Der Körper im Augenschein. Rembrandts Anatomie-Bilder und einige Folgeprobleme [Textkritische interaktive Ansicht mit b als Leittext]
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Der Körper im AugenscheinABa

Rembrandts Anatomie-Bilder und einige Folgeprobleme

[091:118] Schon schwer krank, in Jalta 1899, schreibt Anton Tschechow, Arzt und Dichter, in einem sehr knappen Curriculum vitae:
Die Bekanntschaft mit den Naturwissenschaften, mit der wissenschaftlichen Methode hat mich immer wachsam bleiben lassen, und ich habe mich bemüht, mein Schreiben dort, wo es möglich war, mit den wissenschaftlichen Gegebenheiten in Einklang zu bringen, wo dies hingegen unmöglich war, zog ich es vor, gar nicht zu schreibenAB.
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|A 115||B 105||a 193|1 Anton P. Tschechow an G. I. Rossolino, Jalta, 11. 10. 1899, in: A. P. Tschechow, Briefe, hg. von P. Urban, Zürich 1979.
Gustave Flaubert, der als Student ganze Stunden im Leichenschauhaus zubrachte, bestimmte das Verhältnis seines Schreibens zur Wissenschaft ähnlich. Die Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft würden eines Tages verschwinden, wenn erst auch in der Kunst die Einstellung des präzisen Beobachtens die ästhetische Produktion durchweg leite, Jean-Paul Sartre erläutert deshalb ausführlich die Bedeutung, die die anatomischen Sektionen von Vater Flaubert, als Arzt, für die ästhetischen Hervorbringungen Gustaves hatten:
Das Schauspiel seines über eine Leiche gebeugten Vaters, der verbissen daran arbeitete, ihr das grundlegende Geheimnis des Menschen zu entreißen, ist für ihn ein SchockAB
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Gustave, fast ein Kind noch, sah, zusammen mit der Schwester, dem Umgang seines Vaters mit dem Skalpell zu, durch ein Fenster in den Anatomie-Saal hineinschauend.
Passiv konstituiert, achtet Gustave nur auf die obszöne Hingabe der Leichen, die ihm seine eigene Passivität widerspiegeltABAB
Wer derart zu beobachten lernt –
passiv konstituiert
–, der imaginiert sich selbst in der Position des Beobachteten, wie später Kafka im Landarzt oder in der Strafkolonie. Ich denke, daß auch Walter Benjamin etwas davon gemeint hat, als er den Pädagogen empfahl, sich als Beobachter und nichts sonst zu konstituieren, und gerade deswegen die Levana, die Erziehungslehre Jean Pauls, so schätzte.
[091:119] Derartige Äußerungen haben die lange Geschichte des neuzeitlichen Projekts
Wissenschaft
, die auch die Geschichte eines |A 93|eigentümlichen, und zwar problematischenAB Umgangs mit dem menschlichen Körper ist, hinter sich. Spätestens seit Pleßner und Elias ist das ein Gemeinplatz; seit Ariès, de Mause und Rutschky beginnt diese Einsicht sich auch in der Pädagogik zu verbreitenAB. Ich möchte im folgenden diese Art von Wissen und Problemstellungen, um eine Variante zu bereichern suchen und sehen, ob ich mit ihr dem Be|B 94|kannten eine Nuance hinzufügen könnte, die für das historische wie für das aktuelle Interesse Aufmerksamkeit verdient. Mir scheint, daß die
Anatomie
, als eine wissenschaftliche Erfindung oder Neuerfindung der Renaissance, daß die in ihr zur Geltung gebrachte Sichtweise auf den menschlichen Körper/LeibAB besonders ausgezeichnet ist, um auf ein charakteristisches Bildungs|b 268|problem der Moderne hinzuweisen. Die
Anatomie
hat, als Metapher für ein Bildungsproblem, mehrere Vorzüge: Erstens hat sie eine lange kulturelle Tradition, ohne daß diese Tradition schon bildungstheoretisch verbraucht wäre; zweitens fordert sie dazu auf, das Spektakel der Zergliederung mit dem Skalpell – oder welche Werkzeuge immer dabei benutzt werden mögen – in irgendein Verhältnis zu dem zu setzen, was ich, der Zuschauer, bin; drittens handelt es sich um eine Tätigkeit, deren kognitiver Typus als
modern
zu bezeichnen ist, insofernAB als der analytische, zergliedernde Zugriff seit der Hochrenaissance bis heute eine wesentliche Komponente unserer Kultur geblieben ist; viertens handelt es sich in der Anatomie um
unseren
Körper, mithin um nichts weniger als um ein ästhetisches Phänomen; denn die Weise, in der
Ich mir
gegeben bin, ist – gleichsam
vor
der Einfädelung und damit Konstitution meines
Bewußtseins
in die Diskurse des Selbst- und Fremdverstehens – eine sinnliche Gegebenheitsweise, die naturgemäß im Feld ästhetischer Produktion früher und gelegentlich auch prägnanter
sagbar
wird, als in den Argumentationen der Kommentatoren aus Philosophie und Wissenschaft.
[091:120] Ich werde diese vier Problemstellungen im folgenden nicht argumentativ entfalten, sondern nur einige wenige historisch-ästhetische Anhaltspunkte, besonders zum letzten der vier Vorzüge, zur Darstellung bringen, um sie (vielleicht) diskutabel zu machen. Ich wähle dafür zwei Bilder Rembrandts aus. Ehe ich auf sie eingehe, mache ich einige kurze Anmerkungen zur historischen Ausgangslage; nach einer Interpretationsskizze der beiden Bilder deute ich dann einige Folgeprobleme an.
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1. Die Ausgangslage

[091:121] Als Felix Platter, später Professor der Medizin in Basel, zehn Jahre alt war, anno 1546, wird er Ohrenzeuge einer nächtlichen Anatomie im Hause eines Dorfpfarrers, an der außer dem Pfarrer noch der Vater des Felix (ein Lehrer) , ein Apotheker und ein Barbier teilnahmen. Vom Vater berichtet er, ihm habe in der Macht danach
gedrümpt, er habe menschen fleisch geßen, dorab erwacht und sich über die moßen erbrochen
. 4
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Felix Platter: Tagebuch (Lebensbeschreibung) 1536–1567, hg. von V. Lötscher, Basel, Stuttgart 1976, S. 104 f.
ABa Sechs Jahre später studiert er Medizin in Montpellier, besucht natürlich auch die Anatomie im damals noch viereckigen Theater und schildert dies als gesellschaftliches Ereignis: Es sind nicht nur Professoren und Studenten anwesend, sondern
vil andre herren und burger |B 95|darzu, wie auch damoisellen, ob eß glich ein mansperson ... So gondt auch die münch dorin
;5
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Ebd., S. 151.
er ergänzt die Schilderung durch den Zusatz, daß die Anatomen während ihrer Demonstration
seltzame zotten gerißen
, obwohl doch
frauwenzimmerABa (wie ich es gesehen hab), darbey gewesen, als man ein weibsbild anatomiert; da waren ihnen die masgen vor den angesichten hoch von nöten.
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Thomas Platter d. J.: Beschreibung der Reisen durch Frankreich, Spanien, England und die Niederlande 1595–1600, hg. von R. Keiser, 1. Teil, Basel, Stuttgart 1968, S. 69.
AB
[091:122] Verwendet man als Quellenmaterial nicht nur derartige Berichte, sondern auch die in der Druckgraphik des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts in großer Zahl auf|b 269|tauchenden Darstellungen anatomischer Demonstrationen7
|A 115||B 105||a 193|7Beispiele dafür finden sich in den beiden großen Monographien über Rembrandts Anatomie-Bilder von William S. Heckscher: Rembrandt’s Anatomy of Dr. Nicolaas Tulp, New York 1958, und William Schupbach: The Paradox of Rembrandt’s
Anatomy of Dr. Tulp
, London 1982.
, dann gewinnt man in Umrissen folgendes Bild:
Anatomie
– das war ein gesellschaftliches Ereignis von außerordentlich großer Ambivalenz, kaum auf einen einfachen Nenner zu bringen:
[091:123] 1. Anatomie war ein intellektuelles Abenteuer von eigentümlicher Entdecker-Dramatik, das sich von den makrokosmischen Entdeckungen unter anderem dadurch unterschied, daß es in der Form eines gesellschaftlichen Spektakels inszeniert werden konnte. Schon der Anfang neuzeitlicher Anatomie war mit einem spektakulären szenischen Auftritt verbunden: Ein 19jähriger Student aus Wesel am Rhein düpierte in Paris, während einer Anatomie-Demonstration um 1535, öffentlich den berühmten Mediziner Sylvius dadurch, daß er ihm am vorliegenden Sektionsobjekt die Fehler nachwies, die dieser an den Schriften des Galenus orthodox orientierte Gelehrte gleichsam notgedrungen machen mußte – eine frühe Form von
Happening
oder
Performance
.
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Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Porträt des Andreas Versalius von Jan Stephan von Calcar (1543) als Titelholzschnittes des Buches „De humani corporis fabrica septem libri“ zu sehen.
Abb. 1: Titelholzschnitt aus Andreas Vesalius, De humani corporis fabrica septem libri, Basel 1543 (mit ziemlicher Sicherheit Porträt des A. Vesalius).
2. Daß der gleiche Student wenige Jahre später, unter dem Namen Andreas Vesalius, in Padova die erste bezahlte Professur für Anatomie bekam, enthält eine weitere Bedeutungskomponente: Der wissenschaftliche Diskurs konnte mit dem ästhetischen Diskurs verbunden werden. Vesalius nämlich konnte für die Illustrationen seiner anatomischen Veröffentlichungen hochrangige Artisten gewinnen.8
|A 115||B 105||a 193|8Noch 1706 vermutete ein Augsburger Herausgeber einer Kurzfassung des anatomischen Lehrbuches des Vesalius, die Holzschnitte stammten von Tizian (A. Vesalius: Zergliederung des menschlichen Körpers. Auf Mahlerey und Bildhauer-Kunst gericht. Augspurg 1706). Tatsächlich hat sie Jan Stephan von Calcar hergestellt, ein Schüler Tizians, der in Venedig war, als Vesalius in Padua seine anatomische Laufbahn begann. Einige Jahre später erschien dann in Basel |B 106|der anatomische
Klassiker
: Andreas Vesalius, De humani corporis fabrica septem libri, Basel 1543, mit den Holzschnitten von Calcar.
AB Die hatten seit Jahrzehnten schon vorgearbeitet. Der
Schein des Schönen
mußte, beispielsweise für Leonardo und Dürer, durch genaue Beobachtung, durch Erfahrung gerechtfertigt werden: Der bloße
Augenschein
kann täuschen, solange das Äuge kein aktives Erkenntnisorgan, sondern nur passiv konstituiert ist. Der szientistische Blick, der auf präzise Beobachtung und kausale Erklärung aus ist, steht mit der Kunst nicht in Widerstreit. Was Leonardo in seinen anatomischen und physiologischen Studien interessierte, war, in seinen eigenen Worten, dieses:
Ursache des |b 270|Atmens, Ursache der Bewegung des Herzens, Ursache des Erbrechens [sic!], Ursache des Austritts der Speisen aus dem Magen, Ursache des Sichentleerens der Gedärme
und so weiter.9
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Zit. n.: Filippo Bottazzi: Leonardo als Physiologe. In: Leonardo da Vinci. Das Lebensbild eines Genies, Stuttgart, Zürich, Salzburg 1955, S. 374
. Vgl. außerdem im selben Sammelwerk Giuseppe Favaro: Anatomie und Physiologie, ABa S. 363 ff.
AB
[091:125] 3. Dennoch sollte die erfahrungswissenschaftliche Leidenschaft uns nicht täuschen, die hier Kunst und Wissenschaft zusammenzubringen scheint. Auf dem Titelblatt des anatomischen Hauptwerks von Andreas Vesalius befin|B 96|det sich ein Porträt des Verfassers mit einem sezierten Unterarm samt Hand (Abb. 1).10
|A 115||B 106||a 194|10Daß es sich dabei um eine bedeutsame symbolische Mitteilung an den Leser handelt, geht auch daraus hervor, daß der anatomische Text selbst nicht mit ganzheitlichen Sinnauslegungen beginnt, sondern in rein analytischer Einstellung mit den Elementen des Körperbaus. Dieser Darstellungsregel folgten auch schon die mit|A 116|telalterlichen anatomischen Texte; vgl. George Washington Corner: Anatomical Texts of the earlier middle ages, Washington 1927.
ABa Das ist ein anthropologischer Topos. Über den spätantiken Arzt Galenus war die Auffassung überliefert, daß die Konstruktion der menschlichen Hand unter allen Organen vom Schöpfer besonders ausgezeichnet sei, und zwar besonders wegen der sinnreichen fabrica in der Anordnung von Gliedern, Gelenken und Beuge-Muskeln: dadurch nämlich ist die Hand nicht nur ein Greif-Werkzeug, sondern ein Werkzeug zur Erschaffung neuer Werkzeuge, die instrumentelle Quelle der menschlichen Zivilisation11
|A 116||B 106||a 194|11Vgl. dazu die Einzelnachweise dieser Deutungstradition im Appendix 11
The special significance of the hand
bei ABaSchupbach, a.a.O., S. 57 ff.
– freilich eine Trivialität für Intellektuelle des 20. Jahrhunderts, sofern sie Leser der neueren anthropologischen Literatur sind.12
|A 116||B 106||a 194|12So z. B. bei F. J. J. Buytendijk: Mensch und Tier, Hamburg 1958, S. 105 f., und Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Bonn 1950.
AB Die Anatomie also bringt, im 16. Jahrhundert, den homo creator ans Licht, eine Hommage mit drei Adressaten: Gott, das Gattungssubjekt und der Anatom.
[091:126] 4. Aber schließlich ist die Anatomie nicht nur belehrend, sondern auch schaurig-schön: Was dort seziert wird, als Leichnam, ist nicht nur irgendwer, sondern er ist, nun als purer Körper, |A 96|wie unsereins. Das Messer geht imaginär ins eigene Fleisch. Die Anatomie ist eine profanisierte Passion – jedenfalls war dies, wie ich vermute, eine Bedeutungsvariante, die den zeitgenössischen Spectateurs im Gedächtnis saß, als schöner Schein des eigentlich Unerträglichen. Die Bilder, auf denen, wie mit sadomasochistischer Lust, christliche Märtyrer oder sonst irgendwie Verurteilte während der Hinrichtungszeremonie dargestellt waren – die Haut bei lebendigem Leibe abgezogen, tiefe Schnitte angebracht, die Därme auf eine Walze gewickelt13
|A 116||A 106||A 194|13Mehrere Beispiele dazu in ABaHeckscher, a.a.O. Vgl. auch einen Bericht Felix Platters (a.a.O., S. 96), der als 10jähriger Knabe zusah, wie ein Verurteilter langsam zu Tode gefoltert wurde.
, derartige Bilder waren den Zuschauern bei einem anatomischen Spektakel gewiß gegenwärtig, vielleicht sogar solche wie das des Stephan Lochner, auf dem der heilige Bartholomäus seiner eigenen Vivisektion aufmerksam zuschaut. Und daß so etwas nicht nur symbolisch, sondern real möglich sein konnte, nämlich bei lebendigem Leibe |b 271|anatomiert zu werden, das wurde durch die hochmittelalterlichen Anatomie-Lehrbücher mindestens plausibel gemacht.14
|A 116||B 106||a 194|14Beispielsweise in der Anatomia Magistri Nicolai Physici aus dem frühen 13. Jahrhundert, abgedruckt in ABaCorner, a.a.O., S. 67.
AB
[091:127] Mindestens diese vier Bedeutungs-Konnotationen sind im Spiel, wenn es, im 16. und 17. Jahrhundert, um Anatomie geht. Die anatomische Demonstration: eine Art Welttheater oder die Exposition eines Gesamtkunstwerks, als Performance (Abb. 2)?15
|A 116||B 106||a 194|15Daß für die Zeitgenossen eine Deutungsambivalenz im Spiel war, zeigt sich u. a. wohl auch in verschiedenen Darstellungstypen in der Druckgraphik: einerseits gleichsam
realistische
Szenarien wie das Frontispiz auf der ersten Seite der Anatomie des Vesalius, andererseits emblematische Grusel-Arrangements, in denen die Zuschauerspaliere nicht von lebenden Menschen bevölkert sind, sondern von Skeletten in bedeutungsvollen Haltungen (Abb. 3).
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung eines Titelholzschnittes aus Andreas Versalius „De humani corporis fabrica septem libri“ aus dem Jahr 1543 zu sehen.
Abb. 2: Titelholzschnitt aus Andreas Vesalius, De humani corporis fabrica septem libri, Basel 1543.
[091:128] Wie reagierte Rembrandt auf diese Situation?

2. Zwei Bilder Rembrandts

[091:129] Das Anatomie-Theater eröffnete die Saison in allen europäischen Regionen in der Regel im Winter. Die Vorstellung begann zur Zeit der Dämmerung. Die Stücke hatten viele Akte und dauerten drei bis fünf Tage. Das Publikum bestand aus Mitgliedern der städtischen Oberschicht: Kaufleute, wohlhabende Handwer|B 97|ker, Intellektuelle. Es wurden Eintrittskarten verkauft. Der Erlös betrug zwischen Padua, Leipzig und Amsterdam ungefähr 150 bis 300 Gulden – eine Menge Geld (jedenfalls mehr als das Jahresgehalt eines Baufacharbeiters). Ungefähr die Hälfte der Einnahmen verwendeten die gelehrten Hauptdarsteller häufig für ein anschließendes Festessen.16
|A 116||B 106||a 194|16Vgl. ABaHeckscher, a.a.O., S. 32 ff.
AB
[091:130] Rembrandt malte also eine Schau-Bühne (Abb. 4). Da häufig, so auch in Amsterdam, nicht mehr benötigte Kapellen zum Theatrum Anatomicum ausgebaut wurden, darf man sich nicht nur eine Bühne, sondern auch den Seziertisch an der Stelle des |b 272|Altars denken.
Semiologisch
, so könnte |A 97| A |A 98| A |A 99| A |A 100| A A |A 101| A |A 102| A A |A 103| A |A 104| A |A 105|man sagen, schießen hier das heidnische Opfer, die christliche Passion und das analytische Interesse moderner Wissenschaft zusammen. Die ästhetische Faszination, so stelle ich mir vor, muß unter anderem in dieser Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gelegen haben. Aber das ist schon eine ikonologische Deutung. Ich skizziere besser erst einmal die ikonographischen Elemente,17
|A 116||B 106||a 194|17Ich stütze mich dabei vor allem auf die beiden schon zitierten Bildanalysen von Heckscher und Schupbach und auf eine Analyse des Tulp-Bildes unter dem Gesichtspunkt seiner Gesprächsstruktur von M. Imdahl: Sprechen und Hören als szenische Einheit. Bemerkungen im Hinblick auf Rembrandts Anatomie des Dr. Tulp, in: K. Stierle & R. Warning, Das Gespräch, MünchenAB 1984, S. 287–296.
AB um das historisch Unerläßliche nicht zu versäumen, und zwar in knappster Form:
  • [091:131] Nicht nur Dr. Tulp ist bekannt, sondern auch alle seine beteiligten Kollegen; dies unter anderem deshalb, weil nachträglich das Blatt, das der hinterste der Teilnehmer in der Hand hält und das ursprünglich eine anatomische Zeichnung trug, mit den Namen der Beteiligten übermalt wurde. Auch der Kollege am äußersten linken Rand wurde später hinzugemalt. Ob van Loenen, die am höchsten plazierte Figur, ursprünglich einen Hut trug oder nicht, darüber gibt es Streit in der Fachwelt. Auch der Name des Leichnams ist bekannt. Es handelt sich also um ein Gruppenporträt, eine bezahlte Auftragsarbeit, ein
    Trionfo
    18
    |A 116||B 106||a 194|18Vgl. ABa Heckscher, a.a.O., S. 117 ff.
    des Dr. Tulp inmitten seiner Mitarbeiter, so wie der zuvor erwähnte Holzschnitt ein
    Trionfo
    des Vesalius war.
  • [091:132] Das Buch vorne rechts ist offensichtlich ein anatomisches Lehrbuch. ABa Als ziemlich sicher kann gelten, daß es sich um De humani corporis fabrica des Vesalius handelt.19
    |A 116||B 106||a 194|19 Vgl. die Erläuterung dieser Hypothese von ABaJantzen: Rembrandt, Tulp und Vesalius, in: ders., Über den gotischen Kirchenraum und andere Aufsätze, Berlin 1951, S. 69–71. Tatsächlich befindet sich dort, wo in dem Werk des Vesalius der Unterarm mit Hand abgebildet ist, der Text auf der linken und die Abbildung auf der (in Rembrandts Bild verdeckten) rechten Seite.
    AB Ikonographisch wichtig ist dieses Bildelement, weil es eine historische Brücke baut: Überlieferte Meinung, in Büchern bewahrt, wird an der augenscheinlichen Erfahrung überprüft.
  • [091:133] Dr. Tulp hat offensichtlich seine Sektion mit dem Aufschneiden der Hand begonnen. Das nun war gegen alle Regel, denn man begann mit der Bauchdecke. Entweder ist das widersinnig, falsch oder – es ist symbolisch! Da man von dem präzisen Beobachter Rembrandt das erste nicht annehmen kann, muß das zweite wahr sein. Dies zu akzeptieren fällt uns leicht, da von dem symbolischen Topos von Unterarm und Hand schon die Rede war: Dr. Tulp also führt uns diesen |b 273|Topos vor, der besagt, daß in der Bauform der menschlichen Hand die Weise des menschlichen Daseins, im Unterschied zum tierischen, ausgezeichnet sei.
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  • [091:134] Etwas schwieriger schon ist die Identifikation der Gebärde van Loenens. Er soll ursprünglich, wie Dr. Tulp selbst, einen |A 106|Hut getragen haben.20
    |A 116||B 106||a 194|20Van Loenen ist der Name des auf dem Bild am höchsten plazierten Kollegen; vgl. die Namenszuordnungen bei Heckscher, a.a.O., S. 188 ff. und die Diskussion seiner Handgebärde bei Schupbach, a.a.O., S. 27 ff.
    AB Das würde passen, wenn man akzeptieren könnte, daß AB Tulp und van Loenen die beiden nicht nur porträthaft, sondern auch emblematisch herausgehobenen Figuren sind. Nicht nur van Loenens Position im Bild, sondern auch die Geste seiner rechten Hand spricht dafür! Diese Hand ist in der Kollegen-Gruppe ein ikonisches Zentrum; es ist der ausgestreckte Zeigefinger des Johannis aus der überlieferten Ikonographie, wenngleich bürgerlich-profan zurückgenommen, gleichsam unaufdringlich dem Betrachter zu denken gebend. Siehe da! Und van Loenen ist auch die einzige Figur, die zweifelsfrei dem Betrachter des Bildes in die Augen sieht.
  • [091:135] Ikonographisch können wir also sagen: Rembrandts Bild-Diskurs führt uns eine Argumentationskette vor, die, grob und knapp gesprochen, so verläuft: Der berühmte Anatom Dr. Tulp seziert eine Leiche, kontrolliert dabei seine Operation an der Überlieferung (das Buch rechts im Bild), stellt dies in der Community of Scientists vor den kritischen Kollegenblicken auf die Probe21
    |A 116||B 106||a 194|21Dazu besonders ABa Imdahl, a.a.O.
    , demonstriert zudem – eine emblematische Opposition zum naiven Realismus – die anthropologische Würde seines Gegenstands (dadurch, daß er mit der Sektion der Hand beginnt); van Loenen, jedenfalls schlägt Rembrandt uns dies vor, bekräftigt diesen Willkürakt durch den Hinweis: Dieser Leib ist nicht nur dieser Leib!
[091:136-137] Aber: van Loenen blickt uns an. Hier endet die Ikonographie – die übrigens schon mehrere Bücher gefüllt hat und hier nur in allerdürftigster Form zusammengefaßt werden konnte. Van Loenen blickt uns an, voll im Licht; die Augen des Leichnams aber, senkrecht unter denen van Loenens, sind im Schatten. Wen schaut van Loenen an? Ich spekuliere: Natürlich schaut er mich an und zieht mich dadurch in das Mysterium des Theatrum Anatomicum hinein. Ich bin, sozusagen, dieses Mal der einzige Spektateur bei diesem Spektakel (die vorderen Logenplätze waren auch damals |b 274|schon Honoratioren und alten Leuten Vorbehalten22
|A 116||B 106||a 194|22ABaHeckscher, a.a.O., S. 135.
). Ich? Vielleicht ist es Rembrandt, der Maler, selbst. Fällt der Schatten auf die Augen des Leichnams, weil der wißbegierige Kollege sich darüber beugt – oder beugt der wißbegierige Kollege sich darüber, damit der Schatten auf die Augen fallen konnte? Der Künstler kann beide Versionen wahr machen. Wenige Jahre vorher malte Rembrandt ein Porträt von sich selbst, auf dem die Augen im Schatten liegen (Abb. 5). Diese im Selbstporträt23
|A 116||B 106||a 194|23Knapp drei Jahre vor dem Tulp-Bild malte Rembrandt nicht nur dieses, sondern eine Serie von Selbstporträts, bei denen allen die |A 117|Augen im Schatten liegen (Christopher Wright: Rembrandt. Self-Portraits, London 1982).
realisierte Geste der gleichzeitigen Wendung nach außen und innen ist, wenngleich nur in fast flüchtiger, jedenfalls das Private nur gerade andeutender Darstellung, im Leichnam des Tulp-Bildes wiederholt. Das ist freilich eine wissenschaftlich höchst riskante Konjektur, durch nichts belegbar als durch meine eigene Projektion; sie wird später, so hoffe ich, an Plausibilität gewinnen. |B 99|Aber ich will dennoch hier schon eine ikonologische Hypothese anknüpfen: Daß die Zerlegung des menschlichen Leichnams in seine Teile ein Moment wissenschaftlich-zivilisatorischen Fortschritts sei, erschien nicht nur akzeptabel, sondern konsequent und notwendig; daß dasjenige, was es dabei zu finden, zu entdecken gab, auf einer Grenzlinie liegt zwischen wissenschaftlicher Analyse und synthetisierenden Sinn-Projekten, das war den Zeitgenossen wohl auch deutlich; daß man dies aber, über derartige Traditionsbestände hinaus, auf das eigene Ich beziehen müsse, ist Rembrandts ikonologisches Projekt.
[091:138] Dieses Projekt – und damit versuche ich, meine Hypothese etwas glaubwürdiger zu machen – hat der Maler in der Anatomie des Dr. Deyman (Abb. 6) auf eine Pointe gebracht. Dieses Bild – es wurde durch einen Brand derart beschädigt, daß nur das Zentrum übrig blieb; die ursprüngliche Fassung aber ist durch eine Projekt-Skizze Rembrandts vorstellbar – hat den feierlichen Aufbau eines Altarbildes. Auch hier gibt es kein Publikum, sondern nur das Geschehen auf der Bühne. Aber außerdem fehlt auch der wissenschaftliche Kollegen-Diskurs: nichts, was auf ein Gespräch hinwiese! Bild und Betrachter sind hier offenbar in ein anderes Verhältnis gesetzt als im Falle Dr. Tulps. Der Betrachter wird vom Bild hervorgebracht als jemand, der nicht einer wissenschaftlichen Handlung zuschaut. Als was wird er hervorgebracht?
[091:139] Entscheidend ist hier die Lage des Leichnams. Ich versuche, mich einer Antwort zu nähern durch drei Lesarten:
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  • [091:140] Die Ähnlichkeit mit einem Christus-Bild Mantegnas (Abb. 7) wurde in der Fachliteratur schon diskutiert.24
    |A 117||B 106||a 194|24Kenneth Clark: Rembrandt and the Italian Renaissance, London 1966, S. 94 ff.
    AB Diese Lesart verweist auf Vergangenheit, auf Traditionen des ästhetischen Diskurses. Seit der Kunsttheorie der italienischen Renaissance25
    |A 117||B 106||a 195|25Vgl. dazu Michael Baxandall: Die Wirklichkeit der Bilder, Frankfurt/M. 1977, S. 174 ff.
    signifizieren die scorci , die perspektivischen Verkürzungen, besonders des menschlichen Körpers, große Meisterschaft. Also ein Mantegna-Imitat? In der Konkursmasse Rembrandts, die 1656 versteigert wurde, befand sich ein Foliant mit Bildern Mantegnas (vermutlich Kopien).26
    |A 117||B 106||a 195|26ABa Clark, a.a.O., S. 193 ff. (Verzeichnis der Besitztümer Rembrandts 1656).
    AB
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  • [091:141] Die zweite Lesart führt mich in gleichsam entgegengesetzte Richtung. In den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts empfahl uns der Anthropologe Helmuth Pleßner in seinen Lehrveranstaltungen eine selbstreflexive Übung, die jeder machen sollte, der beginnt, über Probleme der philosophischen Anthropologie nachzudenken: Man sollte sich hinlegen, an seinem Körper entlang bis auf die Füße schauen und dabei genau registrieren, was man sieht, und was das, was man sieht, bedeutet! Rembrandt (oder auch Mantegna) zeigt uns den spiegelbildlichen Fall. Hängt damit die eigentümliche Faszination zusammen, die derartige Bilder haben?
  • [091:142] Die dritte Lesart ergibt sich nun fast wie von selbst: Von 1629 bis 1649 lebte René Descartes in Holland, zumeist in Amsterdam. Sein Discours wurde 1637 in Leydengedruckt (also erst nach der Anatomie des Dr. Tulp, |B 100|aber vor der Anatomie des Dr. Deyman). Zeitlebens war Descartes leidenschaftlicher Amateur-Anatom. Wir können wohl annehmen, daß beide, Descartes und Rembrandt, sich während der anatomischen Winter-Saison gelegentlich sahen. Und da Dr. Tulp auch ein Gönner des in diesem Zeitraum in Amsterdam weilenden Amos Comenius, dieser wiederum auch mit Descartes persönlich bekannt war, ist es möglich, daß alle drei gelegentlich zusammentrafen.27
    |A 117||B 106||a 195|27Das müßte allerdings schon 1642 gewesen sein, während des ersten Amsterdamer Aufenthalts des Comenius. Dennoch ist ein solches Zusammentreffen zwar möglich, aber nicht wahrscheinlich gewesen, da Descartes zurückgezogen lebte und nicht sehr gesellig war. Aber Comenius, der sich über Jahre hinweg mit den Schriften DescartesABa intensiv beschäftigte, könnte sehr wohl auch mit Rembrandt gelegentlich gesprochen haben: Als dieser das Deyman-Bild malte, ging Comenius fast täglich an dessen Wohnung vorbei, um in der benachbarten Druckerei den Druck seiner Opera Didactica Omnia zu kontrollieren; außerdem malte ein Rembrandt-Schüler zur gleichen Zeit vermutlich ein Comenius-Porträt. Vgl. M. Blekastad: Comenius, Oslo 1969, besonders S. 572 f.
    AB Sollte nicht vielleicht auch Rembrandt dabei gewesen sein? Und könnte es nicht ebenso wahrscheinlich sein, daß bei solchen oder anderen Gelegenheiten Descartes und Rembrandt über
    cogtito ergo sum
    sprachen? Ist also die Anatomie des Dr. Deyman ein cartesianisches Bild?
[091:143] Dr. Deyman hat gerade das Zentrum des Denkens freigelegt. Wie eine Monstranz, ein Weihwasserbecken hält Dr. Deymans Mitarbeiter die Hirnschale.28
|A 117||B 106||a 195|28 M. Eisler: Der alte Rembrandt, Wien 1927, vermutet einfach eine
bereitgehaltene Schale
(S. 91)
, was aber wohl falsch ist.
AB Im Bild sieht der Betrachter sich selbst, wie im Spiegel; allerdings als Leichnam; das Gehirn liegt offen. Was sieht er? – Ich behaupte: Der Blick geht, wie in jenem frühen Selbstporträt Rembrandts, zugleich nach außen und nach innen, wird zum Bild hin und auf den Betrachter zurückgewendet – ein Sachverhalt, der wiederum von der Ikonographie längst eingeholt wurde: es handelt sich nämlich um ein,
Erkenne-Dich-Selbst
-Bild29
|A 117||B 106||a 195|29Diese Hypothese gilt im Hinblick auf das Deyman-Bild noch überzeugender als im Hinblick auf das Tulp-Bild, für welches W. Schupbach (a.a.O., Appendix III
Cognitio sui, Cognitio Dei
, S. 66 ff.) die nötigen Nachweise geführt hat.
, und es steht damit in einer langen allegorischen Tradition. Indessen: Nur eine kleine Nuance an diesem Bild macht es avantgardistisch: Es ist nicht nur allegorisch, sondern es konfrontiert uns direkt mit dem problematischen Sachverhalt, jedenfalls so, wie Spiegelbilder es naturgemäß können.
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3. Folgen und Folgerungen

[091:144] Was erscheint im
Spiegelbild
?30
|A 117||B 106||a 195|30 Vgl. dazu Jacques Lacan: Schriften 1, hg. von N. Haas, Frankfurt/M. 1975, S. 61 ff.
AB Rembrandt, so scheint mir, hält inne in der geschichtlichen Bewegung, die sich zu seiner Zeit dramatisch zu beschleunigen schien; mehr noch: die vielleicht zum ersten Mal in der europäischen Geschichte überhaupt als
beschleunigt
erlebt wurde. Das geht nur angesichts einer Differenz-Erfahrung: Relative Ruhe der überlieferten und sinnverbürgenden Zeichensysteme versus rascher Fortschritt ökonomischer Bewegungen, wissenschaftlicher Entdeckungen. Da der in der Anatomie enthaltene Habitus der
Sektion
die überlieferten Sinn-Systeme zu zersetzen droht,31
|A 117||B 107||a 195|31
Felix Platter (a.a.O., S. 111)
berichtet, daß er als ungefähr 14jähriger Knabe angesichts von Tierschlachtungen dachte:
waß wunder dregst du in dir und wirt der metzger finden.
AB scheint ein zuverlässiger Halt am ehesten noch im reflektierenden Ich verbürgt. Aber das ist, mit Bezug auf die Bilder Rembrandts, nicht hinreichend genau gesagt. Der zuverlässige Halt wird hier nicht von dem gestiftet, was etwa die intellektuelle Operation des
Zweifelns
ist, sondern hat seinen Grund in der Leibhaftigkeit, in dem also, was für Descartes in den Meditationes schließlich als mögliche Quelle dauernder Täuschungen erscheint. Rembrandt findet die erste Gewißheit nicht in der Tatsache des Zweifelns, sondern in dem Empfinden des lebendigen Leibes, provoziert durch die Doppelbedeutung des Leichnams als sezierter Körper und gestorbener Leib, zerstörter Sinn und Konstruktion des Sinns vom Ende des Lebens her. Das reflektierende Ich reflektiert vor diesen beiden Bildern, vor allem aber vor der Anatomie des Dr. Deyman, seine Leibhaftigkeit. Die Intensität der Reflexionsbewegung hat sich der Tatsache zu verdanken, daß der Porträtierte tot ist und sein Leib für uns offenliegt. Die in Bewegung gebrachte Reflexion richtet sich, wie in Descartes’ Meditationes, deshalb auf die Gegebenheit des Denkens (in der Operation des Zergliederns) und die Gegebenheit des Körpers (in der Operation des Imaginierens und Empfindens).
Was aber bin ich demnach? Ein denkendes Wesen! Was heißt das? Nun – ein Wesen, das zweifelt, einsieht, bejaht, verneint, will, nicht will und das sich auch etwas bildlich vorstellt und empfindetAB.
Aber während Descartes gerade an dem Beweis der Verschiedenheit von Seele und Körper gelegen ist – nicht das Empfinden selbst ist ihm eine Quelle der Gewißheit, sondern die denkende Auseinandersetzung mit der Tatsache, daß ich empfinde –, präsentiert uns Rembrandt zugleich den Körper als res extensa (als anatomisches Objekt) und als Leib-Seele- Einheit. In |A 110|dieser Opposition ist nicht das cartesianische Problem formuliert, sondern eine gegen das naturwissenschaftliche Anatomie-Konzept gerichtete kritische Perspektive: Es ist gerade das Gewahrwerden der Leibhaftigkeit als Quelle von Sinn, das einerseits dem Ich die Gewißheit des Existierens verbürgt und andererseits den sinnzerstörenden analytischen Zugriff in die Schranken weist. Mir scheint, daß dies ein hochsensibler Kommentar zu dem ist, was damals mit der Leibhaftigkeit des Menschen vor sich ging.33
|A 117||B 107||a 195|33Schon seit mehr als einem Jahrhundert war, an der Geschichte der Bildungs- und Armenwesens besonders gut ablesbar, eine Leibestechnik im Umgang mit Kindern und randständigen Gruppen in Mode, die den rationalen Blick des
anatomischen Konzepts
auch auf das Ver|b 278|hältnis zum lebendigen Leib ausdehnte: Die Äußerungen des Leibes wurden auf solche hin durchmustert, die im Hinblick auf Verstandestätigkeit und die Ökonomie der Stadtkultur funktional waren. Was funktional erschien, wurde auch als rational zugelassen und gefördert. Der
Leib
wurde dadurch zum Körper-Ding stilisiert, allenfalls ein Instrument im Dienste von Zwecken, derer sich die Ratio bereits versichert hatte, kein Instrument jedoch, um (wie bei Rembrandt) allererst zu Einsichten zu gelangen. Die Schulordnungen des 16. und 17. Jahrhunderts |A 118|enthalten dazu reichhaltige Materialien (vgl. dazu beispielsweise: Evangelische Schulordnungen, hg. von R. Vormbaum, 2 Bde., Gütersloh 1860).
AB
|b 278|
[091:145] Ungefähr 170 Jahre, nachdem die Anatomie des Dr. Deyman gemalt wurde, erschien unter dem Eindruck, den die Wissenschafts- und Bildungsgeschichte inzwischen genommen hatte, erneut eine Deutung der Kultur-Erscheinung
Anatomie
, diesmal nicht als Bild, sondern als Wort. Von einem jungen Anatom, der eingeladen war, an einer Sektion teilzunehmen, heißt es:
[091:146]
Wilhelm, der als nächster Aspirant gleichfalls berufen wurde, fand vor dem Sitze, den man ihm anwies, auf einem saubern Brette, reinlich zugedeckt, eine bedenkliche Aufgabe; denn als er die Hülle wegnahm lag der schönste weibliche Arm zu erblicken, der sich wohl jemals um den Hals eines Jünglings geschlungen hatte. Er hielt sein Besteck in der Hand und getraute sich nicht es zu eröffnen, er stand und getraute nicht niederzusitzen. Der Widerwille dieses herrliche Naturerzeugnis noch weiter zu entstellen stritt mit der Anforderung, welche der wissensbegierige Mann an sich zu machen hat und welcher sämtliche Umhersitzende Genüge leistetenAB.
|B 102|
[091:147] Hier ist alles wieder versammelt: Der schöne Schein, der symbolische Topos von Arm und Hand, die Attitüde des Zergliederns und das Zögern des reflektierenden Ich, noch einmal dadurch unterstrichen, daß
sämtliche Umhersitzende
offenbar der anatomischen Aufforderung bedenkenlos folgen. In der Fortsetzung der Erzählung gerät dem Autor diese Szene zu einer Metapher für Grundprobleme der Bildung des Menschen. Ein Bildhauer nämlich tritt auf und gibt die folgende Belehrung über Belehrungen:
Sie sollen in kurzem erfahren, daß Aufbauen mehr belehrt als Einreißen, Verbinden mehr als Trennen, Totes beleben mehr als das Getötete noch weiter tötenAB.
Der Bildhauer nämlich hat sämtliche Teile des menschlichen Körpers derart nachgebildet, daß sich aus ihnen, in der
anatomischen
Übung, der Körper des Menschen zusammensetzen läßt. Indessen, so sagt er,
die Universitäten |A 111|aber widerstünden durchaus dem Unternehmen, weil die Meister der Kunst wohl Prosektoren aber keine Proplastiker zu bilden wüßten
; nur ein Museum habe sich dafür interessiert.36
|A 118||B 107||a 195|36
Ebd., S. 359
.
AB Analysierende und synthetisierende Tätigkeit, äußere wie innere, sollen hier offenbar in einer Konkordanz des theoretischen, ästhetischen und praktischen Diskurses zusammengebunden werden.
[091:148] Ist das nun ein verspätetes oder ein verfrühtes utopisches Projekt gewesen? Die Nähe von Goethes anatomischem/bildungspraktischem Projekt zur deutschen Romantik ist deutlich, damit aber zugleich auch die reale Ferne zu dem, was der Fall war, zum
Main Stream
der Kulturentwicklung. Was sich abspielte und zukunftsfähig war, repräsentierte die Encyclopédie von Diderot/D’Alembert, vergleicht man |b 279|deren anatomische Abbildungen mit denen des Vesalius: Innerhalb von zwei Jahrhunderten wurde den Leichnamen, die Stephan von Calcar für das anatomische Werk des Vesalius (das auf Rembrandts Tulp-Bild den Diskurs der Mediziner orientiert) durchaus korrekt zeichnete, die Leidensgeste genommen, und sie wurden zu rein technischen Zeichnungen umstilisiert. Goethe hat sich auf die naturwissenschaftliche Attitüde soweit eingelassen, daß sein Projekt des
Proplastikers
von körperlichem Mitleiden gleichsam gereinigt ist.37
|A 118||B 107||a 195|37In Straßburg 1770/71, als junger Mensch, besuchte Goethe häufig die Anatomie, und zwar zu dem Zweck, sich von seiner Empfindlichkeit gegen
widerwärtige Dinge
zu befreien
(Richard Friedenthal: Goethe. Sein |a 196|Leben und seine Zeit, München 1963, S. 84)
.
AB Und er rechtfertigt dies durch das klassizistisch-ästhetische Postulat, daß das zerstörte Schöne (
der schönste Arm
) nicht noch weiter zerstört werden dürfe. Der dominanten Kulturentwicklung aber hält er entgegen, daß sie im Begriffe sei, theoretische, ästhetische und praktische Einstellungen nicht mehr in einer gebildeten Haltung integrieren zu können: Für die neue Erfindung interessiert sich nur ein
Museum
. Rembrandts These – in der von Descartes abweichenden Komponente und als ästhetischer Diskurs vorgetragen, der theoretische (Anatomie) und praktische (Sinn) Perspektiven in sich aufnehmen konnte – gehört der Vergangenheit an. Obgleich auch von Goethe noch für wahr gehalten (Wilhelms Zögern vor der Sektion ist nicht nur eine wahrhaftige, sondern auch eine richtige Reaktion; die Belehrungen des Bildhauers sind wahre Einsichten), sei die |B 103|Wahrscheinlichkeit gering, daß ein derartiges phänomenologisches Erkenntnisprojekt noch praktisch folgenreich werden könne.
[091:149] Liest man Goethes Erzählung derart als Abgesang, dann hat die Geschichte ihm recht gegeben. Der anatomisch gesehene |A 111|Körper des Menschen als leiblicher Ausgangspunkt für praktische Fragen nach der Identität des Subjektes, das ihn
hat
, war museumsreif und schon für Hogarth beispielsweise, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, nur noch ein Gegen|b 280|stand der Satire.38
|A 118||B 107||a 196|38So in Hogarths Serie The Four Stages of Cruelty (1751), vor allem in The Reward of Cruelty; vgl. Ronald Paulson: The Art of Hogarth, London 1975 (Abb. 8).
AB Versuche ich, die anatomischen Abbildungen der Encyclopédie mit Rembrandts oder Goethes Augen zu sehen, bedarf es keines Hogarth, um einen satirischen Eindruck zu haben. Ist also Goethes Meinung eine melancholische Rückschau? Sie könnte auch Vorschau sein, wenngleich in klassizistischer Manier: Die Anatomie scheint nach Goethe für den Schein des Schönen nicht mehr recht zu taugen. Die Abwendung unserer Kultur vom Körper als einer sinnkonstituierenden Gegebenheit ist offensichtlich. Zu dieser Hypothese paßt es, daß anatomische Darstellungen seitdem aus der Kunst verschwunden sind; der anatomische Körper erscheint vorzugsweise als surrealistisch verfremdete Maschine und als Ding unter der Hand von Chirurgen.
[091:150] Da liegt es nahe, die Vernunft zu halbieren. Rembrandt, so scheint mir, versuchte noch vor dieser Halbierung zu warnen, und zwar dadurch, daß er zwei verschiedene Einstellungen zum Körper/Leib in zwei ikonographischen Elementen, aber in einem Bild (Tulp) zur Darstellung brachte: szientifische Methode und hermeneutische Sinnauslegung. Das Bild ist überdies ein didaktisches Projekt; es zeigt nicht nur die Lehrbarkeit der anatomisch-wissenschaftlichen Methode, sondern lehrt zugleich – über den ikonischen Verweis auf Unterarm und Hand – ihre Relativierung, belehrt über eine Relation, deren beide Seiten aufeinander bezogen sind. Entfällt diese Vernunftbildung, werden also die beiden
Hälften
verselbständigt, dann wird es wahrscheinlich, daß Körperbilder entweder verschwinden oder nur noch als Kulturkritik gemalt werden.39
|A 118||B 107||a 196|39Zur Differenzierung des Begriffs
Kulturkritik
, besonders der
konservativen
und
progressiven
Varianten vgl. Hauke Brunkhorst: Romantik und Kulturkritik, in: Merkur, Jg. 1985, Heft 6, S. 484 ff.
AB Das hat eine pädagogisch-aktuelle Pointe: Vor allem an den quasi-therapeutischen Rändern des Bildungsgeschehens und der pädagogischen Institutionen breitet sich eine Kultur der
Körperlichkeit
aus, die – in Praxis und Meinung – die Rationalität der von Dr. Tulp und Dr. Deyman gelehrten Methode gänzlich fahren läßt, nicht nur in bezug auf das anatomische Projekt, sondern in bezug auf dessen generelle Prinzipien;
Körpererfahrung
vermittelt dann nur noch allenfalls subjektiv-gegenwärtigen Sinn und läßt nicht nur die methodische Einstellung, sondern auch die hermeneutische Sinnauslegung fahren (die es ja nicht nur mit symbolischen Repräsen|A 113|tanzen, sondern auch mit historischer Lokalisierung zu tun hat).40
|A 118||B 107||a 196|40 Vgl. dazu auch K. Mollenhauer: Anmerkungen zu einer pädagogischen Hermeneutik, in: ders., Umwege. Über Bildung, Kunst und Interaktion, Weinheim, München 1986, S. 120ff.
AB
[091:151a]
[091:151b]
[091:151c]
[091:152] Ich denke es fast. Rembrandts schauriger Schein des Schönen ist in einer wichtigen Hinsicht nicht cartesianisch, denn die genaue Unterscheidung von res extensa und res cogitans gelingt nicht angesichts der Anatomie des Dr. Deyman. Vielleicht sollte sie nicht gelingen; vielleicht erschien der Körper im Augenschein dem auf das Sinnliche angewiesenen Maler Rembrandt als das bessere Argument, wenngleich – jedenfalls für die folgenden 250 Jahre – mit geringen Erfolgsaussichten im wissenschaftlichen Diskurs. Vielleicht – so denke ich mir Rembrandts Idee beim Malen jenes Bildes – kommt der Mensch zu sich selbst nicht dadurch, daß er sich auf seine Innerlichkeit (res cogitans) konzentriert, oder dadurch, daß er sich mit dem überlieferten Topos der cognitio sui auseinandersetzt, oder dadurch, daß er die vielen, seine Subjektivität ohnehin nie erreichenden Diskurse durcharbeitet, sondern einzig dadurch, daß er
den |b 283|komplexen Gegenstand in seinem Doppelaspekt von Körperlichkeit und Innerlichkeit in Angriff
nimmt.47
|A 119||B 107||a 196|47
Helmuth Pleßner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin 1965 (2. Aufl.), S. 70
.
AB Freilich müßte diese Inangriffnahme heute durch die vielen Diskurse sich hindurcharbeiten.
|A 115|
[091:153] So stellt sich mir denn zum Schluß – um einen Freund zu zitieren – eine
angenehme Hypothese
ein: Der konservative Pädagoge Amos Comenius, der moderne Philosoph René Descartes und der avantgardistische Maler Rembrandt im Gespräch. Worüber?
ABa
– Rembrandts Anatomie-Bilder und einige Folgeprobleme
ABa
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curriculum
AB
1
1 Anton P. Tschechow an G. I. Rossolino, Jalta, 11. 10. 1899, in: A. P. Tschechow, Briefe, hg. von P. Urban, Zürich 1979.
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Jean Paul
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2
2J.-P. Sartre: Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821–1857, Bd. 1, Reinbek 1977, S. 480.
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3
3Ebd.
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» Landarzt«
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»Strafkolonie«
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»Levana«
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3aVgl. dazu auch H. Böhme/G. Böhme: Das Andere der Vernunft, Frankfurt/M. 1985, S. 50 ff.
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. Vierzig Jahre später erlebt sein Sohn Thomas das gleiche und
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Quellenmaterialien
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Anatomy of Dr. Tulp
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Abb. 2, siehe S. 98
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Abb. 2, siehe S. 82
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»Anatomia Magistri Nicolai Physici«
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analytische
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3, siehe S. 99
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3, siehe S. 83
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B
4, siehe S. 84
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3
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5, siehe S. 100
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5, siehe S. 84
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Bühne
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Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Gemäldes »Geißelung Christi« von Piero della Francesca (1459-60) zu sehen.
Abb. 1: Piero della Francesca, Die Geißelung Christi (ca. 1460)
A
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Porträt des Andreas Versalius von Jan Stephan von Calcar (1543) als Titelholzschnittes des Buches »De humani corporis fabrica septem libri« zu sehen.
Abb. 1: Titelholzschnitt aus Andreas Vesalius, De humani corporis fabrica septem libri(, Basel 1543; mit ziemlicher Sicherheit Porträt des A. Vesalius).
A
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung eines Titelholzschnittes aus Andreas Versalius »De humani corporis fabrica septem libri« aus dem Jahr 1543 zu sehen.
Abb. 2: Titelholzschnitt aus Andreas Vesalius, De humani corporis fabrica septem libri(, Basel 1543).
A
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Holzschnittes »Das anatomische Theater« von Jan Cornelis van't Woudt aus dem Jahr 1610 zu sehen.
Abb. 3: Willem Swanenburgh, Das anatomische Theater, Holzschnitt (1610).
A
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Gemäldes »Die Anatomie des Dr. Tulp« von Rembrandt aus dem Jahr 1632 zu sehen.
Abb. 4: Rembrandt, die Anatomie des Dr. Tulp (1632).
A
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Gemäldes »Jugendliches Selbstbildnis« von Rembrandt aus dem Jahr 1629 zu sehen.
Abb. 5: Rembrandt, Selbstbildnis (1629).
A
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Gemäldes »Die Anatomie des Dr. Deyman« von Rembrandt aus dem Jahr 1656 zu sehen.
Abb. 6: Rembrandt, Die Anatomie des Dr. Deyman (1656).
A
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Gemäldes »Beweinung Christi« von Andrea Mantegna aus dem Jahr 1483 zu sehen.
Abb. 7: Andrea Mantegna, Der tote Christus (zirka 1480).
A
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Holzschnittes »The reward of Cruelty« von John Bell aus dem Jahr 1790, basierend auf dem gleichnahmigen Kupferstich von William Hogarth, zu sehen.
Abb. 8: William Hogarth, the Reward of Cruelty: Holzschnitt von J. Bell ( 1751).
A
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Gemäldes »Frühstück im Atelier« von Edouard Manet aus dem Jahr 1868 zu sehen.
Abb. 9: Edouard Manet, Frühstück im Atelier (1868–69).
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Man weiß nicht, ob es eine Schrift des Galenus, des Vesalius oder eines anderen ist.
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Erläuterungen
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6, siehe S. 101
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6, siehe S. 85
ABa
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[091:136] Aber: van Loenen blickt uns an. Hier endet die Ikonographie – die übrigens schon mehrere Bücher gefüllt hat und hier nur in allerdürftigster Form zusammengefaßt werden konnte. Van Loenen blickt uns an, voll im Licht; die Augen des Leichnams aber, senkrecht unter denen van Loenens, sind im Schatten. Wen schaut van Loenen an? Ich spekuliere: Natürlich schaut er mich an und zieht mich dadurch in das Mysterium des Theatrum Anatomicum hinein.
[091:137] Ich bin, sozusagen, dieses Mal der einzige Spektateur bei diesem Spektakel (die vorderen Logenplätze waren auch damals |b 274|schon Honoratioren und alten Leuten Vorbehalten22
22Heckscher, a.a.O., S. 135.
). Ich? Vielleicht ist es Rembrandt, der Maler, selbst. Fällt der Schatten auf die Augen des Leichnams, weil der wißbegierige Kollege sich darüber beugt – oder beugt der wißbegierige Kollege sich darüber, damit der Schatten auf die Augen fallen konnte? Der Künstler kann beide Versionen wahr machen. Wenige Jahre vorher malte Rembrandt ein Porträt von sich selbst, auf dem die Augen im Schatten liegen (Abb. 6, siehe S. 855). Diese im Selbstporträt23
23Knapp drei Jahre vor dem Tulp-Bild malte Rembrandt nicht nur dieses, sondern eine Serie von Selbstporträts, bei denen alle die Augen im Schatten liegen (Christopher Wright: Rembrandt. Self-Portraits, London 1982).
realisierte Geste der gleichzeitigen Wendung nach außen und innen ist, wenngleich nur in fast flüchtiger, jedenfalls das Private nur gerade andeutender Darstellung, im Leichnam des Tulp-Bildes wiederholt. Das ist freilich eine wissenschaftlich höchst riskante Konjektur, durch nichts belegbar als durch meine eigene Projektion; sie wird später, so hoffe ich, an Plausibilität gewinnen. |B 99|Aber ich will dennoch hier schon eine ikonologische Hypothese anknüpfen: Daß die Zerlegung des menschlichen Leichnams in seine Teile ein Moment wissenschaftlich-zivilisatorischen Fortschritts sei, erschien nicht nur akzeptabel, sondern konsequent und notwendig; daß dasjenige, was es dabei zu finden, zu entdecken gab, auf einer Grenzlinie liegt zwischen wissenschaftlicher Analyse und synthetisierenden Sinn-Projekten, das war den Zeitgenossen wohl auch deutlich; daß man dies aber, über derartige Traditionsbestände hinaus, auf das eigene Ich beziehen müsse, ist Rembrandts ikonologisches Projekt.
ABa
»Anatomie des Dr. Deyman«
A
7, S. 102
B
7, S. 86
B
[091:138-139] Dieses Projekt – und damit versuche ich, meine Hypothese etwas glaubwürdiger zu machen – hat der Maler in der Anatomie des Dr. Deyman (Abb. 7, S. 866) auf eine Pointe gebracht. Dieses Bild – es wurde durch einen Brand derart beschädigt, daß nur das Zentrum übrig blieb; die ursprüngliche Fassung aber ist durch eine Projekt-Skizze Rembrandts vorstellbar – hat den feierlichen Aufbau eines Altarbildes. Auch hier gibt es kein Publikum, sondern nur das Geschehen auf der Bühne. Aber außerdem fehlt auch der wissenschaftliche Kollegen-Diskurs: nichts, was auf ein Gespräch hinwiese! Bild und Betrachter sind hier offenbar in ein anderes Verhältnis gesetzt als im Falle Dr. Tulps. Der Betrachter wird vom Bild hervorgebracht als jemand, der nicht einer wissenschaftlichen Handlung zuschaut. Als was wird er hervorgebracht? Entscheidend ist hier die Lage des Leichnams. Ich versuche, mich einer Antwort zu nähern durch drei Lesarten:
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8, siehe S. 102
B
8, siehe S. 86
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»Opera Didactica Omnia«
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»Anatomie des Dr. Deyman«
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»Meditationes«
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32 R. Descartes: Meditationes de prima philosophia, hg. von H. G. Zekl, Hamburg 1959, S. 51.
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»Anatomie des Dr. Deyman«
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Kulturerscheinung
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34Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre, Gedenkausgabe, hg. von E. Beutler, Bd. 8, Zürich 1949, S. 349.
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[091:146]
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35Ebd., S. 351.
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phänomenologisch-ästhetisches
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»The Four Stages of Cruelty«
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»The Reward of Cruelty«
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9, siehe S. 104
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9, siehe S. 87
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»Encyclopédie«
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38
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:
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AB
S. 120 ff. dieses Bandes
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.
AB
[091:151] Dies wird verständlich, wenn man das Augenmerk auf die historische Zwischenphase richtet, in der an die Stelle der medizinischen Anatomie die soziale trat, wenn schon das Projekt
»Anatomie«
, auf den Leichnam bezo|B 104|gen, keine Stätte der Sinnproduktion mehr sein konnte, sondern nur noch als Sinnzerstörung oder Sinn-Abstinenz erschien, und wenn überdies die Balance zwischen Szientismus und Sinnauslegung für das europäische Publikum noch plausibel zur Darstellung gebracht werden sollte: Der Zerlegung des Körpers folgte die Zerlegung der menschlichen Beziehungen; an die Stelle des erkalteten Leichnams tritt die erkaltete Interaktion – wie, zum ersten Mal auf die Spitze getrieben, in den Bildern Manets (Abb. 10, siehe S. 889). Rembrandt |b 281|brachte, in der spiegelbildlichen Leib-Konfrontation des Betrachters mit sich, diesen als das sich-denkende und -empfindende Ich hervor. Manet bringt den Betrachter, fern jeder Emblematik, als konfrontiert mit der Leere zwischen den Leibern, die nun nur noch opake Körper sind, hervor; das
»Zwischen«
ist nur noch durch Stilleben, nature morte, ausgefüllt; wie der Körper als unverständlich Einzelnes gemalt ist, so auch die Signifikanz seiner Gesten.
41
»Die Präsenz klassischer Motive ist unübersehbar gemacht. Als Bild zeigen diese Darstellungen aber zugleich die Stigmata der Moderne: Parzellierung des
Bildleibes
, Kompositions- und Einheitsverlust. Über die Negation herkömmlicher Bildrhetorik hinaus indiziert sich darin die Abwesenheit von
Bedeutung
, die einzig über die Lektüre szenischer Gehalte zu gewinnen wäre.«
Bernd Growe: Modernität und Komposition. Zur Krise des Wertebegriffs in der französischen Malerei des 19. Jahrhunderts, in: W. Oelmüller [Hg.], Kolloquium Kunst und Philosophie, Bd. 3, Das Kunstwerk, Paderborn 1983, S. 177
; ferner Werner Hofmann: Edouard Manet. Das Frühstück im Atelier, Frankfurt/M. 1985).
Dem ging die Entdeckung des Unbewußten in der romantischen Philosophie voraus.
42Der häufig zu lesenden Annahme, Sigmund Freud sei der
»Entdecker«
oder erste Theoretiker des
»Unbewußten«
gewesen, begegnet Odo Marquard: Zur Bedeutung der Theorie des Unbewußten für eine Theorie der nicht mehr schönen Kunst, in: H. R. Jauß (Hg.), Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, München 1968, S. 375–392.
Seitdem können die verschiedenen Diskurse als vorläufig, kann das
»Subjekt«
als etwas
»zwischen«
den Signifikanten gedacht werden; nur auf diesem Wege, in der Aufmerksamkeit auf Zwischen-Welten, in denen sich die konventionellen Repertoires vieler Zeichen-Systeme ausbreiten, ist es anscheinend überhaupt noch erreichbar.
43Literaturgeschichte von Thackeray bis Beckett überzeugend erläutert von Wolfgang Iser: Reduktionsformen der Subjektivität, in: Jauß, a.a.O., S. 435–492.
An der Stelle, an der im 17. Jahrhundert noch der Körper stand, steht nun, seit Manet, das
»Zwischen«
.
44Eigentlich beginnt diese Problemstellung schon früher, spätestens jedenfalls mit Karl Philipp Moritz’ autobiographischem Werk Anton Reiser , in dessen Vorrede (1785) es heißt, man solle in diesem Werk,
»welches vorzüglich die innere Geschichte des Menschen schildern soll, keine große Mannigfaltigkeit der Charaktere [Hervorh. K. M.] erwarten«
Nicht die
»Charaktere«
interessieren also, sondern deren Beziehungen zueinander; was K. Ph. Moritz noch so ausdrückte: das Buch solle
»den Blick der Seele in sich selber schärfen«
. Was man aber liest, ist eine Anatomie von Beziehungskonstellationen und deren Folgen. Das kommentierende Vokabular reichte offenbar noch nicht aus, um genau zu diagnostizieren, was sich in der Niederschrift des eigenen Lebens vollzog.
Zwar entschwindet der Körper nicht dem Augenschein, |b 282|aber er wird undurchdringlich (bis hin zu den Porträt-Übermalungen Arnulf Reiners) oder bloße Figur eines potentiellen Interaktionsraums, der so sinnleer bleibt, wie der sezierte Leichnam es war. Das hat eine Parallele in der pädagogischen Theorie: Vielleicht war Schleiermacher einer der letzten – in dem Sinne, in dem Goethe es war –, der noch über die Bildungsbedeutung von
»Leibhaftigkeit«
nachgedacht hatte; nach ihm beherrschten die Interaktionstheoretiker von Dewey über Mead bis zu Watzlawick das Feld; Manet allerdings wußte es früher. Nicht mehr der Körper/Leib wurde nun anatomiert, sondern die symboli|A 114|schen Gesten, die die opaken Körper verbinden und trennen.
Aber dies ist eine neuerliche Abstraktion, vergleichbar mit der, die der anatomische Habitus am menschlichen Leibe vollzieht, in dem er ihn als Körper-Ding behandelt. Wie eine Erneuerung von Rembrandts anthropologischer These liest sich, 350 Jahre später, Nietzsches Kritik:
»Es steht uns Philosophen nicht frei, zwischen Seele und Leib zu trennen. ... Wir sind keine denkenden Frösche, keine Objektivier- und Registrierapparate mit kaltgestellten Eingeweiden – wir müssen beständig unsere Gedanken aus unserem Schmerz gebären und mütterlich ihnen alles mitgeben, was wir von Blut, Herz, Feuer, Lust, Leidenschaft, Qual, Gewissen, Schicksal, Verhängnis in uns haben.«
Und auch die rigorose Reduktion des bildnerischen Zeichenrepertoires der konkreten Malerei enthält noch den gleichen Gedanken: Wenn der
»Schein des Schönen«
nur radikal genug auf die ana|B 105|tomischen Gesetze ästhetischer Produktion reduziert würde, so meinte der niederländische Maler Piet Mondrian, dann werde, in gleichsam dialektischer Gegenbewegung, die leibhafte Subjektivität des Menschen wieder erfahrbar werden.
46Piet Mondrian: Neue Gestaltung, Mainz, Berlin 1974 (erste Aufl. 1926 in den Bauhaus-Büchern).
Beginnt die
»Moderne«
also vielleicht doch mit Rembrandts Körper im Augenschein und endigt nicht im 20. Jahrhundert, sondern treibt ihre Problemstellungen lediglich auf die Spitze?
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nicht
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res extensa
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res cogitans
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»Anatomie des Dr. Deyman«
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res cogitans
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»Cognitio sui«
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45
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