Erziehung als Interaktion [Textkritische interaktive Ansicht mit a als Leittext]
|a [260]|

Interaktion

[047:246] Die im ersten Kapitel vorgetragenen Erwägungen, besonders in den letzten Abschnitten, knüpfen an eine Forschungstradition an, auf die schon verschiedentlich hingewiesen wurde und die für die Sozialisationstheorie neuerdings von immer größerer Bedeutung wird. Von der Pädagogik hätte sie eigentlich schon längst rezipiert werden sollen, da in ihr die Genese und die Struktur von Interaktion zum Grundthema der Sozialisationstheorie gemacht wird. Dieser Ansatz – vom Pragmatismus des Ch. Peirce1
| 285|1Ch. Peirce: Schriften, Bd. 2: Vom Pragmatismus zum Pragmatismus. Frankfurt 1970.
herkommend und über G. H. Mead2
| 285|2G. H. Mead: Geist, Identität, Gesellschaft. Frankfurt 1968.
, Goffman3
| 285|3E. Goffman: Encounters. Two studies in the sociology of interaction. Indianapolis 1961.
, Strauss4
| 285|4A. Strauss: Spiegel und Masken. Die Suche nach Identität. Frankfurt 1968.
, Bateson u. a.5
| 285|5G. Bateson (u.a.): Familie und Schizophrenie. Frankfurt 1968.
, Laing6
| 285|6R. D. Laing/H. Phillipson/A. R. Lee: Interpersonelle Wahrnehmung. Frankfurt 1971.
, Watzlawick u. a.7
| 285|7P. Watzlawick/J. H. Beavin/D. D. Jackson: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Bonn/Stuttgart 1969.
nun auch in die deutsche sozialisationstheoretische (Habermas8
| 285|8J. Habermas: Thesen zur Theorie der Sozialisation (Vorlesung, 1968).
; Krappmann9
| 285|9L. Krappmann: Neuere Rollenkonzepte als Erklärungsmöglichkeit für Sozialisationprozesse. In: Familienerziehung, Sozialstatus und Schulerfolg, hrsg. von der b:e-Redaktion, Weinheim 1971.
; Oevermann10
| 285|10U. Oevermann: Sprache und soziale Herkunft. Berlin 1970.
) und erziehungswissenschaftliche (Baacke11
| 285|11D. Baacke: Aspekte einer Vermittlung von Kommunikations- und | 286|Erziehunswissenschaft. In: D. Hoffmann/H. Tütken (Hrsg.): Realistische Erziehungswissenschaft, Hannover 1972, S. 11 ff.
; Loch12
| 286|12W. Loch: Einleitung zu: A. R. Lurija/F. I. Judowitsch, Die Funktion der Sprache in der geistigen Entwicklung des Kindes, Düsseldorf 1971.
) Diskussion eindringend – ist deshalb für die erziehungswissenschaftliche Forschung vielversprechend, weil er die Chance einer Wendung vom manipulativen zum kommunikativen Erziehungsverständnis begründen helfen und damit unsere Erziehungskonzepte erweitern könnte. Im folgenden soll nun allerdings nicht diese Theorie-Geschichte dargestellt werden, sondern es geht nur um jene Forschungsteile, die im Zusammenhang dieses Textes von besonderer Bedeutung scheinen. In diesem Sinne soll (noch einmal) von der Struktur der Interaktion, von den Grundsachverhalten des interpersonellen Handelns, der Beziehungsproblematik und dem Identitäts-Konzept die Rede sein.
|a 261|

1. Struktur der Interaktion

[047:247a] Unter den oben genannten Theorien spielt die von G. H. Mead die bedeutendste Rolle. Das von ihm entwickelte Paradigma für die Struktur der menschlichen Interaktion stellt seit seiner ersten Veröffentlichung 1934 den ausgesprochenen oder unausgesprochenen Bezugspunkt aller einschlägigen Erörterungen dar. Ch. Morris, Schüler Meads, faßt dessen Theorie in einer These zusammen:
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[047:247c] Eine Interaktion im Medium
signifikanter Symbole
– so nennt Mead die sprachlichen Zeichen im Unterschied zu
vokalen Gesten
– etabliert eine Situation,
[047:247d]
in der der einzelne in sich selbst Reaktionen auslösen und auf sie reagieren kann unter der Bedingung, daß der gesellschaftliche Reiz auf ihn die gleiche Wirkung ausübt wie auf andere
14
| 286|14G. H. Mead: a. a. O., S. 187.
.
[047:247e] In der durch signifikante Symbole vermittelten oder strukturierten Situation geschieht also folgendes: A richtet mit Hilfe eines signifikanten Symbols eine Erwartung an B; er unterstellt dabei, daß B ihn versteht; die von B nun zu erwartende Handlung kann von A antizipiert werden, und zwar aufgrund einer Eigentümlichkeit signifikanter Symbole: sie lösen nämlich im Sprecher die gleiche Reaktion aus wie im Hörer; nichts anderes heißt
verstehen
; es werden Symbole verwendet, die für mehrere die gleiche Bedeutung haben; infolgedessen kann A nun auch noch antizipierend den nächsten Schritt tun: die Vollendung seiner eigenen Handlung als Reaktion auf die Handlung Bs ins Auge fassen. Die so beschriebene Struktur reziproker Erwartungen, Antizipationen und ihrer symbolischen Präsentation ist nicht nur etwas, nach dem äußerlich beschreibbar die Interaktion abläuft, sondern es ist auch
in
den Individuen: ein kognitives Grundmuster der menschlichen Interaktion, das A und B teilen.
[047:248] Die Bedeutung einer sprachlichen Geste liegt also nicht nur in |a 262|der unmittelbaren Wirkung, die sie zur Folge hat (die Response des Interaktionspartners), sondern darüber hinaus in der Vorwegnahme der weiteren Interaktionsschritte durch die an der Interaktion beteiligten Individuen. Menschliche Interaktion ist so dadurch charakterisiert, daß sie schon im Ansatz zweierlei enthält: die Bindung an die geteilten Bedeutungen eines gesellschaftlichen Kontextes und die relative Freiheit von den Faktoren einer situativen Gesamtdynamik, der der Organismus ohne die Fähigkeit, über signifikante Zeichen verfügen zu können, verhaftet bliebe.
[047:249] Die symbolische Interaktion in diesem Sinne setzt also die Verwendung von Symbolen voraus, die allgemeine Anerkennung haben, die gleiche Bedeutung für verschiedene Individuen haben und imstande sind, die Allgemeinheit von Beziehungen |A1 A2 A3 86|auszudrücken.
Man kann nichts sagen, was absolut partikulär wäre; alles, was sinnvoll gesagt wird, ist allgemein
15
| 286|15G. H. Mead: a. a. O., S. 189.
, und zwar insofern, als alle signifikanten Symbole ein gesellschaftlich Allgemeines enthalten. Es liegt demnach in der Natur der menschlichen Interaktion, daß das Individuum, indem es spricht, immer auch mit den Intentionen der anderen spricht. Und umgekehrt gilt, daß ein Individuum, wenn es etwas sagt, zu sich selbst auch das sagt, was es zu anderen sagt;
andernfalls wüßte es nicht, worüber es spricht
16
| 286|16G. H. Mead: a. a. O., S. 189.
.
[047:250a]
[047:250b]
[047:250c]
[047:251a]
[047:251b]
[047:251c]
[047:252] Wie aber kommt es zu jenem Übergang vom individuellen Rol|a 264|lenspiel zum Gruppenspiel, zu jenem Befolgen von Regeln und der Dauerhaftigkeit des damit verbundenen Verhaltens? Auch dies muß durch die Struktur der Interaktion erklärt werden können. Zu diesem Zweck führt Mead den Begriff des
verallgemeinerten Anderen
(generalized other) ein. Am individuellen Rollenspiel wird deutlich, daß das Kind kraft seiner Fähigkeit, signifikante Symbole verwenden zu können, sich als ein
Selbst
sehen, auf sich selbst reagieren kann.
[047:253]
19
| 286|19
A1A2A3
[047:254] Die Symbole, die das Kind in seinen Interaktionen verwendet, sind – wir erinnern noch einmal daran – von geteilter Bedeutung, auf Situationen bezogen, in denen Interaktion stattfand und möglich ist. Dies ist die Bedingung dafür, daß das Kind |A1 A2 A3 88|auch Erwartungen akzeptieren kann, die über die unmittelbar gegebene Situation hinausgehen, und zwar nach Maßgabe seines Fortschrittes im Erwerb signifikanter Symbole. Jenes Gruppenspiel ist ein Beispiel für solche Erwartungen. Das Kind aber kann sie nur erfahren in einem
pädagogischen
Kontext, d. h. im Zusammenhang einer interagierenden Gruppe, in der Erwartungen und Reaktionen wiederkehren und das Allgemeine in den Symbolen nicht auf Zweier-Beziehungen oder einzelne Situationen beschränkt bleibt, sondern sich als relativ stabile soziale Struktur, als Struktur der Interaktion, etabliert und dem Kinde auf diese Weise ein relativ dauerhafter sozialer Ort, eine Identität ermöglicht wird.
[047:255]
20
| 286|20
A1A2A3
[047:256] Korrespondierend mit dieser dem Individuum gegenüber als äußerlich beschriebenen Instanz des
verallgemeinerten Anderen
muß eine entsprechende
innere
Instanz angenommen werden. Sie ist in dem obigen Zitat von Mead im Grunde auch schon mitbeschrieben, wenn er sagt, daß ein Kontext von Erwartungen nur insofern als
verallgemeinerter Anderer
zu bestimmen ist, als dieser
in die Erfahrung jedes einzelnen Mitgliedes eintritt
, d. h. sich dort zu einer kognitiven Struktur organisiert. Im Individuum entsteht ein Zusammenhang von Interaktions-Orientierungen, den es mit den Mitgliedern der Gruppe teilt, der zu ihm
selbst
gehört und den es als
sich selbst
im Sinne eines sinnvoll interagierenden Subjektes bestimmen kann. Mead nennt diese Instanz das
Me
(das
Mich
, oder – in der hier zitierten Übersetzung – das Ich), und zwar im Unterschied zum
I
(
Ich
), das sich vom
Me
noch einmal distanziert erfahren kann. (Diese problematische Unterscheidung kann indessen hier unerörtert bleiben.)
[047:257] Unter gesellschaftlichen Bedingungen laufen diese Prozesse nicht willkürlich ab, sondern sie werden – zumal innerhalb von Erziehungsverhältnissen – gesteuert. Das geschieht dadurch, daß die möglichen Interaktionen, in die das Kind geraten kann, |A1 A2 A3 89|begrenzt sind und Regelmäßigkeit zeigen: Mit bestimmten Individuen (zum Beispiel Familienmitgliedern) interagiert es häufiger, bestimmte Individuen (zum Beispiel Eltern, Lehrer) verfügen über Sanktionsmittel und damit über Einfluß auf die verwendeten Interaktionsmuster. Es müssen also – vor der Entstehung des
Me
und an seiner Bildung beteiligt – besonders bedeutsame Interaktionspartner angenommen werden:
signifikante Andere
, die im Falle von durch Macht gestützten Einflußchancen sogar als
autoritative Andere
in Erscheinung bzw. in den Interaktionsprozeß eintreten.
21
| 286|21
A1A2A3
[047:258]
22
| 286|22
A1A2A3
[047:259] Aus den bisher beschriebenen Begriffen und ihrer Beziehung zueinander ergibt sich das folgende schematische Struktur-Bild von Interaktion:
Hier ist ein Schaubild zur Struktur von Interaktion in Anlehnung an Gerth⁠ und Mills⁠ zu sehen.
|A1 A2 A3 90|

2. Das
interaktionistische Rollenmodell

[047:260] Im Anschluß an das von Mead entwickelte Paradigma haben insbesondere die
symbolischen Interaktionisten
Goffman und Strauß einzelne Fragen noch deutlicher herauszuarbeiten versucht. Dabei richtete sich dieser Versuch unter anderem gegen das sozialisationstheoretische Konzept von Parsons, demgegenüber nun die sogenannte
kritische Rollentheorie
ins Feld geführt wurde, in der deutschsprachigen Diskussion vor allem von Habermas23
| 286|23J. Habermas: a. a. O.
, Krappmann24
| 286|24L. Krappmann: a. a. O.; ders.: Soziologische Dimension der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen. Stuttgart 1971.
und Oevermann25
| 286|25U. Oevermann: a. a. O.
. G. H. Mead könnte noch so interpretiert werden, als unterstelle er für den Normalfall eine vollkommene Entsprechung der sozialen Erwartungen an das Individuum und dessen eigene Orientierungen und Handlungsimpulse. Nimmt man indessen denjenigen Teil seines Paradigmas ernst, in dem gerade der symbolische Charakter der Interaktion, d. h. Antizipation, Reziprozität, Vergegenständlichung und damit auch Inter|a 267|pretation von Verhaltenserwartungen, hervorgehoben wird, dann zeigt sich, daß Interaktionsspielräume, Aushandeln von Beziehungsdefinitionen und Regeln sowie Umorganisieren von Regeln durchaus zur
normalen
Interaktion gehören, daß also
geteilte Bedeutung
Inkongruenzen zuläßt, ja daß solche durch die Verschiedenartigkeit von Individuen (vgl. das
I
) und Situationen sogar unausweichlich sind und damit zu den wesentlichen Bestandteilen der Interaktionsstruktur gehören. Eben dieser Punkt interessiert – unter anderem – den symbolischen Interaktionismus. Er richtet sich damit vor allem gegen die folgenden Annahmen einer
traditionellen
Rollen- und Sozialisationstheorie.26
| 286|26Vgl.
(Wir erörtern damit hier noch einmal ausführlich, worauf bereits bei der Diskussion von Erziehungszielen hingewiesen wurde:)
[047:261]
[047:262]
[047:263]
[047:264]
[047:265]
[047:266]
[047:267] Diese Annahmen sind offenbar sinnvoll, sofern die relative |a 268|Gleichförmigkeit des Verhaltens verschiedener Personen in gleichen sozialen Situationen erklärt werden soll. Sie
[047:268] A1A2A3
28
| 286|28
A1A2A3
[047:269] Aber unter welchen Umständen ist so etwas schon in reiner Form der Fall? Goffman hat – mit einer feinen impliziten Ironie – beschrieben, unter welchen Bedingungen dieses Modell Gültigkeit beanspruchen kann: in totalen Institutionen, in denen den Individuen tatsächlich kaum eine Wahl bleibt, als sich dem institutionalisierten System von Erwartungen, Bedürfnisbefriedigungen und Interaktionsregeln zu unterwerfen. Das ist in psychiatrischen Anstalten, im Militär, der Tendenz nach in Erziehungsheimen, Schulen und arbeitsteiligen Produktions- oder Distributionsbetrieben der Fall. Die
repressive
Tendenz solcher Einrichtungen besteht gerade darin, die in der Struktur der Interaktion vorgezeichneten Spielräume zu beschneiden, was sich an der spezifischen Deformation zeigen läßt, die dort der kommunikativen Kompetenz der Individuen mehr als andernorts zugefügt wird. Für den
Normalfall
ist deshalb |A1 A2 A3 92|ein Paradigma der Interaktion zu wählen, im Vergleich zu dem die totale Institution als der
pathologische
Grenzfall erscheint. Aus diesem Grunde postuliert das
interaktionistische Rollenmodell
(statt
Rolle
ist es hier zulässig und meines Erachtens sogar sinnvoller, von
Interaktion
zu sprechen), daß
  1. [047:270]
    Rollennormen nicht rigide definiert sind, sondern einen gewissen Spielraum für subjektive Interpretation durch die Rollenpartner lassen; daß
  2. 2.
    [047:271]
    die Rollenpartner im jeweiligen Interaktionsprozeß nicht nur die gerade aktuelle Rolle übernehmen, sondern zugleich verdeutlichen, welche weiteren Rollen sie noch innehaben oder früher innehatten; daß
  3. 3.
    [047:272]
    mehr als ein vorläufiger, tentativer und kompromißhafter Konsens der Partner über die Interpretation ihrer Rollen im Regelfall nicht zu erreichen und auch nicht erforderlich ist.
  4. |a 269|
  5. 4.
    [047:273]
    Dieses Modell geht ferner gerade davon aus, daß die individuellen Bedürfnisdispositionen den institutionalisierten Wertvorstellungen nicht voll entsprechen. Somit müssen nach diesem Modell
  6. 5.
    [047:274]
    die Rollenpartner für die Sicherung des Fortgangs von Interaktion fähig sein, auf die von den eigenen verschiedenen Bedürfnisdispositionen des anderen einzugehen und auch unter Bedingungen unvollständiger Komplementarität, d. h. nur teilweise Befriedigung eigener Bedürfnisse, zu interagieren.
  7. 6.
    [047:275]
    29
    | 286|29
[047:276] Mit diesen Thesen wird die theoretische Aufmerksamkeit zunächst ganz auf das Geschehen zwischen den Interaktionspartnern, d. h. auf die genauere Bestimmung ihrer Beziehung gerichtet. Das interaktionistische Modell gibt zwar die Richtung weiterer Bestimmung und Analysen an, bleibt in diesem Stadium aber noch relativ abstrakt. Denn: Was geschieht im einzelnen, wenn eine Kommunikation aufgenommen wird? Nach welchen Regeln verfahren die Partner? Was wird auf welche Weise mitgeteilt? Diesen Fragen ist – wie wir schon im ersten Kapitel sahen – Watzlawick in verschiedenen Dimensionen nachgegangen. Aber er hat dabei unter anderem nur aufgenommen und systematisiert, was im Bereich speziellerer Forschungsrichtungen bereits erarbeitet worden war: im Kreis derjenigen Forschungsgruppe vor allem, die sich mit Fragen einer kommunikationstheoretisch orientierten Therapie sogenannter schizophrener Patienten und Familien befaßte .30
| 286|30
|A1 A2 A3 93|

3. Die
Beziehungsfalle

[047:277] Von Mead wie auch von Gerth/Mills wurde darauf hingewiesen, welche Bedeutung bei der Bildung des
Me
den primären Bezugspersonen (signifikanten Anderen) und den Beziehungen zu ihnen zukommt. Wie das Individuum sich zu sehen lernt, wie es sich in Beziehung zu anderen bestimmt, wie es konkret solche Beziehungen |a 270|aufnimmt und unterhält, welches
Selbst
es ausbildet, ist von der Art der Beziehung zu diesen Bezugspersonen entscheidend abhängig. In dem Maße, in dem im Verlauf einer Biographie immer andere, gesellschaftlich immer allgemeinere Gültigkeit repräsentierende signifikante Andere, auch in der Form von Bezugs-Kollektiven, in den Interaktionshorizont des Individuums eintreten, läßt sich das Beziehungsproblem auf verschiedenen Ebenen denken, die sowohl nach Maßgabe lebensgeschichtlicher wie auch gesellschaftlich-objektiver Kriterien angenommen werden können. Jedenfalls scheint es so zu sein, daß die Beziehungsphänomene, will man sie systematisch betrachten, im Rahmen einer kontrollierten Erweiterung des gesellschaftlichen und biographischen Kontextes interpretiert werden müssen.
[047:278] Auf der dem einzelnen Fall, der besonderen Situation am nächsten liegenden Ebene ist eine, wie ich meine, der erziehungswissenschaftlich folgenreichsten Hypothesen zur Aufklärung primärer Beziehungsprobleme entwickelt worden: die
double-bind-Hypothese
oder die Hypothese von der
Beziehungsfalle
.
Sie wurde zwar im Rahmen der Therapie von Schizophrenen entwickelt; dieser Ursprung aber ist hier uninteressant, da sie ein generelles Struktur-Problem von Interaktionen und des Sozialisationsprozesses aufwirft. Diese Hypothese läßt sich am besten mit Hilfe des Beispiels beschreiben, das Haley31
| 286|31
gibt:
[047:279]
|A1 A2 A3 94|
[047:280] Was geschieht in dieser Situation? Die Interaktion findet offenbar auf zwei
Kanälen
statt, auf einem verbal-expliziten und einem zweiten, in dem mit Hilfe nichtverbaler Gesten zusätzliche Botschaften ausgetauscht werden können (nach Watzlawick: digitale und analoge Kommunikations-Modalitäten, hier auf der |a 271|Beziehungsebene). Die Mitteilungen auf beiden Kanälen können kongruent sein, sie müssen es aber nicht. Im vorliegenden Fall sind sie es offensichtlich nicht. Für das Kind entsteht in dieser Situation das Problem, auf welche der beiden Mitteilungen es reagieren soll. Denn die beiden Mitteilungen sind nicht nur nicht kongruent, sondern sie sind widersprüchlich. Da die in den beiden Mitteilungen zum Ausdruck gebrachten Erwartungen sich ausschließen (
Komm zu mir!
Bleib mir fern!
), kann das Kind auf keine der beiden reagieren, ohne die andere zu verletzen. Es sitzt in einer
Beziehungsfalle
oder befindet sich – wie Watzlawick das nennt – in einer paradoxen Kommunikations-Situation. Es löst dieses Dilemma durch ein Verhalten, das im Hinblick auf die beiden widersprüchlichen Beziehungsdefinitionen der Mutter uneindeutig ist und eigentlich jede der beiden Mitteilungen zu negieren vorgibt: es wendet sich einem anderen Sachverhalt (dem Knopf) zu.
[047:281] Die Differenz zwischen den Mitteilungen auf den beiden
Kanälen
muß nicht als Widerspruch angenommen werden; es genügt die Annahme, daß es sich um nichtkongruente Mitteilungen handeln kann, um daran festzuhalten, daß es sich hier um eine für die Aufklärung pädagogischer Probleme außerordentlich fruchtbare Hypothese handelt. Double-bind-Interaktionen gehören zu jedem Erziehungsalltag. Problematisch allerdings werden sie in dem Maße, in dem sie regelmäßig wiederkehren und für einzelne Individuen typische Interaktionen sind, denen sie konfrontiert werden. Wir können dann – im Sinne der Hypothese – annehmen, daß, je ausgeprägter sich solche Inkongruenzen zu dauerhaften Interaktionsmustern verdichten, die Chancen zur Metakommunikation und damit zur Bewältigung dieser Lage im Sinne einer Emanzipation aus den Bedingungen, die sie herbeiführen, unwahrscheinlicher werden. Mir scheint, daß es sich bei dieser Hypothese nicht um ein unerhebliches Detail handelt, sondern um eine Vermutung, die eine Art Basis-Merkmal unserer Art, mit der jungen Generation umzugehen, zum Vorschein bringt. Besonders betroffen scheinen davon diejenigen Gruppen zu sein, die sich in stärker abhängigen sozialen Positionen befinden. Die im zitierten Beispiel |A1 A2 A3 95|geschilderte Interaktion häuft sich vermutlich dort, wo das Kind ein für das Ehe-Subsystem oder die Familie im ganzen schwer zu bewältigendes |a 272|Problem darstellt.32
| 286|32H.-E. Richter: Eltern, Kind und Neurose. Stuttgart 1963; derselbe: Patient Familie. Reinbek 1970.
So ist ferner etwa in Erziehungsheimen eine Differenz zwischen zwei nicht zu vereinbarenden Erziehungsstilen und den darin enthaltenen Beziehungsdefinitionen zu beobachten: eine am Modell der bürgerlichen Kleinfamilie orientierte Beziehungs- und Verhaltenserwartung und ein offizielles Umgangs-Reglement, das gerade die eher punitiven und individuelle Eigentümlichkeiten vernachlässigenden Merkmale des Erziehungsstils der unteren sozialen Schichten reproduziert.33
| 286|33Vgl. ; .
Für englische Arbeiter-Eltern, deren Kinder sich in weiterführenden Schulen befinden, ist eine ähnliche Situation beschrieben worden: Einerseits erwartet die Schule, das Lehrer-Kollegium, daß sie Interesse für die Schule zeigen, andererseits stellt sich die Schule den Eltern gegenüber in einer Form dar (die vielen Fremdheitserlebnisse, die Arbeiter-Eltern sehr konkret mit der höheren Schule haben), die nicht als positives Beziehungsangebot interpretiert werden kann.34
| 286|34Vgl. .
Kinder solcher Eltern selbst befinden sich in unseren Bildungsinstitutionen vermutlich in einem ähnlichen Konflikt, sofern ihnen einerseits Aufmerksamkeit entgegengebracht wird, man damit aber die Erwartung verknüpft, daß sie die Erfahrungen ihrer sozialen Herkunft besser ignorieren oder verleugnen.
[047:282] Also nicht nur im Bereich der primären Sozialisation – obwohl sie dort ihren eigentlichen Ort hat und ihre Fruchtbarkeit am nachdrücklichsten erweisen konnte –, sondern auch im sekundären Bereich der Bildungsinstitutionen scheint uns die
double-bind-Hypothese
eine produktive Annahme zu sein. In den durch solche Konstellationen herbeigeführten Konfliktsituationen entsteht ein Lösungs-Dilemma, das nur dann ausweglos und entschieden pathogen ist, wenn es keine Alternative von
signifikanten Anderen
gibt. Für den anderen Fall haben Gerth/Mills das Konstrukt des
intimen Anderen
vorgeschlagen: ein Interaktionskontext, der alternativ die unbefriedigt gebliebenen Erwartungen und Beziehungsbedürfnisse befriedigen kann. Neger-Kinder zum Beispiel, die in einem Text, in dem schwarze und weiße Puppen bewertet werden mußten, die schwarzen Puppen negativ bewerteten und sich damit der von der dominanten rassistischen Kultur der Weißen etablierten Beziehungsdefinition anschlossen, also ein negatives Selbstbild |A1 A2 A3 96|hatten, finden vermutlich in ihrer eigenen sozialen und ethnischen |a 273|Subkultur eine Möglichkeit, den Konflikt durch einen Rückzug auf die
intimen Anderen
dieser primären Bezugsgruppe zu ertragen.
Solidarische
Beziehungen in unterprivilegierten Gruppen und die sogenannte status-orientierte Stabilität von Unterschicht-Subkulturen sind auf diese Weise nicht nur erklärbar; sie erweisen sich darüber hinaus nicht nur im Rahmen politischen Kampfes, sondern auch pädagogisch als sinnvoll und bisweilen notwendig.
[047:283] Angesichts solcher Beispiele wird deutlich, daß auch die Frage nach der Lösung von Beziehungsproblemen auf verschiedenen Ebenen gestellt werden muß. Zwar läßt sich die allgemeine Form der pädagogischen Aufgabe als
Organisierung oder Umorganisierung des Interaktionsfeldes
bestimmen. Diese Organisierung aber stellt auf den verschiedenen Ebenen je besondere Probleme: Durch ökonomische Verhältnisse erzeugte Beziehungsprobleme stellen für die pädagogische Intervention offenbar andere Fragen und Aufgaben als diejenigen Beziehungsprobleme, deren Genese zureichend aus dem primären Interaktionszusammenhang verständlich gemacht werden kannA1A2A3 und von dem deshalb auch sinnvoll angenommen werden kann, daß er direkt durch pädagogisch-kommunikatives Handeln auf den Weg der Veränderung gebracht werden mag. Der Modellfall für diese Ebene der Problemlösung ist die Therapie; ihr am nächsten stehen die Interaktionsprobleme der Familie und von Kleingruppen (Gruppendynamik). Für diese gleichsam elementare Ebene hat Watzlawick im Hinblick auf die double-bind-Situation zusammenfassend die folgenden Bestandteile behauptet:
  1. 1.
    [047:284]
    Zwei oder mehrere Personen stehen zueinander in einer engen Beziehung, die für einen oder auch alle von ihnen einen hohen Grad von physischer und/oder psychischer Lebenswichtigkeit hatA1A2A3 ...
  2. 2.
    [047:285]
    In diesem Kontext wird eine Mitteilung gegeben, die a) etwas aussagt, b) etwas über ihre eigene Aussage aussagt und c) so zusammengesetzt ist, daß diese beiden Aussagen einander negieren bzw. unvereinbar sindA1A2A3 ...
  3. 3.
    [047:286]
    Der Empfänger dieser Mitteilung kann der durch sie hergestellten Beziehungsstruktur nicht dadurch entgehen, daß er entweder über sie metakommuniziert (sie kommentiert) oder sich aus der Beziehung zurückzieht ...
    35
    | 286|35
    A1A2A3
  4. 4.
    [047:287]
    Wo Doppelbindungen von längerer oder sogar chronischer Dauer sind, werden sie zu gewohnheitsmäßigen und schwer beeinflußbaren Er|a 274|wartungen hinsichtlich der Natur menschlicher Beziehungen und |A1 A2 A3 97|der Welt im allgemeinen, und diese Erwartungen bedürfen schließlich keiner weiteren Verstärkungen.
  5. 5.
    [047:288]
    Das durch Doppelbindungen verursachte paradoxe Verhalten hat selbst doppelbindende Rückwirkungen, und dies führt zu sich selbst verewigenden Kommunikationsstrukturen
    36
    | 286|36
    – sofern nicht durch Interventionen der Zirkel aufgebrochen wird.
[047:289] Die grundlegende Bedeutung von Beziehungsproblemen, die in dieser Hypothese zum Ausdruck gebracht wird, hat – mehr oder weniger explizit – natürlich die Psychoanalyse von Anfang an beschäftigt. Neuerdings – jedoch noch vor Watzlawick – haben
Laing/Phillipson/Lee37
| 286|37
genau dieses Problem, die Frage nämlich, von welcher Struktur eigentlich die Beziehung zwischen Individuen und damit auch die hier zu erwartenden Probleme seien, zum Ausgangspunkt ihrer Arbeiten gemacht. Anlaß dafür – nach Laings eigenen Angaben – war die Beobachtung, daß er in der therapeutischen Interaktion mit dem Patienten nur schwer die in psychiatrischen Lehrbüchern enthaltenen Beschreibungen des Verhaltens der Patienten wiedererkennen konnte. (Eine solche Erfahrung ist für den Pädagogen gewiß nachvollziehbar angesichts der Stereotype vom
unbegabten Schüler
,
delinquenten Jugendlichen
, der
verwahrlosten Familie
, dem
Autoritarismus des Unterschicht-Vaters
usw.). Er folgerte daraus, daß jede genaue Diagnose, und folglich auch der therapeutische Weg, nicht von einem verdinglichten Bild des Patienten, sondern vom Patienten als einem Kommunikationspartner auszugehen habe. Er nennt diese Wendung das Überführen eines verdinglichten
Prozesses
, dessen die Individuen selbst nicht mächtig sind, in die
Praxis
einer Kommunikation, in der Verständigung auf der Ebene des Patienten geschieht. Solche Verständigung aber muß ausgehen von dem Sinnzusammenhang, der sich in den Interaktionsstrukturen des Patienten darstellt. Die allgemeine Bedeutung dieses Gedankens wird plausibel, wenn wir statt von
Therapie
von pädagogischer Kommunikation und statt vom
Patienten
von den Partnern solcher Kommunikation sprechen. Außerdem ist es wichtig, darauf hinzuweisen, daß die von Laing behauptete
Verdinglichung
nicht nur in Lehrbüchern oder in der objektivierenden Wissenschaft |a 275|geschieht, sondern dort nur fortgesetzt wird, was im Handeln der Institutionen fortwährend geschiehtA1A2A3. Für eine solche Überführung von
Prozeß
in
Praxis
ist entscheidend, daß ein deutliches Bewußtsein, eine genaue |A1 A2 A3 98|Kenntnis von den möglichen Beziehungen zwischen den Interaktionspartnern besteht, daß es gelingt, die Interaktionsmuster, in diesem Fall die wechselseitigen Beziehungsdefinitionen, bekanntzumachen, weil aus ihnen alles folgt, was an wesentlichen Informationen für Gestaltung und Veränderungen der
Praxis
unerläßlich ist. Für die empirische Sicherung dieses Ansatzes hat Laing einen Fragebogen entworfen, dessen Struktur auch im Ausschnitt deutlich wird und der seinen Ansatz – und besonders auch die Mead-Nachfolge, in der er sich befindet – prägnant veranschaulicht:
[047:290]
  1. 1.
    [047:291]
    Sie versteht mich.
  2. 2.
    [047:292]
    Ich verstehe sie.
  3. 3.
    [047:293]
    Sie versteht sich.
  4. 4.
    [047:294]
    Ich verstehe mich.
[047:295]
B Wie, glauben Sie, würde sie die folgenden Feststellungen beantworten?
  1. 1.
    [047:296]
    „ “
  2. 2.
    [047:297]
    „ “
  3. 3.
    [047:298]
    „ “
  4. 4.
    [047:299]
    „ “
[047:300]
C Wie würde sie Ihrer Meinung nach glauben, daß Sie die folgenden Feststellungen beantwortet haben?
  1. 1.
    [047:301]
    Sie versteht mich.
  2. 2.
    [047:302]
    Ich verstehe sie.
  3. 3.
    [047:303]
    Sie versteht sich.
  4. 4.
    [047:304]
    ø
    A1A2A3
[047:305] In dieser Gruppe von Items wird ein Kommunikationsakt (
verstehen
) den Partnern einer Interaktions-Dyade (hier: Ehepartner–Ehepartner; möglich wäre aber auch: Elternteil–Kind, Erzieher–Zögling, Lehrer–Schüler) zur Einschätzung gestellt; der Fragebogen enthält im ganzen 60 solcher vorgegebener Kommunikationsakte (sich den Kopf zerbrechen über ..., sich verlassen A1A2A3..., Angst haben vor ..., gemein sein zu ..., sich lustig machen über ..., usw.), durch deren Beantwortung Informationen über sechs Dimensionen der interpersonellen Beziehung gewonnen werden sollen: |a 276|Interdependenz und Autonomie, herzliche Anteilnahme und Unterstützung, Geringschätzung und Enttäuschung, Kontroversen (Kampf und Flucht), Widersprechen und in Verwirrung bringen, extreme Verweigerung von Autonomie (S. 68 f.). Die Pointe der Methode – man kann sie als eine subtile Weiterentwicklung soziometrischer Meßverfahren ansehen – besteht darin, daß ein Urteil durch drei Perspektiven (A, B und C) hindurch abge|A1 A2 A3 99|wandelt wird und so die Sichtweisen der beiden Partner auf ihre gemeinsame Beziehung zueinander ins Verhältnis gesetzt werden können. Die erste Ebene (A) ist die einfache Perspektive, das gleichsam naive Urteil; die zweite Ebene (B) nennen die Autoren
Meta-Perspektive
: Welches Bild hat der Partner von unserer Beziehung nach meiner Einschätzung? Welches Stereotyp vermute ich bei ihm? Die dritte Ebene nennen die Verfasser die Meta-meta-Perspektive (C): Welches Bild habe ich von der Meta-Perspektive des Partners oder welches Beziehungs-Stereotyp vermutet, nach meiner Meinung, der Partner bei mir?
[047:306] Nun ist aber auf jeder der drei Ebenen die Perspektive geteilt.
Ich verstehe dich
kann von beiden Partnern behauptet werden, aber dennoch Verschiedenes bedeuten. Die Perspektive des anderen (Alter) geht natürlich – gemäß dem Paradigma Meads – in die Perspektive des einen (Ego) als dessen Wahrnehmung vom anderen ein:
ich verstehe dich, weil du mich verstehst
oder
ich verstehe dich, obwohl (oder darin, daß) du mich nicht verstehstA1A2A3
. So sehen die Partner nicht nur jeweils den anderen, sondern auch sich selbst im Hinblick auf den anderen, sie haben
in sich
eine Beziehungsstruktur (Ego – Alter), die der
äußeren
Beziehung zwischen den beiden Personen analog ist: ich (Ego) verstehe mich (Alter) – du (Ego) verstehst dich (Alter). Auf diese Weise entsteht die in dem Fragebogen-Auszug zitierte Sequenz der zwölf Statements, die als eine minuziöse Darstellung der reziproken Beziehungsstruktur in einem Untersuchungsinstrument interpretiert werden kann. Schematisch stellt sich diese Struktur für jede der drei Ebenen so dar:
Hier ist eine Abbildung zu sehen, die die Analogie in der Beziehungsstruktur zwischen zwei Personen und dem Alter bzw. Ego der beiden Personen darstellt.
|a 277|
[047:307a]
[047:307b]
[047:307c]

4. Identität

[047:308] Die Lernspielräume, die sich dem Individuum eröffnen, und die Richtung, die sein Lernen nehmen kann, müssen also im Kontext der Beziehungen interpretiert werden, in denen es sich bewegt bzw. sich zu bewegen gezwungen ist. Wenn wir sagen, sie
müssen
im Beziehungskontext interpretiert werden, dann |A1 A2 A3 101|meinen wir damit ein erziehungswissenschaftliches Postulat. Natürlich können auch andere analytische Referenz-Rahmen für die Bestimmung von Lern-Problemen gewählt werden. Kommt es uns aber darauf an, pädagogische Kommunikation zu analysieren, dann gilt – gemäß des Diskurses als Legitimationsbasis – immer, daß mindestens zwei Gesichtspunkte die Analyse leiten müssen: Pädagogisches Geschehen ist als ein Beziehungsphänomen und der Educandus in denjenigen Dimensionen zu betrachten, in denen er als Subjekt der ihn betreffenden Interaktionen erscheinen kann, d. h. in diesem Fall als ein Individuum, das die im interaktionistischen Paradigma unterstellten Reaktionsspielräume ausschöpfen kann, über
interpersonelle Kompetenz
(WeinsteinA1A2A3) verfügt. In der Sprache Meads: Der Educandus ist als ein Interaktionspartner zu betrachten, der in sich ein
Selbst
bildet, das der Inbegriff der zur inneren Struktur organisierten Interaktionserfahrung ist. Mead hatte das zunächst als das
Me
bestimmt. Am Beispiel Laings sahen wir, wie dieses Me auf der Grundlage wechselseitiger Beziehungsdefinitionen sowohl entsteht wie auch aufrecht erhalten wird, und zwar dadurch, daß es sich in allen einzelnen Interaktionen immer aufs neue bewähren muß, darin allerdings einer Regel folgt, von der angenommen werden kann, daß sie relativ situationsunabhängig geworden ist.
[047:309] In den Interaktionen des Individuums bilden sich also Regelmäßigkeiten im Hinblick auf die Beziehungsdefinitionen, und zwar nach Maßgabe der Interaktionserfahrung und unter der Bedingung |a 279|reziproker Antizipationen und deren Stabilisierung. Sofern diese Reziprozität nicht nur von der einzelnen Interaktion bzw. von dyadischen Beziehungen abhängig ist, sondern allgemeine und d. h. von der einzelnen Situation unabhängige Erwartungen enthält (das
verallgemeinerte Andere
), bestimmt sie das Individuum als Mitglied einer sozialen Gruppe, und zwar so, daß es sich selbst zugleich in dieser Bestimmtheit wahrnehmen kann und sich zu ihr als zu einem Teil seiner selbst verhalten kann: das ist seine
soziale Identität
.
[047:310] Von den einzelnen Situationen unabhängig und damit – wenigstens im Ansatz – als ein Allgemeines wird soziale Identität durch drei Komponenten sowohl gebildet wie auch entweder bestätigt oder neu hergestellt:
  • [047:311] Das in der Interaktion singuläre, d. h. nur auf diese Interaktion bezogene Verhalten ist mit einem Bedeutungs-Kontext |A1 A2 A3 102|pragmatisch verknüpft; die einzelnen Interaktionen sind untereinander verbunden in einem Sinnzusammenhang, der sich im Rahmen der jeweiligen Lebenswelt konstituiert.
  • [047:312] Über Symbole (Sprache, Sprachcodes) und Rollen wird der allgemeine Gehalt singulärer Reaktionen in der Interaktion festgehalten und je aktualisiert.
  • [047:313] Nach Maßgabe von Sinnzusammenhang und Rollengehalt werden interpersonelle Taktiken39
    | 287|39
    (A1A2A3im Hinblick auf sprachliche Taktiken: Lewis40
    | 287|40M. M. Lewis: Sprache, Denken und Persönlichkeit im Kindesalter. Düsseldorf 1970
    ) erworben als die Instrumente der sozialen Selbstdarstellung des
    Me
    .
[047:314] Diese Bildung vollzieht sich unter der empirischen Bedingung eines nach Rollen – d. h. bereits etablierten interpersonellen und überindividuellen Wahrnehmungs- und Reaktionsmustern – strukturierten Beziehungsfeldes. Der zur Demonstration dafür am häufigsten in der Literatur herangezogene Fall ist die Familie, da für unseren Kulturkreis die primären Sozialisationsleistungen immer noch im Regelfall von der Familie erbracht werden. Solche interpersonellen Muster strukturieren sich in der alltäglichen Wirklichkeit der Kleingruppe vor allem durch
Koalitionen
, in denen zwischen mindestens zweien eine besondere Dichte und Regelmäßigkeit der Interaktion hergestellt wird. Vor allem zwei solcher Koalitionsmöglichkeiten sind in der primären Sozialisation von |a 280|entscheidender Bedeutung für den Erwerb eines allgemeinen Bezugsrahmens für die Bildung der eigenen interpersonellen Kompetenz: die Generation und das Geschlecht. Es scheint, als handle es sich dabei nicht nur um historisch vorherrschende Rollendifferenzierungen, sondern um solche, die als universal und notwendig für den Bildungsprozeß überhaupt angenommen werden müssen. Eine solche Feststellung impliziert jedoch weder, daß
Generationenschranke
und
geschlechtsgebundene Rolle
41
in der Form notwendig seien, die in dem gegenwärtigen Typus der bürgerlichen Kleinfamilie zur Darstellung kommt, noch daß als Ort der primären Sozialisation nicht auch institutionelle Alternativen zur Familie überhaupt historisch sinnvoll möglich wären.42
| 287|42.
[047:315] Soziale Identität als Zugehörigkeit zu Gruppen und damit zu einem intersubjektiv Allgemeinen wird also über Interaktionen und die in ihnen enthaltenen Regelmäßigkeiten gebildet; diese wiederum kommen zunächst in der Form von Koalitionen zur Darstellung, und zwar vornehmlich in den beiden Dimensionen |A1 A2 A3 103|der Generation und des Geschlechts. Das Problem, das dabei entsteht, betrifft nie nur den einen – etwa den abhängigen – Interaktionspartner, sondern ist ein Problem der ganzen Interaktion, betrifft also die Identität aller an der Interaktion Beteiligten, wenngleich in unterschiedlicher Intensität. Strauss zitiert dafür ein Beispiel:
[047:316]
43
| 287|43.
[047:317] Das bedeutet, daß soziale Identität selbst kein unproblematisches, sondern für das Individuum ein riskantes Beziehungsproblem darstellt: Gerade wegen der implizierten Allgemeinheit ist jede Veränderung im Referenz-Rahmen des
Me
für das eine Individuum folgenreich auch für alle anderen Individuen, mit denen es kommuniziert, und damit auch folgenreich für deren soziale Identität. Ohne
Zugehörigkeit
entschwindet dem Individuum auch sein
Selbst
, als das es sich bestimmen kann, jedenfalls in der sozialen Dimension, entschwindet ihm die
capacity to distinguish self from nonself
44
| 287|44.
.
Zugehörigkeit
kann aber – gleichsam am anderen Ende der Skala –
Überangepaßtheit
bedeuten, völliges Aufgehen des Selbst in sozialer Identität und damit subjektiv nicht mehr gesteuerte Abhängigkeit von sozialen Erwartungen. Das damit angesprochene Balance-Problem für das Individuum hat Mead schon beschäftigt:
[047:318]
45
| 287|45
A1A2A3
[047:319]
Sich ausdrücken
kann das Individuum offenbar nur, wenn es neben der sozialen noch eine zweite Dimension gibt, in der es seine Identität bestimmt. Mead hat hier – etwas ungenau – das
I
(Ich) einzuführen versucht als den Inbegriff der aus dem Organismus aufsteigenden Impulse, die infolgedessen nur dem Individuum zugehörig seien. Angemessener und genauer scheint uns indessen im Anschluß an Goffman46
| 287|46
und Krappmann die Bestimmung dieser |a 282|Dimension als
Zeitdimension, in der die Ereignisse im Leben des Individuums zu einer
personal identity
zusammengefaßt werden
47
| 287|47.
, zu sein. Diese auch von Mitscherlich48
| 287|48
A. Mitscherlich: Das soziale und das persönliche Ich. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (KZfSS), Jg. 1966, S. 21 ff.
in den Begriffen
soziales
und
persönliches Ich
diskutierte Unterscheidung ist die Form, in der das Individuum auf zwei unterschiedliche Klassen von sozialen Erwartungen reagiert: zu sein wie jeder andere und zu sein wie kein anderer. Beide Erwartungen sind nicht voll zur Deckung zu bringen; in der reinen Form schließen sie sich aus, jedenfalls in solchen historischen Situationen, für die die Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Gruppen mit je besonderen Typen gesellschaftlicher Problemstellungen und Problemlösungen unterstellt werden muß; und das ist vermutlich in allen großen und differenzierten Gesellschaften der Fall. Um die Balance zwischen der sozialen und der personalen Dimension der Identität zu halten, muß das Individuum deshalb ein
als-ob
-Verhalten hervorbringen, eine – wie Goffman sagt –
phantom normalcy
und
phantom uniqueness
49
| 287|49ø
. Im Falle der Vernichtung der persönlichen Identität zugunsten der Alleinherrschaft sozialer Erwartungen können wir von
Verdinglichung
der Interaktion sprechen, für den anderen Fall, den der Vernichtung der sozialen Identität zugunsten der personalen, gibt es mit Recht keinen geläufigen Terminus: streng genommen ist dieser Fall empirisch nicht möglich, da jede Kommunikation mit einem Anderen, wenn in ihr nicht nur sinnlose Informationen ver|A1 A2 A3 105|mittelt werden sollen, auf mitteilbare und damit sozial geteilte Bedeutungen angewiesen ist, soziale Identität also mindestens im Hinblick auf Situationen gebildet werden muß. Von dieser grundsätzlichen Schwierigkeit abgesehen, gibt es jedoch Fälle von außerordentlich schwach ausgebildeter sozialer Identität; annäherungsweise können wir den
Outsider
als einen solchen Fall ansehen. Was wir als
Dissozialität
oder
Delinquenz
bezeichnen, nähert sich – sofern es nicht restlos als Definitionsproblem bestimmt werden kannA1A2A3, sondern Probleme unbewältigter psychischer Balance anzeigt – dem einen oder anderen Pol dieser zweidimensionalen Skala.
[047:320] Es könnte vorgebracht werden, daß es sich bei der Identitäts-Problematik um ein Spezialproblem im Rahmen des ganzen Erziehungsprozesses handele, von dem jedoch nicht angenommen |a 283|werden dürfe, daß es für den Bildungsprozeß und folglich für die pädagogische Kommunikation von fundamentaler Bedeutung sei. Das ist indessen nicht der Fall. Die Bildung der Identität als Balance zwischen ihrer sozialen und personalen Dimension ist ja zugleich die Bildung eines Bedeutsamkeits-Horizontes, innerhalb dessen das Individuum im Rahmen der Gruppen, denen es zugehört, Probleme und Inhalte gewichtet und damit konkrete Lernperspektiven erwirbt. Infolgedessen ist die Behauptung gerechtfertigt: Wo immer Lernerwartungen entstehen oder an Individuen gerichtet werden, steht deren Identität zur Diskussion, d. h. die Frage, wie weit sich die in den Erwartungen zum Ausdruck kommende Perspektive in die gebildete und balancierte Identität dieses Individuums integrieren läßt. Der Grad von
Repressivität
eines Erziehungssystems oder einer Erziehungspraxis ließe sich deshalb danach bestimmen, wie weit dieses für den Bildungsprozeß von Individuen und Gruppen fundamentale Erziehungsproblem zum Thema gemacht wird. Die soziale Identität des Arbeiters, seiner Familie und seiner Kinder, gilt in kapitalistischen Gesellschaften offenbar als etwas, das vernachlässigt werden darf. Für den Bildungsgang des Arbeiterkindes kommen innerhalb des Bildungssystems nahezu ausschließlich seine auf
personale Identität
bezogenen individuellen Eigentümlichkeiten in Betracht, und zwar unter dem Gesichtspunkt ihrer
Bildbarkeit
für die Verwertungsinteressen des gegebenen ökonomischen Systems. Der Kontext seiner
sozialen Identität
schrumpft demgegenüber zum Begriff der
Subkultur
, die nur noch als ein die |A1 A2 A3 106|Bildung des Kindes verzögernder Faktor in Erscheinung tritt. Als Referenz-Rahmen für
soziale Identität
bleiben dann nur noch – für die faktische Strategie der Bildungsinstitutionen – die sekundären Bezugsgruppen der pädagogischen Einrichtungen und damit bei uns der dominanten bürgerlich-kapitalistischen KulturA1A2A3. Was sich so, gegenüber den Identitäts-Horizonten von Arbeiterkindern, als repressive Praxis eines Erziehungssystems darstellen kann, kann auf verschiedenen Ebenen dieses Systems beobachtet werden: im Umgang mit Obdachlosen, mit Problem-Familien, mit Kindern und Jugendlichen in der Heimerziehung, innerhalb von Familien durch besondere Starrheit der Gruppengrenze oder durch Rigidität inner|a 284|familiärer Koalitionen, in der Vernichtung personaler Identität in
Gehirnwäsche
und
Selbstkritik
als Institution usw.
[047:321] Nicht ohne Grund haben zur Klärung des Identitäts-Problems Goffman und Strauss individuelle Berichte über Interaktionserfahrungen verwendet, hat Cicourel Gesprächsprotokolle zwischen Sozialarbeitern und Probanden interpretiert, hat Erikson Biographien analysiert, sind die für die sozialen Kontexte der Bildung von Identität fruchtbarsten Untersuchungen mit dem Verfahren der teilnehmenden Beobachtung unternommen worden. Da die Identitäts-Balance eine Leistung des Ich ist, die sich in symbolisch vermittelter Interaktion mit anderen bewährt und ein Verhältnis nicht nur zu diesen anderen, sondern auch zu sich selbst impliziert, ja eigentlich Auseinandersetzung mit sich selbst als einem zugleich Eigenen (Ego) und Anderen (Alter) bedeutet, ist die sprachliche Selbstdarstellung das geeignetste Material für die Erforschung von Identitäts-Problemen. Das Studium von autobiographischen Aufzeichnungen kann deshalb als der
Focus
pädagogischer Reflexion bezeichnet werden – wenngleich die Erziehungswissenschaft darin noch kaum methodische Erfahrung hat.
[047:322] Identitäts-Balance kann nicht erzwungen werden; sie muß als eigene Leistung des Individuums angesehen werden, deren Gelingen allerdings von Voraussetzungen abhängig ist, die in der Struktur der erfahrenen Interaktionen liegen. Aus den Erörterungen dieses Abschnittes folgernd können solche Voraussetzungen in den folgenden Thesen zusammengefaßt werden:
[047:323] Eine balancierte Identität wird für das Individuum um so wahrscheinlicher sein, je deutlicher in der Interaktion
|A1 A2 A3 107|
  • [047:324] die Partner an der Definition der Situation aktiv beteiligt werden;
  • [047:325] situationsbezogene flexible Beziehungsdefinitionen möglich sind;
  • [047:326] Rollendistanz gewahrt werden kann, d. h. für Verhaltenserwartungen Interpretationsspielräume offen bleiben;
  • [047:327] Ambiguitätstoleranz ausgedrückt wird, d. h. differenzierende Erwartungen und die Differenzen zwischen Erwartungen und eigenen Bedürfnissen ertragen werden;
  • [047:328] Empathie realisiert wird, d. h. die Erwartungen und Be|a 285|ziehungsdefinitionen der Interaktionspartner wechselseitig antizipiert und zur Bestimmung des eigenen Verhaltens verwendet werden;
  • [047:329]
    Aushandeln von Identität
    (identity bargaining) möglich ist, d. h. nicht an einer bestimmten Form von Selbst- Präsentation unbedingt festgehalten wird, sondern situations- und partnerbezogene Modifikation stattfinden kann:
  • [047:330] die Komponenten und Prozesse der Interaktion symbolisch, d. h. in Sprache, ausdrückbar und kommunizierbar, damit auch problematisierbar und revidierbar werden.
A1A2A3
ersten Kapitel
A1A2A3
Ch. Peirce (1970)
A1A2A3
G. H. Mead (1968)
A1A2A3
(1961, 1963)
A1A2A3
Strauss (1968)
A1A2A3
Bateson u. a. (1969)
A1A2A3
Laing (1971)
A1A2A3
Watzlawick u. a. (1969)
A1A2A3
Habermas 1968
A1A2A3
Krappmann 1971
A1A2A3
Oevermann 1970
A1A2A3
Baacke 1972
A1A2A3
Loch, in: Lurija/Judowitsch 1970
A1A2A3
»in der der einzelne in sich selbst Reaktionen auslösen und auf sie reagieren kann unter der Bedingung, daß der gesellschaftliche Reiz auf ihn die gleiche Wirkung ausübt wie auf andere«
(Mead 1968, S. 187)
A1A2A3
B’s
A1A2A3
[047:247] Unter den oben genannten Theorien spielt die von G. H. Mead die bedeutendste Rolle. Das von ihm entwickelte Paradigma für die Struktur der menschlichen Interaktion stellt seit seiner ersten Veröffentlichung 1934 den ausgesprochenen oder unausgesprochenen Bezugspunkt aller einschlägigen Erörterungen dar. Ch. Morris, Schüler Meads, faßt dessen Theorie in einer These zusammen:
Die Umwandlung des biologischen Indivi|A1 A2 A3 85|duums in einen mit Geist begabten Organismus findet ... durch das Werkzeug der Sprache statt, während die Sprache wiederum eine Existenz einer bestimmten Gesellschaft und bestimmte physiologische Fähigkeiten der individuellen Organismen voraussetzt.
13
13G. H. Mead: a. a. O., S. 23.
Eine Interaktion im Medium
»signifikanter Symbole«
– so nennt Mead die sprachlichen Zeichen im Unterschied zu
»vokalen Gesten«
– etabliert eine Situation,
in der der einzelne in sich selbst Reaktionen auslösen und auf sie reagieren kann unter der Bedingung, daß der gesellschaftliche Reiz auf ihn die gleiche Wirkung ausübt wie auf andere
14
14G. H. Mead: a. a. O., S. 187.
.
In der durch signifikante Symbole vermittelten oder strukturierten Situation geschieht also folgendes: A richtet mit Hilfe eines signifikanten Symbols eine Erwartung an B; er unterstellt dabei, daß B ihn versteht; die von B nun zu erwartende Handlung kann von A antizipiert werden, und zwar aufgrund einer Eigentümlichkeit signifikanter Symbole: sie lösen nämlich im Sprecher die gleiche Reaktion aus wie im Hörer; nichts anderes heißt
»verstehen«
; es werden Symbole verwendet, die für mehrere die gleiche Bedeutung haben; infolgedessen kann A nun auch noch antizipierend den nächsten Schritt tun: die Vollendung seiner eigenen Handlung als Reaktion auf die Handlung Bs ins Auge fassen. Die so beschriebene Struktur reziproker Erwartungen, Antizipationen und ihrer symbolischen Präsentation ist nicht nur etwas, nach dem äußerlich beschreibbar die Interaktion abläuft, sondern es ist auch
»in«
den Individuen: ein kognitives Grundmuster der menschlichen Interaktion, das A und B teilen.
A1A2A3
(
A1A2A3
1968
A1A2A3
)
A1A2A3
G. H. Mead: a. a. O., S. 189.
A1A2A3
(
A1A2A3
)
A1A2A3
G. H. Mead: a. a. O., S. 189.
A1A2A3
[047:250] Um solche einerseits trivial, andererseits vielleicht auch spekulativ anmutenden Behauptungen zu konkretisieren, verwendet Mead Beispiele aus der kindlichen Sprach- und Selbstentwicklung, insbesondere aus der Sphäre des Spiels. Das einleuchtendste Exempel ist das kindliche Rollenspiel, und zwar jenes, in dem das Kind alleine spielt.
Es spielt zum Beispiel, daß es sich etwas anbietet, und kauft es; es gibt sich selbst einen Brief und trägt ihn fort; es spricht sich selbst an – als Elternteil, als Lehrer; es verhaftet sich selbst – als Polizist. Es hat in sich Reize, die in ihm selbst die gleiche Reaktion auslösen wie in anderen. Es nimmt diese Reaktionen und organisiert sie zu einem Ganzen. Das ist die einfachste Art und Weise, wie man sich selbst gegenüber ein anderer sein kann.
17
17
Das Kind produziert also mit Hilfe der Sprache in solchen Fällen in sich selbst das Muster einer symbolischen Interaktion, damit aber zugleich auf sprachliche Weise das Muster sozialer Beziehungen |a 263|und seinen eigenen Ort innerhalb solcher Beziehungssysteme. Es entwickelt in sich und übt für sich seine Identität. Der Ausdruck
»Identität«
bedeutet dabei den durch Sprache dem Bewußtsein verfügbar gemachten Ort der einzelnen Person in einem sozialen Beziehungssystem. Und zwar sprechen wir von Identität nur dann, wenn die Person das Selbstverständnis, das sie sprachlich von sich selbst produziert, mit dem Verständnis teilt, das andere Personen dieses Beziehungssystems von ihr haben. Fällt dieses sprachlich formulierte Selbstverständnis mit dem Verständnis oder dem Bild, das andere von dieser Person haben, nicht zusammen, drohen Identitätskrisen oder im äußersten Falle Identitätsverlust.
A1A2A3
[047:251] Das Beispiel des Kindes, das für sich selbst verschiedene Rollen zu spielen versucht, ist nur der einfachste Fall solcher Identitätssuche und Identitätsfindung. Als Paradigma der voll entwickelten Interaktionsstruktur führt Mead das Gruppenspiel an. Das charakteristische Merkmal von Gruppenspielen ist, daß |A1 A2 A3 87|sie sich nach Regeln vollziehen. Das Gruppenspiel
18
18
Im Falle des Gruppenspieles kann das Kind verschiedene Rollen nicht mehr nacheinander ausprobieren und in sich selbst zur Darstellung bringen, sondern es muß die Gesamtheit der durch die Regeln miteinander verbundenen Rollen innerhalb des Spiels gleichzeitig gegenwärtig haben. Das Kind muß gleichsam die Haltung aller anderen am Spiel Beteiligten in sich haben. Die Organisation des Ganzen, die Spielregel, kontrolliert die Reaktion jedes einzelnen. Alles, was der einzelne tut, wird bestimmt durch Annahmen über die möglichen Reaktionen der anderen; alles, was der einzelne Spieler tut, ist Bestandteil des Interaktions-Systems, wird bestimmt durch die Position, die sich für ihn aus dem Wechselspiel der Gruppe bzw. den Spielregeln ergibt. Da die Regeln, denen die Interaktion faktisch folgt, auf der geteilten Bedeutung signifikanter Symbole beruhen, kann man sagen: Sozialspiele und Sprachspiele enthalten die gleiche Struktur.
A1A2A3
selbst
A1A2A3
»Für das Selbst ist es notwendig, daß die Person auf sich selbst reagiert. Dieses gesellschaftliche Verhalten liefert das Verhalten, in dem Identität auftritt. Außer dem sprachlichen kenne ich kein Verhalten, in dem der einzelne sich selbst Objekt ist, und soweit ich sehen kann, ist der einzelne solange keine Identität im reflektiven Sinn, als er nicht sich selbst Objekt ist. Diese Tatsache gibt der Kommunikation entscheidende Bedeutung, da sie ein Verhalten ist, bei dem der einzelne in dieser Weise auf sich selbst reagiert.«
A1A2A3
G. H. Mead: a. a. O., S. 184.
A1A2A3
.
A1A2A3
»Die organisierte Gemeinschaft oder gesellschaftliche Gruppe, die dem einzelnen seine einheitliche Identität gibt, kann
»der (das) verallgemeinerte Andere«
gegannt werden. Die Haltung dieses verallgemeinerten Anderen ist die der ganzen Gemeinschaft. So ist zum Beispiel bei einer gesellschaftlichen Gruppe wie einer Spielmannschaft eben dieses Team der verallgemeinerte Andere, insoweit es – als organisierter Prozeß |a 265|oder gesellschaftliche Tätigkeit – in die Erfahrung jedes einzelnen Mitgliedes eintritt.«
A1A2A3
G. H. Mead: a. a. O., S. 196 f.
A1A2A3
.
A1A2A3
Ich
A1A2A3
eintreten
A1A2A3
H. Gerth/C. W. Mills: Person und Gesellschaft. Die Psychologie sozialer Institutionen. Frankfurt 1970, S. 74
A1A2A3
).
A1A2A3
»Die soziale Bestimmtheit des Selbst muß noch in einer anderen Hinsicht spezifiziert werden: durch die Überlegung, wer die anderen sind, denen wir antworten. Nur die Einschätzung jener anderen, die in gewisser Weise für die Person bedeutsam sind, sind wertvoll für den Aufbau und die Erhaltung des Selbstbildes. In manchen Familien und Gesellschaften ist die Mutter für das Kind der bedeutendste
signifikante |a 266|Andere
, da sie direkt für die körperlichen Bedürfnisse sorgt und durch ihre Handlungen die impulsiven Anfänge der Handlungen des Kindes ergänzt. In solchen Fällen ist wahrscheinlich das Bild des Kindes, das es von sich selbst hat, identisch mit dem, das die Mutter von ihm hat. Wenn aber die Person heranwächst, dann beginnt eine Vielzahl von
signifikanten Anderen
zu wirken. Wenn wir wissen, wer der
signifikante Andere
des Selbstbildes einer Person ist oder war, so wissen wir schon sehr viel über diese Person.«
A1A2A3
H. Gerth/C. W. Mills: a. a. O., S. 78.
A1A2A3
.
A1A2A3
Habermas (1968)
A1A2A3
Krappmann (1971 a, 1971 b)
A1A2A3
Oevermann (1970)
A1A2A3
eigenen
A1A2A3
Handlungsimpulsen
A1A2A3
(vgl. L. Krappmann: Soziologische Dimension der Identität. Stuttgart 1971.).
A1A2A3
. ):
A1A2A3
  • [047:261] Eine Interaktion verläuft um so erfolgreicher, je ausgeprägter die Verhaltenserwartungen und die Interpretationen dieser Erwartungen übereinstimmen.
  • [047:262] Das Individuum sucht in einer Situation sein Verhalten immer an nur einer dominanten Erwartung zu orientieren; gelingt das wegen divergierender oder gar widersprüchlicher Erwartungen in ein und derselben Situation nicht, entsteht für das Individuum eine prekäre Lage, in der es zur Devianz, zu abweichendem Verhalten neigt.
  • |A1 A2 A3 91|
  • [047:263] Eine erfolgreiche Interaktion ist um so wahrscheinlicher, je eindeutiger die Partner in ihren Erwartungen übereinstimmen.
  • [047:264] Erfolgreiche Interaktion setzt voraus, daß die Bedürfnisse der Interagierenden den institutionalisierten Werten, die in dem sozialen Rahmen der Interaktion enthalten sind, entsprechen.
  • [047:265] Die Orientierung der Interaktionspartner an den vorgegebenen Erwartungen (am verallgemeinerten anderen, an Rollennormen, an institutionalisierten Zwecken) garantiert ihnen eine gegenseitige Befriedigung ihrer Bedürfnisse.
  • [047:266]
    »Wenn eine Person voll im Interaktionssystem sozialisiert ist, ist es nicht richtig zu sagen, daß eine Rolle etwas ist, was ein Handelnder
    hat
    oder
    spielt
    , sondern etwas, das er ist «
    27
    27T. Parsons/R. F. Bales: Family, socialization, and interaction process. Glencoe, Ill., 1955, S. 107.
    ; was eine solche Person
    »ist«
    , ist also – und zwar ohne Rest – identisch mit ihrem
    »Me«
    .
A1A2A3
ø
A1A2A3
Sie
A1A2A3
»ist in dieser abstrakten Form nämlich sehr gut imstande, plausibel zu machen, daß die normenkonforme Integration eines Kindes in die Gesellschaft erreicht wird, indem Bedürfnisdispositionen, die um soziale Erfahrungen im komplementären Rollenhandeln organisiert wurden, als Motivation zur Erfüllung von vorgegebenen Normen in Dienst genommen werden. Das Modell erklärt also durchaus die
»vergesellschaftende«
Seite des Sozialisationsprozesses.«
A1A2A3
L. Krappmann: a. a. O., S. 167.
A1A2A3
.
A1A2A3
»1.
A1A2A3
teilweiser
A1A2A3
Nicht Institutionen, deren Mitglieder Normen
»automatisch«
erfüllen, werden als stabil betrachtet (es sei denn, sie werden unter Zwang aufrecht erhalten, K. M.) , sondern diejenigen, die ihren Mitgliedern ermöglichen, im Rahmen des Interpretationsspielraums, den die vorgegebenen Normen lassen, eigene Bedürfnisse in der Interaktion zu befriedigen.«
A1A2A3
L. Krappmann: a. a. O., S. 169..
A1A2A3
(G. Bateson (u. a.): a. a. O. 1969).
A1A2A3
»Beziehungsfalle.«
A1A2A3
Ramen
A1A2A3
In: Bateson (u. a.): a. a. O. 1969
A1A2A3
Eine Mutter ruft nach ihrem kleinen Kind und bittet es, auf ihren Schoß zu kommen. Sie gibt damit sprachlich zu erkennen, daß sie eine liebevoll-zärtliche Beziehung zu ihm aufzunehmen wünscht. Gleichzeitig aber drückt sie durch den Tonfall ihrer Stimme und durch nicht-verbale, ihre Rede begleitende Gesten aus, daß sie eine Abneigung gegen das Kind verspürt und ihr der Gedanke, das Kind auf dem Schoß zu haben, nicht angenehm ist. Das Kind stutzt einen Augenblick. Dann geht es zur Mutter, klettert auf ihren Schoß, nimmt einen Knopf ihrer Jacke in die Hand und sagt:
»Das ist aber ein schöner Knopf!«
A1A2A3
nicht-verbaler
A1A2A3
nicht-kongruente
A1A2A3
darstellt
A1A2A3
(Richter 1963 und 1970).
A1A2A3
(vgl. K. Mollenhauer: Bewertung und Kontrolle abweichenden Verhaltens. In: D. Hoffmann/H. Tütken (Hrsg.): Realistische Erziehungswissenschaft. Hannover 1972, S. 241 ff.; H. Wenzel: Fürsorgenheime in pädagogischer Kritik. Stuttgart 1970).
A1A2A3
(vgl. B. Jackson/D. Marsden: Education and the working class. London 1962).
A1A2A3
Test
A1A2A3
,
A1A2A3
.
A1A2A3
.
A1A2A3
P. Watzlawick (u. a.): a. a. O., S. 196.
A1A2A3
.
A1A2A3
P. Watzlawick (u. a.): a. a. O., S. 199.
A1A2A3
R. D. Laing/H. Phillipson/A. R. Lee: a. a. O.
A1
seiner
A1
seinen
A1A2A3
(vgl. dazu in diesem Kapitel den Abschnitt 3 über Institutionen)
A1A2A3
»A Wie richtig, glauben Sie, sind die folgenden Feststellungen?
A1A2A3
Ich verstehe ihn.
A1A2A3
Er versteht mich.
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Ich verstehe mich.
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Er versteht sich.
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Ich verstehe mich.«
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R. D. Laing/H. Phillipson/A. R. Lee: a. a. O., S. 175
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auf
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ø
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[047:307] Laing und Mitarbeiter haben damit nichts anderes getan, als die Struktur des
»Me«
genauer zu bestimmen bzw. abzuwandeln, und zwar dadurch, daß sie die Annahmen, die die Interaktionspartner über ihre Beziehung wechselseitig machen und auf immer neue Situationen mehr oder weniger gleichbleibend anwenden, in dem Detail zur Sprache bringen, das sich vermutlich der tatsächlichen Kompliziertheit der Alltagssituationen weitgehend annähert. Im Sinne eines Erklärungszusammen|A1 A2 A3 100|hanges bleibt indessen dieses Schema noch nach zwei Seiten hin relativ unbestimmt: Offen bleibt, auf welche Weise und wodurch konkrete Beziehungsstrukturen entstehen – und es bleibt weiterhin offen, welche konkreten Wirkungen für den Bildungsprozeß bzw. die Sozialisation, von der Beziehungsstruktur ausgehend, zu erwarten sind. Laing und Mitarbeiter machen nur eine allgemeine Angabe im Hinblick auf zu vermutende Wirkungen von Beziehungsstrukturen der einen oder anderen Art; eine Angabe, in der ein – wenngleich als kulturspezifisch charakterisierter – Begriff von
»normaler«
Beziehungsstruktur und ihr folgendem
»normalem«
Verhalten unterstellt wird:
.
Für die Wirkung einer solchen Beziehungsstruktur auf die Partner kann dann das gleiche gelten: Autonomie und Solidarität wird in ihnen stabilisiert werden. Zwei Unterstellungen konstituieren den hier behaupteten Normalitätsbegriff: einerseits wird angenommen, daß es sinnvoll und notwendig sei, sich an einer mindestens gedachten Übereinstimmung von kognitiver Struktur und faktischem Verhalten (
»... so interagieren, wie sie annehmen, daß sie sind ...«
) zu orientieren; andererseits wird ebenso als sinnvoll und notwendig angenommen, daß für jedes Individuum prinzipiell eine Balance zwischen einem individuellen (
»Fürsichsein und Autonomie«
) und einem sozialen Selbst (
»gegenseitiges Aufeinanderbezogensein«
), |a 278|zwischen Ego und Alter, möglich sei. Das Problem des
»Me«
wird damit erweitert zu der Fragestellung, die unter dem Namen der
»Identität des Ich«
diskutiert wird.
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eröffnen
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1969
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E. A. Weinstein: The Development of international competence. In: D. A. Goslin (Hrsg.), Handbook of socialization theory and research, Chicago 1969, S. 753 ff.;
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Lewis 1970
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Rollen
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Th. Lidz: Familie und psychosoziale Entwicklung Frankfurt 1971
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L. Liegle: Familie und Kollektiv im Kibbutz. Weinheim 1971.
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»Eine frühere Schwester beschrieb ... einige interessante Reaktionen auf einen erzwungenen Wandel der Geschlechtsrollen.
»Frankie«
wurde im Alter von 5 Jahren zur Untersuchung in die Klinik gebracht, und
»er«
wurde dort als genuines Mädchen diagnostiziert, dessen Klitoris irrtümlich für einen kleinen Penis gehalten worden war. Auf der Kinderstation zeigte Frankie vor der Untersuchung eine entschiedene Vorliebe für die Gesellschaft kleiner Jungen ... Nach der Bestimmung des wirklichen Geschlechts des Kindes wurden die Schwestern angewiesen, Frankie als kleines Mädchen zu behandeln:
» «
Es war
» «
«
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A. Strauss: a. a. O., S. 90 .)
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E. A. Weinstein: a. a. O., S. 759
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»Das
» «
ist ein von Konventionen und Gewohnheiten gelenktes Wesen. Es ist immer vorhanden. Es muß jene Gewohnheiten, jene |A1 A2 A3 104|Reaktionen in sich haben, über die auch alle anderen verfügen; der einzelne könnte sonst nicht Mitglied der Gesellschaft sein. Doch reagiert der einzelne ständig auf eine solche organisierte Gemeinschaft, indem er sich selbst ausdrückt, sich nicht notwendigerweise im offensiven Sinn behauptet, aber sich ausdrückt, da er selbst in einen kooperativen Prozeß eingespannt ist, wie er zu jeder Gemeinschaft gehört. Die betreffenden Haltungen werden von der Gruppe bezogen, doch bietet sich der einzelnen Person, in der sie organisiert sind, die Möglichkeit, ihnen in einer Form Ausdruck zu verleihen, die bisher vielleicht noch nicht zu verzeichnen war.«
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G. H. Mead: a. a. O., S. 241 f.
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E. Goffman: a. a. O.
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L. Krappmann: Neuere Rollenkonzepte ... a. a. O., S. 170
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Mitscherlich (1966)
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(vgl. dazu auch Oevermann 1970)
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(vgl. dazu den Abschnitt
»Institutionen«
in diesem Kapitel)
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(Ortmann 1971; Negt 1968)
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differierende