Der Körper im AugenscheinABa√
Rembrandts Anatomie-Bilder und einige Folgeprobleme
1. Die Ausgangslage
2. Zwei Bilder
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–[091:131] Nicht nur Dr. ist bekannt, sondern auch alle seine beteiligten Kollegen; dies unter anderem deshalb, weil nachträglich das Blatt, das der hinterste der Teilnehmer in der Hand hält und das ursprünglich eine anatomische Zeichnung trug, mit den Namen der Beteiligten übermalt wurde. Auch der Kollege am äußersten linken Rand wurde später hinzugemalt. Ob , die am höchsten plazierte Figur, ursprünglich einen Hut trug oder nicht, darüber gibt es Streit in der Fachwelt. Auch der Name des Leichnams ist bekannt. Es handelt sich also um ein Gruppenporträt, eine bezahlte Auftragsarbeit, ein„Trionfo“18 des Dr. inmitten seiner Mitarbeiter, so wie der zuvor erwähnte Holzschnitt ein„Trionfo“des war.
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–[091:132] Das Buch vorne rechts ist offensichtlich ein anatomisches Lehrbuch. ABa√ Als ziemlich sicher kann gelten, daß es sich um De humani corporis fabrica des Vesalius handelt.19AB√ Ikonographisch wichtig ist dieses Bildelement, weil es eine historische Brücke baut: Überlieferte Meinung, in Büchern bewahrt, wird an der augenscheinlichen Erfahrung überprüft.
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–[091:133] Dr. hat offensichtlich seine Sektion mit dem Aufschneiden der Hand begonnen. Das nun war gegen alle Regel, denn man begann mit der Bauchdecke. Entweder ist das widersinnig, falsch oder – es ist symbolisch! Da man von dem präzisen Beobachter das erste nicht annehmen kann, muß das zweite wahr sein. Dies zu akzeptieren fällt uns leicht, da von dem symbolischen Topos von Unterarm und Hand schon die Rede war: Dr. also führt uns diesen |b 273|Topos vor, der besagt, daß in der Bauform der menschlichen Hand die Weise des menschlichen Daseins, im Unterschied zum tierischen, ausgezeichnet sei.
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–[091:134] Etwas schwieriger schon ist die Identifikation der Gebärde . Er soll ursprünglich, wie Dr. selbst, einen |A 106|Hut getragen haben.20AB√ Das würde passen, wenn man akzeptieren könnte, daß AB√ und die beiden nicht nur porträthaft, sondern auch emblematisch herausgehobenen Figuren sind. Nicht nur Position im Bild, sondern auch die Geste seiner rechten Hand spricht dafür! Diese Hand ist in der Kollegen-Gruppe ein ikonisches Zentrum; es ist der ausgestreckte Zeigefinger des aus der überlieferten Ikonographie, wenngleich bürgerlich-profan zurückgenommen, gleichsam unaufdringlich dem Betrachter zu denken gebend. Siehe da! Und ist auch die einzige Figur, die zweifelsfrei dem Betrachter des Bildes in die Augen sieht.
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–[091:135] Ikonographisch können wir also sagen: Bild-Diskurs führt uns eine Argumentationskette vor, die, grob und knapp gesprochen, so verläuft: Der berühmte Anatom Dr. seziert eine Leiche, kontrolliert dabei seine Operation an der Überlieferung (das Buch rechts im Bild), stellt dies in der Community of Scientists vor den kritischen Kollegenblicken auf die Probe21, demonstriert zudem – eine emblematische Opposition zum naiven Realismus – die anthropologische Würde seines Gegenstands (dadurch, daß er mit der Sektion der Hand beginnt); , jedenfalls schlägt uns dies vor, bekräftigt diesen Willkürakt durch den Hinweis: Dieser Leib ist nicht nur dieser Leib!
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–[091:140] Die Ähnlichkeit mit einem (Abb. 7) wurde in der Fachliteratur schon diskutiert.24AB√ Diese Lesart verweist auf Vergangenheit, auf Traditionen des ästhetischen Diskurses. Seit der Kunsttheorie der italienischen Renaissance25 signifizieren die scorci , die perspektivischen Verkürzungen, besonders des menschlichen Körpers, große Meisterschaft. Also ein -Imitat? In der Konkursmasse , die 1656 versteigert wurde, befand sich ein Foliant mit Bildern (vermutlich Kopien).26AB√
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–[091:141] Die zweite Lesart führt mich in gleichsam entgegengesetzte Richtung. In den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts empfahl uns der Anthropologe in seinen Lehrveranstaltungen eine selbstreflexive Übung, die jeder machen sollte, der beginnt, über Probleme der philosophischen Anthropologie nachzudenken: Man sollte sich hinlegen, an seinem Körper entlang bis auf die Füße schauen und dabei genau registrieren, was man sieht, und was das, was man sieht, bedeutet! (oder auch ) zeigt uns den spiegelbildlichen Fall. Hängt damit die eigentümliche Faszination zusammen, die derartige Bilder haben?
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–[091:142] Die dritte Lesart ergibt sich nun fast wie von selbst: Von 1629 bis 1649 lebte in Holland, zumeist in Amsterdam. Sein Discours wurde 1637 in Leydengedruckt (also erst nach der , |B 100|aber vor der ). Zeitlebens war leidenschaftlicher Amateur-Anatom. Wir können wohl annehmen, daß beide, und , sich während der anatomischen Winter-Saison gelegentlich sahen. Und da Dr. auch ein Gönner des in diesem Zeitraum in Amsterdam weilenden , dieser wiederum auch mit persönlich bekannt war, ist es möglich, daß alle drei gelegentlich zusammentrafen.27AB√ Sollte nicht vielleicht auch dabei gewesen sein? Und könnte es nicht ebenso wahrscheinlich sein, daß bei solchen oder anderen Gelegenheiten und über„cogtito ergo sum“sprachen? Ist also die ein cartesianisches Bild?