsgg. von E. Lemberg, Bd. 2, Heidelberg 1961.
Wird diese Beziehungsstruktur nicht – wie beim Volksschullehrer – erziehungsideologisch gestützt, dann ist zu vermuten, daß gegenläufige Kompensationen naheliegen, das heißt, daß Selbstverständnis und Rollenorientierung des Lehrers nicht im pädagogischen Raum der Schule, sondern in Positionen der Erwachsenen-Gesellschaft gesucht werden.
[009:12] Das scheint bei dem
»Typ B«
der Leitstudie von Kob der Fall zu sein, dem Lehrer, der
»sein Selbstbewußtsein völlig auf seine fachwissenschaftliche Bildung«
gründet.
9
|A 177|9Kob, Das soziale Berufsbewußtsein ..., S. 48.
Die Bezugsgruppen, an deren Erwartungen dieser Typ sich orientiert, sind unter anderem die Fachdisziplinen der Universität, repräsentiert durch deren Lehrkörper. Wie stark diese Gruppe sich selbst als Bezugsgruppe im Hinblick auf den potentiellen Studienrat ins Spiel bringt, ist schon in |A 82|den Seminaren erfahrbar und in der Einschätzung der Erziehungswissenschaft durch die philologischen bzw. naturwissenschaftlichen Disziplinen. Die Rolle des Fachwissenschaftlers, die dieser Typ in der Öffentlichkeit spielt, garantiert ihm eine
»stärkere gesellschaftliche Sicherheit«
und bewahrt vor der Berufsgefahr der sozialen Isolierung, allerdings – wie es scheint – durch das Mittel einer willkürlichen Vereinfachung des in Wahrheit viel differenzierteren Rollenfeldes. Möglich wird diese Vereinfachung durch die unfeste Form der Verhaltenserwartungen und die damit gegebene und schon erwähnte Interpretationsoffenheit dieses Feldes.
[009:13] Diese Offenheit soll nun keineswegs beklagt werden, sie ist zunächst vielmehr nur festzustellen. Sie scheint besonders zutage zu liegen bei einer Bezugsgruppe, die in den vorliegenden Untersuchungen keine angemessene Beachtung fand: den pädagogischen Ausbildungsstätten. Es charakterisiert die Pädagogischen Hochschulen, daß ihr Ausbildungsprogramm sich nicht in einer fachlichen, erziehungswissenschaftlichen, didaktischen und methodischen Bildung erschöpft, sondern als notwendiges Komplement eine pädagogische Bildung erstrebt, mit der Haltungen und Verhaltensweisen gemeint sind, das heißt eine Internalisierung von Verhaltenserwartungen, die die Ausbildungsstätte dem zukünftigen Lehrer zumutet. Weit weniger wirksam sind die Mittel der Pädagogischen Seminare an den Universitäten; sie sind fast ausschließlich auf die Mittel der kritischen Reflexion angewiesen. Auf das Verhalten in spezifischen Berufssituationen bleiben sie ohne Einfluß. Dennoch verstehen sie sich nicht nur selbst als Bezugsgruppe, sondern werden z. B. in der Polemik mancher Studienseminare und der an der Ausbildung der Studienräte beteiligten Fachdisziplinen ausdrücklich als solche angesprochen.
[009:14] Im ganzen hat es den Anschein, als wäre die Wirkung dieser Bezugsgruppen in den realen Berufssituationen und auf die Dauer vergleichsweise gering. Die Erwartungen fügen sich nicht zu einem eindeutigen Verhaltensbild zu|A 83|sammen, in ihnen formuliert sich kein auf die konkreten sozialen Berufssituationen bezogenes Berufsethos, das imstande wäre, den Belastungen standzuhalten. Den hier verborgenen Problemen ist weder eine nur noch reflektierende Erziehungswissenschaft, noch eine naive, den gesellschaftlichen Pluralismus ignorierende pädagogische Soziallehre gewachsen. So sind die pädagogischen Ausbildungsstätten zwar potentielle Bezugsgruppen, aber ständig in Gefahr, entweder zu undeutliche oder der Reallage zuwenig angemessene Erwartungen zu entwickeln10
|A 177|10Dieses Problem ist u. a. Gegenstand eines Aufsatzes von Brezinka (Die Bildung des Erziehers, in: Beiträge zur Menschenbildung, Herman Nohl zum 80. Geburtstag, 1. Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik, Weinheim 1959), wo der dringend notwendige Versuch unternommen wird, eine realistische
»Berufsethik«
des Lehrers im Zusammenhang mit der erziehungswissenschaftlichen Forschung anzudeuten.
und damit ihrerseits die Interpretationsoffenheit des Rollenfeldes gerade an ihrer heikelsten Stelle zu konservieren.
[009:15] Die vorliegenden Untersuchungen bieten zwar einige Orientierungen bei der Frage nach dem Rollenfeld, in dem der Lehrer sich bewegt. Sie haben indessen den Nachteil, daß sie vorwiegend nach der Selbsteinschätzung des Lehrers fragen. Diese Selbsteinschätzung aber muß nicht zusammenfallen mit dem realen Verhalten, das Lehrer in Korrespondenz zu bestimmten Bezugsgruppen hervorbringen. Mindestens eine Beobachtung kann die damit angesprochene Schwierigkeit verdeutlichen: Die skizzierten Untersuchungen scheinen der großen Zahl, der von den Lehrern genannten Störfaktoren und der Heterogenität der von ihnen erlebten Verhaltenserwartungen wegen nahezulegen, daß der Lehrer sich nicht nur in einer außerordentlich konfliktreichen Situation befindet, sondern auch die rationale Bewältigung dieser Situation versucht. Dagegen lassen Untersuchungen zu pädagogischen und politischen Einstellungen von Lehrern etwas ganz anderes vermuten. Dort nämlich zeigen sich ein relativ geringes Bewußtsein von Art und Bedeutung sozialer Konflikte, ein Vorherrschen harmonisierender Sozialvorstellungen, mittelständisch-konforme Wertorientierungen – Merkmale also, die gerade auf eine stabile Integration in ein gegebenes mittelschichttypisches Rollengefüge schließen lassen. Will man solche Einstellungen als Kompensation der ermittelten subjektiven Belastungserlebnisse deuten? Oder will man umgekehrt das Gefühl der Belastung und vor allem die Pro|A 84|bleme, an denen sie sich für das Bewußtsein des Lehrers konkretisiert, als Folge einer vorgängigen, auf die mittelständische Herkunftsgruppe bezogenen Handlungsorientierung verstehen? Welcher Deutung man auch zuneigt, pädagogisch bleiben sie beide unbefriedigend, und zwar vermutlich daher, weil die bisher herangezogenen Gesichtspunkte dazu nicht ausreichen. Auf diese Weise mag zwar vieles im Verhalten und in den Einstellungen von Lehrern erklärt werden können; es bleibt aber im Dunklen, wie die am Begriff der Mündigkeit orientierte Aufgabe des Lehrers sich in solchem Kontext darstellt. Es scheint deshalb nützlich, einen Begriff einzuführen, mit dessen Hilfe erst sich das pädagogische Problem entfalten läßt, sich das Rollenfeld des Lehrer-Berufes als ein eigentümlich pädagogisches strukturiert und den Zusammenhang mit den Bildungsproblemen deutlich macht. Dieser Begriff ist die
»pädagogische Selbstrolle«
.

Die pädagogische Selbstrolle

[009:16] Hartley definiert die
»Selbstrolle«
als
»die Konstellation von Eigenschaften und Verhaltensweisen, die ein Mensch in einer beliebigen Situation von sich selbst erwartet, – parallel zu den sozialen Rollen, welche aus den Erwartungen der anderen bestehen«
11
|A 177|11Hartley und Hartley, a. a. O., S. 374 f.
; diese Konstellationen entstünden, so heißt es, aus der ursprünglichen Kindesrolle im Familienzusammenhang. Wir verwenden diesen Begriff in einer abgewandelten Form und verstehen unter der
»pädagogischen Selbstrolle«
diejenige Konstellation von Eigenschaften, Verhaltensweisen und Meinungen, die der Erzieher, die Erzieherschaft (speziell die Lehrerschaft) und die pädagogische Theorie in einem pädagogischen Gedankengang und aufgrund der mit diesem verbundenen geschichtlichen Erfahrungen entwickelt haben und die sie von sich bzw. dem Erzieher erwarten. Der Begriff
»pädagogische Selbstrolle«
ist die soziologische Form des Selbstverständnisses der Erzieherschaft bzw. der Pädagogik.
|A 85|
[009:17] Diese Selbstrolle hat in der pädagogischen Reformbewegung eine ihrer möglichen Formulierungen gefunden; sie kann als eine Reaktion auf die beschriebene Disproportionalität des pädagogischen Rollenfeldes angesehen werden. Schon damals war für die Situation des Lehrers charakteristisch, was Schuh für die Gegenwart konstatiert: Die Heterogenität der Verhaltenserwartungen und die damit verbundene Kritik
»zwingt ihn (den Lehrer) ... heute zu einer Stellungnahme dieser Kritik gegenüber und veranlaßt ihn schließlich, aus pädagogischen Motiven heraus als einzelner und als Glied des Standes an der Gestaltung des Erziehungswesens politisch mitzuwirken«
12
|A 177|12Schuh, a. a. O., S. 48.
. Die Divergenz der kontrahierenden Bezugsgruppen motiviert den Lehrer, eine eigene Rolle auszubilden, um sie als maßgebenden oder korrigierenden Faktor ins soziale Spiel zu bringen.13
|A 177|13Aufgrund der Arbeit von Schuh ist die Vermutung möglich, daß die Volksschullehrerschaft in diesem Punkt zunächst sich einig ist. Diese Vermutung nämlich wird dadurch nahegelegt, |A 178|daß sich bei der Einschätzung der Störfaktoren durch die Lehrer im Vergleich der Gruppen mit verschiedener Ausbildung keine signifikanten Unterschiede zeigten. Die Unterschiede entstehen erst durch unterschiedliche und langandauernde Praxis.
Diese Einstellung scheint der Volksschullehrerschaft selbstverständlich zu sein. Aber auch für den Gewerbelehrer ist diese Vermutung zulässig, wenn man Lempert folgen will, der feststellte, daß nur 10 Prozent der Lehrer seiner Stichprobe den Erwartungen der Handwerksmeister entsprechen und – in einer anderen Gegenüberstellung nur 19 Prozent sich nicht mit den Reformvorstellungen der pädagogischen Theorie identifizierten. Das ist möglich, weil einerseits die Vagheit der Erwartungen dem Lehrer einen großen Spielraum läßt, weil aber andererseits nur ein beschränkter Teil seines pädagogischen Verhaltens der sozialen Kontrolle unterworfen ist. Wesentliche Teile des didaktischen und methodischen Vorgehens, Feinheiten in der Behandlung der Schüler, pädagogische Überschußleistungen sind durch die sozialen Rollen nicht festgelegt. In diesen Lücken kann sich die Selbstrolle entfalten; allerdings sind diese
»sozialen Erwartungslücken«
erst im Laufe einer Entwicklung entstanden, an der die Selbstrolle als ein nicht unwichtiger Faktor beteiligt war. Die in diesen Zusammenhang gehörende Behauptung Lemperts, die Rivalität der Bezugsgruppen sei die beste Sicherung für die erzieherische Autonomie, ist allerdings so kaum zu halten, obwohl zugegeben ist, daß gerade diese |A 86|Rivalität den Gedanken der pädagogischen Autonomie evoziert hat.
[009:18] Anstatt von der pädagogischen Selbstrolle zu sprechen, wäre es daher auch möglich und sinnvoll gewesen, den Begriff der pädagogischen Autonomie zu explizieren. Sie nämlich scheint mir der Sinn dieser Selbstrolle zu sein, soweit mit dem Begriff unter anderem eine pragmatische Absicht bezweckt wird – und das steht außer Frage. Die autonome Erziehungstheorie kann daher als derjenige theoretische Zusammenhang von Aussagen verstanden werden, der die Selbstrolle begründen und stützen soll: als die – in einem weiten Sinn verstandene – Ideologie der Selbstrolle. Diese Theorie hat sich ein sozial wirksames Instrument in den pädagogisch-akademischen Ausbildungsstätten geschaffen, sie hat – was der Rollen-Begriff ja bereits impliziert – die der Selbstrolle korrespondierende Bezugsgruppe hervorgebracht. Seit es die pädagogische Selbstrolle gibt, kann der Erzieher auf die an ihn herangetragenen Verhaltenserwartungen mit Gegenfragen antworten.
»Die Wirkung der Fragen auf den Fragenden ist eine Hebung seines Machtgefühls; sie geben ihm Lust, noch mehr und mehr zu stellen. Der Antwortende unterwirft sich um so mehr, je häufiger er den Fragen nachgibt. Die Freiheit der Person liegt zum guten Teil in einem Schutz vor Fragen ... klug ist eine Antwort, die dem Fragen ein Ende macht. Wer es sich erlauben kann, kommt mit Gegenfragen; unter Gleichen ist dies ein erprobtes Mittel der Abwehr«
. 14
|A 178|14E.Canetti, Masse und Macht, Hamburg 1960, S. 328.
Mit der vom Lehrer gestellten Gegenfrage entsteht auch das komplizierte Spannungsverhältnis im pädagogischen Rollenfeld, oder – von der Erziehungswissenschaft her formuliert: Die pädagogische Reflexion erst bringt die für unsere Gesellschaft charakteristische pädagogische Struktur des Rollenfeldes hervor. Wo auch immer Erwartungen, Fragen an die Schule herangetragen werden, begegnen sie heute der aus der pädagogischen Selbstrolle stammenden Gegenfrage. Dieses Phänomen schlechtweg als Kulturkritik oder gar Kulturpessimismus zu bezeichnen15
|A 178|15Damit soll freilich der wirklich vorhandene Kulturpessimismus nicht legitimiert, sondern nur darauf hingewiesen sein, daß jedes Denken, das sich nicht am Faktischen normativ orientiert und auf ein Handeln bezogen ist, sich diesem Faktischen gegenüber dialektisch verhalten, d. h. unter anderem distanziert und relativierend verfahren muß.
, wäre zumindest ungenau.
|A 87|
[009:19] Es lassen sich also, um den Begriff zu differenzieren, mindestens zwei Ebenen der pädagogischen Selbstrolle unterscheiden: zunächst die soziale Tatsache, daß in einer bestimmten gesellschaftlichen Lage der Lehrer sich einer Konstellation von Erwartungen gegenübersieht, denen er nicht mehr konfliktlos entsprechen kann; er tritt zu ihnen in eine kritische Distanz und bildet einen eigenen Motivationszusammenhang für sein beruflich-pädagogisches Verhalten aus. Parallel dazu entsteht eine Theorie, von eben denselben Erfahrungen ausgehend, die in geisteswissenschaftlichen Interpretationen den neuen Motivationszusammenhang stützt und sanktioniert: eine theoretische Rollenkonzeption als Entsprechung der realen Veränderung des Rollenfeldes. Beide, pädagogische Selbstrolle und theoretische Rollenkonzeption, verhalten sich ihrer Intention nach kritisch gegenüber der Gesellschaft, das heißt gegenüber den Erwartungen der an der Erziehung beteiligten Bezugsgruppen.

Die Schüler als Bezugsgruppe

[009:20] An einem Einzelproblem, dem Verhältnis des Lehrers zu seiner Klasse, läßt sich einiges noch deutlicher machen. Ein Blick auf die deutschen Verhältnisse scheint zu zeigen, daß dem
»Schulehalten«
bei uns faktisch ein anderes Verständnismodell zugrunde liegt als in den USA und daß vermutlich auch ausdrücklich an ihm festgehalten wird. Das muß nun allerdings nicht heißen, daß das Rollenmodell nicht anwendbar wäre. Es zwingt nur zu einer genaueren Differenzierung des Phänomens, wie das etwa von Gordon oder Homans schon versucht wurde.16
|A 178|16C. W. Gordon, Die Schulklasse als soziales System, in: Soziologie der Schule ... hrsgg. von P. Heintz; G. C. Homans, Theorie der sozialen Gruppe, Köln und Opladen 1960.
Der Lehrer richtet sich nach den Verhaltenserwartungen seiner Schüler offensichtlich nur in einem eingeschränkten Sinne. Allerdings hat es innerhalb der pädagogischen Reformbewegung eine Tendenz gegeben, die eine entgegengesetzte Deutung nahelegt; sie war aber nicht von langer Dauer, denn sie widersprach den Fundamenten unseres Erziehungsverständnisses und |A 88|hatte nur einen polemischen Wert. Geblieben ist aber die Formel, Erziehung habe
»zum Wohle des Kindes«
zu geschehen, habe das Kind und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen. Hier wird aber nur der Anschein erweckt, daß die Erwartungen der Schüler ein Maß für das Verhalten des Lehrers bedeuten. Tatsächlich ist das
»Wohl des Kindes«
diesem selbst ja verborgen; es ist eine Antizipation des Erziehers; er kennt das Wohl des Kindes, bzw. es scheinen ihm, in den konkreten Situationen unter vielen Verhaltensmöglichkeiten jeweils eine oder mehrere dem Wohl zu dienen oder nicht zu dienen. Das Kriterium ist seine gelernte Theorie, nämlich diejenigen, pädagogischen Fundamentalsätze, die die Grundlage bilden für die Verhaltenserwartungen seiner Selbstrolle. Das
»Wohl des Kindes«
ist die Projektion der Selbstrolle des Lehrers in die Klasse, ohne daß diese dadurch zu einer echten Bezugsgruppe würde. Die Verhaltenserwartungen der Klasse werden nicht als solche akzeptiert, sondern vom Lehrer interpretiert nach Maßgabe seiner pädagogischen Theorie. Sie sind uninteressant im Hinblick auf die Normen; sie finden nur taktische, nicht aber strategische Berücksichtigung. Der Lehrer steht nicht dem Kinde
»an sich«
gegenüber, sondern seiner Anthropologie des Kindes.
[009:21] Das kann nun aber keinesfalls bedeuten, daß die Klasse nicht als Bezugsgruppe anzusprechen wäre. Im Gegenteil hat das bisher Dargestellte – falls es richtig ist – gezeigt, daß im Hinblick auf den Umgang mit Schülern im konkreten Einzelfall – aber auch nur in diesem – das Verhalten des Lehrers eine Resultante zweier Bezugsgruppen ist, wobei noch anzumerken wäre, daß der gegen die Erwartungen der Schüler völlig gleichgültige Lehrer auch der pädagogischen Selbstrolle nicht entspräche: Eine autoritäre Schulpraxis widerstreitet den Grundlagen seiner Theorie, die in der Spontaneität des Kindes das entscheidende Bezugsphänomen sieht. Weiterhin ist zu bemerken, daß die Schülererwartungen als Gruppenerwartungen nicht individuell-spontan sind, sondern ihrerseits zur Schüler-Rolle gehören, das heißt den Verhaltenserwartungen Dritter ent|A 89|sprechen. So gehört es bei uns offenbar zur Rolle des Schülers, dem Lehrer Autonomie gegenüber den aktuellen Schülerwünschen, Neigungen und Sympathien einzuräumen, ja zu erwarten, daß dieser seine Autonomie zur Geltung bringt, das heißt eine respektheischende Figur ist. Diese Erwartung allerdings kann leicht in eine autoritäre Struktur des pädagogischen Rollenfeldes umschlagen, sie muß es aber nicht notwendig.17
|A 178|17Insofern bedeuten Daten, wie die von Kob in
»Das soziale Berufsbewußtsein ...«
oder in soziologischen Erhebungen über die Lage der Jugend mitgeteilten, im Hinblick auf das Verlangen nach
»autoritärer«
pädagogischer Führung, sehr wenig. Dieses Verlangen nach einer sogenannten
»Autorität«
ist ein viel zu komplexes Phänomen, als daß es mit so groben Mitteln aufzuklären wäre, besonders wenn für das pädagogische Verhalten aus solcher Aufklärung Gewinn gezogen werden soll.
[009:22] Damit gehört die Anerkennung der Selbstrolle des Lehrers und ihre Berücksichtigung im eigenen Verhalten zur Rolle des Schülers. Lehrer-Rolle und Schüler-Rolle entsprechen sich, da ihnen beiden ein dieses Sozial-Verhältnis übergreifendes Muster zugrunde liegt18
|A 178|18Dies wäre ein circulus vitiosus, wenn die Reziprozität des realen Rollenverhaltens eine vollständige wechselseitige Determination implizieren würde. Vgl. zu dieser Problematik und ihrer prinzipiellen Bedeutung für die Soziologie und Anthropologie F. H. Tenbruck, Zur deutschen Rezeption der Rollentheorie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 1961, S. 1 ff.; ferner H. Pleßner, Soziale Rolle und menschliche Natur, in: Erkenntnis und Verantwortung, Festschrift für Theodor Litt, hrsgg. von J. Derbolav und F. Nicolin.
: Erwartungen, die die Gesellschaft sich selbst zumutet im Hinblick auf den Umgang von Erziehern mit Unerzogenen.
[009:23] Damit sind aber die Rollenverhältnisse in einer Allgemeinheit beschrieben, die die besondere Lage in der gegenwärtigen Gesellschaft noch unbestimmt läßt. Das
»übergreifende Muster«
, die
»Erwartungen, die die Gesellschaft sich selbst zumutet«
, koinzidieren nur formal im Repräsentanten der Erziehung, dem Lehrer. Im Hinblick auf die Inhalte nämlich zeigt sich, daß er keineswegs bloß der verlängerte Arm der Gesellschaft ist, sondern daß diese ihm, in der Offenheit der Richtlinien und Lehrpläne deutlich dokumentiert, ausdrücklich eine relative Autonomie einräumt. Im Prinzip soll daher das Verhalten des Lehrers nicht durch die Erwartungen der Bezugsgruppen motiviert werden, obwohl es faktisch häufig so sein mag. Der Lehrer hat die in der Struktur der gegenwärtigen Gesellschaft begründete Möglichkeit, seine eigenen pädagogischen Motive ins Spiel zu bringen und nach ihnen zu entscheiden. Er ist in diesem Sinne Fachmann. Er kann sein Verhalten innerhalb der Schulklasse nach Maßgabe seiner pädagogischen Theorie bestimmen. Nun ist aber der
»Fachmann«
durchaus als Rolle zu begreifen. Das Dargestellte wäre also nichts für den Lehrer Charakteristisches, wenn nicht seine Rolle Merkmale hätte, die sie der Art nach von anderen Fachleuten innerhalb der Gesellschaft unterschiede.

Selbstrolle, Erziehungstheorie und Bildung

[009:24] Ein geschichtlicher Rückblick mag das verdeutlichen. Der Hof- und Schulmeister des 18. Jahrhunderts war rollenmäßig festgelegt. Seine Aufgabe war die standesgemäße, berufsentsprechende, wissensmäßige Einübung des Zöglings in eine bestimmte Rolle und nur in diese. Diese Rolle wurde von Erziehungspersonen selbst repräsentiert bzw. demonstriert. Der Zögling lernte sie durch Nachahmung.
[009:25] Mit dem Auftauchen des Individualitäts- und Bildungsbegriffs aber wird dieses einsinnige Verhältnis gestört. Mit dem Individualitätsbegriff beginnt eine Analyse und Differenzierung des Seelenlebens, entsteht die
»Innerlichkeit«
als ein reflektierendes Gegenstück zu den äußeren sozialen Tatsachen, geschieht eine Sensibilisierung der
»sozialen Wahrnehmung«
. In dem Bildungsbegriff werden diese Momente zusammengenommen und formiert zu einer Forderung an das Subjekt, zu einer Aufgabe der Lebensführung, und zwar unabhängig von bestimmten sozialen Rollen und gleichbleibend in diesen allen. Dieses neue anthropologische Modell und das ihm korrespondierende Verhalten hält sich nicht lange in den intellektuellen Zirkeln und Pfarrhäusern verborgen, sondern gewinnt einerseits soziale Mächtigkeit, andererseits wird es von der Erziehungspraxis und ihrer Theorie aufgenommen und ausgebaut. Die pädagogische Reflexion nimmt fortan den mit dem Bildungsbegriff gemeinten Sachverhalt zu ihrem Ausgangspunkt: eine allgemeine Bildung, die unabhängig von bestimmten gesellschaftlichen Positionen gilt. Damit aber ist dem Lehrerstand eine gemeinsame Basis geschaffen, der Lehrerstand als eine soziale Gruppe entsteht überhaupt erst. Die Lehrer-Rolle wird nicht mehr durch bestimmte Berufe, Stände oder Wissensinhalte präformiert, sondern durch den ihr berufsspezifisch eigenen Auftrag der Allgemeinbildung. Diese Distanz zu den tradierten Rollenerwartungen und der in ihnen gesellschaftsspezifisch festgelegten Interpretation des Phänomens Erziehung wird in einer neuen Forderung deutlich: Statt technischer Ausbildung verlangt der |A 91|Lehrer wissenschaftliche Bildung. Er tritt damit in einen kritischen Gegensatz zu den auf bestimmte Positionen und Verhaltensweisen festgelegten Erwartungen der Gesellschaft, das heißt er wird ein eigenständiger sozialer Faktor zugleich mit der Eigenständigkeit seiner theoretischen Konzeption. Stiehl hat das sehr gut gewußt und damit die Fakten bestätigt. Seine Regulative sind als ein Versuch zu verstehen, die Entwicklung der pädagogischen Selbstrolle rückgängig zu machen. Die akademische Lehrerbildung scheint mir das bisherige Ende dieser Entwicklung zu sein.
[009:26] Auf eine andere Eigentümlichkeit in der Geschichte der pädagogischen Selbstrolle muß noch hingewiesen werden. Nicht nur, daß der Lehrer sich kraft seiner Selbstrolle von den ständisch festgelegten Verhaltenserwartungen distanzierte; in diesen Erwartungen selbst tauchten Differenzen auf, die eine solche Distanzierung und die damit einhergehende Reflexion beförderten. Einen vergleichsweise harmlosen Niederschlag fand dieses Problem in Schleiermachers Formulierung, die Erziehung habe den Heranwachsenden an die disparaten Lebensbereiche Kirche, Staat, Wissenschaft und den geselligen Verkehr abzuliefern. Bei Diesterweg (1834) liest es sich radikaler, aktuell und politisch:
»Gar mancherlei Ansprüchen muß der Schullehrer genügen. Ich habe es erlebt, daß innerhalb weniger Monate eine Schule nacheinander besucht wurde von dem Schulinspektor, dem Landrate, dem Schulrate und dem Chefpräsidenten der Regierung. So verschieden waren die Gesichtspunkte, aus welchen die verschiedenen Vorgesetzten die Schule und deren Hauptzweck betrachteten. Es fehlten nur noch der Pfarrer, der Konferenzdirektor, der Seminardirektor, der Oberpräsident oder auch ein Ministerialrat oder der Herr Minister selbst. Es gibt keinen anderen Beamten, der so viel Vorgesetzte hätte, die sich mitunter direkt um ihn kümmern, keinen Beamten, an welchen so verschiedene Anforderungen gemacht werden.«
19
|A 178|19
A. Diesterweg, Wegweiser zur Bildung für deutsche Lehrer (1834), zit. nach Schuh, a. a. O., S. 40 f.
H. Tuggener kommt in seinem umfangreichen Buch (Der Lehrer, Studien über Stand, Beruf und Bildung des Volksschullehrers, Zürich 1962) zu ähnlichen Ergebnissen. Mit den Begriffen
»Vieldimensionalität«
und
»Ambivalenz«
versucht er, den Funktionsraum der modernen Volksschule zu charakterisieren:
»Sie (Vieldimensionalität und Ambivalenz) haben sich wesentlich in den letzten 150 Jahren Schulgeschichte langsam herausgebildet. Eigentlich werden sie von dem Augenblick an sichtbar und immer deutlicher, da die Schule als eine allge|A 179|meine Volksschule ... konstituiert wird «
(S. 168.)
. Aber: Der damit zugleich entstandenen Heteronomie tritt bald
»die Autonomie des (schulischen) Funktionsraumes gegenüber. Es hat sich im Verlaufe der Ausweitung des Funktionsraumes mit der Zeit die Tendenz entwickelt, die geistige Selbständigkeit des Funktionsraumes zu konstituieren oder zu postulieren«
(S. 172)
.
»Der Anspruch auf Eigenständigkeit gegenüber den heteronomen Zumutungen aus den kulturellen Außenbezirken des Funktionsraumes verstärkt sich nämlich gerade mit der stetig sich differenzierenden Heteronomie«
(S. 187)
.
[009:27] Die Entwicklung einer eigenständigen pädagogischen Theorie und damit der schon erwähnten theoretischen Rollen|A 92|konzeption läuft mit der institutionellen und ideologischen Differenzierung der Gesellschaft nicht nur parallel, sondern wird von dieser geradezu provoziert. Die Forderungen nach wissenschaftlicher Ausbildung des Lehrerstandes, die Entstehung der Erziehungswissenschaft und das Bedürfnis nach ideologischer Neutralität sind nur verschiedene Aspekte dieser theoretischen Rollenkonzeption. Damit gehört aber Kulturkritik strukturell zu dieser Konzeption, wenn man bereit ist, das kritische Abwägen der heteronomen, im Raum der Erziehung sich Geltung verschaffenden Erwartungen der Gruppen einer Kultur so zu nennen.
[009:28] Diesem kulturkritischen Moment, mit dem die oft behauptete und beschriebene eigentümliche Dialektik in das pädagogische Denken gekommen ist, entspricht ein zweites. Bildung ist nicht als das Attribut einer Elite20
|A 179|20Bildung ist dies jedenfalls nicht an ihrem historischen Ursprung. Daß der Begriff im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einer elitären Qualität verarmte oder spezifiziert wurde, verstellt immer wieder die geschichtlichen Quellen, aus denen er stammt, und die Phänomene, die mit ihm bis hin zu Schleiermacher und Diesterweg benannt werden sollten. Freilich ist die
»verarmte«
Fassung des Begriffs soziologisch handlicher, weil schichtenspezifisch.
, sondern als eine allgemeine Bildung gemeint, als eine in allen gesellschaftlichen Positionen und Rollen mögliche Qualität, gleichsam als Supra-Rolle. Die Aufgabe des Lehrers an allgemeinbildenden Schulen ist es deshalb nicht, ausschließlich auf bestimmte, als Verhaltenserwartungen gesellschaftlicher Gruppen formulierbare Rollen vorzubereiten und in sie einzuführen. Vielmehr liegt die von ihm vermittelte Bildung vor oder über diesen Erwartungen und dann als eine mögliche gemeinsame Qualität aller in ihnen allen. Mit dem Bildungsbegriff ist die mögliche Distanz, Kritik und Freiheit gemeint, die ein einzelner seinen Rollen gegenüber haben kann. Zu diesem Modell paßt weder eine frühzeitige Fixierung auf, noch eine unkritische und reflexionslose Einübung in bestimmte Rollen (etwa in der Berufsausbildung). Der Lehrer soll als Gebildeter – gemäß dieser Bildungstheorie – der jungen Generation gegenüber diese Kritik und Reflexion repräsentieren, er soll ihr die
»Rolle des Gebildeten«
vermitteln. Diese Rolle nun erheischt die Autonomie des Lehrers den an der Schule interessierten Gruppen gegenüber. Sie fordert von ihm, daß er unparteiisch bleibt, sich aber als vermittelnde Instanz etabliert. Das ist der Bildungssinn einer demokratischen Schul|A 93|verfassung. Insofern ist der Bildungsbegriff politisch. Damit ist allerdings nicht die Wirklichkeit der Schule beschrieben, sondern sind bestimmte Voraussetzungen expliziert, die überall dort gemacht werden, wo von Bildung die Rede ist. Es sind Postulate, die sich aus dem normativen Charakter des Bildungsbegriffs ergeben und denen die Praxis zwar mehr oder weniger entsprechen mag, die aber selbst ein Moment dieser Praxis darstellen. Denn was in der theoretischen Analyse leicht zu konstatieren und als Idealtypus zu formulieren ist, das stößt in der Schulpraxis offenbar auf außerordentliche Schwierigkeiten, wenn wir den zitierten empirischen Untersuchungen glauben dürfen, und zwar deshalb, weil die Sanktionen, die die außerpädagogischen Gruppen zur Verfügung haben, in keinem Verhältnis zu den geringen Kontrollmöglichkeiten der rein pädagogischen Bezugsgruppe stehen. Jedenfalls zeigt die Untersuchung von Gahlings und Moering, daß unter solchen Umständen schon nach wenigen Jahren sich die Fragilität der durch die Ausbildung vermittelten Verhaltenserwartungen erweist. Die im sozialen und ideologischen Pluralismus als vermittelnde Instanz verstandene Selbstrolle der pädagogischen Berufe droht immer wieder an der objektiven Gewalt außerpädagogischer Sanktionen und Verhältnisse zu zerbrechen.21
|A 179|21Zu diesen Verhältnissen gehören nicht nur die Interessengruppen, sondern ebenso die Phänomene der
»Halbbildung«
oder auch die tiefenpsychischen Mechanismen, denen der Lehrer unaufgeklärt erliegen kann, wenn anders
»Selbstrolle«
,
»Bildung«
,
»Reflexion«
Begriffe sein sollen, die
»Aufklärung«
implizieren. Vgl. dazu Th. W. Adorno, Theorie der Halbbildung, in: Th. W. Adorno und M. Horkheimer, Sociologica II, Frankfurt/Main 1962; und W. Hochheimer, Zur Tiefenpsychologie des pädagogischen Feldes, in: Psychologie und Pädagogik. Neue Forschungen und Ergebnisse, hrsgg. von J. Derbolav und H. Roth, Veröffentlichungen der Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung II, Heidelberg 1959.
An dieser Stelle setzt dann dasjenige ein, was als Isolierung, Resignation oder Kulturpessimismus der Lehrerschaft bezeichnet wird.
Die erwähnte Autonomie des Lehrers den Erwartungen seiner Klasse gegenüber wird ihm zwar eingeräumt, weil sie nämlich den Interessen der am Erziehungsgeschäft beteiligten Gruppen dient – allerdings nur solange, als seine Strategie den Erwartungen dieser Gruppen entspricht; sie wird ihm faktisch nicht eingeräumt im Hinblick auf diese Erwartungen, bzw. ihm als Kulturkritik verübelt.
[009:29] Dies allerdings ist eine für den gegenwärtigen Stand der pädagogischen Rollenforschung – sofern überhaupt davon zu sprechen ist – recht weit ausgreifende Hypothese. Es wäre verschiedenes zu prüfen: so z. B. ob es Schulsysteme oder Schulformen gibt, in denen modellhaft die so ver|A 94|standene Funktion der Selbstrolle verwirklicht ist; ob sie für sich selbst
»lebensfähig«
in dem konkret sozialen Sinne des Wortes oder nur als kritische Reflexion möglich ist; ob sie überhaupt in einem auch anderen Gruppenerwartungen vergleichbaren Sinne internalisiert wird, oder – noch weitergehend – ob sie überhaupt internalisierbar ist; ob sie, als Konzeption einer sozialen Rolle, nicht utopische Züge trägt.
[009:30] Auf diese Fragen kann hier nicht mehr geantwortet werden. Indessen will ich noch einige Differenzierungen andeuten, die die vorgenommenen Verallgemeinerungen abschließend wenigstens teilweise wieder auflösen und näher an die praktischen Probleme heranführen.
[009:31] Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß sich die beschriebene Problematik in den verschiedenen Schulen in je besonderer Weise darstellt. Das gilt für die Schultypen wie auch für die soziale Lagerung der einzelnen Schulen. Die Arbeiten Schuhs, Kobs und Lemperts machen daher auch deutlich, daß in Volks-, Höheren und Gewerbeschulen nicht nur Unterschiede dem Grade, sondern der Art nach bestehen. Eltern, Kirchen, Berufsverbände und Erwartungen, die der Praxis der wissenschaftlichen Disziplinen entstammen, strukturieren das Rollenfeld der Schule in je typischer Weise. In den höheren Schulen scheint sogar die Problematik der Selbstrolle, wenigstens in der dargestellten Weise, gar nicht zu existieren, da die Rollenkonkurrenz offenbar nicht in ein und demselben Subjekt, sondern nach
»Typen«
getrennt auftritt. Allerdings sind Hypothesen in der einen oder anderen Richtung hier noch kaum möglich.
[009:32] Auch nach der sozialen Situation der einzelnen Schulen müßte differenziert werden. Die Unterschiede zwischen Stadt und Land sind in den vorliegenden Analysen deutlich hervorgetreten. In jedem einzelnen Fall aber ist es ja entscheidend, mit welcher Intensität die Erwartungen an die Schule herangetragen werden, mit welchen Mitteln der Verkehr des Lehrers mit den Bezugsgruppen abläuft, welche Rolle der Lehrerschaft und damit der Schule schon traditionell in dieser ihrer Gemeinde zugesprochen wird.
|A 95|
[009:33] Sodann wäre zu fragen, ob die Selbstrolle überhaupt je ihre hier angedeutete kritische Möglichkeit hat entfalten können. Die Schule als relativ eigenständiger Komplex im Kulturganzen entfaltet als Verwaltungsapparat und Beamtenhierarchie, die eigenen Tendenzen folgt, auch eigene soziale Mächtigkeit. Sie muß nicht notwendig in Richtung und Inhalt dem ursprünglich gemeinten Sinn der Selbstrolle folgen. An Stelle einer außerpädagogischen Heteronomie tritt die gleichsam innerpädagogische der
»verwalteten Schule«
. Im institutionellen Zusammenhang des eigenen Hauses muß der Lehrer den Konflikt zweier Erwartungskomplexe austragen, nämlich zwischen dem
»informellen System«
der Klasse und dem der Schulleitung bzw. Schulverwaltung. Der Lehrer ist zudem Repräsentant einer sozialen Schicht, deren Werte er verinnerlicht hat und die durch ihren Mittelschicht-Standard die Entfaltung eines kritischen Rollenverständnisses behindert, mindestens aber erschwert.
[009:34] Sicherlich muß auch die Einsicht in die Reziprozität des Rollenphänomens Anwendung finden. Selbstrolle und außerpädagogische Erwartungen stehen sich nicht fremd gegenüber, um erst durch das Erziehungsgeschäft in Kontakt zu kommen. Es läßt sich im Gegenteil sinnvoll sagen, daß erst der Kontakt der Gruppen das Rollenfeld strukturiert, das heißt die Erwartungen sich gegenseitig hervorbringen. So bildet sich unter Umständen eine Gemeinde ihre Lehrer und modifiziert dabei, in der Auseinandersetzung mit deren Selbstrolle, ihre eigenen Erwartungen; so prädisponiert andererseits die besondere Form einer Schule – etwa eines Internats, einer Waldorfschule – die Erwartungen, die an sie gerichtet werden können. Was im Hinblick auf das Ganze einer Schule oder Lehrerschaft gesagt werden kann, gilt vermutlich auch vom einzelnen Lehrer. Es muß sogar für ihn gelten, soweit er die pädagogische Selbstrolle akzeptiert, da das kritische Reflektieren der besonderen Situationen, ihre analytische Durchdringung und das vermittelnde Verhalten in einem mehrsinnigen Rollenfeld Bestandteile seiner Selbstrolle sind.
|A 96|
[009:35] Ein schon bei Pestalozzi und dann immer wieder auffälliges Phänomen soll noch andeutend erwähnt werden. Es scheint eine Eigentümlichkeit der Selbstrolle zu sein, nur in der Theorie rein zu existieren. Auffällig ist nämlch, daß die Unterrichtspraxis, entgegen den formulierten Intentionen, eine zweite Selbstrolle ausbildet, die von dem durch die Praxis motivierten Trend zur Mechanisierung und Methodisierung hervorgebracht wird. Diese faktische Entfremdung, die sich im Auseinanderklaffen von Theorie (als Selbstverständnis) und Praxis (als Verhalten) dokumentiert, hat auch eine tiefenpsychische Seite, auf die Hochheimer nachdrücklich hingewiesen hat. Danach verhindern allzu häufig nicht durchschaute Persönlichkeitsstrukturen die Bildung des Lehrers; die Entfremdung in der Unfreiheit des so erworbenen Rollenverhaltens bleibt solange manifest, wie nicht eine Selbstaufklärung die Hindernisse übersteigbar macht und damit auch die Verwirklichung der pädagogischen Selbstrolle ermöglicht.
[009:36] Indessen könnte sich zeigen, daß, aufs Ganze gesehen, die Selbstrolle eine Konzeption spekulativer Theorie, aber kein bedeutender Faktor der pädagogischen Praxis ist, oder auch, daß hier die Praxis überinterpretiert wurde. Würde sich erweisen, daß die Selbstrolle nur in einer unbedeutenden Minderheit zur praktischen Wirklichkeit käme, dann läge in der Tat die Vermutung nahe, daß in der Geschichte der Erziehung wiederum ein neuer Abschnitt beginnt; der Bildungsbegriff wäre funktionslos geworden. Stellte sich dagegen heraus, daß sie nur durch ständige Frustrationen abgedrängt würde, vor der faktischen Gewalt außerpädagogischer Gruppen und Interessen resignierend, dann bedürfte die ihr entsprechende und sie stützende theoretische Konzeption einer die realen Widerstände nachdrücklicher miteinbeziehenden Veränderung.
|A 97|

Jugend und Schule im Spannungsfeld gesellschaftlicher Widersprüche

[028:141] In einem pädagogischen Text aus dem 15. Jahrhundert heißt es:
»Erziehung beugt den Nacken, verbannt übermäßiges Gelächter, beherrscht die Zunge, zügelt den Gaumen, beschwichtigt den Zorn und regelt den Gang.«
Erziehung ist hier gedacht als ein Verfahren im Umgang mit jungen Menschen, dessen Zweck es ist, eine Natur, die man sich als zügellos und chaotisch vorstellt, in eine gesetzte gesellschaftliche Ordnung hineinzudisziplinieren. In der heranwachsenden jungen Generation erblickte die Gesellschaft eine Art natürlichen Feind. In ihr trat den Erwachsenen all das erneut entgegen, was sie in sich mühsam unterdrückt und in eine asketische Ordnung gebracht hatten. Die Aggressivität, mit der vom Altertum bis in unsere Tage das von den Erwartungen abweichende Verhalten Jugendlicher beklagt und verfolgt wird, hat Ähnlichkeit mit Projektionen: In der je neuen Jugend wird das bekämpft und unterdrückt, was als verbotener Impuls im Erwachsenen selbst wirksam ist. Diesem Verhältnis adäquat ist eine Erziehungseinstellung, deren Hauptbegriffe Disziplin und Zucht, Autorität und Gehorsam sind. Es ist ihr selbstverständlich, daß junge Menschen gehorchen müssen, daß sie sich in ein soziales System schicken, das die Generation der Erwachsenen nicht nur akzeptiert hat, sondern als deren Repräsentant sie sich fühlt, das identisch ist mit den Prinzipien ihres eigenen Daseins. Dieses System ist ihr ebenso selbstverständlich wie die Meinung, daß die Ordnung, die die Erwachsenen heute repräsentieren, gut ist.
|A 98|
[028:142] Es spricht viel dafür, daß diese skizzenhaften Andeutungen nicht nur die Beschreibung eines vergangenen historischen Typus der Einstellungen Erwachsener zu heranwachsenden Generationen sind, sondern eine Grundfigur dieses Verhältnisses darstellen, die trotz gewichtiger Veränderungen der Gesellschaft eine relativ große Beharrlichkeit zeigt. Das ist auf den ersten Blick auch nicht überraschend. Welche Gesellschaft wir auch zu analysieren suchen, immer zeigt sich, daß das Verhältnis der Generationen es mit der Überlieferung kultureller Ordnungen zu tun hat und daß die Generation der Erwachsenen den Bestand an Werten und Werkzeugen, Einstellungen und Verhaltensweisen, Institutionen und Produkten den Nachwachsenden nicht nur zu vermitteln, sondern sie zugleich darauf zu verpflichten sucht. Das ist verständlich; denn in der Regel haben sich die Repräsentanten solcher Ordnung derart mit ihr identifiziert, daß ihnen jede Verletzung als Schuld erscheinen muß. Vernunft ist ihnen das, was in solchen Ordnungen sich ausdrückt. Reife ist ihnen ein Zustand des Subjekts, der dadurch charakterisiert ist, daß die Antriebe der einzelnen im System der gegebenen Ordnungen ihre Befriedigung finden.
[028:143] Konkretisieren wir diese abstrakte Beschreibung auf unsere Lage hin: Wir reagieren empfindlich auf sogenannte radikale Studenten, aber dulden wenig verhohlene Herrschaftsansprüche etablierter Gruppen und Verbände. Wir wehren die Vorschläge zu durchgreifenden Reformen des Schulwesens ab mit dem Hinweis darauf, daß endlich wieder Ruhe in die Schulen einkehren müsse. Wir sind allergisch gegen Gewalten und dulden die Brutalität antikommunistischer Kriege. Wir bestehen darauf, das Privateigentum nicht anzutasten, selbst wenn auf der Grundlage eben dieses Eigentums Verdummungsstrategien entworfen werden. Wir schieben Angriffe gegen unsere Ordnung
»radikalen Minderheiten«
zu, nur um solche Angriffe nicht ernst nehmen zu müssen. Jugendverwahrlosung und Jugendkriminalität drängen wir in den asozialen Winkel der Gesellschaft ab oder genießen sie durch die Massenkommuni|A 99|kationsmittel wie exotische Phänomene; ja, der Ausdruck
»Verwahrlosung«
kommt uns leicht von den Lippen und aus der Feder, weil er sich dazu eignet, die Schuld bei jenen Individuen zu sehen und nicht nach der Sozialität einer Gesellschaft zu fragen, die so etwas hervorbringt. Der Ruf nach einer starken Autorität liegt uns immer noch näher als Selbstkritik. Wir sind erleichtert, wenn wir hören, daß junge Leute, sobald sie sich einem Beruf anbequemen oder eine Ehe schließen, sich in der Regel wie die Mehrzahl ihrer Eltern verhalten: pflichtbewußt, kompromißbereit, mit anständigem Haarschnitt, alle vier Jahre einmal wählend, im Grunde zufrieden, für Sicherheit sorgend, Experimenten abhold, voller Verständnis für das, was ihnen Jahre zuvor noch unannehmbar schien. Das übermäßige Gelächter ist verbannt, die Zunge beherrscht, der Gaumen gezügelt, der Zorn beschwichtigt, der Gang geregelt. Wir atmen auf und haben sogar eine scheinbar wissenschaftliche Legitimation für unsere Zufriedenheit: Pubertät und Adoleszenz, so erinnern wir uns aus der Entwicklungspsychologie, sind Phasen notwendiger Gärung und Opposition; Identitätskrisen sind ihr nicht fremd; eine soziale Position, ein deutliches Bild von sich selbst zu finden, ist schwer. Aber wie man sieht: Das vergeht, vielleicht nicht wie ein Schnupfen, aber doch wie ein natürlich-rhythmisches Ereignis. Am Ende bleibt die erwachsene Generation im Recht, die Ordnung hat sich bewährt. Die Konflikte, die sich anbahnten oder manifest wurden, gehen auf das Konto von Unreife, die allemal, sowohl in der Beschreibung wie in der Apologie pädagogischer Phänomene, eine große Rolle spielt.
[028:144] Die Unreife wessen? Ich will diese Frage nicht direkt beantworten, sondern es – nach der eher impressionistischen Einleitung – auf einigen Umwegen versuchen.

Überlieferung ohne Widerspruch

[028:145] Es ist bis in unsere Tage hinein, und zwar nicht nur auf der Ebene derer, die praktische Erziehung und Bildung betreiben, sondern auch auf der Ebene der Erziehungstheo|A 100|rie, nie ernsthaft problematisch gewesen, daß das Verhältnis der Generationen zueinander letzten Endes als ein Überliefern von kulturellen und gesellschaftlichen Ordnungen zu begreifen sei; ein Überliefern freilich, dem Konflikte nicht erspart bleiben, das solche Konflikte aber zugunsten des zu Überliefernden zu lösen habe. In diesem Verständnis steckt mit Sicherheit eine anthropologische Wahrheit: die Einsicht nämlich, daß nicht jeder heranwachsende Mensch von neuem die Techniken des Überlebens produzieren kann – von der Werkzeug-Herstellung und dem Werkzeug-Gebrauch bis hin zu den sozialen Institutionen und der Sprache –, sondern daß er darauf angewiesen ist, das bereits Entwickelte und gleichsam als kulturelles Arsenal der Daseinsbewältigung zur Verfügung Stehende sich anzueignen. Es steckt darin aber auch eine Unwahrheit bzw. eine Verschleierung. Verschleiert wird in solcher Meinung, daß die zu überliefernden Ordnungen nicht schon dadurch als vernünftig ausgewiesen sind, daß sie sich, wie es dann häufig ebenso verschleiernd heißt, bewährt haben, daß die erwachsene Generation in ihnen ihre Sicherheit gefunden hat. Die bestehende Ordnung beschränkt dadurch, daß wir uns mit ihren Prinzipien weitgehend identifiziert haben, das, was wir kulturell zu denken imstande sind. Sie beschränkt unseren Horizont im Hinblick auf die mögliche Humanität einer menschlichen Gesellschaft. Sie beschränkt vor allem den Blick dafür, daß der Prozeß des Überlieferns auch als eine Veränderung des Überlieferten bis zur völligen Verformung gedacht werden kann.
[028:146] Diese Erkenntnis war in der europäischen Erziehungsgeschichte einige Jahrzehnte hindurch lebendig. Sie war revolutionär im Hinblick auf das Verhältnis der Generationen zueinander. So war es zum Beispiel die These Rousseaus, daß die wirkliche gesellschaftliche Ordnung nur einen defizienten Modus dessen zuläßt, was als die aufgeklärte Mündigkeit des Bürgers zu erstreben sei. Seit Rousseau, seit der politischen Philosophie der Aufklärung, deutlicher noch seit Marx, ist es unbestreitbar, daß Erziehungs- |A 101|und Generationsverhältnisse nicht nur überlieferte kulturelle Ordnungen weiterzugeben versuchen, sondern damit zugleich Herrschaftsverhältnisse reproduzieren. Eine Erziehungstheorie aber, die Interesse an jener aufgeklärten Mündigkeit hat, erkennt die Herrschaftsverhältnisse als deren Verhinderung. Sie muß ihren Konservativismus aufgeben und das Verhältnis der Generationen zueinander neu bestimmen. In solchem Lichte gesehen, sind die Unzufriedenheit und der Zorn, die Konflikte und Widersprüche, die Abwegigkeiten und Verneinungen, die eine junge Generation hervorbringt, nichts, was nur entwicklungspsychologisch als vorübergehende Anpassungskrise der einzelnen Individuen zu interpretieren wäre, sondern eine kollektive Herausforderung: die Herausforderung nämlich, die bestehenden Ordnungen nicht nur als legal, sondern als legitim zu erweisen. Anders formuliert: Die Gesellschaft hat ihrer jungen Generation gegenüber ihre Ordnung nicht nur als zweckmäßig oder gar notwendig plausibel zu machen, sondern als vernünftig zu begründen.
[028:147] Mit solchem Anspruch griffen Rousseau, Humboldt und Schleiermacher, griffen Marx und Freud, griffen Clara Zetkin, Paul Österreich und Siegfried Bernfeld offenbar zu hoch. Die bürgerliche Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts und die ihr adäquate Pädagogik schickten sich an, jene revolutionäre Einsicht Rousseaus schnell wieder vergessen zu machen. Die Geschichte der Erziehung schlug sich an jener Wegegabel zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf den Weg ihrer schlechteren Möglichkeiten: sie – und mit ihr die Geschichte des Generationenverhältnisses – wurde zu einer Geschichte verhinderter oder zumindest verschleppter Demokratisierung. Die kritische Analyse Rousseaus wurde destilliert zu jenem idyllischen
»Wohl des Kindes«
, zum
»Recht der Jugend auf ihre eigene Lebensart«
, zur
»Jugendkultur«
, die die bestehende Ordnung nicht mehr in Frage stellen konnten. Im Gegenteil: sie läßt sich auf diese Weise sogar wirkungsvoller verteidigen und erhalten als zuvor. So ist die Lage.
|A 102|

Sechs Widersprüche

[028:148] Diese Lage ist unbefriedigend oder gar beunruhigend nicht nur für den, der sich anschickt, sie zu analysieren, sondern auch für die Jugend selbst. Sie erfährt diese Gesellschaft ja nicht nur als das, was sie in ihren Institutionen und Repräsentanten ist, sondern auch als das, wofür sie sich in ihren Prinzipien und Proklamationen hält. Sie erfährt, daß beides nur schwer zur Deckung gebracht werden kann. Ja, sie erfährt womöglich, daß diese Gesellschaft eher geneigt ist, an dem festzuhalten, was sie ist, und darüber ihren besseren Begriff zu verleugnen. Sie erfährt, daß diese Gesellschaft ideologisch von sich redet. Sie erfährt, daß sie in Widersprüchen leben muß und daß die erwachsene Generation wenig Anstrengungen macht, diese Widersprüche aufzulösen oder doch wenigstens aufzuklären. Einige solcher Widersprüche will ich nennen.

1. Der Widerspruch von Integration und kritischer Beteiligung

[028:149] Die Praxis unserer Gesellschaft stellt sich dem Bewußtsein der jungen Generation auf merkwürdige Weise dar. Auf der einen Seite gibt man ihr zu verstehen, daß ein demokratisches Gemeinwesen auf die Mitverantwortung seiner Bürger angewiesen sei, daß nicht nur Informationen nötig seien, um politisch begründete Meinungen haben zu können, sondern daß diese Meinungen auch das politische Handeln stimulieren sollen. Politisches Handeln aber ist interessengeleitetes Handeln. Das Erkennen des eigenen Interesses oder der Gruppeninteressen ist deshalb die notwendige, aufklärende Voraussetzung einer politischen Beteiligung. Aber genau an dieser Stelle gerät die erwachsene Generation ins Stottern. Die zunächst so demokratisch klingenden Deklamationen stellen sich als gar nicht so gemeint heraus. Die Erörterung von Gewerkschaftsproblemen z. B. ist unseren Sozialkunde-Lehrbüchern in der Regel zu heikel, obwohl die meisten Schüler einmal Arbeitnehmer sein wer|A 103|den. In einem Handbuch für Lehrer beispielsweise heißt es zum Thema
»industrielle Arbeitswelt«
:
[028:150]
»Jeder Beruf dient in einem
Werk
an einem Werk! Es vereint auf sich alle, die im
Werk
denkend, schaffend, dienend jeden Morgen sich an ihrem Arbeitsplatz einfinden. Damit das Werk gelingt, braucht man ... die schon immer nötig gewesenen Arbeitstugenden der Sauberkeit, Genauigkeit, Zuverlässigkeit, des Verantwortungsbewußtseins, der Zusammenarbeit und des Selbstvertrauens. ... In der Wirtschaft wird nichts um seiner selbst willen getan. Die Wirtschaft dient; alles, was produziert wird, wird gebraucht und aus diesem Grunde hergestellt.«
1
|A 179|1Handbuch für Lehrer, Band 2, Gütersloh 1961, S. 57.
[028:151] Solche Sätze reden über die Tatsache hinweg, daß es immerhin Arbeitgeber und Arbeitnehmer gibt und daß abhängige Lohnarbeit sowenig wie das Interesse von Arbeitgebern mit dem Ausdruck
»Dienst«
beschrieben werden kann. Die demokratische Courage, mit der die Pädagogen begonnen haben, verläßt sie sehr schnell wieder, und zwar genau da, wo sie sich zu erweisen hätte. Sie verweigern damit der jungen Generation jene Instrumente der Kritik, die sie überhaupt erst instand setzen könnten, ihre Interessen zu erkennen und sich politisch zu beteiligen. Was jungen Leuten auf diese Weise empfohlen wird, ist eine konfliktfreie Integration. Elternhäuser, Schulen und Arbeitsstätten wirken hier zusammen. Der Widerspruch wird auch für den Jugendlichen schnell unsichtbar. Seine Schutz- und Sicherheitsbedürfnisse sind letzten Endes kaum geringer als die seiner Eltern: Er stellt seine Reife dadurch unter Beweis, daß er sich – wie die Jugendforschung immer wieder ausweist – in der Mehrheit der Fälle dem System einfügt, die sozialen Erwartungen erfüllt, die ihm zugedachte Rolle akzeptiert.

2. Der Widerspruch zwischen Aufstiegschancen und Aufstiegsstreben

[028:152] Demokratische Gesellschaften sind unter anderem – ihrem Anspruch nach – dadurch charakterisierbar, daß sie Privilegien der sozialen Herkunft nicht für legitim halten. |A 104|Der soziale Aufstieg soll jedem nach seinen Leistungsmöglichkeiten offenstehen. Es handelt sich dabei um ein Interesse, das in besonderer Weise als das Interesse der jungen Generation gelten kann, denn sie ist am unmittelbarsten sowohl von der proklamierten Möglichkeit wie auch der Wirklichkeit jener Chancen betroffen. Jugendliche aber sind nicht wahlberechtigt. Sie sind gezwungen, darauf zu vertrauen, daß die Erwachsenen ihre Interessen politisch vertreten. Daß diese Interessen in den letzten beiden Jahrzehnten in den besten Händen lagen, wird kaum jemand mit Recht behaupten.
[028:153] Untersuchungen über Arbeiterkinder, die die Hochschulreife erlangt haben, erbrachten folgendes: Ihre Schulzeit war eine nicht abreißende Kette von Konflikten. Die Schule, durch und durch von den Werten und Lebenserwartungen des Mittelstandes geprägt, tat nichts, um solche Schüler zu unterstützen. Zunehmend der eigenen Herkunft, dem eigenen Elternhaus entfremdet, gelang es ihnen nur mit Mühe und unter starken psychischen Belastungen, trotz guter und überdurchschnittlicher Leistungen, die Schulzeit zu Ende zu bringen und schließlich auch ein Studium zu absolvieren. Am Ende aber zeigte sich ein überraschendes Resultat: Ihre in Pubertät und Adoleszenz in Übereinstimmung mit ihren Eltern noch kritische Haltung gegenüber Gesellschaft und Bildungswesen war verschwunden; ihre politische Einstellung war konservativ geworden; über die Schicht, aus der sie stammten, urteilten sie hart und verständnislos; das Schulsystem, das ihnen zunächst soviel zu schaffen gemacht hatte, erschien ihnen gut und gerecht; sie plädierten für harte Ausleseverfahren und vertraten die Meinung, daß die unteren Sozialschichten von Natur aus weniger begabt seien, sie selbst dagegen eine gerecht ausgewählte Elite darstellen. Kurz: sie vertraten eine konservative Ideologie.2
|A 179|2B. Jackson / D. Mardsen, Education and the Working Class, London 1965. Die Untersuchungen, die für die Bundesrepublik Deutschland der Frage nach Bildungsschicksalen von Unterschicht-Kindern nachgegangen sind (Grimm, Dahrendorf, Dahrendorf/Peisert, Hitpaß, Roeder u. a.), machen es sehr wahrscheinlich, daß es sich bei uns um ähnliche Erscheinungen handelt. Zum allgemeinen Problem der schichten|A 180|spezifischen Erziehungseinstellungen und ‑Praktiken und deren Folgen vgl. K. Mollenhauer, Sozialisation und Schulerfolg, in: H. Roth (Hrsg.), Begabung und Lernen. Ergebnisse und Folgerungen neuer Forschungen, Stuttgart 1968.
Der Druck, den die Institutionen auf den einzelnen ausüben – und er ist in der Arbeitswelt nicht schwächer –, die Konflikte und Ängste, die er durchstehen muß, bewirken, daß Ruhe, Ordnung und Sicherheit für ihn zu Werten werden, die alles andere |A 105|überschatten. Die Gesellschaft duldet nicht nur, sondern honoriert solche Einstellung. Sie trägt dazu bei, daß das Interesse an sozialem Aufstieg dadurch, daß er sich nur durch schwere Konflikte hindurch verwirklichen kann, nicht zur Kritik an ihr selbst führt.
[028:154] Die Mädchen sind diesem Widerspruch noch stärker, noch folgenreicher ausgeliefert. Ihre Chancengleichheit wird schon ausgeschaltet, ehe sie in gesellschaftliche Institutionen, in Schule und Berufe eintreten. Nur etwa ein Zehntel der Jugendlichen halten eine gute Berufsausbildung der Mädchen für wichtiger als eine Aussteuer.3
|A 180|3H. Giesecke, Jung sein in Deutschland, München 1967, S. 16 ff.
Unsere Kultur erlaubt den Mädchen nicht, das Bedürfnis zu entwickeln,
»geistig heranzuwachsen und die ihnen als Menschen innewohnenden Möglichkeiten auszuschöpfen«
, wie Betty Friedan es formulierte.4
|A 180|4
B. Friedan, Der Weiblichkeitswahn, Hamburg 1966, S. 53.
Zur Benachteiligung der Mädchen durch das gesellschaftlich herrschende Geschlechtsrollenstereotyp vgl. u. a. besonders H. Gersten, Studierende Mädchen. Zum Problem des vorzeitigen Abgangs von der Universität, München 1965; H. Peisert, Soziale Lage und Bildungschancen in Deutschland, München 1967; zur Lage der jungen Arbeiterin: G. Wurzbacher / W. Jaide / R. Wald / H. v. Recum / M. Cremer, Die junge Arbeiterin. Beiträge zur Sozialkunde und Jugendarbeit, München ³1960.
[028:155] Bildungssoziologen und Erziehungswissenschaftlern wird häufig vorgeworfen, sie diffamierten das gegenwärtige dreigliedrige Schulsystem und zumal die weiterführenden Schulen als
»ständisch«
. Das sei, so heißt es dann, eine entstellende und ideologische, also eine falsche These. Vielmehr sei das Schulwesen nicht ständisch gegliedert, sondern nach den Leistungen und Begabungen der Schüler.
[028:156] Mit solcher Zurückweisung der These von der ständischen Gliederung unseres Schulsystems wird zugleich, ohne daß es ausdrücklich zur Sprache kommt, der Widerspruch geleugnet, auf den ich hier gerade hinweisen möchte – wie überhaupt diejenigen Gruppen in unserer Gesellschaft Widersprüche des Systems zu leugnen oder zu ignorieren bemüht sind, deren Interessen an der Aufrechterhaltung des Bestehenden alles andere überwiegen. So hat etwa der Vorwurf, mit dem Hinweis auf den ständischen Charakter des Schulsystems kritisiere man längst vergangene Zustände des 19. Jahrhunderts, die gleiche Funktion wie die Vorwürfe der Arbeitgeber gegen den Deutschen Gewerkschaftsbund, mit der Forderung nach Mitbestimmung falle man in alte Klassenkampf-Parolen des 19. Jahrhunderts zurück. In beiden Fällen handelt es sich um eine Polemik, die bestehende Widersprüche zu verschleiern sucht und darin |A 106|ideologisch ist. Wieso also ist es sinnvoll, von dem Widerspruch zwischen Gleichheitspostulat und faktischer Ungleichheit zu sprechen? Inwiefern ist es sinnvoll, unser Schulsystem
»ständisch«
zu nennen?
[028:157] Zunächst: Der Ausdruck
»ständisch«
ist nicht glücklich gewählt. In der Tat handelt es sich heute nicht mehr um Stände in der historischen Bedeutung dieses Begriffs. Vielmehr handelt es sich um soziale Schichten oder unterschiedliche Positionen in einer sozialen Rangskala. Die These muß also lauten: Je niedriger die Position eines Schülers in der sozialen Rangskala ist, um so geringer sind seine Chancen, durch die Schule zu einer für ihn optimalen Leistung geführt zu werden. Oder, auf den behaupteten Widerspruch hin formuliert: Je niedriger die Rang-Position eines Kindes ist, um so geringer ist die Chance, daß ihm sein Recht auf Bildung tatsächlich zuteil wird. Die Demokratie mag in Parlamenten und Verbänden, in den intellektuellen Auseinandersetzungen und den Regelungen von sozialen Gruppenkonflikten funktionieren oder nicht funktionieren: im Hinblick auf das Recht aller an einer angemessenen Bildung funktioniert sie nicht. Wir haben ein demokratisches Regelsystem auf dem Unterbau einer undemokratischen Verteilung der Lebenschancen (wenn wir die Lebenschancen nicht nur in der Anhäufung von Konsumgütern messen, sondern in dem Ausmaß, in dem der einzelne sich am gesellschaftlichen Geschehen beteiligen kann). Es ist also sinnvoll, vielleicht nicht von einem ständischen, aber doch von einem schichtspezifischen Charakter unseres Bildungswesens zu sprechen, und zwar insofern, als die drei Schultypen Hauptschule, Realschule und Gymnasium je eine soziale Schicht vorwiegend enthalten und auch vorwiegend zu fördern versuchen.
[028:158] Der Ursprung dieser Ungleichheit bzw. dieses Widerspruchs zwischen gleichem Recht und ungleichen Chancen liegt auch hier nicht in der Schule, sondern in dem relativ unbeweglichen Sozialschichten-Aufbau der Gesellschaft. Die Schule jedoch, statt alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um in ihrem Felde den Widerspruch auszugleichen, repro|A 107|duziert ihn: Die einzelnen sozialen Schichten bleiben unter sich. Wer unten ist, hat die größte Aussicht, auch weiterhin unten zu bleiben, und die Schule verhindert das nicht. Wer oben ist, hat große Chancen, auch oben zu bleiben, jedenfalls tut das Schulsystem das Seine, um ihm das zu ermöglichen.
[028:159] Die Mechanismen, mit deren Hilfe das geschieht, sind so bekannt wie der Sachverhalt selbst; ich brauche sie hier nur aufzuzählen: das Ausleseverfahren, der mittelständische Sozialcharakter der Schule, der zu frühe Übergangszeitpunkt zu den weiterführenden Schulen, die fehlende horizontale Durchlässigkeit zwischen den Schulgattungen, die fehlende innere Differenzierung, das fehlende 10. Schuljahr der Hauptschule, die schleichende Auslese in Gestalt der vorzeitigen Schulabgänger aus dem Gymnasium. Das alles aber hätte diese Wirkung nicht, wenn der Widerspruch, wie gesagt, nicht gesamtgesellschaftlicher Natur wäre. Die Unterschicht befindet sich in einer, durch den Wohlstand nur nicht mehr so leicht erkennbaren restriktiven Situation, in der sie Wertorientierungen, Sprachverhalten, Erziehungspraktiken ausbildet, die die Lernmotivationen und Lernfähigkeiten ihrer Kinder auf einem relativ niedrigen Niveau halten. Wenn es aber stimmt, daß die Offenheit und der demokratische Charakter einer Gesellschaft abhängen von der Lernfähigkeit der Bürger und damit vom Niveau ihrer Bildung, dann handelt es sich hier vielleicht um den gravierendsten Widerspruch im Hinblick auf die Demokratisierung unseres Bildungswesens.

3. Der Widerspruch zwischen der Suggestion des schönen Lebens und tatsächlicher Abhängigkeit

[028:160] Es wirft ein interessantes Licht auf den Zustand unserer Gesellschaft und die Art des Umgangs der Generationen miteinander, daß der Bereich, in dem die junge Generation noch am ehesten sich selbst bestimmen, ihre eigenen Interessen artikulieren und vertreten kann, die Freizeit und der Konsum ist. Und es ist ebenso bezeichnend, daß vor|A 108|nehmlich auf diesen Bereich die Sorge derer gerichtet ist, die sich pädagogisch verantwortlich fühlen, die es auf
»sinnvolle«
Freizeit, auf
»Jugendschutz«
, auf die sogenannten
»Gefährdungen«
abgesehen haben. Ihnen wäre entgegenzuhalten, daß die Gefährdung der Autonomie und Selbstbestimmung, die Gefährdung von Initiative und Entwicklung kritischer Impulse zur Beteiligung am gesellschaftlichen Geschehen hier am wenigsten zu befürchten ist.5
|A 180|5Daß es im Leben der Heranwachsenden auch Abwege gibt, die in die Dissozialität führen können, ist damit nicht geleugnet, vielmehr sei nur darauf hingewiesen, daß solche Möglichkeiten nicht selten mißbraucht werden im Dienste einer konservativen pädagogischen Ideologie.
Das Freizeitleben aber ist für die Jugendlichen gerade deshalb so wichtig, weil es der einzige Lebensbereich ist, in dem sie – wenn auch vielleicht nicht von den Pädagogen – voll ernst genommen werden. Ein 16jähriger Lehrling formulierte das so:
»Im Betrieb gelten wir nur als
halbe Figuren
; zu Hause müssen wir, wenn es darauf ankommt, den Mund halten; aber wenn wir ein Geschäft betreten und für unser Geld etwas kaufen, dann werden wir mit
Herr
und
Fräulein
angeredet, und dann benehmen wir uns auch danach.«
6
|A 180|6Zitiert nach H. Giesecke, a. a. O., S. 20.
Das heißt: Die Freizeit ist derjenige Lebensbereich der jungen Leute, in dem ihnen die Emanzipation aus den unvernünftigen Abhängigkeiten allenfalls gelingen könnte. Aber kann sie gelingen?
[028:161] Der Repressionen in Schule und Arbeitswelt überdrüssig, sucht der Jugendliche die Bedürfnisse, die ihn stimulieren, die in der Regel aber seinem Bewußtsein nicht klar verfügbar sind, in einem Verhaltensbereich zu befriedigen, in dem er seinen eigenen Motiven folgen kann. Was ihm hier begegnet, sind zum großen Teil seine Projektionen eines schöneren, repressionsfreien Lebens. Es geht ihm da nicht anders als den Erwachsenen. Die Schatten einer gesellschaftlichen Existenz, über deren Gestaltung und Veränderung man nicht entscheiden kann, treten vorübergehend zurück zugunsten eines Scheins von Freiheit, zugunsten der Autonomie des Käufers und Konsumenten. Diese Welt hat ihre eigenen Status-Symbole, von der Sonnenbräune bis zur Haartracht, von der Kleidung bis zum sexuellen Verhalten. Auf dem Weg zur Arbeitsstätte oder auf der Rückfahrt von der Riviera aber dämmert mindestens eine Ahnung von der Vergeblichkeit. Die Erfahrungen |A 109|von Selbständigkeit, Selbstbestimmung und freier Kommunikation bleiben aus dem Alltag weitgehend verbannt, Jugendliche mit langen Haaren werden oft nicht eingestellt. Stattdessen versucht die Arbeitswelt und was zu ihr gehört, sich so darzustellen, als sei die mögliche Humanisierung bereits erreicht. Bilder und Texte der Bundeswehr-Reklame mit strahlenden Siegfried-Gesichtern wollen glauben machen, sie sei das legitime Ziel jugendlicher Glücksbedürfnisse.
[028:162] Doch gerade in diesem Zusammenhang erfüllt die Freizeitwelt eine Funktion. Die strikte Trennung von Freizeit und Arbeit, die Tatsache, daß in der Freizeit die Befriedigung vieler Bedürfnisse gelingt und ein Gefühl von Selbstbestimmung aufkommt, bewirkt, daß die Verhältnisse der Arbeitswelt unangetastet bleiben. Wenn Selbstbestimmung in der Freizeit möglich ist, dann scheint sie im Betrieb entbehrlich. Dem Angepaßtsein der Jugendlichen an die Verhältnisse, so wie sie sind, ihrer
»Unbefangenheit«
darin, wie sie diese Verhältnisse akzeptieren und bejahen, korrespondiert ein Unbehagen, das in der Regel unterdrückt wird und gelegentlich sich Luft macht in Äußerungen, die nur mehr oder weniger genau das Gemeinte zum Ausdruck bringen. Genau an der Stelle aber, an der die Motive zur Selbstbestimmung politisiert werden und damit der Verbesserung der Gesellschaft dienen könnten, sorgen wir dadurch, daß wir sie in den Freizeitbereich abdrängen, dafür, daß sie sich privatisieren.

4. Der Widerspruch zwischen ökonomischem Interesse und Bildungsinteresse

[028:163] Seit Edding zum erstenmal seine bildungsökonomischen Berechnungen vorgelegt hatte, spielen ökonomische Kalkulationen, spielt die Frage nach dem wirtschaftlich verwertbaren Effekt unseres Bildungswesens eine immer größer werdende Rolle in den Reformdiskussionen. Bildungsinvestitionen sollen sich lohnen, was soviel heißt wie, daß sie sich volkswirtschaftlich bemerkbar machen sollen. Die |A 110|Zahl qualifizierter Fachleute soll steigen, um die Wachstumsraten nicht zu gefährden; sie soll aber nur soweit steigen, wie unsere Berufs- und Wirtschaftsfelder in den entsprechenden Positionen aufnahmefähig sind. Schon wird das Gespenst eines akademischen Proletariats, einer Übervölkerung an Abiturienten beschworen und damit eben auf eine möglicherweise unwirtschaftliche Investition im Bildungswesen hingewiesen.
[028:164] Diesem Denken entspricht es, wenn das Thema Leistung und Leistungssteigerung die Diskussion beherrscht, und zwar Leistung im Sinne eines ökonomisch verwertbaren Lernerfolges. Dem entspricht es auch, wenn im Vordergrund der Erörterung von Problemen der Hochschulreform Fragen der Studienzeitverkürzung und der Rationalisierung des Studienganges stehen, wenn das Problem der Schulreform bisweilen auf die Fragen nach zweckmäßigen Abgangszeugnissen reduziert wird, wenn die Anforderungen der Wirtschaft zum einflußreichen Kriterium für das werden, was in den Bildungseinrichtungen geschieht.
[028:165] Dieser nicht zu übersehende gesellschaftliche Trend aber gerät in Widerspruch mit dem Bildungsinteresse, wenn wir an der von mir gegebenen knappen Definition festhalten. Die Fähigkeit nämlich, sich in kritischer Diskussion an den Entscheidungen über Belange der Gesellschaft beteiligen zu können, hat auch die Beteiligung an der Diskussion der Lernziele zur notwendigen Voraussetzung. Sie schließt z. B. ein die Frage nach der Legitimität wirtschaftlicher Forderungen; sie schließt weiter ein die sehr aktuelle Frage, ob es die Aufgabe der Lehrerbildung sei, die Studenten in eine bestimmte Berufsrolle einzuüben, oder ob es nicht vielmehr ihre Aufgabe sei, die mit der Berufsrolle zusammenhängenden Probleme kritisch analysieren zu können, was allein eine wissenschaftliche Ausbildung qualifizieren kann.
[028:166] Sie schließt ferner ein, daß die Pädagogen und die Pädagogik sich wieder auf das besinnen, was es heißt,
»Anwalt des Kindes«
zu sein. Ein Anwalt ist ein Interessenvertreter. Da weiterhin über 50 Prozent unserer Schüler, und an |A 111|den Hauptschulen fast alle, zukünftige Arbeitnehmer sind, halte ich es für wenig wahrscheinlich, daß deren Interessen durch die Repräsentanten der Wirtschaft tatsächlich wahrgenommen werden. Insofern ist das Bildungsinteresse ein Arbeitnehmer-Interesse.
[028:167] Daß es sich dabei in der Tat um Widersprüche handelt, kann die folgende Überlegung zeigen: Es ist zu vermuten, daß durch einen höheren Bildungsstand, der auch ein höheres Niveau politischen Bewußtseins einschließt und nicht nur eine bessere Qualifikation in wirtschaftlich verwertbaren Kenntnissen, das politische Interesse an der Struktur unserer Arbeitswelt steigt. Die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die Mitbestimmung zeigen deutlich, wie in einem solchen Fall die Fronten verlaufen würden: Das Interesse an besserer Ausbildung für unsere Jugend wird dann auf entschiedenen Widerstand stoßen, wenn zu vermuten ist, daß die Bildung den einzelnen auch die Fähigkeit vermittelt, sich kritisch mit dem Bestehenden auseinanderzusetzen, um eine Änderung herbeizuführen. Solche Überlegungen zeigen überdies, wie wenig die Bildungspolitik ein von den übrigen gesellschaftlichen Vorgängen isoliertes Unternehmen sein kann. Bildungspolitik ist immer ein Teil der Gesellschaftspolitik. Reform der Bildungswege hat es immer auch zu tun mit der Reform der Gesellschaft, für die solche Bildungswege vorbereiten wollen.

5. Der Widerspruch zwischen der politischen Funktion der Allgemeinbildung und ihrem faktisch unpolitischen Charakter

[028:168] Der Begriff der Allgemeinbildung hat an seinem Ursprung – z. B. bei Humboldt – einen politischen Sinn gehabt. Er gehörte nämlich durchaus in die Geschichte der europäischen Emanzipationen, in die Geschichte des Demokratisierungsprozesses. Die Allgemeinbildung sollte ja gerade jene Distanz des kritischen Urteils von den gesellschaftlichen Einrichtungen und zumal den Berufen, der Welt |A 112|des bürgerlichen Wirtschaftens, schaffen, die für eine vernünftige Veränderung der Verhältnisse notwendig ist. Die Geschichte jedoch lief anders. In der sich etablierenden Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts war diese Konzeption machtlos, weil Humboldt von ihr zwar politische Wirkung erhoffte, sie selbst aber nicht politisch konzipierte. Dadurch konnte sie zu jenem unpolitischen Instrument verblassen, das uns heute noch zu schaffen macht.
[028:169] Wenn heute der Ausdruck Allgemeinbildung überhaupt noch einen Sinn haben soll, dann kann dieser Sinn, neben der Vermittlung einiger allgemeiner Grundkenntnisse, nur noch politisch verstanden werden. Denn worauf sollen wir die Allgemeinbildung beziehen? Auf den Menschen als solchen, vielleicht in seiner
»Menschlichkeit«
oder
»Mitmenschlichkeit«
? Auf einen abstrakten Begriff von Humanität? Oder auf irgendein Abziehbild des
»abendländischen Menschen«
? Solche Ausdrücke sind Leerformeln und für konkretes Argumentieren längst unbrauchbar geworden.
[028:170] Aber gerade deshalb eignen sie sich gut dazu, Interessen dienstbar zu werden, die am Bestehenden nichts ändern wollen, die unter dem Schild solcher Leerformeln Moralen und Wertentscheidungen unkritisch und undiskutiert in die Schule einführen oder in ihr festhalten wollen: das heißt, die im Grunde die offene Gesellschaft nicht – oder wenigstens in den Bildungseinrichtungen nicht – praktizieren wollen.
[028:171] Die allgemeine Rolle aber, auf die die Schule alle ihre Schüler, ohne jeden Unterschied, heute vorzubereiten hat, ist die Rolle des politisch beteiligten Bürgers. Das bedeutet aber, daß die Bildungseinrichtungen mit dem Wissen, das sie vermitteln, ihre Bildungsbedeutung erst in der pragmatischen Dimension entfalten können, erst dann, wenn deutlich wird, wie dieses Wissen in den Händen oder Köpfen der einzelnen zur Vergrößerung ihrer gesellschaftlichen Chancen, zur Wahrung und Erweiterung ihrer Rechte, zur Wahrnehmung ihrer eigenen Interessen beitragen kann.
|A 113|
[028:172] Mir scheint, daß trotz des Schlagwortes von der
»politischen Bildung als Unterrichtsprinzip«
unsere Bildungseinrichtungen bisher im Grunde unpolitisch geblieben sind, weil sie nach wie vor einem Begriff von Bildung anhängen, der das, was der jungen Generation zu vermitteln ist, vor oder über den politischen Vorgängen anzusiedeln sucht. Das führt zu einem Widerspruch insofern, als dem politischen Auftrag der Schule, mündige Bürger hervorzubringen, dadurch entgegengewirkt wird.
»Gesellschaftlich«
ist dieser Widerspruch deshalb zu nennen, weil auch er seinen Ursprung nicht in der Schule hat, sondern in den Problemen einer Gesellschaft, die dazu neigt, den Demokratisierungsprozeß als abgeschlossen zu betrachten.

6. Der Widerspruch zwischen rationalem Anspruch und irrationaler Wirklichkeit

[028:173] Rationalität ist ohne Zweifel ein Merkmal industrieller Gesellschaften. Sie sind entstanden unter hervorragender Beteiligung der Wissenschaften, die dadurch, daß sie die gegenständliche Welt rationaler Analyse unterzogen, die Prozesse dieser Welt verfügbar machten. Diese zweckrationale Seite unserer Lebenszusammenhänge stellt sich der jungen Generation nachdrücklich dar. Aufklärung über die Gesetzmäßigkeit natürlicher Vorgänge ist ein selbstverständlicher Bestandteil ihres Lebens in Familien und Schulen, Rationalisierung der Arbeitswelt ist ihr vertrauter als ihren Vätern, die Zweckmäßigkeit der Mittel eines ihrer Lebensprinzipien. Darin stimmen sie mit der Gesellschaft überein, die, nach langem Zögern, sich z. B. allmählich auch zu entschließen scheint, den tabuierten Bereich des Sexualverhaltens in die wenigstens technische Aufklärung miteinzubeziehen. Aber das Zögern gerade in dieser Hinsicht und die Ungeduld der Jugend ist nicht zufällig. Rationalität bedeutet mehr als zweckmäßige Mittelwahl. So wie die Rationalität wissenschaftlicher Forschung in der Kontrollierbarkeit ihrer Sätze besteht, so besteht die Rationalität sozialer Gebilde in der Kontrollierbarkeit der Institutionen |A 114|und des Handelns, in der Öffentlichkeit der Diskussion, in der Allgemeinheit der Kritik des Handelns und der Institutionen.
[028:174] Nun ist es gerade diese Dimension der Rationalität, ihre praktisch-demokratische Funktion, die den jungen Leuten vorenthalten wird. Wieder mit dem Hinweis auf ihre Unreife verweigern die sozialen Institutionen ihnen die Mittel, die für solche Kritik unentbehrlich sind. Unentbehrlich ist z. B. die Fähigkeit, Herrschaft als Herrschaft zu erkennen. Trotz der proklamierten Rationalität unserer Bildungspläne und Programme versuchen Schulen, Kirchen und Verbände gerade an ihren Herrschaftsfunktionen festzuhalten. Das gelingt ihnen auch – jedenfalls der jungen Generation gegenüber –, sofern sie Kritik an sich selbst nicht zulassen, mindestens aber erschweren. Schulordnungen haben häufig mehr Ähnlichkeit mit Reglements für geschlossene Anstalten als mit Umgangsformen für Stätten freier Bildung. In der Pädagogik wird die sogenannte
»echte«
Autorität beschworen, ohne welche Erziehung angeblich nicht möglich ist. Die Kirchen halten an patriarchalischen Gemeindevorstellungen fest. Die Hierarchie der Betriebe macht die abhängige Lohnarbeit durch besondere Sozialleistungen in ihrer Abhängigkeit weniger fühlbar, und die Schule versäumt es, was sie gerade hier als Bildung zu leisten hätte: die Abhängigkeiten durchschaubar zu machen.
[028:175] Etwas Groteskes ist eingetreten: Jener Anspruch, mit dem die Erziehungstheorie Rousseaus das Generationsverhältnis bestimmte, die politische Relevanz einer emanzipierten Erziehung, ist in dem Maße zurückgegangen, in dem die Gesellschaft von sich glaubte, daß sie zunehmend demokratischer wurde. Befreiung aus Abhängigkeiten, die die freie Entscheidung aller Menschen über das, was mit ihnen geschieht, verhindern – dies ist gegenwärtig nicht das Thema des Umgangs der erwachsenen Generation mit der jüngeren. Im Gegenteil, viele Erwachsene verübeln es der jungen Generation, wenn sie dieses Thema zur Sprache bringt.
|A 115|

Opposition und Anpassung

[028:176] Die skizzierten Widersprüche lassen sich auch als Defizite unseres Erziehungssystems unter dem Gesichtspunkt der Demokratisierung formulieren:
  1. 1.
    [028:177] das Defizit an Beteiligungs- und Entscheidungsspielraum der heranwachsenden Generation; es betrifft die Organisationsstruktur unserer Erziehungs- und Bildungssituationen;
  2. 2.
    [028:178] das Defizit an Gerechtigkeit im Hinblick auf die Verteilung der Lernchancen; es betrifft die Veränderung unseres dreigliederigen Schulsystems und den Zusammenhang von Bildungs- und Sozialpolitik;
  3. 3.
    [028:179] das Defizit an emanzipierter Freizeit; es betrifft die Einrichtungen und Formen der Konsum- und Freizeiterziehung und ihre Abhängigkeit von der Organisation der Arbeit;
  4. 4.
    [028:180] das Defizit an Autonomie gegenüber den wirtschaftlich herrschenden Interessen; es betrifft die Rolle der Bildungseinrichtungen im Kampf der Interessengruppen um Herrschaft;
  5. 5.
    [028:181] das Defizit an politischem Bewußtsein und politischer Bildung in Lehrern, Bildungsinstitutionen und vermitteltem Wissen; es betrifft die didaktischen Reformen;
  6. 6.
    [028:182] das Defizit an Rationalität in unserem Erziehungssystem im Umgang mit der jungen Generation; es betrifft die Kommunikationsformen in allen Einrichtungen, in denen junge Menschen in unserer Gesellschaft lernen.
[028:183] In dieser Situation ist es nicht besonders erklärungsbedürftig, daß ein Teil der Jugend protestiert und provoziert. Eine solche Reaktion ist, sofern man die Mittel der Vernunft zu gebrauchen imstande ist, das Naheliegende. Und sofern man den Jugendlichen vorwirft, sich in den Mitteln zu vergreifen: Sie sind gewiß nicht schlechter als die der angegriffenen Institutionen. Sie haben nur den Nachteil, daß ihre Schwäche eher zu erkennen ist. Sie kön|A 116|nen sich nicht mit einer repressiven Erziehungsmoral tarnen, hinter der die Schule ungestört Schülerzeitungen bevormundet, oder mit den Sacherfordernissen eines teuren Forschungsapparates, hinter dem die Hochschulen die Demokratisierung ihrer Institute verhindern. Ich nehme an, sie wollen das auch nicht.
[028:184] Dergestalt von der jungen Generation, zunächst noch durch einen kleinen, aber vermutlich wachsenden Teil, herausgefordert, reagiert die erwachsene Generation wie ein schlechter Vater, der schon in der Kindheit seines Sohnes verpaßt hat, ein überzeugendes Objekt von dessen Identifizierungswünschen zu sein. Durch
»gelegentliche Ausbrüche von Männlichkeit«
– wie es Horkheimer einmal formulierte – versucht er, sich im Konfliktfall einer Herrschaftsposition zu versichern, die er zwar noch innehat, die er aber nicht mehr überzeugend begründen kann. Er sieht nicht die Motive, und statt sie zu diskutieren, was freilich einige rationale Anstrengung erforderlich machen würde, beschränkt er sich auf ein Verdikt über die Erscheinungen, auf eine platte Kundgabe seines eigenen Sicherheitsbedürfnisses: eine zutiefst unreife Reaktion, biographisch verständlich, aber nichtsdestoweniger irrational. Dies ist aber nur ein Vergleich: Im Grunde gibt es den Generationskonflikt mit einzelnen Vätern, wie noch in der Jugendbewegung, nicht mehr als generationstypische Erscheinung. Vielmehr handelt es sich heute um einen kollektiven Konflikt der jungen Generation mit den überlieferten sozialen Ordnungen.
[028:185] Besonders aufklärungsbedürftig also ist die Opposition der Jungen nicht. Erklärungsbedürftig ist vielmehr die Tatsache, daß sie so spät erfolgte, und zumal, daß sie nur einen ziemlich kleinen Teil der Jugend ergriffen hat. Eine vollständige und befriedigende Erklärung ist hier sicher nicht möglich. Sozialpsychologie und Psychoanalyse, Generationenforschung und Soziologie können je das Ihre dazu beitragen. Aber ein Grund unter mehreren ist es vermutlich, daß die von mir skizzierten Widersprüche in den meisten Jugendlichen nur schwer ertragbare Konflikte hervorrufen |A 117|würden, so daß sie es vorziehen, sich dem Bestehenden anzupassen. Ein anderer Grund ist vermutlich die Tatsache, daß unser Erziehungssystem, der Typus unserer kulturellen Überlieferung, eben nicht jene Werkzeuge der kritischen Analyse, der Artikulation eigenen Interesses und der politischen Solidarisierung bildet, mit deren Hilfe die sozialen Konflikte durchgestanden werden können. Das Unbehagen bleibt deshalb so häufig im Privaten, in infantilen Regressionen, im Narzißmus stecken, woraus es gerade zu befreien wäre.
[028:186] Auf einen sehr weitreichenden, mit der Struktur moderner Industriegesellschaften zusammenhängenden Grund hat der amerikanische Familienforscher Bronfenbrenner hingewiesen. Er äußert aufgrund von Untersuchungen, die die Erziehungspraxis amerikanischer Familien zum Gegenstand haben, eine pessimistische Vermutung. Während noch vor wenigen Jahrzehnten die Erziehungspraxis der Mittelschicht sich an dem selbständigen, initiativereichen privaten Kleinunternehmer orientierte, der es auf individuelle, schöpferische Leistung abgesehen hat, ändert sie sich zunehmend in Richtung auf einen eher bürokratischen Verhaltenstyp mit wenig Initiative, hoher Anpassungsbereitschaft und einem nur systemkonformen, standardisierten Leistungsstreben. Da es sicher ist, daß familiäre Erziehungspraktiken in hohem Grade vom Beruf des Familienernährers abhängig sind, dürfen wir annehmen, daß dieser Trend auch für unsere Verhältnisse gilt, in dem Maße jedenfalls, in dem auch bei uns die bürokratischen Berufe zunehmen. Die Unterschicht, die sich zunächst ganz anderer Erziehungspraktiken bediente, gleicht sich mehr und mehr der Mittelschicht an und verstärkt damit den Zug zu jenem konformistischen Verhaltenstyp. Diese pessimistische Prognose besagt also, daß wir zunehmend weniger mit einer Jugend rechnen können, die kritisch, rational und unverführbar ist, daß demnach die Entpolitisierung der Jugend eine Folge der Entdemokratisierung der Gesellschaft wäre.
[028:187] Solche Entwicklungen aber sind nicht zwangsläufig. Wie diese Gesellschaft mit ihrer Jugend umgeht, ist kein un|A 118|korrigierbares Schicksal. Sie muß nur eine Jugend wollen, die nicht dem Ordnungsbegriff jenes eingangs zitierten Satzes folgt, sondern – um jenen Satz noch einmal zu variieren – die mit überschäumendem Gelächter genießen gelernt hat, eine scharfe Zunge zu führen versteht, einen feinschmeckerischen Gaumen hat, einen raschen Gang liebt und in ihrem begründeten Zorn unnachgiebig ist.

Zur pädagogischen Theorie der Geselligkeit

[018:1] Die Beschäftigung mit pädagogischen Problemen der Geselligkeit könnte leicht vermuten lassen, daß hier ein abseitiges Thema dem akademischen Rückzug in die Idylle dienen soll. Der Begriff Geselligkeit läßt sich dem Leistungsprinzip unseres Bildungswesens kaum zuordnen, er scheint bildungspolitisch ohne Bedeutung zu sein, er hat es auf den ersten Blick eher mit Amusement und Zeitvertreib als mit ernsthaftem Lernen zu tun. Erinnerungen an das Biedermeier, an Dorflinden und die Volkstümelei der Jugendbewegung geben der Skepsis anscheinend recht. Die Jazzkeller-Kulturen der fünfziger Jahre, Gammler-Parties und Hippie-Feste und das zur pädagogischen
»Methode«
geronnene Entertainment der Freizeitgeselligkeit in
»Heimen der offenen Tür«
scheinen die Reihe der Traditionen lediglich mit anderen Mitteln fortzusetzen. Gilt das auch für die eigentümlich spröde Geselligkeit, die für politische Studenten- und Schülergruppen seit einigen Jahren charakteristisch ist? Gerade hier, so könnte man meinen, zeigt sie sich als ein höchst unwichtiges Anhängsel politischer Aktivität, als unbedeutende Begleiterscheinung eines Lernens in Gruppen, das ganz andere Absichten verfolgt.
[018:2] Ist es also Ironie, die die Wahl des Themas nahelegt? Allerdings wäre Ironie meinem Gegenstand nicht fremd; vielmehr ist sie dort ein durchaus belebendes Element. Sie selbst ist eine gleichsam gesellige Form des Geistes. Diese Form, in den Berliner Salons zwischen 1790 und 1810 als
»romantische Ironie«
bekannt geworden, ist – und damit versuche ich den ersten Schritt in Richtung auf eine akade|A 120|mische Behandlung des Themas – für die Entstehungsgeschichte der deutschen Erziehungswissenschaft kein unerhebliches, vielmehr ein höchst bedeutsames Phänomen. Das stimmt allerdings nur, wenn man die Geschichte der Erziehungswissenschaft nicht mit dem psychopathisch-ungeselligen Rousseau, nicht mit dem rustikal-ungeselligen Pestalozzi, sondern mit dem geistreich-rationalen Gesprächspartner der Gebrüder Schlegel, Friedrich Daniel Schleiermacher, beginnen läßt. Schulmänner freilich werden diese Feststellung verdrießlich finden, fehlt doch gerade der für die Entwicklung einer schulbezogenen Erziehungswissenschaft bedeutende Johann Friedrich Herbart in meiner Aufzählung. Indessen: Herbart konnte sich, von einem zaghaften Ansatz während seiner Göttinger Zeit abgesehen, nicht entschließen, das Phänomen der Geselligkeit in den Umkreis seiner pädagogischen Reflexionen aufzunehmen. Ob diese theoretische Abstinenz etwas zu tun hat mit seiner pädagogisch motivierten Vorliebe für drittklassige Literatur – er empfahl als erzieherisch wertvoll Iffland und Kotzebue zu einer Zeit, als in deutschen Bürgerhäusern in abendlicher Geselligkeit Schillers
»Wallenstein«
mit verteilten Rollen gelesen wurde –, möchte ich nicht entscheiden.
[018:3a] Für die weitere Entwicklung der Pädagogik ist Herbart einflußreicher geblieben als Schleiermacher. Die Ansätze einer pädagogischen Reflexion im Hinblick auf die Bildungsbedeutung von Geselligkeit verschwanden wieder, kaum daß sie entstanden waren. Diese Verkümmerung im theoretischen Horizont einer wissenschaftlichen Disziplin wäre, da es sich ja nur um ein geringes Detail handelt, unerheblich, wenn sie nicht bedeutenden Symptomwert hätte. Diesen symptomatischen Charakter nachzuweisen, will ich im folgenden versuchen.
[018:3b] Schlaglichtartig wird das gemeinte Problem deutlich in einer Bemerkung Herman Nohls vom Jahre 1915: es zeige sich, daß die Geselligkeit der Salons
»kein wirkliches Bedürfnis deutscher Art ist, wie denn auch die deutsche Frau in ihrer echtesten Erscheinung zu einer solchen Leistung nicht be|A 121|stimmt ist«
. 1
|A 180|1
H. Nohl, Vom deutschen Ideal der Geselligkeit, in: H. Nohl, Pädagogische Aufsätze, Langensalza ²1929, S. 132.
Statt dessen wird die Geselligkeit der Jugendbewegung empfohlen:
»Diese neue Geselligkeit kennt nur Tätige, und diese Selbsttätigkeit wird das Prinzip der Lebensführung überhaupt. Man meidet Gasthäuser, man kocht und baut«
. 2
|A 180|2
A. a. O., S. 133.
Damit war die Bahn frei für die pädagogische Rechtfertigung eines Typus von Geselligkeit, der mit der bürgerlichen Geselligkeit von Aufklärung, Klassik und Romantik kaum mehr als den Namen gemeinsam hat. Der in genauen Interpretationen von Nohl vorgenommene Rückgriff auf die Texte Garves, Schillers, Fichtes und Schleiermachers im ersten Teil seines Aufsatzes hatte sich nicht gelohnt. Im ideologischen Schluß wird das anfangs gesammelte Kapital wieder verspielt.
[018:3c] Ich möchte nun in meinen Erörterungen zeigen,
  1. 1.
    [018:4] daß die bürgerliche Geselligkeit der Aufklärung ein Ort der Emanzipation war, der eine politisch bildende Funktion erfüllte;
  2. 2.
    [018:5] daß von jener Zeit an die Geschichte der Geselligkeit mit der Geschichte der Pädagogik eng verknüpft ist;
  3. 3.
    [018:6] daß die rational-kritische Funktion von Geselligkeit durch einige pädagogische Theoreme sehr geschwächt wurde bzw. völlig verschwand;
  4. 4.
    [018:7] daß diese Schwächung im Zusammenhang mit gesamtgesellschaftlichen Prozessen steht, deren Symptom sie ist, und
  5. 5.
    [018:8] daß das Problem der Geselligkeit ein legitimes und ertragreiches Thema der Erziehungswissenschaft ist.

Die bürgerlich-aufgeklärte Geselligkeit

[018:9] In seiner
»Theorie des geselligen Betragens«
schreibt Schleiermacher:
»Freie, durch keinen äußeren Zweck gebundene und bestimmte Geselligkeit wird von allen gebildeten Menschen als eins ihrer ersten und edelsten Bedürfnisse laut gefordert ... Es muß also einen Zustand geben ... der die Sphäre eines Individuums in die Lage |A 122|bringt, daß sie von den Sphären anderer so mannigfaltig als möglich durchschnitten werde, und jeder seiner eigenen Grenzpunkte ihm die Aussicht in eine andere und fremde Welt gewähre ... Diese Aufgabe wird durch den freien Umgang vernünftiger sich untereinander bildender Menschen gelöst.«
3
|A 180|3F. D. Schleiermacher, Versuch einer Theorie des geselligen Betragens, in: F. D. Schleiermacher, Ausgewählte Werke, Bd. II, hrsgg. von Otto Braun, Leipzig, S. 1.
In diesen Sätzen, die nicht nur als Forderung, sondern auch als ziemlich genaue Beschreibung einer bestimmten Art von Geselligkeit zu verstehen sind, erreicht ein Prozeß seinen Höhepunkt, der – durch die Aufklärung hindurch – den historischen Typus der bürgerlichen Geselligkeit hervorgebracht hat.
[018:10] Dieser Prozeß beginnt im 17. Jahrhundert. Neben der Hofhaltung absolutistischer Monarchen auf dem Kontinent und der schon fade werdenden Geselligkeit am Hof der englischen Könige fängt das Bürgertum an, ein soziales Feld zur Verhandlung seiner eigenen Angelegenheiten auszubilden. Diese Geselligkeit trägt einen entschieden urbanen Charakter. Sie entsteht und hält sich ausschließlich in den Städten. In England sind es zunächst die Kaffeehäuser, in denen man zusammenkommt. Um 1710 soll es davon in London bereits 3000 gegeben haben.4
|A 180|4L. Stephen, English Literature and Society in the 18th Century, London 1947, S. 37.
Die sonst peinlich eingehaltenen Standesgrenzen spielten hier kaum noch eine Rolle; breite Schichten des Mittelstandes, Handwerker und Krämer trafen mit dem Adel und dem bürgerlichen Patriziat zusammen. Man diskutierte und kritisierte das, was den bürgerlichen Markt zu füllen begann. Neben ökonomischen und sozialen Problemen war das vor allem die Welt der Literatur, Kunst und Philosophie.
[018:11] Um 1730 haben die Kaffeehäuser ihre Blütezeit schon überschritten. Sie werden abgelöst von den Salons der wohlhabenden Familien, in denen sich die geistige Welt Londons traf, eine immer entschiedener werdende Repräsentation bürgerlichen Bewußtseins.
[018:12] Dies war besonders deutlich in Frankreich vor der Revolution. In den Salons des Finanzministers Necker, des Philosophen Holbach, der Familien d’Epinay, Deffant und wie sie sonst hießen, diskutierten Atheisten mit Geistlichen, Literaten mit Bankiers, formierten sich die Enzy|A 123|klopädisten, wurden die Argumente der Revolution vorbereitet.5
|A 180|5Vgl. A. von Gleichen-Rußwurm, Das galante Europa, Geselligkeit der großen Welt 1600–1789, Stuttgart 1911, S. 357 ff.; ferner J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied 1962.
Nahezu alle großen Schriftsteller des 18. Jahrhunderts hatten ihre Gedanken zuerst in diesen Salons zur Diskussion gestellt. Vermutlich in bezug auf die englischen Anfänge dieser bürgerlichen Geselligkeit nannte Galiani Paris das Kaffeehaus Europas,
»le café de l’Europe«
.
[018:13] Deutschland, nach der Formulierung Pleßners
»die verspätete Nation«
, folgt auch hier zuletzt. Eine ausgebildete Form bürgerlicher Geselligkeit zeigt sich erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Charakteristisch ist allerdings, daß sie sich gegen ökonomische und aktuell-politische Interessen stärker isoliert hat als die englische oder französische. Sie hatte von vornherein einen Zug größerer Privatheit, einen Keim des Unpolitischen im Vergleich mit ihren europäischen Schwestern. Wer in die geselligen Zirkel, Salons und Tischgesellschaften in Heidelberg, Frankfurt, Weimar und Berlin eintritt, läßt seinen sozialökonomischen Status gleichsam hinter sich; er erwirbt im Medium dieser halb-privaten Geselligkeit einen Status, der im Herrschaftssystem der ständischen Gesellschaft keinen Ort hat, er tritt in den Stand der Gebildeten ein.6
|A 180|6W. Roessler, Die Entstehung des modernen Erziehungswesens in Deutschland, Stuttgart 1961, S. 194 ff. und 216 ff.
Charakteristisch für diesen Sachverhalt ist die bedeutende Rolle, die jüdische Familien in diesem Zusammenhang spielen. Selbst nur ungenügend integriert durch die antisemitische Tradition, die in Preußen, besonders aber in Österreich diesen Familien den sozialen Rang versagte, waren sie gleichsam der ideale Ort für eine freie kritische Diskussion, die nicht unmittelbar in die ökonomischen und politischen Interessen eingriff. Die Geselligkeit in den Häusern Moses Mendelssohns, Fanny Arnsteins und Rahel Varnhagens ist dafür ein Beispiel.7
|A 180|7Vgl. H. Arendt, Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, München 1959; H. Spiel, |A 181|Fanny von Arnstein oder die Emanzipation. Ein Frauenleben an der Zeitenwende 1758–1818, Frankfurt/Main 1962.
Der Unterschied zwischen der deutschen und der englischen Geselligkeit des bürgerlichen Typs im Hinblick auf ihre Verbundenheit mit der realen Gesellschaft zeigt sich besonders deutlich darin, daß in London die sozialkritische Satire ein wesentliches Element der Zusammenkünfte in Kaffeehäusern und Salons war; die Realität der englischen Gesellschaft war in diesen Zusammenkünf|A 124|ten eben nicht suspendiert. Anders in Deutschland: Literatur und Philosophie waren die nahezu ausschließlichen Gegenstände der Gespräche. In diesem Klima konnte das gedeihen, was Herbert Marcuse den
»Begriff der affirmativen Kultur«
genannt hat.8
|A 181|8
H. Marcuse, Über den affirmativen Charakter der Kultur, in: H. Marcuse, Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt/Main 1965.
Es ist der Begriff einer Kultur, die sich über die faktische Schlechtigkeit der realen Gesellschaft zu erheben vermeint und eine Gemeinschaft scheinbar freier Individuen konstituiert, die im Gespräch sich gegenseitig der sogenannten kulturellen seelischen Werte versichern.
»Das Höchste, was aus dem Menschen gemacht werden kann, weist in seiner Verwirklichung auf eine Gemeinschaft freier und vernünftiger Personen, in der jeder dieselbe Möglichkeit zur Entfaltung und Erfüllung aller seiner Kräfte hat.«
9
|A 181|9A. a. O., S. 70.
Die Realisierung dieser Utopie sollte
»durch die kulturelle Bildung der Individuen in Angriff genommen werden ... nicht durch einen Umsturz der materiellen Lebensordnung, sondern durch ein Geschehen in der Seele des Individuums«
. 10
|A 181|10
A. a. O., S. 71.
Genau dies ist in dem eingangs gegebenen Schleiermacher-Zitat angesprochen, wo von der
»freie(n), durch keinen äußeren Zweck gebundene(n) und bestimmte(n) Geselligkeit«
die Rede ist. Ganz ähnlich heißt es bei Humboldt, daß
»der freie und alltägliche Umgang in engeren und weiteren Verbindungen ... kleineren und größeren gesellschaftlichen Zirkeln«
jeden Einzelnen
»empfänglicher und eigentümlicher mache«
, und zwar
»unter der Bedingung einer vollkommenen Freiheit ... mit gänzlicher Vermeidung allen Scheins von Absicht. Alles soll von selbst entstehen, alles Spiel und Erholung, nichts Ernst oder Geschäft sein«
. 11
|A 181|11
W. v. Humboldt, Plan einer vergleichenden Anthropologie, in: Werke in fünf Bänden, hrsgg. von A. Flitner und K. Giel, Band I, Darmstadt 1960, S. 343.
Die von Humboldt zitierte
»vollkommene Freiheit«
war allerdings nur der Schein von Freiheit.
[018:14] Dieses Produkt bürgerlicher Geselligkeit, die Beruhigung der Individuen beim Schein der Freiheit ist, da aus dieser Geselligkeit die deutsche Bildungstheorie hervorwuchs, für die Pädagogik folgenreich geworden. Wir finden seine Spuren nicht nur in den mediokren Auslassungen zur sogenannten musischen Bildung, in der Praxis der außerschulischen Jugendbildung, wir finden sie auch in den Be|A 125|griffen Bildungsgut und Bildungswert, in manchen Schultheorien und der Praxis der Bildungspläne bis hin zu den Argumenten für eine musisch statt grundwissenschaftlich orientierte Lehrerbildung. Freilich: Die intellektuelle Schwäche, durch die sich derartige Gedankengänge heute auszeichnen, ist denen kaum anzulasten, die sich wöchentlich etwa bei Rahel Varnhagen in der Jägerstraße trafen: Fichte, Humboldt, die beiden Schlegel, Schleiermacher, Gentz, Brinkmann, Kleist.
[018:15] Unabhängig von dieser Besonderheit im Kreise der deutschen Gebildeten ist doch der bürgerlichen Geselligkeit Europas Wesentliches gemeinsam:
  1. 1.
    [018:16] Das Bürgertum entdeckt für sich, was bisher nur der politisch herrschenden Klasse vorbehalten war: den geselligen Müßiggang.
  2. 2.
    [018:17] Dieser Müßiggang erschöpft sich, nach einer Formulierung Thorstein Veblens12
    |A 181|12
    Th. Veblen, Theorie der feinen Leute, Köln o. J.
    , nicht in
    »demonstrativer Verschwendung«
    und
    »neiderfülltem Vergleich«
    , sondern hat die Diskussion der eigenen Angelegenheiten zum Gegenstand.
  3. 3.
    [018:18] Diese Diskussion ist kritisch, insofern sie sich auf Vernunft gründet, in rationaler Argumentation fortschreitet.
  4. 4.
    [018:19] Darin, in solcher rationalen Diskussion, ist die bürgerliche Geselligkeit antidogmatisch und ein gesellschaftlich realer Schritt auf dem Wege der Emanzipation. Sie ist damit die halb private, halb öffentliche Vorwegnahme der bürgerlichen Freiheit, ein Datum im europäischen Demokratisierungsprozeß. Im geselligen Räsonnement emanzipiert sich der Untertan zum Bürger.
[018:20] Der affirmative Begriff von Kultur aber, von dem die Rede war, verhinderte nicht nur das gesellschaftliche Fortschreiten dieser Ansätze in Deutschland, sondern auch die Transposition der gemachten Erfahrungen in die pädagogische Praxis. Daß solche Intentionen vorhanden waren, scheint mir nicht bezweifelbar. Bildung als das Ergebnis einer geselligen Wechselwirkung zwischen Individuen, die |A 126|kritisch und distanziert die menschlichen Werke einer rationalen Erörterung unterzogen, war ja erlebt worden. Die Hoffnung, jene Erfahrungen für eine vernünftiger geordnete Gesellschaft auf dem Wege über Erziehung dienstbar zu machen, schien den Zeitgenossen so utopisch nicht zu sein. Schließlich läßt sich die
»Pädagogische Provinz«
in
Wilhelm Meisters Wanderjahren
durchaus als eine besonders extensive Form von Geselligkeit interpretieren, und Schleiermacher hat 1826 in seiner Erziehungstheorie versucht, der
»freien jugendlichen Geselligkeit«
einen wichtigen und funktionsfähigen Ort zwischen Schule und Erwachsensein zuzuweisen.
[018:21] Die Geschichte aber lief anders, als der idealistische Optimismus sich vorstellte. Geselligkeit wurde nicht ein Ort der Einübung kritischen Bewußtseins, kein Ort vernünftiger Diskussion, kein Ort sozialschöpferischer Aktivität, sondern ein Instrument gesellschaftlicher Herrschaft, auch dort, wo sie sich – wie in der Jugendbewegung – polemisch gebärdete.

Die bürgerlich-affirmative Geselligkeit

[018:22] Interessant, weil die ideologische Situation um die Mitte des 19. Jahrhunderts ziemlich genau widerspiegelnd, sind die Vorstellungen des Sozialtheoretikers Wilhelm Heinrich Riehl zu unserem Gegenstand. In den Pariser Salons war ein Bewußtsein von der materiellen Basis des Glücks lebendig; Inhalt dieser Geselligkeit war, in einem weiten Sinne, die politische Philosophie; sie konnte sich daher als ein realer Faktor im gesellschaftlichen Prozeß darstellen. Bei den deutschen Gebildeten war diese real-gesellschaftliche Verbindung schon verblaßt zur Idee einer
»Gemeinschaft im wahren Menschentum«
. Im Laufe des 19. Jahrhunderts, verschwand dieser Ansatz völlig. Die Geselligkeit verlor den Zusammenhang mit Öffentlichkeit und wurde intim; oder, wo sie ihren halböffentlichen Charakter behielt, verlor sie ihre kritische Potenz und wurde re|A 127|staurativ.
»Die Salons verschwinden nicht einfach aus der preußischen Hauptstadt, sondern bilden sich um Personen von Rang und Namen«
, bevölkern sich mit Militärs und Beamten.13
|A 181|13
H. Arendt, a. a. O., S. 119.
Die von Achim von Arnim gegründete christlich-deutsche Tischgesellschaft ist, die neuen Tendenzen vorwegnehmend, dafür exemplarisch. Die Statuten dieses geselligen Zirkels verbieten Frauen, Franzosen, Philistern und Juden den Zutritt. In dieser Zeit schreibt Rahel Varnhagen:
»Bei meinem Teetisch ... sitze nur ich mit Wörterbüchern; Tee, wird gar nicht bei mir gemacht ... So ist alles anders! Nie war ich so allein. Absolut. Nie so durchaus und bestimmt ennuyiert ... Im Winter und im Sommer auch noch, kannt’ ich einige Franzosen ... Die sind alle weg. Meine deutschen Freunde, wie lange schon; wie gestorben, wie zerstreut.«
14
|A 181|14Zitiert bei H. Arendt, a. a. O., S. 140.
[018:23] Für Wilhelm Heinrich Riehl aber ist solche Entwicklung nicht das Zeichen einer geschichtlichen Regression, sondern eine Wiederkehr gesunder Verhältnisse. Er postuliert:
»Die Sitte des geselligen Lebens soll in der Familiensitte wurzeln ... Je weiter sich der gesellige Kreis von der Familie entfernt, um so bedeutungsloser wird er.«
15
|A 181|15W. H. Riehl, Die Familie, Stuttgart ¹²1904, S. 265.
Und weiter:
»Das gesellige Leben im deutschen bürgerlichen und bäuerlichen Haus hat seinen Ausgang genommen aus der Spinnstube der Hausfrau ... Je gesunder, fröhlicher und fruchtbringender deutsche Geselligkeit sein soll, umsomehr wird man zu diesem altväterlichen Urbilde zurückkehren müssen«
. 16
|A 181|16
A. a. O., S. 266.
Das zu einer Zeit, als die proletarische Familie wahrhaftig andere als Spinnstubenprobleme zu lösen hatte! Der restaurativ-ideologische Charakter solcher Formulierungen bedarf kaum noch der Interpretation. Die Geselligkeit des Bürgertums, und mit ihr der Begriff des Gebildeten, zieht sich endgültig aus der Sphäre des Politischen zurück. Dieser Rückzug erfährt seine ideologische Rechtfertigung durch jenen affirmativen Begriff von Kultur, der sich über Zivilisation erhaben dünkt und sich aufspaltet in den schöngeistigen Genuß sogenannter kultureller Güter und die Pflege einer volksnahen oder volkstümlichen Geselligkeit: die Bürgertochter am Pianoforte auf der einen Seite und |A 128|auf der anderen der Wandervogel, der intellektuelle Primitivität mit Rebellion verwechselt.
[018:24] Damit war die rationale Diskussion als Element der Geselligkeit aufgegeben. Geselligkeit sollte aus der irrationalen Basis eines gemeinsamen Lebens wachsen, in Jugendbünden, in Schulstuben und schließlich auch in der Lehrerbildung. Geselligkeit wurde zu einem
»musischen«
Phänomen erklärt und als solches auch etabliert. Hatten die Salons des französischen Bürgertums noch die Revolution diskutierend vorbereiten und so an der realen Veränderung von Gesellschaft mitarbeiten können, so vermochte dieser neue affirmative Typus nichts gegen die Realität der faschistischen Barbarei. Im Gegenteil, ohne es zu merken, wurde er deren brauchbares Instrument. Herman Nohl – ohne das von ihm Beschriebene zu durchschauen – formulierte das so:
»Man ging auf das Volksmäßige zurück«
, es hat
»dazu geholfen, das Verlangen nach Gemeinsamkeit und Einheitlichkeit deutlicher zu machen und zu fördern«
, das Volkslied sei ein Ausdruck dieses
»Grundzuges«
.
»Weitere Grundelemente dieser Geselligkeit sind Wandern, Tanzen und Theaterspielen. Diese neue Geselligkeit kennt nur Tätige, und diese Selbsttätigkeit wird das Prinzip der Lebensführung überhaupt.«
17
|A 181|17H. Nohl, a. a. O., S. 133.
Das war 1915. (Zwischen den hier beschriebenen Phänomenen, den nationalsozialistischen Volksfesten und der schlechten Meinung mancher Zeitgenossen vom Räsonnement Intellektueller besteht ein Zusammenhang.)

Die Geselligkeit des kollektiven Konsums

[018:25] Indessen scheint mir auch dieser Typus von Geselligkeit schon fast verschwunden zu sein. Er existiert – wenn ich recht sehe – nur noch in der Form pädagogischer Instrumentalisierung. Singen, Tanzen und Spielen werden als Mittel im Erziehungsprozeß in schulischen und außerschulischen Bereichen eingesetzt in der Hoffnung, daß sie ein geselliges, kommunikationsreiches Klima schaffen, |A 129|Gruppen konstituieren. Für die Kleingruppenforschung vielleicht ein denkbares Forschungsobjekt; aufs Ganze gesehen, als Geselligkeit mit gesellschaftlich und erzieherisch ernst zu nehmender Funktion ohne Bedeutung. Geselligkeit dieser Art ist ein Hobby unter vielen. Unterdessen aber ist ein neuer Typus entstanden, dessen Ausbreitung sich in der Gegenwart abspielt: Geselligkeit als Form des kollektiven Konsums. Parties, Klubs,
»Beat«
-Veranstaltungen und die vergeblichen Bemühungen von Jugendkulturringen können – in der Sphäre der Heranwachsenden – als Repräsentanten dieses Typs gelten.
»Die bürgerlichen Formen der Geselligkeit haben im Laufe unseres Jahrhunderts Substitute gefunden, denen ... tendenziell doch eines gemeinsam ist: die Abstinenz vom literarischen und politischen Räsonnement. Im Modell weicht die gesellige Diskussion einzelner den mehr oder minder unverbindlichen Gruppenaktivitäten. Auch diese finden feste Formen des informellen Beisammenseins; ihnen fehlt jedoch die spezifische Kraft der Institution, die einst den Zusammenhang der geselligen Kontakte als das Substrat der öffentlichen Kommunikation sicherte – um
group activities
bildet sich kein Publikum.«
18
|A 181|18J. Habermas, a. a. O., S. 180.
Mit anderen Worten: Die Geselligkeit ist sprachlos geworden; die Diskussion dessen, was die Individuen im geselligen Prozeß sich aneignen, entfällt. Der Vorgang der Aneignung selbst verhindert das Räsonnement. Soweit wir über empirische Befunde verfügen, bestätigen sie diese Hypothese. Moderne Geselligkeit scheint ein Widersacher von Aufklärung zu sein.
[018:26] Den Ursachen dieser Konstellation nachzugehen, würde ein eigenes Forschungsprogramm innerhalb der Freizeitforschung erfordern. Die folgenden Bedingungen aber scheinen hier ins Spiel zu treten:
[018:27] 1. Die allgemeinen Bedingungen moderner Freizeit. Moderne Geselligkeit als ein Freizeitphänomen unterliegt denselben Bedingungen, die im Verhältnis von Arbeit und Freizeit die Fremdbestimmung dieser Sphäre ausmachen.
|A 130|
[018:28] 2. Statusprobleme und die Bedürfnisse nach demonstrativem Konsum. Sie sind in der modernen Geselligkeit nicht suspendiert, sondern strukturieren sie und begrenzen das in ihr Mögliche.
[018:29] 3. Das Erwartungsstereotyp von Geselligkeit. Es verlangt Verhalten, Aktivität und Attitüde statt Gespräch und kritischer Aneignung.
[018:30] 4. Die kollektive Form konsumptiver Aneignung. Sie befördert, besonders bei Jugendlichen, die Regression in infantiles Verhalten.
[018:31] 5. Die zivilisatorische Perfektion und ihr repressiver Charakter. Sie reduziert die verbalen Formen der Kommunikation und motiviert die am geselligen Prozeß Beteiligten in Richtung auf höheren Konsumstandard, statt in Richtung auf eine instrumentelle Verwendung dieses Standards. (Die Formulierung dieser Hypothese ist deshalb wichtig, weil unter Pädagogen der außerschulischen Jugendbildung häufig die entgegengesetzte Meinung vertreten wird.)
[018:32] 6. Die Siedlungsstruktur moderner Großstädte. So wie die bürgerliche Geselligkeit nicht nur ein urbanes Phänomen, sondern die Stadt eine ihrer wesentlichen Entstehungsbedingungen war, scheint die Art des modernen Städtewachstums tief in die Gesellungsformen der Menschen, in Art und Inhalt ihrer geselligen Kommunikation einzugreifen.19
|A 181|19Vgl. A. Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Frankfurt/Main 1965.
Zwar befördert die fortschreitende Entwicklung der Industrielandschaften die Rationalität technischer Planung, ja fordert diese geradezu als ein Instrument des Überlebens heraus. Ob sie aber zugleich auch die in geselliger Kommunikation mögliche kritische Reflexion der Bürger, ihre politisch-rationale Beteiligung am öffentlichen Geschehen begünstigt, scheint mir mehr als fraglich.

Geselligkeit und Pädagogik

[018:33] Die Beschreibung müßte detaillierter, der Nachweis von Strukturen und deren Bedingungen reichhaltiger und weniger lückenhaft geführt werden, als es hier der Fall war. |A 131|Ich konnte nur die drei Typen knapp umreißen und auf ihre gesellschaftlichen Bedingungen hinweisen. Die Vielfalt der geschichtlichen Formen ging dabei verloren. Eine Erinnerung an die geselligen Phänomene der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, an die Geselligkeit der proletarischen politischen Bewegungen im 19. Jahrhundert, an die vorbürgerlichen geselligen Formen des Mittelalters, des städtischen Patriziats, der Hanse der poetischen Gesellschaften des Barocks genügt, um darauf hinzuweisen, daß es sich in diesen Überlegungen nur um drei tendenzielle Typen handelt; Typen allerdings, die von der Aufklärung bis heute die größte gesellschaftliche Bedeutung erlangten und für die Erziehungsgeschichte am wirksamsten waren.
[018:34] Der erste Typus ist der bürgerlich-öffentliche. Er reicht ungefähr von den englischen Kaffeehäusern (1680) bis zum Salon der Rahel Varnhagen (1805). Sein Grundbegriff ist die Kritik.
[018:35] Der zweite Typus ist der bürgerlich-affirmative. Er reicht von der christlich-deutschen Tischgesellschaft der Berliner Romantik bis in die Jugendbewegung und deren gesellige Nachwehen. Sein Grundbegriff ist der kulturelle Genuß.
[018:36] Der dritte Typus ist der kollektiv-konsumptive. Er befindet sich noch im Stadium der Ausbreitung. Sein Grundbegriff ist die Teilnahme am Verbrauch.
[018:37] Nur die letzten beiden Typen sind für die Entwicklung unseres Erziehungswesens relevant geworden: der bürgerlich-affirmative sowohl als pädagogisches Programm wie auch als Realität der Praxis im musischen Kulturbetrieb von Schulen, Volkshochschulen, Jugendverbänden usw.; der kollektiv-konsumptive als Realität jugendlichen Daseins heute, der gegenüber die Pädagogik sich in der Rolle des Zuschauers vorfindet, ohne diesen vermutlich sehr wirkungsvollen Faktor im Prozeß des Heranwachsens irgendwie mit einplanen zu können (dabei soll durchaus noch offen bleiben, ob eine solche Einplanung überhaupt wünschenswert ist); die jugendliche Geselligkeit reiht sich gleichsam von sich aus in den Kreis der erziehungsrelevanten Institutionen ein.
|A 132|
[018:38] Der bürgerlich-öffentliche Typus hat – metaphorisch gesprochen – die Niederungen der Pädagogik gar nicht erst erreicht. Er blieb eine Sache für Erwachsene. Als er sich anschickte, aus seinen Erfahrungen pädagogisches Kapital zu schlagen, war seine Zeit schon vorbei; die sozialen Konstellationen des 19. Jahrhunderts begünstigten ihn nicht mehr, sondern unterdrückten ihn. Unterdrückung aber muß Geselligkeit besonders hart treffen, wenn es stimmt, worin alle Theoretiker unseres Gegenstandes von Castiglione über Montaigne, Locke, Knigge, Schleiermacher bis zu dem Soziologen Georg Simmel20
|A 181|20G. Simmel, Soziologie der Geselligkeit, in: Verhandlungen des ersten deutschen Soziologentages, Tübingen 1911.
sich einig sind: daß der Sinn von Geselligkeit, die Motive, die die Individuen zu ihr zusammenführen, Befreiung von dem Druck der ökonomischen und politischen Verhältnisse ist, und sei diese Befreiung auch nur vorübergehend, und sei sie auch nichts als eine ideologische Beruhigung und Kompensation unglücklicher Zustände.
[018:39] Würde sich in der Realität gegenwärtiger Geselligkeit, im kollektiv-konsumptiven Typus nachweisen lassen, daß dieser Typus nicht nur keine Entlastung bringt, sondern selbst eine Form von Unterdrückung ist, dann hätten wir Veranlassung genug, vom Ende der Geselligkeit als einem gesellschaftlich nennenswerten Phänomen zu sprechen. Vieles deutet darauf hin, daß dem so ist.
[018:40] Eine Reihe von Beobachtungen läßt indessen vermuten, daß die Geschichte der Geselligkeit noch nicht an ihr Ende gekommen sein muß. Es ist ja nicht nur die Aufgabe der Theorie, das Faktische zu beschreiben und zu erklären, sondern zugleich auch das Real-Mögliche in ihre Analysen aufzunehmen, besonders in einer Disziplin, die zu pragmatischer Theorie verpflichtet ist. Sehr detaillierte Beobachtungen jugendlichen Verhaltens bei städtischen geselligen Veranstaltungen, in Freizeitheimen und im Tourismus lassen folgendes vermuten (und manche Ergebnisse der allgemeinen Jugendforschung stützen diese Vermutung21
|A 181|21L. v. Friedeburg, Zum Verhältnis von Jugend und Gesellschaft, in: Jugend in der modernen Gesellschaft, hrsgg. von L. v. Friedeburg, Köln 1965; Jugendtourismus, hrsgg. im Auftrage der Arbeitsgemeinschaft für Jugendpflege und Jugendfürsorge und des Studienkreises für Tourismus von Heinz Hahn, München 1965; Helmut Kentler / Thomas Leithäuser / Hellmut Lessing, Forschungsbericht Jugend im Urlaub, München 1965 (als Manuskript vervielfältigt).
): die kollektiv-konsumptive Geselligkeit bringt den Teilnehmern nicht die Befriedigung, die sie erhoffen, nicht die Entlastung, die sie brauchen, die Emanzipation, die sie |A 133|suchen. Im Vorgang des Teilnehmens und Mitmachens entstehen kurzlebige Verhaltensweisen, Attitüden und Kommunikationsformen, in denen sich so etwas wie eine Gegen-Kultur anzukündigen scheint. Diese Phänomene treten nur in kleineren Gesellungsformen auf und meist dort, wo ein besonders starker Druck durch den öffentlichen Konsumstandard empfunden wird, oder wo überhaupt – z. B. an den Küsten Siziliens – die vertraute Sozialwelt suspendiert ist. Die bisweilen anzutreffende Findigkeit Jugendlicher im Erdenken erotisch-sexueller Spiele und ihre allgemeine Konzentration auf diesen Bereich ist nicht ein jugendgefährdendes Phänomen, sondern weist auf die sozialen Repressionen hin, die so stark sind, daß einzig in diesem Bereich das Bedürfnis nach kommunikativem Glück sich eine Befriedigung verspricht.
[018:41] Solche Beobachtungen, ließen sie sich durch weitere signifikant unterstützen, könnten zu Tage bringen, daß die zu Beginn des 19. Jahrhunderts abgebrochene Entwicklung einer emanzipierten Geselligkeit nicht bereits den Anfang vom Ende ihrer Geschichte bedeutet. Für die Entwicklung eines demokratischen Erziehungswesens und den Fortschritt der Emanzipation wäre dieser Sachverhalt von besonderer Wichtigkeit, da vermutlich mit der andauernden Vergrößerung des sogenannten Freizeitbereichs auch die Bedeutung der Bildungsmotivationen wachsen wird, die von hier kommen oder ausbleiben. Die Formen von Geselligkeit, die die Gesellschaft hervorzubringen imstande sein wird, werden dabei kein unerheblicher Faktor sein. Zum Optimismus freilich besteht wenig Anlaß.
|A 134|

Gesellschaftliche Bedingungen der Sozialpädagogik

[028:188] Mit dem Ausdruck
»Sozialpädagogik«
als einem erziehungswissenschaftlichen Terminus hat es eigene Schwierigkeiten. Obwohl er seit gut 100 Jahren in Gebrauch ist, wechselt seine Bedeutung immer noch von Autor zu Autor, von Interessengruppe zu Interessengruppe. Man tut deshalb gut, keine Übereinkunft vorauszusetzen, sondern zu sagen, wovon zu sprechen man beabsichtigt.
[028:189] Wenn also hier von den gesellschaftlichen Bedingungen der Sozialpädagogik gesprochen werden soll, so muß ich zunächst angeben, welcher der üblichen Bedeutungen ich mich – wenn auch nur als Assoziationshilfe – angeschlossen habe. Danach ist Sozialpädagogik die Theorie derjenigen Erziehungsvorgänge, die im Jugendwohlfahrtsgesetz einen juristischen Niederschlag gefunden haben, die Theorie der Jugendhilfe. Das klingt einleuchtend, ist aber vielleicht so vernünftig nicht, wie es den Anschein hat.
[028:190] Mit Recht nämlich könnte eingewendet werden, daß es doch etwas Bedenkliches habe, einen Begriff mit erziehungswissenschaftlich-systematischem Anspruch derart pragmatisch zu orientieren, das heißt, ihn nicht auf die Erziehungsprozesse, sondern auf Rechtsinstitute zu beziehen, die zum Erziehungsproblem in keinem stringenten Zusammenhang zu stehen brauchen. Am Beispiel der Jugendkriminalstrafe ließe sich zeigen, wohin das führt.
[028:191] Wichtiger aber ist ein anderer Einwand. Sprechen wir in diesem Sinne von Sozialpädagogik oder von Jugendhilfe, dann sind diese Ausdrücke Sammelnamen für eine Reihe pädagogischer Institutionen und Eingriffsformen. Schon |A 135|auf den ersten Blick zeigt sich, daß sie außerordentlich verschieden sind.
[028:192] Ein politischer Jugendclub und ein Heim für schwererziehbare 10jährige haben zu wenig gemeinsam, als daß es eine für sie gemeinsam geltende pädagogische Theorie geben könnte, jedenfalls dann, wenn Theorie hier mehr sein soll als Terminologie. Gewiß ist es sinnvoll, Theorien anzunehmen, die in beiden Fällen bestimmte Aspekte des Geschehens zu erklären vermöchten, so z. B. die eine oder andere Lerntheorie, die Rollentheorie. Das aber wäre freilich keine Theorie der Jugendhilfe, sondern wäre die Anwendung einer erklärungsfähigen Theorie einzelner pädagogischer oder pädagogisch relevanter Vorgänge auf Praxisprobleme der Jugendhilfe.
[028:193] Aus diesen Gründen scheint es mir notwendig zu sein, die theoretische Irrelevanz der Ausdrücke
»Sozialpädagogik«
und
»Jugendhilfe«
hervorzuheben. Es handelt sich eben nicht um eine Klasse von Gegenständen und Vorgängen, die sich so ähnlich sind, daß sie in einer gemeinsamen Theorie miteinander verbunden werden könnten.

Sozialpädagogische Problemlagen

[028:194] Es scheint, als wäre ich mit meinem Thema in einer mißlichen Lage. Nicht von
»Sozialpädagogik und Sozialstruktur«
wäre sinnvoll zu reden möglich, sondern allenfalls von besonderen sozialpädagogischen Institutionen oder Problemlagen, die zwar nicht den Gegenstand
»Sozialpädagogik«
treffen, aber doch für die eine oder andere unter diesem Namen zusammengefaßte pädagogische Intervention charakteristisch sind.
[028:195] Einige solcher Problemlagen, die zum Gegenstand von Jugendhilfe-Forschung geworden sind, will ich im folgenden nennen:
[028:196] 1. Die Situation der Jugend zwischen Arbeit, Freizeit und politischer Beteiligung: Die Einrichtungen, die vorwiegend |A 136|an dieser Problemlage sich orientieren, sind unter dem Namen
»Jugendarbeit«
zusammengefaßt. Das in ihnen zum Vorschein kommende pädagogische Thema ist mit sozial-strukturellen Sachverhalten verbunden, die sich durch Begriffe wie industrielle Arbeitsverhältnisse, privatkapitalistische, konsumorientierte Produktionsverhältnisse, schichtspezifisches Freizeitverhalten und Demokratisierung schlagwortartig bezeichnen lassen.1
|A 181|1Vgl. H. Giesecke, Didaktik der politischen Bildung, München ³1968; ders. (Hrsg.), Freizeit und Konsumerziehung, Göttingen 1968; C. W. Müller / H. Kentler / K. Mollenhauer / H. Giesecke, Was ist Jugendarbeit? – Vier Versuche zu einer Theorie, München 1964; C. W. Müller, Jugendpflege als Freizeiterziehung, Weinheim 1965.
Es zeigt sich darin aber auch, daß es sich hier keineswegs um ein spezifisch sozialpädagogisches Problem handelt. Denn: Es gibt wohl kaum einen Ort im gegenwärtigen Erziehungssystem, der von dieser Problematik unberührt bleibt. Immerhin wäre es sinnvoll, zu verfolgen, wie einzelne sozial-strukturelle Variablen nicht nur mit den Problemlagen des jugendlichen Daseins, sondern auch mit den Maßnahmen der Jugendarbeit und deren Prinzipien zusammenhängen.
[028:197] 2. Sozialisationsprobleme der Vorschulkindheit: Die in der Regel der Jugendhilfe zugeordneten Formen pädagogischer Intervention in diesem Problemfeld beziehen sich vorwiegend auf die Familie und den Kindergarten. Sie orientieren sich noch weitgehend an einem traditionell festgelegten Leitbild familiär-pädagogischen Wohlverhaltens, das in der deutschen Kindergarten-Ideologie vielleicht seinen deutlichsten Ausdruck gefunden hat. Diese Ideologie oder Erziehungs-Wert-Orientierung ist aber selbst ein sozial-strukturell bedingtes Phänomen: Sie ist die Wertorientierung der Mittelschicht. Die damit zusammenhängenden Fragen zeigen neuerdings auch, wie wenig sinnvoll z. B. eine theoretische Unterscheidung zwischen sozialpädagogischen und schulpädagogischen Problemen ist: Der familiäre Sozialisationsmodus, das ergibt sich z. B. aus der Theorie der Lern- und Leistungsmotivation, ist eine der entscheidenden Variablen für Schulerfolg und sozialen Aufstieg.
[028:198] 3.Die Entstehung individueller Konfliktlagen und deren Lösung in gesellschaftlich nicht akzeptierter Art und Weise: Dissozialität als eine Form individueller Verhaltensauf|A 137|fälligkeit, der gegenüber die Gesellschaft sich zum Eingreifen genötigt fühlt, ist sehr wahrscheinlich das älteste der Probleme, die wir als
»sozialpädagogisch«
zusammenfassen. Auch hier könnte sowohl den sozial-strukturellen Bedingungen solcher Konfliktlagen und deren individuellen Lösungsformen wie auch den Formen pädagogischen Eingriffs nachgegangen werden. Allerdings zeichnet sich die bisherige Forschung dadurch aus, daß sie zwar nach den Bedingungen entstandener Auffälligkeit fragt, nicht aber auch die pädagogischen Reaktionen einer kritischen Analyse unterzieht.2
|A 181|2H. Schüler-Springorum / R. Sieverts, Sozial auffällige Jugendliche, München ²1965.
Und auch die Bedingungen für die Auffälligkeit werden vorwiegend nur insofern ermittelt, als sie als Momente der individuellen Biographie hervortreten.
[028:199] 4. Kollektive Konfliktlagen und Mangelsituationen und deren Folgen: Hier scheint die Forschungsproblematik am einfachsten, am wenigsten verwickelt zu liegen. Die Klientel bringt ihre sozial-strukturellen Daten gleichsam schon in die Sprechstunde mit. Slums, Unterschichten-Gettos und andere randständige soziale Gruppen sind als sozialpädagogisches oder Jugendhilfe-Objekt geradezu durch die sozial-strukturellen Merkmale und deren Prognosewert definiert.3
|A 181|3H. Passow (Ed.), Education in Depressed Areas, New York 1963; J. B. Mays, Growing Up in the City – A Study of |A 182|Juvenile Delinquency in an Urban Neighbourhood, Liverpool ³1964.
Um so bedeutsamer wäre es gerade hier, die gesellschaftlichen Bedingungen der Hilfsmaßnahmen zu analysieren.
[028:200] In den Jugendhilfe-Maßnahmen kommt ein Merkmal zum Vorschein, das man fast zu ihrer Definition verwenden könnte: Sie kommen prinzipiell zu spät. Prinzipiell ist diese Verspätung deshalb, weil sie nicht über die Veränderungen der Bedingungen verfügt, die das Eingreifen nötig machen. Der Zusammenhang zwischen der als ursächlich anzunehmenden Sozialstruktur, der Erscheinungsform von Hilfsbedürftigkeit und der Hilfsmaßnahme wird weder theoretisch mit der nötigen Deutlichkeit formuliert noch praktisch wirksam. Damit hängt eine theoretische Hilfskonstruktion zusammen, deren sich die Jugendhilfe beson|A 138|ders im Hinblick auf Disssozialitätsprobleme nahezu ausschließlich bedient: das Ersetzen gesamtgesellschaftlicher Merkmale durch Merkmale der intim-sozialen Erfahrung. Um es konkret zu sagen: Die Berufstätigkeit von Müttern ist ein Merkmal familiärer Sozialstruktur, das sowohl relativ leicht zu ermitteln wie auch durch moralischen Appell scheinbar leicht zu ändern ist, in Wahrheit aber ganz andere als appellative Reaktionen nötig macht. Die praktische wie theoretische Fixierung auf dieses Datum erspart oder versperrt den Durchblick auf Bedingungen, die dahinter liegen. Oder: Die Veränderung der familiären Kommunikationsstruktur durch die Massenmedien hat sicherlich Variablen zum Vorschein gebracht, die das Verhalten von Kindern und Jugendlichen in der einen oder anderen Richtung erklären können. Pädagogisches Eingreifen wird aber naiv, wenn es sich nun kurzschlüssig als appellative Gegenwirkung versteht. Oder: Psychoanalytische Theoreme haben gewiß einiges zur Bedeutung früher Mutter-Kind-Beziehungen für die Verhaltensprägung erbracht. Hält man aber die Ermittlung solcher Zusammenhänge für einen zufriedenstellenden Erklärungsmodus, dann wird dadurch die Verspätung der Jugendhilfe-Maßnahme geradezu institutionalisiert. Verschleiert wird dieser Sachverhalt dadurch, daß eine Theorie, die in einem sozial begrenzten Feld erklärungsfähig ist, natürlich Diagnosen erlaubt, die angemessene pädagogische Maßnahmen möglich und ihre Wirksamkeit vielleicht sogar wahrscheinlich machen. Die detaillierte Einsicht in familiäre Sozialisationsprozesse, die Kenntnis der ausschlaggebenden Variablen, erlaubt die Aufstellung eines erfolgversprechenden Erziehungsplans im individuellen Fall. Sie richtet aber nichts aus gegen die immer neue kollektive Reproduktion des Falles. So kann Jugendhilfe, ohne ihre Absicht und ohne ein Bewußtsein davon zu haben, ein selbst hilfloses und darin ideologisches Instrument sein. Mit dem Erfolg im einzelnen Fall täuscht sie sich darüber, daß sie in der Tat nichts ist als caritative Hilfe, die das angeblich Unvermeidliche erträglich macht.
|A 139|
[028:201] Wiederum konkret gesprochen: Die diagnostische Subtilität des amerikanischen Social Work hat an der immer neuen Reproduktion des Elends in den Unterschichten nichts ändern können. Die Theorien sind – und das gilt auch für die deutsche Jugendhilfe-Forschung – am Interesse für die Erklärung individuell-biographischer Verläufe und Veränderungen orientiert. Ich will nicht entscheiden ob es sich hier um eine prinzipielle Schranke für die Jugendhilfe-Praxis handelt. Sicher aber scheint mir zu sein, daß es für die Forschung eine solche Schranke nicht geben darf, daß die Theorie sich auf größere Erklärungszusammenhänge einlassen muß, auch wenn ihre Umsetzung in pädagogisches Handeln schwierig oder ausgeschlossen sein mag.

Soziale Schicht und sozialpädagogische Maßnahme

[028:202] Zu solchen, das individuelle Erziehungsschicksal überschreitenden Zusammenhängen gehören die Probleme der sozialen Schichtung. Es bedarf, insbesondere nach den breit gestreuten und zahlreichen Untersuchungen der letzten Jahre, kaum noch eines Hinweises darauf, daß die Variable der sozialen Schicht allgemein-pädagogisch und nicht nur für die Jugendhilfe von gravierender Bedeutung ist. Es ist jedoch bemerkenswert, daß diese Zusammenhänge zwar für schulische Lernprozesse theoretisch relativ weit entwickelt sind, daß es aber für die Jugendhilfe-Forschung in Deutschland nur sehr wenige ausdrückliche Ansätze in dieser Richtung gibt. Ich möchte deshalb versuchen, einiges zu diesem Problem beizutragen, und zwar eingeschränkt auf den Zusammenhang von Dissozialität und ihrer pädagogischen Behandlung auf der einen und sozialer Schichtzugehörigkeit auf der anderen Seite.
[028:203] Meine These lautet: Die pädagogischen Probleme der Jugendhilfe, insbesondere dort, wo sie sich mit dissozialem Verhalten auseinanderzusetzen hat, sind geprägt von den Merkmalen der sozialen Schichtung in unterschiedliche sozio-ökonomische Strata. Einerseits drückt sich diese Ge|A 140|prägtheit in der von der Jugendhilfe betreuten Population aus, andererseits ist zu vermuten, daß die Einstellung derer, die Jugendhilfe betreiben, durch ihre mittelständische Position bestimmt ist und infolgedessen sich auch auf die Einschätzung von Dissozialitätsproblemen auswirkt.
[028:204] Der schichtenspezifische Charakter der pädagogischen Dissozialitäts-Problematik, das heißt der Phänomene, die mit der Erziehung verwahrloster und krimineller Kinder und Jugendlicher zusammenhängen, trat nie wieder – wenn ich recht sehe – so augenfällig hervor, wie am Anfang der Entwicklung zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Soweit es sich aus den Quellen erschließen läßt, waren die Kinder und Jugendlichen, die in den einschlägigen Institutionen, also vornehmlich Erziehungsheimen und Pflegestellen, auftauchten, ausschließlich Angehörige der Unterschicht, des städtischen und ländlichen Proletariats. Die pädagogische Ideologie dieser Einrichtungen nahm vorweg, was in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der Bourgeoisie als klassenkämpferisches Mittel gegen die Schulen und die Lehrerbildung eingesetzt wurde: die Beschränkung des kognitiven Lernangebots auf nur wenige schichtenspezifische Fertigkeiten und die ausgiebige Verwendung der Religion als eines Mittels, das die Einhaltung des Moralkodex am ehesten zu garantieren versprach. So realistisch Autoren und Praktiker wie Falck, Wichern oder Völter auch die Situation ihrer Klienten bzw. Zöglinge einschätzen mochten, so phantasiereich sie im Erfinden neuer Formen des pädagogischen Umgangs waren: über diese Schwelle kamen sie nicht hinaus.4
|A 182|4K. Mollenhauer, Die Ursprünge der Sozialpädagogik in der industriellen Gesellschaft, Weinheim 1959.
[028:205] Sie entsprachen damit einer in der pädagogischen Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts häufigen Einstellung zu den Bildungsproblemen der Unterschicht. Religion – so hieß es – sei dieser Schicht unerläßlich, allerdings nur, sofern religiöse Bildung nicht dazu verleitet, die Gleichheit vor Gott auch als ein Postulat der Gleichheit der Stände und Schichten mißzuverstehen. Man dürfe es getrost der Religion überlassen, so schrieb Justus Möser,
»ein Reich Gottes ohne Aktien (das heißt ohne ungleiche Ver|A 141|teilung des Besitzes und der Rechte) zu errichten und die Menschen unter der Rubrik vom armen Sünder auszugleichen«
5
|A 182|5Zitiert nach P. M. Roeder, Erziehung und Gesellschaft. Ein Beitrag zur Problemgeschichte unter besonderer Berücksichtigung des Werkes von Lorenz von Stein, Weinheim 1968.
. Religion galt als unentbehrlich, weil sie für jenen Teil der Bevölkerung nötig schien, der über keine andere Motivation verfügte, um sich gesellschaftlich adäquat zu verhalten.
»Für das der Bildung des Verstandes weder fähige noch bedürftige Volk«
– so folgert Roeder für jene Erziehungseinstellung –
»bleibt also nur eine Erziehung, die es gewissermaßen blind in den gesellschaftlichen Prozeß einordnet, eine Gewöhnung an Gehorsam, Disziplin, vor allem unablässige Arbeit.«
6
|A 182|6A. a. O., S. 22 f.
Die pädagogischen Mittel zu solchem Zweck sind Arbeit in den untersten Rängen der Arbeitsteilung, in Manufaktur und Landwirtschaft, und religiöse Unterweisung.
[028:206] Der darin zum Ausdruck kommende Zusammenhang zwischen einem Merkmal der Sozialstruktur – hier die Schichtung der Gesellschaft in gegeneinander unversöhnlich abgegrenzte soziale Strata – und einer korrelierenden, die Sozialstruktur bestätigenden pädagogischen Einstellung, ist nicht nur ein Stück Vergangenheit, sondern zieht sich durch die Geschichte der Jugendhilfe bis in unsere Gegenwart. Jugendhilfe wird zu einer Art sozialer Befriedungsaktion, um die Beunruhigung loszuwerden, die von den betreuten Schichten und Gruppen ausgeht. Selbst die Jugendpflege gehört in diesen Zusammenhang. Die Diskussion um den hereditären Charakter von Dissozialität, die humangenetisch-deterministischen Erklärungsschemata, die besonders für Fürsorgeerziehung und Jugendstrafvollzug eine große Rolle spielten, konnten diesen Sachverhalt zwar vorübergehend verdecken. In Strafvollzugsordnungen für den Jugendstrafvollzug aber taucht die gleiche ideologische Figur wieder auf.
»Arbeit ist die Grundlage eines geordneten und wirksamen Strafvollzuges. Sie soll, soweit erforderlich, die Arbeitsgesinnung des Gefangenen wecken, ihn an regelmäßiges, auf Arbeit aufgebautes Leben gewöhnen, sowie körperliche und seelische Schäden ausschließen.«
7
|A 182|7Zitiert nach Th. Hofmann, Jugend im Gefängnis. Pädagogische Untersuchungen über den Strafvollzug an Jugendlichen, München 1967, S. 161.
Was heißt hier Arbeit? Die Jugendstrafanstalt, für die die gerade zitierte Vollzugsordnung gilt, verteilt unter ihren |A 142|Jugendlichen die Arbeit folgendermaßen: Rund 80 Prozent sind mit ungelernter Arbeit beschäftigt (Schuhe nähen, Blech- und Drahtarbeiten, Sortieren von Kleineisenwaren, Mattenherstellung, Tütenkleben), rund 20 Prozent arbeiten in Lehrberufen.8
|A 182|8A. a. O., S. 161 f.
Vier Fünftel also müssen eindeutig Arbeiten verrichten, die für die untere Unterschicht spezifisch sind. Über die Frage der beruflichen Qualifikation hinaus wissen wir außerdem aus der Sozialisationsforschung, daß Verhalten, Wertorientierung und Aspirationsniveau im Hinblick auf Lernzuwachs und soziales Fortkommen hochgradig von der ausgeübten Berufsrolle abhängen, und zwar nicht nur für den Träger dieser Rolle selbst, sondern auch, vermittelt durch entsprechende Erziehungseinstellungen, für die nachwachsende Generation.9
|A 182|9Vgl. die Sekundär-Analyse von H.-G. Rolff, Sozialisation und Auslese durch die Schule, Heidelberg 1967. Ferner: K. Mollenhauer, Sozialisation und Schulerfolg, in: H. Roth (Hrsg.), Begabung und Lernen. Ergebnisse und Folgerungen neuer Forschungen, Stuttgart 1968.
Wir haben deshalb guten Grund für die Vermutung, daß der Strafvollzug in diesem Fall eine Stätte besonders wirkungsvoller Reproduktion des Sozialcharakters der Unterschicht ist.
[028:207] Obwohl in einer Untersuchung entlassener Fürsorgezöglinge von Pongratz und Hübner10
|A 182|10L. Pongratz / H.-O. Hübner, Lebensbewährung nach öffentlicher Erziehung. Eine Hamburger Untersuchung über das Schicksal aus der Fürsorge-Erziehung und der Freiwilligen Erziehungshilfe entlassener Jugendlicher, Darmstadt 1959.
die Zahl der positiven Bewertungen der Arbeitsverhältnisse im Heim durch die ehemaligen Zöglinge doppelt so groß ist wie die Zahl der negativen, können wir auch für die Heimerziehung noch vermuten, daß die zur Verfügung stehenden Arbeitsbedingungen jener Unterschicht-Tendenz folgen.
[028:208] Das sei nun aber – so könnte eingewendet werden – keineswegs ein kritisches Resultat. Denn natürlich entstammen die meisten Probanden, die wegen Dissozialität auffällig und einer Jugendhilfe-Institution zugewiesen werden, der Unterschicht. Sie verfügen dementsprechend nur über jene Fähigkeiten, die sie zu keiner anderen als einer unterschicht-spezifischen Berufsleistung qualifizieren. Ein solches
»Argument«
wäre jedoch nur die scheinbar entideologisierte Fassung jener Jugendhilfe-Maxime vom Beginn des 19. Jahrhunderts.
|A 143|

Dissozialität: ein Unterschicht-Phänomen?

[028:209] Stimmt indessen die These, daß die soziale Zusammensetzung der von Jugendhilfe-Institutionen betreuten Kinder und Jugendlichen das Ergebnis eines schichtspezifischen Ausleseprozesses ist?
[028:210] Obwohl wir über keine Gesamtstatistik verfügen, in der die z. B. in Heimerziehung untergebrachten Minderjährigen nach ihrer sozio-ökonomischen Herkunft aufgeschlüsselt sind, geben einige Einzeluntersuchungen doch durch weitgehende Übereinstimmung halbwegs verläßliche Anhaltspunkte. So können wir damit rechnen, daß ungefähr 75 Prozent der Jungen und 80 Prozent der Mädchen aus Familien stammen, die der Unterschicht angehören.11
|A 182|11Vgl. Fr. Specht, Sozialpsychiatrische Gegenwartsprobleme der Jugendverwahrlosung, Stuttgart 1967.
Der Rest gehört der unteren und mittleren Mittelschicht an. Betrachtet man also zunächst naiv die Schichtmerkmale der Unterschicht als unabhängige Variable, dann scheint es, als wirke sie dissozialitätsbegünstigend.
[028:211] Zwei Beobachtungen indessen lassen Vorsicht geraten sein bei so allgemeiner Formulierung. Wäre diese These nämlich in solcher Einfachheit ohne Modifikation richtig, könnte man aus ihr folgern, daß mit sinkendem sozio-ökonomischem Niveau Dissozialitätshäufigkeit und Dissozialitätsgrad ansteigen. Das aber ist nicht der Fall. Kontrolliert man nämlich bei den Gruppen, die etwa nach dem extremen Gesichtspunkt der Schwersterziehbarkeit ausgelesen werden, die soziale Herkunft, verringert sich der Anteil von Kindern aus Unterschicht-Familien.
[028:212] Die zweite zur Vorsicht veranlassende Beobachtung betrifft die zu vermutende
»Dunkelziffer«
von Mittelschicht-Kindern. Zwar ist der Anteil dieser Gruppe an den Heimeinweisungsfällen in den letzten Jahren gestiegen. Zwar ist vermutlich in den letzten Jahren auch die Schwelle niedriger geworden, die vor allem Eltern der Mittelschicht überwinden müssen, um sich an das Jugendamt um Hilfe zu wenden. Derjenige Teil der Bevölkerung aber, der über hinreichende ökonomische Mittel verfügt, kann auch heute noch die öffentliche Erziehung auf dem Wege über privat|A 144|wirtschaftliche Beratungs-, Behandlungs- und Therapie-Einrichtungen umgehen. Werden jedoch Erziehungsmaßnahmen der öffentlichen Ersatzerziehung unumgänglich, dann ist zu vermuten, daß die Mittelschicht, wenn irgend möglich, die Zwangseinweisung in die Fürsorgeerziehung dadurch vermeiden wird, daß sie ihr durch die Vereinbarung der Freiwilligen Erziehungshilfe zuvorkommt. Da kein statistisch verläßliches Material vorliegt, muß es bei dieser Vermutung bleiben. Gehen wir diesen Spekulationen aber weiter nach, dann ergibt sich eine interessante Beobachtung: Der Anteil der Fälle von Freiwilliger Erziehungshilfe, also derjenigen Einrichtung, für die ich einen größeren Anteil von Mittelschicht-Kindern vermute als für die Fürsorgeerziehung, liegt in den Bundesländern Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz, Saarland und Bayern am niedrigsten. Er ist zugleich niedriger als der Anteil der Fälle von Fürsorgeerziehung. In den anderen Bundesländern ist das Verhältnis von Fürsorgeerziehung und Freiwilliger Erziehungshilfe entweder ausgewogen oder es ist ein zahlenmäßiges Überwiegen der Freiwilligen Erziehungshilfe festzustellen.
[028:213] Was kann das bedeuten? Es scheint im Sinne meiner Annahme nicht abwegig zu vermuten, daß der geringe Anteil der Freiwilligen Erziehungshilfe in den vier Ländern ein Index für den ausgeprägt schichtenspezifischen Charakter der Heimerziehung ist. (Interessant ist, daß in diesen Ländern auch der schichtenspezifische Auslesemechanismus durch die weiterführenden Schulen sehr ausgeprägt ist.) Denn: Die Vereinbarung von Freiwilliger Erziehungshilfe enthält die größere Wahrscheinlichkeit, einem kleinen und auf bestimmte Verhaltensauffälligkeiten spezialisierten Heim zugewiesen zu werden, als die Anordnung von Fürsorgeerziehung. Dieser pädagogische Vorteil also kommt damit auch mit größerer Wahrscheinlichkeit den Mittelschicht-Kindern zugute. Die Unterprivilegierung der Unterschicht läßt sich also dort vermuten, wo die Anordnung der Fürsorgeerziehung die erheblich überwiegende Maßnahme darstellt.
|A 145|
[028:214] Ich kehre wieder zurück auf etwas sichereren Boden für die Beurteilung des Zusammenhangs der Variablen Schichtenzugehörigkeit und Dissozialität. Aus der jugendkriminologischen Forschung sowohl in der Bundesrepublik wie in England und den USA ergibt sich, daß diejenigen Merkmale, die ein späteres delinquentes Verhalten der Kinder vorhersagen lassen, zum großen Teil mit allgemeinen Merkmalen des Unterschicht-Verhaltens zusammenfallen. Sheldon und Eleanor Glueck12
|A 182|12E. and Sh. Glueck, Unraveling Juvenile Delinquency, Cambridge/Mass. ²1951; dies., Jugendliche Rechtsbrecher, Stuttgart 1963.
haben z. B. ermitteln können, daß delinquente Jugendliche in der Regel aus Familien stammen, die zu Planlosigkeit neigen und dazu,
»von der Hand in den Mund zu leben«
. Dieser Sachverhalt ist freilich für den bürgerlichen
»common sense«
nicht überraschend. Das gilt gewiß auch für die Untersuchungsergebnisse der Sozialisationsforschung von Kohn, Strodtbeck, Bronfenbrenner, Grimm und anderen, daß Unterschicht-Familien generell gegenwartsorientiert sind und wenig zukunftsorientiertes Planungsverhalten zeigen – Ergebnisse, die übrigens auch in der deutschen Bildungsforschung bestätigt werden konnten.13
|A 182|13D. C. McClelland / A. L. Baldwin / U. Bronfenbrenner / F. L. Strodtbeck, Talent and Society, Princeton, N. J., 1958; J. I. Roberts (Ed.), School Children in the Urban Slum, New York 1967; M. L. Kohn, Social Class and Parental Values, in: The American Journal of Sociology, 64 (1959), S. 337-351; S. Grimm, Die Bildungsabstinenz der Arbeiter, München 1966.
[028:215] Diese Trivialität wird aber bedeutsam, wenn man sie als die Folge einer sozialen Zwangslage interpretiert. Die Unterschicht befindet sich in einer sozialen Situation, durch die der soziale Aufstieg objektiv wenig wahrscheinlich gemacht wird. Sie bildet deshalb ein Wertorientierungsprofil aus, das dieser Lage angepaßt wird, wenn auch resignativ, wenn auch in dem richtigen Gefühl, daß ihr etwas versagt wird, das doch formell, dem Anspruch dieser Gesellschaft nach, ihr zukommen könnte. Nur durch die Aufgabe ihrer schichtenspezifischen Wertorientierung, insbesondere durch eine Veränderung ihres Leistungsverhaltens, können die Angehörigen der Unterschicht aufsteigen; soziale Situation und Berufsrolle aber drängen ihnen einen Orientierungs- und Verhaltenshabitus auf, der – durch die familiäre Erziehungspraxis vermittelt – die Kinder in den Gewohnheiten dieser Schicht festhält, statt sie daraus befreien zu können. Ähnlich verhält es sich mit dem von Glueck als prognosefähiges Merkmal ermittelten verbalen |A 146|Konkretismus, ein Ergebnis, das den Vergleich mit dem von Bernstein und neuerdings erheblich genauer von Oevermann festgestellten restringierten Sprach-Code von Unterschicht-Kindern herausfordert. Diese Variable korreliert überdies mit einem die Schichtenzugehörigkeit noch präzisierendem Merkmal: der Art der beruflichen Tätigkeit. Sprachlicher Konkretismus und restringierter Sprachgebrauch sind um so ausgeprägter, je geringer die Bedeutung und der Umfang sind, die der sprachlichen Kommunikation der Väter am Arbeitsplatz zukommt.
[028:216] Im Anschluß an solche Untersuchungsbefunde folgerte Thomae für die USA und als Ausgangspunkt für eigene Untersuchungen:
»Im Falle der untersten Klasse ... bildet sich ein Verhaltenssystem aus, das von vornherein auf die
normale
oder
legale
Teilhabe am Sozialprodukt verzichtet. In der oberen Schicht ist die Teilhabe sozusagen selbstverständlich. In der Mittelschicht werden dagegen von Eltern wie Kindern Verhaltenssysteme kultiviert und ausgebaut, welche die Teilhabe am Wohlstand durch Leistung, Wettbewerb, durch Kontrolle des Verhaltens und dergleichen begünstigen.«
14
|A 182|14H. Thomae, Sozioökonomischer Status und Persönlichkeitsentwicklung, in: Hartmut v. Hentig (Hrsg.), Sozialisierung in einer asozialen Gesellschaft, Neue Sammlung, Jg. 1967, S. 406-412.
Thomae formulierte daraus für eigene Untersuchungen die Hypothese, daß niedriger sozio-ökonomischer Status eine Absperrung und Restriktion des
»psychologischen Lebensraumes«
, erhöhter sozio-ökonomischer Status dagegen eine erhöhte
»Offenheit«
schaffe. Er fand diese Hypothese bestätigt, und zwar sowohl bei Kindern wie bei Erwachsenen, zumal bei alten Leuten. Die restriktive Unterschicht-Situation bewirke außerdem vornehmlich zwei Reaktionsweisen: konformistische Anpassung oder Rückzug in die Aggression.
[028:217] Danach scheint es so, als bringe ein und dieselbe sozio-ökonomische Situation zwei sehr verschiedene Verhaltensweisen hervor, deren eine sozial angepaßtes, deren andere aber dissoziales Verhalten bedeutet. Damit hat Thomae zugleich einen Einwand gegen die These vom schichtenspezifischen Charakter der Dissozialität nahegelegt, jedenfalls sofern diese These auch die Behauptung einschließt, daß die schichtenspezifischen Variablen als Ursachen anzusehen |A 147|seien. Ähnliches läßt sich aus den Prognoseuntersuchungen Gluecks oder den deutschen Arbeiten von Brauneck und anderen folgern. Die Gluecksche Untersuchung beruht ja bekanntlich auf Paarvergleichen von 500 Jugendlichen mit weitgehend gleichen sozialen Herkunftsmerkmalen, in denen immer ein dissozial gewordener Jugendlicher einem ohne Verhaltensauffälligkeiten gegenübergestellt wurde. Es ließe sich daraus der Einwand formulieren, daß der sozio-ökonomische Status wohl doch keine ausschlaggebende Rolle spielen könne.
[028:218] Dieser Einwand verfängt aber nicht, und zwar deshalb, weil die zusätzlichen Bedingungen, denen die auffällig gewordenen Jugendlichen während ihrer Entwicklung unterlagen, zum größten Teil nur eine Verschärfung der für die Unterschicht ohnehin typischen Merkmale darstellen. Allerdings gibt es eine Beobachtung, die meiner These tatsächlich etwas von ihrer Glaubwürdigkeit nehmen könnte. Nach amerikanischen Untersuchungen gehört es zum Kern der unterschichttypischen Dissozialität, daß die Reaktion auf die sozial erzwungenen Beschränkungen in aggressiver Bandentätigkeit auftritt.15
|A 182|15A. K. Cohen, Kriminelle Jugend, Reinbek 1961.
Die kriminelle jugendliche Bande aber ist in der Bundesrepublik offenbar kein Phänomen, das mit dem sozio-ökonomischen Status korreliert. Specht, der dieser Frage nachgegangen ist, meint deshalb, daß ökonomische Faktoren hier auch keine Rolle spielen. Er konnte nicht nachweisen, daß der Anschluß an delinquente Gruppen, der bei den männlichen Jugendlichen seiner Stichprobe insgesamt bei 27 Prozent lag, in der unteren Unterschicht häufiger als in den übrigen Schichten vorkommt.16
|A 182|16Fr. Specht, a. a. O.
Das wäre ein Einwand gegen die Anwendbarkeit der Theorie Cohens auf deutsche Verhältnisse. Cohen wollte die Delinquenz der Unterschicht-Jugend ja gerade auf deren Status-Probleme zurückführen, die sie durch Angriff auf die Mittelschicht und die Schaffung einer eigenen, Selbstsicherheit verleihenden Bezugsgruppe zu lösen hofft. Das aber scheint für deutsche Verhältnisse nicht zuzutreffen, denn das entscheidende Argument Cohens versagt hier: Dissoziale Jugendliche der Unterschicht solidari|A 148|sieren sich nicht signifikant häufiger als solche aus anderen Schichten.

Sozialisation und Dissozialität

[028:219] Aus den verschiedenen möglichen Einwänden ergibt sich vielleicht doch soviel, daß es nicht schon der generell konstatierbare schichtenspezifische Sozialcharakter ist, der Kinder und Jugendliche der Unterschicht eher als
»Fälle«
von Heimerziehung oder anderen Formen öffentlicher Ersatzerziehung auftreten läßt – von den somatischen Bedingungen einmal abgesehen –, sondern in der Regel eine sozio-kulturelle Variante dieses Charakters, die sich allerdings in den meisten Fällen nur in einer quantitativen Verstärkung der Schichtenmerkmale, nicht in qualitativ anderen Merkmalen ausdrückt. Sozio-ökonomische und sozio-kulturelle Situation sind keine voneinander unabhängigen Variablen. Wären sie es, müßten wir den international regelmäßig größten Anteil der Unterschicht an Dissozialität für einen Zufall halten. Statt dessen scheint es so zu sein, daß die Zugehörigkeit zur Unterschicht und die damit verbundene Benachteiligung in den Lebenschancen defizitäre Familienstrukturen begünstigt.
[028:220] Solche Strukturen haben eine Sozialisationspraxis zur Folge, welche dissoziale Verhaltensdispositionen leicht entstehen läßt und die Wahrscheinlichkeit mindert, daß entstandene Dispositionen vom gegebenen Erziehungsfeld selbst rückgängig gemacht werden können. – Oder anders formuliert: Verwahrlosung entsteht in unserer Gesellschaft dadurch immer neu, daß eine Gruppe durch den Schichtenaufbau in einer Zwangslage gehalten wird, die sie an der gleichberechtigten Beteiligung am Sozialprodukt hindert.
[028:221] Bei dem Versuch, die vorliegende Sozialisationsforschung auf die ermittelten Regelmäßigkeiten hin durchzusehen, das heißt, die Befunde danach zu ordnen, wie bestimmte familiäre Erziehungseinstellungen immer wieder bestimmte, dazu passende Folgen im Verhalten der Kinder nach |A 149|sich ziehen, hat Schaeffer ein hypothetisches Modell entwickelt17
|A 182|17E. S. Schaefer, Converging Conceptual Models for Maternal Behavior and for Child Behavior, in: J. C. Glidewell (Ed.), Parental Attitutes and Child Behavior, Springfield 1961, S. 124-148, und K. Mollenhauer, Sozialisation ... a. a. O.
, das auch für unsere Zwecke tauglich und erklärungsfähig zu sein scheint. Danach lassen sich die Erziehungseinstellungen nach zwei Dimensionen ordnen:
Hier ist das Circumplex-Modell als graphisches Schaubild zu sehen.
[028:222] Jede Erziehungseinstellung, so meint Schaeffer, läßt sich auf der Skala zwischen den beiden Extremen an irgendeinem Punkt eintragen. Trägt man nun die Merkmale der Dimension Autonomy – Control in der Senkrechten, die Merkmale der Dimension Hostility – Love in der Waagrechten ein, dann entsteht ein Koordinatensystem mit vier Quadranten. Die Quadranten bezeichnen typische Sozialisationsweisen.
[028:223] Das Modell erlaubt es, die Variablen der Sozialstruktur, der Genese von Dissozialität und der Formen des pädagogischen Eingriffs in den entsprechenden Jugendhilfe-Maßnahmen zu verbinden. Nach allen Befunden zur Erziehungseinstellung der Unterschicht wäre sie in den unteren Quadranten zu lokalisieren. Sie zeichnet sich durch ein Überwiegen der Kontrollfunktionen aus, Gehorsam, kollektivistische Orientierung, hohe Grade von disziplinierenden Erziehungsweisen, niedriges Aspirationsniveau, geringes Selbständigkeitstraining. Es handelt sich dabei um Einstellungen, die im Normalfall für die Kinder geringe Aufwärtsmobilität, das heißt also zunächst geringen Schulerfolg vorhersagen lassen. Es sind aber auch diejenigen Einstellungen, die, wenn sie besonders extrem ausgeprägt sind, Dissozialität vorhersagen lassen.
[028:224] Sehen wir nun aber auf die bei der pädagogischen Behandlung von dissozialen Jugendlichen übliche Praxis, dann hat es den Anschein – freilich mit Ausnahme der immer zahlreicher werdenden kleinen spezialisierten Heime –, als werde hier genau jenes Sozialisationssyndrom fortgesetzt, |A 150|das, durch die ökonomischen Bedingungen der sozialen Schicht erzwungen, die Entstehung der Dissozialität vordem gerade begünstigt hatte. In besonders hohem Maße gilt das vom Jugendstrafvollzug. Der Zirkel schließt sich.
[028:225] Für die Jugendhilfe ist das eine fatale Situation. Denn selbst wenn sie durch eine konsequente Veränderung der Bedingungen, unter denen sie zu erziehen sucht, und der Formen, deren sie sich dabei bedient, den Kreis durchbrechen wollte, würde sie nicht mehr leisten können, als nun dem einzelnen Probanden nach seiner Entlassung den Kampf mit der Sozialstruktur aufzubürden. Unter solchen Bedingungen erscheint die alte sozialpädagogische Formel
»Fürsorge als persönliche Hilfe«
wie der adäquate Ausdruck einer bewußtlos resignativen Anpassung in die Unvermeidlichkeit des Zirkels. Das beste, was den sogenannten Fürsorgeeinrichtungen zu tun bleibt, ist eine Organisation ihres Erziehungsfelds, die je im einzelnen Fall die restriktiven Bedingungen aufzuheben versucht. Sie kann nur hoffen, daß die so neu entwickelten Motivationen des Jugendlichen ihm selbst, im einzelnen Fall, es möglich machen, den Zirkel zu durchbrechen. Sie weiß aber schon von vornherein, daß die Sozialstruktur für die Produktion weiteren Nachwuchses sorgen wird. Aufgabe einer demokratischen Jugendhilfe aber wäre die Aufhebung der Gültigkeit des Modells.
|A 151|

Umriß einer politischen Bildung als politische Aufklärungø
øDer hier vorgelegte knappe Entwurf verzichtet zwar auf alle Literaturhinweise, die an vielen Stellen möglich wären. Ich will aber ausdrücklich vermerken, daß der Gedankengang unmittelbar anschließt an H. Giesecke, Didaktik der politischen Bildung, München ³1968.

Politische Bildung schließt Parteinahme ein

[028:226] Eine Theorie der politischen Bildung ist nicht neutral. Sie nimmt Partei, und zwar notwendigerweise. Der Gesichtspunkt, unter dem sie ihre Gegenstände zu beschreiben und zu analysieren sucht, ist politisch-gesellschaftlich nicht exterritorial, sondern ist selbst, auf die eine oder andere Weise, eine Position im Zusammenhang vieler politischer Interessen.
[028:227] Der Ausdruck
»Parteinahme«
indessen ist mißverständlich; insbesondere dann, wenn es um politische Gegenstände geht. Welcher Art ist also diese Parteinahme?
[028:228] 1. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit einem Gegenstand der
»sozialen Welt«
hat den Zweck, die Erscheinungen dieser
»Welt«
, also auch die Positionen, die in ihr eingenommen werden, diskutierbar zu machen. Diskutierbar wird etwas dadurch, daß es rationalen Argumenten zugänglich ist. Rational ist ein Argument, wenn es prüfbar ist, sich also auch als falsch erweisen kann. Damit ist nun aber nicht nur ein beliebiges Verhalten charakterisiert, demgegenüber irgendein anderes im Zusammenhang unserer historischen Situation von gleichem Rang sein könnte. Es ist nämlich mit dieser Rationalität zugleich der Wille gesetzt, die politischen Prozesse in die Verfügung durch den Bürger zu bringen und sie nicht als gleichsam blindes Schicksalsgeschehen über sich ergehen zu lassen. So wie also die politische Wissenschaft der rationalen politischen Diskussion dienen will, dadurch, daß sie politische Phänomene beschreibt und analysiert, Zusammenhänge, die vordem |A 152|verborgen waren, aufdeckt – so will die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Prozessen der politischen Bildung diese Prozesse so beeinflussen, daß sie die Rationalität des politischen Verhaltens fördern, mindestens aber nicht hemmen oder verhindern.
[028:229] 2. Ein solches Verfahren ist charakteristisch für Gesellschaften, die man
»offene Gesellschaften«
nennt. Für unsere Zwecke ist es hinreichend, den Ausdruck
»offene Gesellschaft«
nur im Hinblick auf eine seiner möglichen Bedeutungsdimensionen zu bestimmen. Eines der entscheidenden Merkmale einer so benannten Gesellschaft ist die Tatsache, daß sie Bedingungen enthält, die die Erkenntnis ihrer selbst zulassen und vorantreiben. Organe solcher gesellschaftlichen Selbstreflexion sind auf verschiedenen Ebenen ausgebildet worden: Sie geschieht in Sozialwissenschaften und politischer Philosophie, in Interessenverbänden und dem dort ablaufenden Prozeß des Interessenausgleichs und neuer Interessen-Profilierung, im System parlamentarischer Kontrollen, schließlich auch im Bildungssystem. Was in diesen Instanzen geschieht, läßt sich zusammenfassend so formulieren: Es werden diejenigen Probleme zum Gegenstand des Streites, der Diskussion und der Analyse, die sich aus der Tatsache ergeben, daß sich dem Postulat einer von der Vernunft legitimierten gesellschaftlichen Ordnung Widerstände entgegensetzen. Die Analyse politischer Sachverhalte oder von Sachverhalten der politischen Bildung ist also immer auch eine Analyse solcher Widerstände mit dem Zweck, ihre Gewalt zu mindern. Das bedeutet zugleich, daß die
»Offenheit«
einer Gesellschaft meßbar ist an dem Ausmaß, in dem solche Widerstände zum Gegenstand rationaler Erörterung werden. Die Geschichte der
»Vergegenständlichung«
gesellschaftlicher Sachverhalte ist damit zugleich die Geschichte der sogenannten
»offenen Gesellschaft«
. Sie ist damit auch die Geschichte der Demokratisierung.
[028:230] 3. Der Begriff der
»offenen Gesellschaft«
ist also unmittelbar politisch relevant. Indem in dieser Gesellschaft auf die Bedingungen des gesellschaftlichen Daseins reflektiert wird, |A 153|werden auch die politischen Ordnungen zum Gegenstand der Analyse. Zugleich wird solche Analyse zum Moment der Veränderung bzw. zu einem Faktor, der politische Veränderung möglich macht. Das geschieht unter anderem über das Bewußtsein derer, die als Bürger in der Gesellschaft politisch miteinander verbunden sind. Politische Bildung, die es ja mit heranwachsenden Subjekten zu tun hat, ist deshalb Bildung des Bewußtseins bzw. Bildung des politischen Bewußtseins. Politisch ist ein Bewußtsein, sofern es vermag, die politischen Dimensionen der Einzel- und Gruppenexistenz sich rational zum Gegenstand zu machen und die konkreten Widerstände zu erkennen, die sich solcher Rationalität entgegenstellen.
[028:231] Die Parteinahme einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Problemen der politischen Bildung ist also Parteinahme für ein solches Bewußtsein für politische Aufklärung. Daraus ergibt sich eine Reihe von Konsequenzen:
[028:232] 1. Es verbietet sich eine normative Theorie, der es auf nichts anderes ankommt als auf die Einübung einzelner für politisches Verhalten relevanter Tugenden.
[028:233] 2. Es verbietet sich eine Theorie, die unter Hinweis auf die fehlende Reife von Jugendlichen oder unter dem Eindruck pädagogischer Begriffe wie
»kindgemäß«
oder
»jugendgemäß«
oder
»volkstümlich«
den politischen Konflikt aus dem Bildungsprozeß auszuschließen trachtet und statt dessen harmonisierende Kategorien verwendet.
[028:234] 3. Schließlich verbietet sich eine Theorie, die hinter der politischen Realität dadurch zurückbleibt, daß sie diese Realität zu überbieten sucht; eine Theorie nämlich, die ihre Probleme nicht aus der konkret gegebenen politischen Praxis gewinnt, sondern aus einem idealen Konstrukt, von dem man glaubt, es sei besser als die gerade herrschende Praxis.
[028:235] 4. Die Rationalität der Bewußtseinsakte ist eine Funktion der Kenntnisse, über die ein Individuum verfügt. Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit den Problemen der politischen Bildung hat es deshalb vorwiegend mit dem zu |A 154|tun, was in den Bildungsprozessen über politische Realität vermittelt wird. Diese Vermittlungsakte aber stehen nicht isoliert. Sie geschehen unter je bestimmten Bedingungen, von denen sie gleichsam eingerahmt werden: Der Bildungsvorgang wird daher nicht nur von den Informationen über politische Sachverhalte bestimmt, sondern auch – um hier zunächst nur zwei Variablen-Komplexe zu nennen – von den Einstellungen, auf die sie treffen und von der Chance, die sie haben, als Motive für politisches Handeln wirksam zu werden.
[028:236] Sprechen wir im Zusammenhang der politischen Bildung von Einstellungen, dann meinen wir solche Verhaltens- und Interpretations-Schemata des Individuums, die sich im Hinblick auf Informationen über die politische Realität selektiv auswirken: Es werden z. B. nur solche Informationen aufgenommen, die die vorliegenden Einstellungen bestätigen. Die Einstellungen selbst brauchen nicht politischer Natur zu sein. Sie können durchaus, wie z. B. die Stereotype zur Rolle der Frau, anderen Bereichen des sozialen Lebens entstammen. Bei der Konfrontation mit politischen Sachverhalten erweisen sie sich dann aber als politisch relevant.
[028:237] Sprechen wir von Motiven für politisches Handeln, dann meinen wir die Bereitschaft, angesichts aktueller Probleme politisch tätig zu werden. Das setzt sowohl Einstellungen als auch Informationen voraus. Soll ein Motiv tatsächlich zum Handeln führen, ist überdies vorausgesetzt, daß der Handelnde ein Interesse hat. Ist also Motivierung zu politischem Handeln ein Zweck der politischen Bildung, dann geht der pädagogische Weg über das Interesse. Interessen aber sind nicht allgemein, sondern partikular. Es sind immer Interessen von einzelnen oder – was im praktischen Zusammenhang allein entscheidend ist – von Gruppen. Ist die Frage nach der politischen Motivierung eines der Hauptprobleme politischer Bildung, dann ist ihm unmittelbar zugehörig die Tatsache, daß das politische Geschehen ein Geschehen zwischen Interessengegensätzen oder -differenzen ist. Ist man sich dieser Tatsache bewußt, dann |A 155|muß der Bildungsprozeß aber auch unter der Frage analysiert werden, wieweit es ihm gelingt, dem Adressenten solcher Bildung seine eigene Interessenlage zum Bewußtsein zu bringen.

Die Geschichte der politischen Bildung als eine Geschichte von Parteinahmen

[028:238] Die These, daß die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Phänomenen und Fragen der politischen Bildung nicht neutral sein könne, ist von mir bisher nur abstrakt-allgemein erörtert worden. Auf dieser Ebene hat sie sich jedoch präzisiert zu der Behauptung, daß die Parteinahme eine Option für Rationalität und die empirischen Bedingungen ihrer Möglichkeit bedeute. Daraus folgt, daß die wissenschaftliche Theorie der politischen Bildung diejenigen Bedingungen des Bildungsprozesses zum Gegenstand hat, die die Rationalität des politischen Bewußtseins verhindern oder erschweren. Dem entspricht positiv – bei einer Wissenschaft, die es auf Theorien des Handelns abgesehen hat – die Ermittlung optimaler Bedingungen für die Genese eines solchen Bewußtseins und die Konstruktion entsprechender praktischer Verfahren oder Wege. Was heißt aber
»Rationalität des politischen Bewußtseins«
?
[028:239] Da es im Hinblick auf unseren Gegenstand nicht um die Bestimmung von Rationalität überhaupt, sondern um die Bestimmung der Rationalität eines politisch-historischen Bewußtseins angesichts realer politisch-historischer Lagen geht, ist das Verfahren von konkret-empirischen Bestimmungen des Politischen nicht zu trennen. Was ist also das
»Politische«
, auf welches das Bewußtsein sich beziehen soll und das zugleich von diesem Bewußtsein als dessen Gegenstand konstituiert wird?
[028:240] Ein Zugang zur Beantwortung dieser Frage ergibt sich, wenn wir uns die Realität politisch relevanter Bildungsveranstaltungen vergegenwärtigen, die in ihnen zum Ausdruck kommende Vorstellung von einem der politischen |A 156|Realität angemessenen Bewußtsein sowie die jeweiligen Krisen, in die solche Veranstaltungen gerieten, bzw. die Kritik, die sie sich gefallen lassen mußten.
[028:241] Im 18. Jahrhundert tauchten zum ersten Mal in breiterer Front Inhalte eines staatskundlichen und vaterländischen Wissens im pädagogischen Zusammenhang, insbesondere den Gelehrtenschulen auf. Sie wurden gestützt durch eine, allerdings nicht sehr zahlreiche, politisch gemeinte Volksliteratur, die es in der Form von Katechismen, romanartigen Darstellungen und erbaulichen Abhandlungen auf bestimmte Formen merkantilistischen Wohlverhaltens abgesehen hatte. Inhalt solcher Schriften wie des entsprechenden Unterrichts in den Schulen waren Rechtskunde, patriotische Erzählungen, Genealogie der Fürstenhäuser und Wappenkunde. Die erklärte Absicht solcher politischen Erziehung war es, die Vorstellung und das Verhalten des braven Bürgers, pflichteifrigen Untertans und freudigen Steuerzahlers zu befestigen.
[028:242] Das pädagogische Kriterium, an dem hier das Gelingen oder Mißraten einer Bildungsveranstaltung gemessen wird, ist die Übereinstimmung des Bewußtseins mit den Institutionen des absolutistisch-merkantilistischen Staatswesens. Der pädagogische Erfolg hatte sich eingestellt in dem Maße, in dem die individuelle Vernunft die vorgebliche Vernunft der staatlichen Ordnung lediglich reproduzierte, in dem Maße, in dem sie dem konkret gegebenen sozialen System seine fraglose Güte bescheinigte. Man kann es auch anders formulieren: Als staatsbürgerlich gebildet galt derjenige, der durch sein Verhalten an der Stabilisierung des gegebenen Herrschaftssystems mitwirkte. Dieser Gedanke hatte für Gesellschaft und Staat selbst deshalb nichts Peinliches, weil sie von sich selbst glaubten, nach allgemeinen Vernunftprinzipien eingerichtet zu sein.
[028:243] Solcher Verklärung der geschichtlichen Verhältnisse vermochten zwei Theoretiker der Bildungsproblematik nicht zu folgen, die allerdings in ihrer Kritik zu durchaus unterschiedlichen Konsequenzen kamen: Condorcet und Wilhelm v. Humboldt.
|A 157|
[028:244] Die in der französischen Revolution akut gewordene Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft beruhte ja unter anderm auf einer politischen Philosophie, die sich eben in der Kritik überlieferter Herrschaftsformen und deren ideologischen Rechtfertigungen konkretisierte. Das bedeutete für den Erziehungsplan Condorcets, daß aus dem Unterricht alles ausgeschieden wird, was der Indoktrination faktisch verbreiteter politischer Meinungen oder der Bestätigung herrschender Staatspraxis dienen könnte. Die Freiheit des Bürgers sollte gerade darin bestehen, daß er, als wirtschaftendes Individuum, von einem Standpunkt außerhalb des Staates diesen kontrollieren konnte. Im Bildungszusammenhang müsse es vornehmlich um die Mitteilung von wissenschaftlich gesicherten Fakten gehen, welche die sachgerechte Durchführung der bürgerlichen Geschäfte garantieren. Alles andere ist der freien Diskussion zu überlassen. Auch die Verfassung, ja selbst die Menschenrechte müssen diskutabel bleiben, dürfen nie als Dogma gelehrt werden, da sie historisch konkrete und damit prinzipiell überholbare Formulierungen darstellen. Die
»staatsbürgerliche Bildung«
– wenn es überhaupt erlaubt ist, die Intentionen Condorcets so zu bezeichnen – bestand also darin, die bürgerlichen Freiheiten im Bewußtsein der Subjekte zu etablieren und gegen die Herrschaftsinteressen des Staatsapparates immer wieder zu verteidigen oder zur Geltung zu bringen.
[028:245] Die Antwort Humboldts auf die pädagogisch umgemünzten Herrschaftsansprüche des absolutistischen Staates war ähnlich, unterschied sich jedoch in einer wesentlichen Hinsicht. Auch er war mißtrauisch gegen den Anspruch des Staates, sofern dieser es darauf abgesehen haben sollte, auf die Bildung des Bewußtseins einzuwirken. Er plädierte deshalb für jene rigorose Abtrennung des Bildungsprozesses vom Staat. Ebenso mißtrauisch aber war er der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber. Er scheint mindestens geahnt zu haben, daß die technische Verfügung über die Prozesse des bürgerlichen Marktes und die Aneignung der für solche Verfügung nötigen wissenschaftlichen Kenntnisse nicht so |A 158|politisch neutral waren, wie Condorcet es annahm. Hier befürchtete er neue Abhängigkeiten, die den staatlichen Herrschaftsansprüchen möglicherweise in nichts nachstanden. Die radikale Entpolitisierung der Bildungstheorie und der praktischen Bildungsprozesse im deutschen Gymnasium hat so am Anfang dieser Entwicklung wenigstens noch einen politischen Sinn: eine Position zu erringen, die dadurch politische Kritik ist, daß sie sich in einem gesellschaftlichen und staatlichen Exterritorium ansiedelt.
[028:246] Das Utopische einer solchen Konzeption stellte sich bald heraus: Das Gymnasium repräsentierte kein Bewußtsein, das zu politischer Kritik befähigt war, sondern bestärkte den
»affirmativen Charakter«
der bürgerlichen Kultur, der, angesichts der sozialen Bewegung im 19. Jahrhundert, selbst zum Instrument der Herrschaft, nun allerdings der bürgerlichen, wurde. Affirmativ, das heißt das ohnehin Vorhandene noch bekräftigend, kann diese Kultur, besonders in ihrer schulisch-pädagogischen Ausprägung, deshalb genannt werden, weil die Entfernung der Bildungsinhalte von der gesellschaftlich-politischen Realität eine sogenannte Freiheit des Geistes vorspiegelte, von der doch in Wahrheit in den Schulen nicht die Rede sein konnte. Dadurch, daß die akuten Herrschaftsverhältnisse ignoriert wurden, dadurch, daß keine kritische Diskussion – wie noch bei Condorcet wenigstens im Hinblick auf den Staat – die Bildung des Bewußtseins tangierte, war das Bewußtsein um so mehr den
»Gesetzen der Notwendigkeit«
unterworfen bzw. konnte sich um so skrupelloser der
»schlechten Welt«
bedienen. Die Bildung war unpolitisch, sie war aber deshalb nicht politisch neutral, allerdings in anderer Weise, als Humboldt, sich das gedacht hatte. Das zeigte sich z. B. an der Heftigkeit, mit der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Ministerialverwaltungen alles aus der Volksschule zu verbannen suchten, was irgendwie gesellschaftspolitisch relevant werden könnte, mit Ausnahme der sogenannten vaterländischen Gehalte. Die Entpolitisierung der Schule sollte selbst einem politischen Zweck dienen: Die christliche Volkssitte wurde zu einer Art Naturkategorie |A 159|hypostasiert, um damit den Ideen der europäischen Revolution und den durch die Arbeiterbewegung profilierten Interessengegensätzen der Gesellschaft den Eingang in die Schule und in das Bewußtsein der Bürger zu verwehren. Das impliziert in diesem Fall aber eine Parteinahme gegen den einen Kontrahenten in dem Interessengegensatz, der vor dem Hintergrund einer solchen Bildungspraxis als zerstörerisch oder
»zersetzend«
erscheinen muß. Positiv formuliert: Es impliziert eine Parteinahme der Schule für die herrschende Klasse.
[028:247] Selbst also in dieser Praxis war schon eine Ahnung davon enthalten, daß politische Phänomene, daß der Begriff des
»Politischen«
sich nicht im Begriff staatlicher Maßnahmen und Organe erschöpft, sondern darüber hinaus die Machtverteilung innerhalb der Gesellschaft mit einschließt. Die bürgerliche Gesellschaft – weit entfernt davon, die Freiheit und Gleichheit aller garantieren zu können – brachte im weiteren Verlauf ein differenziertes Gefüge von Herrschaftsverhältnissen hervor, das immer gewichtiger wurde, je mehr die Interessendifferenzen – zunächst als Klassengegensätze – sich formierten.
[028:248] Im Zusammenhang solcher Entwicklungen nun kann die Leistungsfähigkeit und Funktionsweise des demokratisch-parlamentarischen Systems nicht zureichend verstanden werden, wenn man sich darauf beschränkt, den Staat und seine Organe darzustellen. Vielmehr muß die Darstellung nun die Herrschaftsverhältnisse in der Gesellschaft, die Interessenlagen, die solchen Verhältnissen zugrunde liegen, und die Konflikte, in denen sich solche Lagen dem Bürger zeigen, mit einbeziehen. Mehr noch: Die gegenwärtige politische Realität erschließt sich nur, wenn der in der Verfassung formulierte und in den rechtsstaatlichen Organen institutionalisierte Begriff von einem die Freiheit und Gleichheit der Bürger garantierenden Staat konfrontiert wird mit den realen Formen von Unfreiheit und Ungleichheit, an denen die Gesellschaft festhält oder die sie neu hervorbringt. Politische Bildung ist Aufklärung über diesen Prozeß. Sie impliziert als eine pädagogische Veranstaltung |A 160|die Motivierung der heranwachsenden Generation, sich in diesem Prozeß zu engagieren gegen die manifesten Formen von Unfreiheit und Ungleichheit.
[028:249] Von diesem Begriff politischer Bildung her ergibt sich eine andere Reihe leitender Begriffe, als sie uns die ältere Pädagogik überliefert hat, andere Gesichtspunkte als die, die immer noch die Praxis politischer Bildung zu bestimmen scheinen.
[028:250] Das Profil politischer Bildung kann nicht mehr mit den Begriffen Verantwortung, Gemeinwohl, Kooperation, Partnerschaft gezeichnet werden, sondern eher mit Hilfe von Begriffen wie Interesse, Herrschaft, Konflikte, Regelsysteme. Nicht die funktionale Information und der moralische Appell, sondern die gesellschaftspolitische Analyse sind ihr Thema.

Politisches Bewußtsein und politische Beteiligung

[028:251] Den Gegenstand politischer Bildung umschreiben wir durch die Begriffe Herrschaft, Interesse und Konflikt. Diese Begriffe bezeichnen damit auch das Problemfeld, von dem her die einzelnen Maßnahmen politischer Bildung sich ihrerseits bestimmen und beurteilen lassen. Es ist nun zu fragen, welche für die Didaktik konstituierenden Begriffe ihnen auf der Seite des zu bildenden Subjekts entsprechen. Herrschaft, Interesse und Konflikt sind zunächst beschreibende Begriffe, deskriptive Kategorien. Niemand wird leugnen, daß mit ihrer Hilfe politische Realität beschrieben werden kann, daß die darin ausgesprochenen Sachverhalte tatsächlich Sachverhalte der gegenwärtigen politischen Realität sind. Mit ihrem Eintritt in den pädagogischen Zusammenhang gewinnen diese Begriffe aber eine neue Dimension hinzu. Sie fungieren hier nämlich nicht mehr als nur deskriptive Kategorien, sondern sie werden auch zugleich zu Instrumenten der Bewußtseins-Genese von Heranwachsenden. Das geschieht nicht zufällig als peinliche Begleiterscheinung, sondern das ist der pädagogische Sinn |A 161|ihrer Auswahl. Der Gesichtspunkt, unter dem sie als didaktische Kategorien ausgewählt wurden, ergibt sich aus einem kritisch-rationalen Interesse: Sie scheinen geeignet zu sein, zwischen der politischen Realität und dem heranwachsenden Subjekt eine Distanz zu schaffen, die ihm, diesem Subjekt, kritisch-objektivierende Reflexion möglich macht. Anders formuliert: Sie scheinen geeignet, die objektiven gesellschaftspolitischen Bedingungen, unter denen die einzelnen leben, als änderbare Bedingungen zum Bewußtsein zu bringen.
[028:252] Konkreter: Eine Analyse von Herrschaftsverhältnissen, z. B. der Herrschaftsstrukturen im öffentlichen Bereich politischer Meinungsbildung durch die Monopolisierung von Presse-Organen, nötigt zu der Frage nach der Legitimierung solcher Herrschaft. – Eine Analyse von Interessen-Lagen impliziert die Frage nach den tatsächlichen Interessen von gesellschaftlichen Gruppen oder Verbänden und deren verbaler Selbstdarstellung; sie impliziert mithin Ideologiekritik; eine solche Analyse nötigt zur Frage nach der politischen Funktion der tatsächlichen Interessen sowie der entsprechenden Ideologien; sie nötigt darüber hinaus zur Frage nach Ursachen unterschiedlicher Interessen-Verteilung, mithin zur Frage nach sozialer Gleichheit und Ungleichheit. – Eine Analyse gesellschaftlich-politischer Konflikte vermag das Ineinander von Herrschafts- und Interessenlagen am aktuellen Fall zu demonstrieren und nötigt zu der Frage nach den Formen der Konfliktregelung und deren Legitimation, zu der Frage nach der öffentlichen Kontrolle dominierender oder widerstreitender Herrschaftstendenzen.
[028:253] Die Bildung des Bewußtseins allein, aufklärende Information und kritische Reflexion, kann indessen kaum das Ganze des didaktischen Problems politischer Bildung umschreiben. Die Analyse, sofern sie die Verhältnisse kritisch befragt, analysiert ja im Hinblick auf Änderbarkeit der Verhältnisse. Das bedeutet, daß in der logischen Konsequenz der Analyse der Wille zur Änderung liegt: das Motiv zum Handeln. (Es sei denn, ich komme in der Ana|A 162|lyse zu der Überzeugung, daß alles zum Besten steht und überdies von selbst auch so bleiben wird.)
[028:254] Damit wird als Korrelat zum Begriff des
»politischen Bewußtseins«
ein Begriff nötig, der dieses Bewußtsein in die Praxis hineindenkt, der das politisch motivierte Handeln faßt. Das ist notwendig, weil sonst die politische Bildung unversehens selbst wieder unpolitisch würde. Als Reflexion ohne praktische Folgen wäre sie bedeutungslos in dem strengen Sinne des Ausdrucks Bedeutung: Sie hätte keinen Ort im praktisch-sozialen Zusammenhang. Die anderen Fächer der Schule stehen in dieser Schwierigkeit nicht: Sie sind von vornherein mit der gesellschaftlichen Praxis durch weiterführende Ausbildungswege und berufliche Positionen verknüpft. Die der Bildung des politischen Bewußtseins korrespondierende Praxis aber ist kein Beruf, sondern der politisch handelnde Bürger. Das Verhältnis von Theorie und Praxis wird also in der politischen Bildung zum didaktischen Grundproblem. Jürgen Habermas und in der pädagogischen Diskussion Hermann Giesecke haben zur Bezeichnung dieses praktischen Problems der Didaktik den Begriff
»politische Beteiligung«
vorgeschlagen.
[028:255] Die Begriffe
»politisches Bewußtsein«
und
»politische Beteiligung«
stehen in einem logischen, nicht in einem chronologischen Zusammenhang. Sie bezeichnen die Aspekte, also nicht notwendigerweise auch die Schritte der politischen Bildung.
[028:256] Projizieren wir nun diesen Gedankengang auf die pädagogischen Prozesse, dann ergeben sich die folgenden Aufgaben-Komplexe:
[028:257] 1. Es geht in der politischen Bildung um Information, um Aufklärung über politische Sachverhalte, um Analysen, die eine distanzierte Reflexion der politischen Tatsachen ermöglicht.
Entsprechend meinem Ansatz kann es sich hier aber nicht um eine Beschränkung auf politische Gegenstände im engeren Sinne des Wortes handeln, also um das parlamentarische System, um Wirtschafts- und Sozialordnung usw. |A 163|Im Sinne nämlich der politischen Relevanz aller Phänomene der Gesellschaft handelt es sich auch um die politischen Dimensionen zunächst unpolitisch scheinender Gegenstände. (In der schulisch-didaktischen Diskussion des letzten Jahrzehnts wurde diese Unterscheidung diskutiert unter dem Titel
»Politische Bildung als Unterrichtsfach und/oder als Unterrichtsprinzip «
.)
[028:258] 2. Es geht zweitens in der politischen Bildung um die Erprobung politischer Handlungsmöglichkeiten. Die Schülermitverwaltung ist gewiß in diesem Sinne gemeint. Wenn wir aber daran festhalten, daß politisches Bewußtsein und politische Beteiligung sich nur in der theoretischen wie praktischen Auseinandersetzung mit Herrschaft und Interessen sowie angesichts von Konflikten artikuliert, dann ist leicht zu sehen, worin die Ursache für die viel beklagte Vergeblichkeit der Schülermitverwaltung zu suchen ist: Sie ist eigentlich gar kein politisches Instrument, schafft kein Feld politischer Auseinandersetzungen, kann also auch im Regelfall keine politisch relevanten Lernprozesse in Gang setzen. Sie ist beständig in Gefahr, zu einem delegierten Vollzugsorgan des Lehrerkollegiums zu werden.
[028:259] Darin zeigt sich eine prinzipielle Schwierigkeit: Wir haben in Deutschland eine besondere Vorstellung von der Autonomie des Bildungsraumes entwickelt. Dieser Vorstellung widerspricht es, daß Interessengegensätze schon hier aufbrechen und formuliert werden. Das hat die notwendige Folge, daß die auch in den pädagogischen Einrichtungen wirksamen Herrschaftsverhältnisse nicht zur Sprache kommen, vielmehr durch ein von der Politik gereinigtes Selbstverständnis verschleiert werden. Das gilt für Schulen so gut wie für die Hochschulen und die pädagogische Theorie, die sich nicht selten gerade zum Rechtfertigungsorgan für eben jenes Selbstverständnis gemacht hat.
[028:260] Die junge Generation hat diese Selbstbeschränkung der pädagogischen Institutionen sehr wohl als beklagenswertes Bildungsdefizit empfunden und sich von sich aus ein Terrain politischer Handlungs- und damit auch Bildungsmöglichkeiten geschaffen. Es bleibt abzuwarten, wieweit es ge|A 164|lingt – und ob es der Natur der pädagogischen Institutionen nach überhaupt möglich ist –, auch in den engeren Erziehungsbereich Möglichkeiten einer solchen politischen Bildung einzubauen.
[028:261] 3. Diese beiden Dimensionen politischer Bildung – Information und politisches Handlungsfeld – werden durch ein Drittes ergänzt, das teils ihr Vorläufer, teils ihr Sekundant ist. Information und Handlungsspielraum werden nur in seltenen Fällen zu politischer Beteiligung führen, wenn nicht in der Genese des Sozialverhaltens der jungen Generationen schon Voraussetzungen gelegt worden sind, die solche Beteiligung und die Ausbildung eines solchen Bewußtseins wenigstens nicht verhindern: Die politische Bildung muß auf einer Basis von
»Vorläufer-Motiven«
aufbauen können, über die sie selbst nicht voll verfügt. Das bedeutet zweierlei. Zum einen: Wir müssen, die sozialpsychologischen Bedingungen kennen, ohne deren Berücksichtigung der pädagogische Versuch vermutlich fruchtlos wäre, und die Bedingungen, unter denen solche Vorläufer-Motive allenfalls verändert werden können. Zum anderen: Jeder politische Bildungsprozeß verläuft innerhalb sozialer Strukturen, bedient sich bestimmter Instrumente der Führung, der Kooperation, der Aktion, der Demonstration usw. Es ist zu fragen, welche Bedeutung diese Faktoren des Bildungsprozesses für Erfolg oder Mißerfolg der pädagogischen Veranstaltung haben. (Hier ist der Ort aller sozialerzieherischen Aspekte der politischen Bildung, der Ort für die Einübung von Kooperation und Partnerschaft, die in der Diskussion eine manchmal überwiegende Rolle gespielt haben. Ihre Funktion ist aber durchaus untergeordnet.)

Folgerungen

[028:262] Die Aufgabe der politischen Bildung gliedert sich also in drei Problemkomplexe auf: das Problem der politisch relevanten
»Vorläufer-Motive«
das Problem der politisch-|A 165|kritischen Aufklärung und das Problem der Motivierung zu politischem Handeln. Die drei Kategorien zur Erschließung der politischen Realität für das Bewußtsein des Jugendlichen – Herrschaft, Interesse und Konflikt – sind bedeutsam zunächst für das zweite Problem, für die politisch-kritische Aufklärung. Sie sind didaktische Kategorien, die sowohl Kritik herrschender pädagogischer Praxis wie auch Konstruktion neuer didaktischer Modelle ermöglichen. Zur Vermeidung von Mißverständnissen hebe ich noch einmal hervor, was die Wahl dieser Kategorien nicht einschließt: Sie bedeuten nicht, daß die pädagogische Aufgabe nun in einer blinden
»Gegen-Motivierung«
bestehe. Sie sind lediglich Instrumente rationaler Analyse, die nicht den Zweck haben, Herrschaft abzuschaffen, sondern in rational-kontrollierte zu überführen – die nicht den Zweck haben, junge Menschen für bestimmte partikulare Interessen zu mobilisieren, sondern die Interessen-Struktur der Gesellschaft durchsichtig zu machen, sie zur Erkenntnis ihrer eigenen Interessen zu ermächtigen – und die nicht den Zweck haben, angesichts von Konflikten junge Leute zu bewegen, lediglich Partei zu nehmen, sondern den Zusammenhang von Interessenlagen, Konflikten und deren Regelung zu erkennen.
[028:263] Eine Theorie der politischen Bildung und damit auch die Praxis dieser Bildung – so sagten wir – schließt die Parteinahme für Rationalität ein. Rationalität aber ist nicht an irgendeinem Ort der Gesellschaft prinzipiell aufgehoben, weder bei der
»Great Society«
noch bei den aufständischen Schwarzen, weder bei der Nationalen Befreiungsfront in Vietnam noch bei den amerikanischen Befriedungsaktionen, weder bei den
»konservativen«
Professoren noch bei den
»progressiven«
Studenten. Die Basis des Argumentierens kann in jeder politischen Konstellation verlassen werden. Allerdings wechseln die Wahrscheinlichkeiten im geschichtlichen Verlauf und mit den wechselnden Gruppierungen.
[028:264] Damit ist nun allerdings – wie mir scheint – das schwierigste Problem politischer Bildung angesprochen: der be|A 166|reits erwähnte Zusammenhang von Argumentation und Motivation. Die rationale Erfassung politischer Sachverhalte setzt nicht zugleich auch Motive für das Handeln. Das Handeln folgt nicht aus der Rationalität selbst, eher noch frustriert die Rationalität die Motivation zu politischer Beteiligung, da sie in politischen Konflikten zu argumentieren sucht, wo vielleicht nur noch Aktionen etwas ausrichten könnten. Aus folgenden Gründen stellt dies ein Problem der politischen Bildung dar:
[028:265] In allen Jugenduntersuchungen kommt zum Vorschein, daß der größte Teil der Jugend in dem Gefühl lebt, politisch nichts ausrichten zu können, nicht beteiligt zu sein und auch über keine Chance einer wirksamen Beteiligung zu verfügen. Ein Teil – die sogenannten
»formalen Demokraten«
– findet sich damit ab. Das gelingt ihnen aufgrund unpolitischer Identifizierungen: die Identifizierungsobjekte liegen in der beruflichen Laufbahn. Ist aber eine Motivationsdisposition für politische Beteiligung vorhanden, dann müssen, um durchhalten zu können, politische Identifizierungsobjekte gesucht werden. Das geschieht unter anderem im Prozeß der Solidarisierung. Was geschieht aber, wenn die Gesellschaft, in der man lebt, kaum Chancen zur Beteiligung bietet und ebensowenig Solidarisierungsobjekte bereit hat, und zwar Objekte, bei denen die gewonnene Rationalität des politischen Bewußtseins nicht verdrängt oder in ihrer Entfaltung behindert wird, die vielmehr imstande sind, die Rationalität zu bewahren und zu aktivieren. Solange das nicht der Fall ist, solange die gesellschaftlichen und politischen Gruppen und Institutionen eher den Irrationalismus begünstigen, werden vermutlich auch die Solidarisierungen stärker von den Affekten als von den Argumenten leben. Der neue Nationalismus ist das vielleicht ärgerlichste Exempel dafür. Aber auch in den
»außerparlamentarischen Oppositionen«
fehlt solche Tendenz nicht völlig.
[028:266] Das zeigt sich besonders bei denjenigen Identitätswünschen, die ihre Erfüllung in der Solidarität in der Aktion zu finden suchen. Politische Bildung kann die Strukturen der |A 167|Gesellschaft, die so etwas möglich oder nötig machen, nicht ändern. Sie kann nur verhindern, selbst auch noch zum Verfall des rational-politischen Bewußtseins beizutragen, dadurch, daß sie, statt politisch-kritisch zu sein, moralisch-affirmativ ist. Welche Maximen lassen sich denken?
[028:267] 1. Voraussetzung ist eine Organisation des Erziehungsfeldes, die das freie Argumentieren möglich macht.
[028:268] 2. Das Wissen, das heißt die politischen Informationen müssen so vermittelt werden, daß ihr Funktionswert deutlich auf mögliche Handlung bezogen wird.
[028:269] 3. Die Gegenstände müssen aktuell sein. Das bedeutet: Das politische Wissen muß sich in der Analyse gegenwärtiger praktischer Fragen als brauchbar erweisen.
[028:270] 4. Die Gegenstände müssen so ausgewählt sein, daß sie die Chance zur praktischen Motivierung enthalten.
[028:271] 5. Politische Bildung wird um so effektiver sein, je mehr sie die gegenwärtige Form organisierter Unterrichtsprozesse verläßt und sich
»unschulischer«
Formen bedient.
[028:272] 6. Zur politischen Bildung im weitesten Sinne gehören schließlich auch solche Lernfelder, die außerhalb jedes organisierten Bildungsprozesses liegen, wie politische Clubs, ad-hoc-Solidarisierungen, Demonstrationen usw.
[028:273] Die pädagogische Aufgabe wäre hier eher konservativ zu nennen: nämlich auf die immer notwendige rationale Legitimation zu verweisen und darauf zu verweisen, daß die Interessenlagen angesichts wechselnder Probleme sich durchaus verschieben können, darauf, daß jedes einfache Schema zur Erklärung aller Konflikte nicht die Wahrscheinlichkeit der Wahrheit für sich hat, daß schon deshalb die dichotomischen Schemata Demokratie – Totalitarismus, Herrschende – Beherrschte, Konservative – Progressive usw. mindestens den Keim des Unvernünftigen enthalten. Die pädagogisch – politische Verantwortung ist nicht nur eine Verantwortung für die Mündigkeit der Heranwachsenden, für Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit, sondern zugleich eine Verantwortung der Vernunft; was in der politischen Bil|A 168|dung geschieht, muß deshalb in jedem Fall legitimiert werden, nicht nur durch die Rationalität der Ziele, sondern auch durch die Rationalität der gewählten Mittel.