Anpassung [Textkritische interaktive Ansicht mit d als Leittext]
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Anpassung

[008:2] Wie notwendig eine Klärung des hier in Frage stehenden Phänomens ist, zeigt auch die außerordentlich hohe Reizbarkeit dem Wort
Anpassung
gegenüber, die in Diskussionen immer wieder zu bemerken ist und kurzschlüssig eine rationale Durchleuchtung hemmt, eine Reizbarkeit, die es dem
Auslöser
leicht macht, die geringe Zahl möglicher Reaktionen vorherzusagen.
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4Anschauliches Material dazu bietet neben der Kritik am
Rahmenplan
des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen vor allem die Kritik am sog.
Bremer Plan
.
Der Vorwurf des
Soziologismus
ist in solchen Augenblicken ständig präsent. Gerade
soziologistische
Theorien scheinen es ja zu sein, die sich durch die häufige Verwendung des Begriffs
Anpassung
selbst als solche entlarven. Zwei Motive bedingen vor allem die genannte Reizbarkeit oder Empfindlichkeit: der Pädagoge empfindet die Anpassungsforderungen als einen Angriff auf seinen Autonomie-Anspruch, als Übergriff benachbarter Disziplinen, und sich selbst damit zum Funktionär erniedrigt; er sieht in ihnen außerdem einen Angriff auf sein Selbstverständnis, auf die Überlieferungen einer langen Tradition, auf sein
Menschenbild
, das – mindestens seit Herder – seine Vorstellungen vom
Gebildeten
und der
Bildung
bestimmt.
Wie leicht ersichtlich ist, koinzidieren beide Motive in einer unseren kulturellen Zusammenhang bestimmenden anthropologischen Position. In der Reaktion des Pädagogen treten sie jedoch auseinander, vorgetragen einerseits in der Form erziehungswissenschaftlicher, andererseits weltanschaulicher Argumente. (Näheres dazu Abschnitt III)
[008:6] Angesichts der kulturellen Selbstverständlichkeiten, angesichts der eine Kultur fundierenden Normen- und Verhaltenssysteme scheint es keine anderen Möglichkeiten als Anpassung oder Fehlentwicklung zu geben. Indessen zeigt aber die nähere Betrachtung, daß hier |d 233|ein zweiter Aspekt auf die Sache eingeführt werden muß. Zwei Phänomene zwingen dazu: die Tatsache, daß die Anpassungsleistung, die das Individuum im Hinblick auf traditionelle Verhaltensweisen und Normen zu vollbringen hat, seine Leistungen sind und nicht etwa biologisch erklärbare Determinationenac – und das Hervorbringen neuer, eine Kultur oder einen neuen kulturellen Entwicklungsschritt konstituierender Institutionen und Verhaltungsweisen ohne tradierte Vorläufer; kurz: die Tatsache des Kulturwandels. Das heißt nicht nur, daß die Anpassungsleistung der Möglichkeit nach als eine vom Individuum intendierte verstanden werden muß (in der Tat ist sie es ja oft nicht, etwa bei der Anpassung des Kleinkindes an die Selbstverständlichkeiten des Familienlebens), es heißt ebensowohl, daß jenes Gleichgewicht hergestellt wird durch eine Veränderung der Situation, durch ein
passendes
Arrangement von Instrumenten, durch Finden eines passenden Weges, durch Hervorbringen einer das Gleichgewicht ermöglichenden, in der Situation gleichsam
erfundenen
Verhaltensform. ab1b2c
[008:8] ab1b2c
Von diesem Standpunkt aus erscheint die Kultur als ein gewaltiger Apparat der Anpassung, der durch Übung, durch das Vermitteln von Fertigkeiten, das Lehren von Normen und die Ausbildung des Geschmacks Anerzogenes und Naturgegebenes miteinander verschmilzt und so ein Wesen schafft, dessen Verhalten nicht durch das Studium der Anatomie und Physiologie allein bestimmt werden kann.
(B. Malinowski, Die Dynamik des Kulturwandels, Wien-Stuttgart 1951, S. 94⁠)
Anpassungsfähigkeit als Bedingung der Möglichkeit kulturellen Fortschritts ist innerhalb dieser Theorie identisch mit Bildsamkeit.ab1b2c
[A02:1]
Was an von der Natur garantierter Sicherheit verloren gegangen ist, wird durch den Vorteil größerer Bildsamkeit wieder wettgemacht.
So
war diese Anpassungsfähigkeit der menschlichen Natur der Boden, dem der menschliche Fortschritt entsproß, in dem er Wurzel schlug und sich auch erhalten hat.
(R. Benedikt, Urformen der Kultur, Hamburg 1955, S. 16)
.
ac
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9In die Erörterung der Abgrenzung biologischer von anthropologischer Betrachtung treten wir hier nicht ein. Sie wird vorausgesetzt.
ab1b2c
So kann eigensinniges Verhalten einem Vor|a 351|gesetzten gegenüber diesem Gleichgewicht dienen; zwar erscheint es dem oberflächlichen Blick keineswegs angepaßt; insofern aber, als Eigensinnigkeit eine innerhalb unserer Kultur praktikable Verhaltensform darstellt, ist es durchaus als eine angepaßte zu bezeichnen. Sehr sinnvoll ist hier die Unterscheidung Riesmans, der das Angepaßtsein in jenem oberflächlichen Sinne als
»overadjusted«
bezeichnet und in ihm gerade eine moderne Fehlform der Anpassung sieht, in der das aktive Moment eliminiert wurde. Der Überangepaßte wählt nicht, entscheidet sich nicht, sondern läßt sich durch die Situation in Richtung auf das unauffälligste Verhalten determinieren.
ab1b2c
In derselben Hinsicht unterscheidet Piaget Assimilation (Veränderung des Gegenstandes) und Akkomodation (Veränderung des Individuums)
6Vgl. dazu ferner die parallelen Unterscheidungen von Gehlen, Guyer und Mannheim in den zitierten Werken, außerdem bei Ch. Bühler in einer interessanten Variante, in: Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem, Göttingen, ²1959, S. 17 ff.
Nur unter der Voraussetzung solcher Differenzierung ist auch ein angemessenes Verständnis des Anpassungsbegriffes der Sozialanthropologie möglich. Alloplastische Leistungen werden hier allerdings nicht nur als Veränderungen im Arrangement vorgefundener Möglichkeiten verstanden, sondern als schöpferisches Hervorbringen. Danach besteht der kulturfundierende Vorgang darin, die physiologischen Bedürfnisse, gleichsam die biologische Basis des |a 352|Menschen, zu überformen durch Phänomene der Organisation und Institution. Organisierung und Institutionalisierung sind die primären Anpassungsleistungen des Menschen, in denen er eine Umwelt derart verändert, daß sie das Gleichgewicht ermöglicht und stabilisiert. Alle Impulshandlungen werden
»physiologisch diktiert, aber zu erworbenen Gewohnheiten umgeformt«
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ab1b2c
7B. Malinowsky. Die Dynamik des Kulturwandels. Wien-Stuttgart 1951, S. 94.
ab1b2c
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»Was an von der Natur garantierter Sicherheit verloren gegangen ist, wird durch den Vorteil größerer Bildsamkeit wieder wettgemacht.«
So
»war diese Anpassungsfähigkeit der menschlichen Natur der Boden, dem der menschliche Fortschritt entsproß, in dem er Wurzel schlug und sich auch erhalten hat.«
(R. Benedikt.R. Benedict. Urformen der Kultur, Hamburg 1955, S. 16)