Gesellschaftliche Bedingungen der Sozialpädagogik [Textkritische interaktive Ansicht mit a als Leittext]
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Gesellschaftliche Bedingungen der Sozialpädagogik

[028:188] Mit dem Ausdruck
Sozialpädagogik
als einem erziehungswissenschaftlichen Terminus hat es eigene Schwierigkeiten. Obwohl er seit gut 100 Jahren in Gebrauch ist, wechselt seine Bedeutung immer noch von Autor zu Autor, von Interessengruppe zu Interessengruppe. Man tut deshalb gut, keine Übereinkunft vorauszusetzen, sondern zu sagen, wovon zu sprechen man beabsichtigt.
[028:189] Wenn also hier von den gesellschaftlichen Bedingungen der Sozialpädagogik gesprochen werden soll, so muß ich zunächst angeben, welcher der üblichen Bedeutungen ich mich – wenn auch nur als Assoziationshilfe – angeschlossen habe. Danach ist Sozialpädagogik die Theorie derjenigen Erziehungsvorgänge, die im Jugendwohlfahrtsgesetz einen juristischen Niederschlag gefunden haben, die Theorie der Jugendhilfe. Das klingt einleuchtend, ist aber vielleicht so vernünftig nicht, wie es den Anschein hat.
[028:190] Mit Recht nämlich könnte eingewendet werden, daß es doch etwas Bedenkliches habe, einen Begriff mit erziehungswissenschaftlich-systematischem Anspruch derart pragmatisch zu orientieren, das heißt, ihn nicht auf die Erziehungsprozesse, sondern auf Rechtsinstitute zu beziehen, die zum Erziehungsproblem in keinem stringenten Zusammenhang zu stehen brauchen. Am Beispiel der Jugendkriminalstrafe ließe sich zeigen, wohin das führt.
[028:191] Wichtiger aber ist ein anderer Einwand. Sprechen wir in diesem Sinne von Sozialpädagogik oder von Jugendhilfe, dann sind diese Ausdrücke Sammelnamen für eine Reihe pädagogischer Institutionen und Eingriffsformen. Schon |A B 135|auf den ersten Blick zeigt sich, daß sie außerordentlich verschieden sind.
[028:192] Ein politischer Jugendclub und ein Heim für schwererziehbare 10jährige haben zu wenig gemeinsam, als daß es eine für sie gemeinsam geltende pädagogische Theorie geben könnte, jedenfalls dann, wenn Theorie hier mehr sein soll als Terminologie. Gewiß ist es sinnvoll, Theorien anzunehmen, die in beiden Fällen bestimmte Aspekte des Geschehens zu erklären vermöchten, so z. B. die eine oder andere Lerntheorie, die Rollentheorie. Das aber wäre freilich keine Theorie der Jugendhilfe, sondern wäre die Anwendung einer erklärungsfähigen Theorie einzelner pädagogischer oder pädagogisch relevanter Vorgänge auf Praxisprobleme der Jugendhilfe.
[028:193] Aus diesen Gründen scheint es mir notwendig zu sein, die theoretische Irrelevanz der Ausdrücke
Sozialpädagogik
und
Jugendhilfe
hervorzuheben. Es handelt sich eben nicht um eine Klasse von Gegenständen und Vorgängen, die sich so ähnlich sind, daß sie in einer gemeinsamen Theorie miteinander verbunden werden könnten.
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Sozialpädagogische Problemlagen

[028:194] Es scheint, als wäre ich mit meinem Thema in einer mißlichen Lage. Nicht von
Sozialpädagogik und Sozialstruktur
wäre sinnvoll zu reden möglich, sondern allenfalls von besonderen sozialpädagogischen Institutionen oder Problemlagen, die zwar nicht den Gegenstand
Sozialpädagogik
treffen, aber doch für die eine oder andere unter diesem Namen zusammengefaßte pädagogische Intervention charakteristisch sind.
[028:195] Einige solcher Problemlagen, die zum Gegenstand von Jugendhilfe-Forschung geworden sind, will ich im folgenden nennen:
[028:196] 1. Die Situation der Jugend zwischen Arbeit, Freizeit und politischer Beteiligung: Die Einrichtungen, die vorwiegend |A B 136|an dieser Problemlage sich orientieren, sind unter dem Namen
Jugendarbeit
zusammengefaßt. Das in ihnen zum Vorschein kommende pädagogische Thema ist mit sozial-strukturellen Sachverhalten verbunden, die sich durch Begriffe wie industrielle Arbeitsverhältnisse, privatkapitalistische, konsumorientierte Produktionsverhältnisse, schichtspezifisches Freizeitverhalten und Demokratisierung schlagwortartig bezeichnen lassen.1
|AB 181||a 122|1Vgl. H. Giesecke, Didaktik der politischen Bildung, München ³1968; ders. (Hrsg.), Freizeit und Konsumerziehung, Göttingen 1968; C. W. Müller / H. Kentler / K. Mollenhauer / H. Giesecke, Was ist Jugendarbeit? – Vier Versuche zu einer Theorie, München 1964; C. W. Müller, Jugendpflege als Freizeiterziehung, Weinheim 1965.
Es zeigt sich darin aber auch, daß es sich hier keineswegs um ein spezifisch sozialpädagogisches Problem handelt. Denn: Es gibt wohl kaum einen Ort im gegenwärtigen Erziehungssystem, der von dieser Problematik unberührt bleibt. Immerhin wäre es sinnvoll, zu verfolgen, wie einzelne sozial-strukturelle Variablen nicht nur mit den Problemlagen des jugendlichen Daseins, sondern auch mit den Maßnahmen der Jugendarbeit und deren Prinzipien zusammenhängen.
[028:197] 2. Sozialisationsprobleme der Vorschulkindheit: Die in der Regel der Jugendhilfe zugeordneten Formen pädagogischer Intervention in diesem Problemfeld beziehen sich vorwiegend auf die Familie und den Kindergarten. Sie orientieren sich noch weitgehend an einem traditionell festgelegten Leitbild familiär-pädagogischen Wohlverhaltens, das in der deutschen Kindergarten-Ideologie vielleicht seinen deutlichsten Ausdruck gefunden hat. Diese Ideologie oder Erziehungs-Wert-Orientierung ist aber selbst ein sozial-strukturell bedingtes Phänomen: Sie ist die Wertorientierung der Mittelschicht. Die damit zusammenhängenden Fragen zeigen neuerdings auch, wie wenig sinnvoll z. B. eine theoretische Unterscheidung zwischen sozialpädagogischen und schulpädagogischen Problemen ist: Der familiäre Sozialisationsmodus, das ergibt sich z. B. aus der Theorie der Lern- und Leistungsmotivation, ist eine der entscheidenden Variablen für Schulerfolg und sozialen Aufstieg.
[028:198] 3.Die Entstehung individueller Konfliktlagen und deren Lösung in gesellschaftlich nicht akzeptierter Art und Weise: Dissozialität als eine Form individueller Verhaltensauf|A B 137|fälligkeit, der gegenüber die Gesellschaft sich zum Eingreifen genötigt fühlt, ist sehr wahrscheinlich das älteste der Probleme, die wir als
sozialpädagogisch
zusammenfassen. Auch hier könnte sowohl den sozial-strukturellen Bedingungen solcher Konfliktlagen und deren individuellen Lösungsformen wie auch den Formen pädagogischen Eingriffs nachgegangen werden. Allerdings zeichnet sich die bisherige Forschung dadurch aus, daß sie zwar nach den Bedingungen entstandener Auffälligkeit fragt, nicht aber auch die pädagogischen Reaktionen einer kritischen Analyse unterzieht.2
|AB 181||a 122|2H. Schüler-Springorum / R. Sieverts, Sozial auffällige Jugendliche, München ²1965.
Und auch die Bedingungen für die Auffälligkeit werden vorwiegend nur insofern ermittelt, als sie als Momente der individuellen Biographie hervortreten.
[028:199] 4. Kollektive Konfliktlagen und Mangelsituationen und deren Folgen: Hier scheint die Forschungsproblematik am einfachsten, am wenigsten verwickelt zu liegen. Die Klientel bringt ihre sozial-strukturellen Daten gleichsam schon in die Sprechstunde mit. Slums, Unterschichten-Gettos und andere randständige soziale Gruppen sind als sozialpädagogisches oder Jugendhilfe-Objekt geradezu durch die sozial-strukturellen Merkmale und deren Prognosewert definiert.3
|AB 181||a 122|3H. Passow (Ed.), Education in Drepressed Areas, New York 1963; J. B. Mays, Growing Up in the City – A Study of |AB 182|Juvenile Delinquency in an Urban Neighbourhood, Liverpool ³1964.
Um so bedeutsamer wäre es gerade hier, die gesellschaftlichen Bedingungen der Hilfsmaßnahmen zu analysieren.
[028:200] In den Jugendhilfe-Maßnahmen kommt ein Merkmal zum Vorschein, das man fast zu ihrer Definition verwenden könnte: Sie kommen prinzipiell zu spät. Prinzipiell ist diese Verspätung deshalb, weil sie nicht über die Veränderungen der Bedingungen verfügt, die das Eingreifen nötig machen. Der Zusammenhang zwischen der als ursächlich anzunehmenden Sozialstruktur, der Erscheinungsform von Hilfsbedürftigkeit und der Hilfsmaßnahme wird weder theoretisch mit der nötigen Deutlichkeit formuliert noch praktisch wirksam. Damit hängt eine theoretische Hilfskonstruktion zusammen, deren sich die Jugendhilfe beson|A B 138|ders im Hinblick auf Dissozialitätsprobleme nahezu ausschließlich bedient: das Ersetzen gesamtgesellschaftlicher Merkmale durch Merkmale der intim-sozialen Erfahrung. Um es konkret zu sagen: Die Berufstätigkeit von Müttern ist ein Merkmal familiärer Sozialstruktur, das sowohl relativ leicht zu ermitteln wie auch durch moralischen Appell scheinbar leicht zu ändern ist, in Wahrheit aber ganz andere als appellative Reaktionen nötig macht. Die praktische wie theoretische Fixierung auf dieses Datum erspart oder versperrt den Durchblick auf Bedingungen, die dahinter liegen. Oder: Die Veränderung der familiären Kommunikationsstruktur durch die Massenmedien hat sicherlich Variablen zum Vorschein gebracht, die das Verhalten von Kindern und Jugendlichen in der einen oder anderen Richtung erklären können. Pädagogisches Eingreifen wird aber naiv, wenn es sich nun kurzschlüssig als appellative Gegenwirkung versteht. Oder: Psychoanalytische Theoreme haben gewiß einiges zur Bedeutung früher Mutter-Kind-Beziehungen für die Verhaltensprägung erbracht. Hält man aber die Ermittlung solcher Zusammenhänge für einen zufriedenstellenden Erklärungsmodus, dann wird dadurch die Verspätung der Jugendhilfe-Maßnahmen geradezu institutionalisiert. Verschleiert wird dieser Sachverhalt dadurch, daß eine Theorie, die in einem sozial begrenzten Feld erklärungsfähig ist, natürliche Diagnosen erlaubt, die angemessene pädagogische Maßnahmen möglich und ihre Wirksamkeit vielleicht sogar wahrscheinlich machen. Die detaillierte Einsicht in familiäre Sozialisationsprozesse, die Kenntnis der ausschlaggebenden Variablen, erlaubt die Aufstellung eines erfolgversprechenden Erziehungsplans im individuellen Fall. Sie richtet aber nichts aus gegen die immer neue kollektive Reproduktion des Falles. So kann Jugendhilfe, ohne ihre Absicht und ohne ein Bewußtsein davon zu haben, ein selbst hilfloses und darin ideologisches Instrument sein. Mit dem Erfolg im einzelnen Fall täuscht sie sich darüber, daß sie in der Tat nichts ist als caritative Hilfe, die das angeblich Unvermeidliche erträglich macht.
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[028:201] Wiederum konkret gesprochen: Die diagnostische Subtilität des amerikanischen Social Work hat an der immer neuen Reproduktion des Elends in den Unterschichten nichts ändern können. Die Theorien sind – und das gilt auch für die deutsche Jugendhilfe-Forschung – am Interesse für die Erklärung individuell-biographischer Verläufe und Veränderungen orientiert. Ich will nicht entscheiden ob es sich hier um eine prinzipielle Schranke für die Jugendhilfe-Praxis handelt. Sicher aber scheint mir zu sein, daß es für die Forschung eine solche Schranke nicht geben darf, daß die Theorie sich auf größere Erklärungszusammenhänge einlassen muß, auch wenn ihre Umsetzung in pädagogisches Handeln schwierig oder ausgeschlossen sein mag.

Soziale Schicht und sozialpädagogische Maßnahmen

[028:202] Zu solchen, das individuelle Erziehungsschicksal überschreitenden Zusammenhänge gehören die Probleme der sozialen Schichtung. Es bedarf, insbesondere nach den breit gestreuten und zahlreichen Untersuchungen der letzten Jahre, kaum noch eines Hinweises darauf, daß die Variable der sozialen Schicht allgemein-pädagogisch und nicht nur für die Jugendhilfe von gravierender Bedeutung ist. Es ist jedoch bemerkenswert, daß diese Zusammenhänge zwar für schulische Lernprozesse theoretisch relativ weit entwickelt sind, daß es aber für die Jugendhilfe-Forschung in Deutschland nur sehr wenige ausdrückliche Ansätze in dieser Richtung gibt. Ich möchte deshalb versuchen, einiges zu diesem Problem beizutragen, und zwar eingeschränkt auf den Zusammenhang von Dissozialität und ihrer pädagogischen Behandlung auf der einen und sozialer Schichtzugehörigkeit auf der anderen Seite.
[028:203] Meine These lautet: Die pädagogischen Probleme der Jugendhilfe, insbesondere dort, wo sie sich mit dissozialem Verhalten auseinanderzusetzen hat, sind geprägt von den Merkmalen der sozialen Schichtung in unterschiedliche sozio-ökonomische Strata. Einerseits drückt sich diese Ge|A B 140|prägtheit in der von der Jugendhilfe betreuten Population aus, andererseits ist zu vermuten, daß die Einstellung derer, die Jugendhilfe betreiben, durch ihre mittelständische Position bestimmt ist und infolgedessen sich auch auf die Einschätzung von Dissozialitätsproblemen auswirkt.
.......
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Dissozialität: ein Unterschicht-Phänomen?

[028:209] Stimmt indessen die These, daß die soziale Zusammensetzung der von Jugendhilfe-Institutionen betreuten Kinder und Jugendlichen das Ergebnis eines schichtspezifischen Ausleseprozesses ist?
[028:210] Obwohl wir über keine Gesamtstatistik verfügen, in der die z. B. in Heimerziehung untergebrachten Minderjährigen nach ihrer sozio-ökonomischen Herkunft aufgeschlüsselt sind, geben einige Einzeluntersuchungen doch durch weitgehende Übereinstimmung halbwegs verläßliche Anhaltspunkte. So können wir damit rechnen, daß ungefähr 75 Prozent der Jungen und 80 Prozent der Mädchen aus Familien stammen, die der Unterschicht angehören.11
|AB 182||a 122|11Vgl. Fr. Specht, Sozialpsychiatrische Gegenwartsprobleme der Jugendverwahrlosung, Stuttgart 1967.
Der Rest gehört der unteren und mittleren Mittelschicht an. Betrachtet man also zunächst naiv die Schichtmerkmale der Unterschicht als unabhängige Variable, dann scheint es, als wirke sie dissozialitätsbegünstigend.
[028:211] Zwei Beobachtungen indessen lassen Vorsicht geraten sein bei so allgemeiner Formulierung. Wäre diese These nämlich in solcher Einfachheit ohne Modifikation richtig, könnte man aus ihr folgern, daß mit sinkendem sozio-ökonomischem Niveau Dissozialitätshäufigkeit und Dissozialitätsgrad ansteigen. Das aber ist nicht der Fall. Kontrolliert man nämlich bei den Gruppen, die etwa nach dem |a 119|extremen Gesichtspunkt der Schwersterziehbarkeit ausgelesen werden, die soziale Herkunft, verringert sich der Anteil von Kindern aus Unterschicht-Familien.
[028:212] Die zweite zur Vorsicht veranlassende Beobachtung betrifft die zu vermutende
Dunkelziffer
von Mittelschicht-Kindern. Zwar ist der Anteil dieser Gruppe an den Heimeinweisungsfällen in den letzten Jahren gestiegen. Zwar ist vermutlich in den letzten Jahren auch die Schwelle niedriger geworden, die vor allem Eltern der Mittelschicht überwinden müssen, um sich an das Jugendamt um Hilfe zu wenden. Derjenige Teil der Bevölkerung aber, der über hinreichende ökonomische Mittel verfügt, kann auch heute noch die öffentliche Erziehung auf dem Wege über privat|A B 144|wirtschaftliche Beratungs-, Behandlungs- und Therapie-Einrichtungen umgehen. Werden jedoch Erziehungsmaßnahmen der öffentlichen Ersatzerziehung unumgänglich, dann ist zu vermuten, daß die Mittelschicht, wenn irgend möglich, die Zwangseinweisung in die Fürsorgeerziehung dadurch vermeiden wird, daß sie ihr durch die Vereinbarung der Freiwilligen Erziehungshilfe zuvorkommt. Da kein statistisch verläßliches Material vorliegt, muß es bei dieser Vermutung bleiben .......
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[028:214] AB Aus der jugendkriminologischen Forschung sowohl in der Bundesrepublik wie in England und den USA ergibt sich, daß diejenigen Merkmale, die ein späteres delinquentes Verhalten der Kinder vorhersagen lassen, zum großen Teil mit allgemeinen Merkmalen des Unterricht-Verhaltens zusammenfallen. Sheldon und Eleanor Glueck12
|AB 182||a 122|12E. and Sh. Glueck, Unraveling Juvenile Delinquency, Cambridge/Mass. ²1951; dies., Jugendliche Rechtsbrecher, Stuttgart 1963.
haben z. B. ermitteln können, daß delinquente Jugendliche in der Regel aus Familien stammen, die zu Planlosigkeit neigen und dazu,
von der Hand in den Mund zu leben
. Dieser Sachverhalt ist freilich für den bürgerlichen
common sense
nicht überraschend. Das gilt gewiß auch für die Untersuchungsergebnisse der Sozialisationsforschung von Kohn, Strodtbeck, Bronfenbrenner, Grimm und anderen, daß Unterschicht-Familien generell gegenwartsorientiert sind und wenig zukunftsorientiertes Planungsverhalten zeigen – Ergebniise, die übrigens auch in der deutschen Bildungsforschung bestätigt werden konnten.13
|AB 182||a 122|13D. C. McClelland / A. L. Baldwin / U. Bronfenbrenner / F. L. Strodtbeck, Talent and Society, Princeton, N. J., 1958; J. I. Roberts (Ed.), School Children in the Urban Slum, New York 1967; M. L. Kohn, Social Class and Parental Values; in: The American Journal of Sociology, 64 (1959), S. 337-351; S. Grimm, Die Bildungsabstinenz der Arbeiter, München 1966.
[028:215] Diese Trivialität wird aber bedeutsam, wenn man sie als die Folge einer sozialen Zwangslage interpretiert. Die Unterschicht befindet sich in einer sozialen Situation, durch die der soziale Aufstieg objektiv wenig wahrscheinlich gemacht wird. Sie bildet deshalb ein Wertorientierungsprofil aus, das dieser Lage angepaßt wird, wenn auch resignativ, wenn auch in dem richtigen Gefühl, daß ihr etwas versagt wird, das doch formell, dem Anspruch dieser Gesellschaft nach, ihr zukommen könnte. Nur durch die Aufgabe ihrer schichtenspezifischen Wertorientierung, insbesondere durch eine Veränderung ihres Leistungsverhaltens, können die Angehörigen der Unterschicht aufsteigen; soziale Situation und Berufsrolle aber drängen ihnen einen Orientierungs- und Verhaltenshabitus auf, der – durch die familiäre Erziehungspraxis vermittelt – die Kinder in den Gewohnheiten dieser Schicht festhält, statt sie daraus befreien zu können. ......
AB AB
[028:219] ...... Sozio-ökonomische und sozio-kulturelle Situation sind keine voneinander unabhängigen Variablen. Wären sie es, müßten wir den international regelmäßig größten Anteil der Unterschicht an Dissozialität für einen Zufall halten. Statt dessen scheint es so zu sein, daß die Zugehörigkeit zur Unterschicht und die damit verbundene Benachteiligung in den Lebenschancen defizitäre Familienstrukturen begünstigt.
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[028:220] Solche Strukturen haben eine Sozialisationspraxis zur Folge, welche dissoziale Verhaltensdispositionen leicht entstehen läßt und die Wahrscheinlichkeit mindert, daß entstandene Dispositionen vom gegebenen Erziehungsfeld selbst rückgängig gemacht werden können. – Oder anders formuliert: Verwahrlosung entsteht in unserer Gesellschaft dadurch immer neu, daß eine Gruppe durch den Schichtenaufbau in einer Zwangslage gehalten wird, die sie an der gleichberechtigten Beteiligung am Sozialprodukt hindert.
[028:221] Bei dem Versuch, die vorliegende Sozialisationsforschung auf die ermittelten Regelmäßigkeiten hin durchzusehen, das heißt, die Befunde danach zu ordnen, wie bestimmte familiäre Erziehungseinstellungen immer wieder bestimmte, dazu passende Folgen im Verhalten der Kinder nach |A B 149|sich ziehen, hat Schaeffer ein hypothetisches Modell entwickelt17
|AB 182||a 122|17E. S. Schaefer, Converging Conceptual Models for Maternal Behavior and for Child Behavior, in: J. C. Glidewell (Ed.), Parental Attitutes and Child Behavior, Springfield 1961, S. 124-148, und K. Mollenhauer, Sozialisation .... a. a. O.
, das auch für unsere Zwecke tauglich und erklärungsfähig zu sein scheint. Danach lassen sich die Erziehungseinstellungen nach zwei Dimensionen ordnen:
Hier ist das Circumplex-Modell als graphisches Schaubild zu sehen.
[028:222] Jede Erziehungseinstellung, so mein Schaeffer, läßt sich auf der Skala zwischen den beiden Extremen an irgendeinem Punkt eintragen. Trägt man nun die Merkmale der Dimension Autonomy – Control in der Senkrechten, die Merkmale der Dimension Hostility – Love in der Waagrechten ein, dann entsteht ein Koordinatensystem mit vier Quadranten. Die Quadranten bezeichnen typische Sozialisationsweisen.
[028:223] Das Modell erlaubt es, die Variablen der Sozialstruktur, der Genese von Dissozialität und der Formen des pädagogischen Eingriffs in den entsprechenden Jugendhilfe-Maßnahmen zu verbinden. Nach allen Befunden zur Erziehungseinstellung der Unterschicht wäre sie in den unteren Quadranten zu lokalisieren. Sie zeichnet sich durch ein Überwiegen der Kontrollfunktionen aus, Gehorsam, kollektivistische Orientierung, hohe Grade von disziplinierenden Erziehungsweisen, niedriges Aspirationsniveau, geringes Selbständigkeitstraining. Es handelt sich dabei um Einstellungen, die im Normalfall für die Kinder geringe Aufwärtsmobilität, das heißt also zunächst geringen Schulerfolg vorhersagen lassen. Es sind aber auch diejenigen Einstellungen, die, wenn sie besonders extrem ausgeprägt sind, Dissozialität vorhersagen lassen.
[028:224] Sehen wir nun aber auf die bei der pädagogischen Behandlung von dissozialen Jugendlichen übliche Praxis, dann hat es den Anschein – freilich mit Ausnahme der immer zahlreicher werdenden kleinen spezialisierten Heime –, als werde hier genau jenes Sozialisationssyndrom fortgesetzt, |A B 150|das, durch die ökonomischen Bedingungen der sozialen Schicht erzwungen, die Entstehung der Dissozialität vordem gerade begünstigt hatte. In besonders hohem Maße gilt das vom Jugendstrafvollzug. Der Zirkel schließt sich.
[028:225] Für die Jugendhilfe ist das eine fatale Situation. Denn selbst wenn sie durch eine konsequente Veränderung der Bedingungen, unter denen sie zu erziehen sucht, und der Formen, deren sie sich dabei bedient, den Kreis durchbrechen wollte, würde sie nicht mehr leisten können, als nun dem einzelnen Probanden nach seiner Entlassung den Kampf mit der Sozialstruktur aufzubürden. Unter solchen |a 121|Bedingungen erscheint die alte sozialpädagogische Formel
Fürsorge als persönliche Hilfe
wie der adäquate Ausdruck einer bewußtlos resignativen Anpassung in die Unvermeidlichkeit des Zirkels. Das beste, was den sogenannten Fürsorgeeinrichtungen zu tun bleibt, ist eine Organisation ihres Erziehungsfelds, die je im einzelnen Fall die restriktiven Bedingungen aufzuheben versucht. Sie kann nur hoffen, daß die so neu entwickelten Motivationen des Jugendlichen ihm selbst, im einzelnen Fall, es möglich machen, den Zirkel zu durchbrechen. Sie weiß aber schon von vornherein, daß die Sozialstruktur für die Produktion weiteren Nachwuchses sorgen wird. Aufgabe einer demokratischen Jugendhilfe aber wäre die Aufhebung der Gültigkeit des Modells.
AB
Die Situation der Jugend zwischen Arbeit, Freizeit und politischer Beteiligung:
AB
Giesecke
AB
ders.
AB
Müller
AB
Kentler
AB
Mollenhauer
AB
Giesecke
AB
Müller
AB
Sozialisationsprobleme der Vorschulkindheit:
AB
Die Entstehung individueller Konfliktlagen und deren Lösung in gesellschaftlich nicht akzeptierter Art und Weise:
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Schüler-Springorum
AB
Sieverts
AB
Kollektive Konfliktlagen und Mangelsituationen und deren Folgen:
AB
Passow
AB
Depressed
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Hilfsmaßnahmen
AB
Disssozialitätsprobleme
AB
Jugendhilfe-Maßnahme
AB
natürlich
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pädagogisches
AB
Maßnahme
AB
Zusammenhängen
AB
[028:204] Der schichtenspezifische Charakter der pädagogischen Dissozialitäts-Problematik, das heißt der Phänomene, die mit der Erziehung verwahrloster und krimineller Kinder und Jugendlicher zusammenhängen, trat nie wieder – wenn ich recht sehe – so augenfällig hervor, wie am Anfang der Entwicklung zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Soweit es sich aus den Quellen erschließen läßt, waren die Kinder und Jugendlichen, die in den einschlägigen Institutionen, also vornehmlich Erziehungsheimen und Pflegestellen, auftauchten, ausschließlich Angehörige der Unterschicht, des städtischen und ländlichen Proletariats. Die pädagogische Ideologie dieser Einrichtungen nahm vorweg, was in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der Bourgeoisie als klassenkämpferisches Mittel gegen die Schulen und die Lehrerbildung eingesetzt wurde: die Beschränkung des kognitiven Lernangebots auf nur wenige schichtenspezifische Fertigkeiten und die ausgiebige Verwendung der Religion als eines Mittels, das die Einhaltung des Moralkodex am ehesten zu garantieren versprach. So realistisch Autoren und Praktiker wie Falck, Wichern oder Völter auch die Situation ihrer Klienten bzw. Zöglinge einschätzen mochten, so phantasiereich sie im Erfinden neuer Formen des pädagogischen Umgangs waren: über diese Schwelle kamen sie nicht hinaus.4
4K. Mollenhauer, Die Ursprünge der Sozialpädagogik in der industriellen Gesellschaft, Weinheim 1959.
[028:205] Sie entsprachen damit einer in der pädagogischen Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts häufigen Einstellung zu den Bildungsproblemen der Unterschicht. Religion – so hieß es – sei dieser Schicht unerläßlich, allerdings nur, sofern religiöse Bildung nicht dazu verleitet, die Gleichheit vor Gott auch als ein Postulat der Gleichheit der Stände und Schichten mißzuverstehen. Man dürfe es getrost der Religion überlassen, so schrieb Justus Möser,
»ein Reich Gottes ohne Aktien (das heißt ohne ungleiche Verteilung des Besitzes und der Rechte) zu errichten und die Menschen unter der Rubrik vom armen Sünder auszugleichen«
5
5Zitiert nach P. M. Roeder, Erziehung und Gesellschaft. Ein Beitrag zur Problemgeschichte unter besonderer Berücksichtigung des Werkes von Lorenz von Stein, Weinheim 1968.
. Religion galt als unentbehrlich, weil sie für jenen Teil der Bevölkerung nötig schien, der über keine andere Motivation verfügte, um sich gesellschaftlich adäquat zu verhalten.
»Für das der Bildung des Verstandes weder fähige noch bedürftige Volk«
– so folgert Roeder für jene Erziehungseinstellung –
»bleibt also nur eine Erziehung, die es gewissermaßen blind in den gesellschaftlichen Prozeß einordnet, eine Gewöhnung an Gehorsam, Disziplin, vor allem unablässige Arbeit.«
6
6A. a. O., S. 22 f.
Die pädagogischen Mittel zu solchem Zweck sind Arbeit in den untersten Rängen der Arbeitsteilung, in Manufaktur und Landwirtschaft, und religiöse Unterweisung.
[028:206] Der darin zum Ausdruck kommende Zusammenhang zwischen einem Merkmal der Sozialstruktur – hier die Schichtung der Gesellschaft in gegeneinander unversöhnlich abgegrenzte soziale Strata – und einer korrelierenden, die Sozialstruktur bestätigenden pädagogischen Einstellung, ist nicht nur ein Stück Vergangenheit, sondern zieht sich durch die Geschichte der Jugendhilfe bis in unsere Gegenwart. Jugendhilfe wird zu einer Art sozialer Befriedungsaktion, um die Beunruhigung loszuwerden, die von den betreuten Schichten und Gruppen ausgeht. Selbst die Jugendpflege gehört in diesen Zusammenhang. Die Diskussion um den hereditären Charakter von Dissozialität, die humangenetisch-deterministischen Erklärungsschemata, die besonders für Fürsorgeerziehung und Jugendstrafvollzug eine große Rolle spielten, konnten diesen Sachverhalt zwar vorübergehend verdecken. In Strafvollzugsordnungen für den Jugendstrafvollzug aber taucht die gleiche ideologische Figur wieder auf.
»Arbeit ist die Grundlage eines geordneten und wirksamen Strafvollzuges. Sie soll, soweit erforderlich, die Arbeitsgesinnung des Gefangenen wecken, ihn an regelmäßiges, auf Arbeit aufgebautes Leben gewöhnen, sowie körperliche und seelische Schäden ausschließen.«
7
7Zitiert nach Th. Hofmann, Jugend im Gefängnis. Pädagogische Untersuchungen über den Strafvollzug an Jugendlichen, München 1967, S. 161.
Was heißt hier Arbeit? Die Jugendstrafanstalt, für die die gerade zitierte Vollzugsordnung gilt, verteilt unter ihren |A B 142|Jugendlichen die Arbeit folgendermaßen: Rund 80 Prozent sind mit ungelernter Arbeit beschäftigt (Schuhe nähen, Blech- und Drahtarbeiten, Sortieren von Kleineisenwaren, Mattenherstellung, Tütenkleben), rund 20 Prozent arbeiten in Lehrberufen.8
8A. a. O., S. 161 f.
Vier Fünftel also müssen eindeutig Arbeiten verrichten, die für die untere Unterschicht spezifisch sind. Über die Frage der beruflichen Qualifikation hinaus wissen wir außerdem aus der Sozialisationsforschung, daß Verhalten, Wertorientierung und Aspirationsniveau im Hinblick auf Lernzuwachs und soziales Fortkommen hochgradig von der ausgeübten Berufsrolle abhängen, und zwar nicht nur für den Träger dieser Rolle selbst, sondern auch, vermittelt durch entsprechende Erziehungseinstellungen, für die nachwachsende Generation.9
9Vgl. die Sekundär-Analyse von H.-G. Rolff, Sozialisation und Auslese durch die Schule, Heidelberg 1967. Ferner: K. Mollenhauer, Sozialisation und Schulerfolg, in: H. Roth (Hrsg.), Begabung und Lernen. Ergebnisse und Folgerungen neuer Forschungen, Stuttgart 1968 .
Wir haben deshalb guten Grund für die Vermutung, daß der Strafvollzug in diesem Fall eine Stätte besonders wirkungsvoller Reproduktion des Sozialcharakters der Unterschicht ist.
[028:207] Obwohl in einer Untersuchung entlassener Fürsorgezöglinge von Pongratz und Hübner10
10L. Pongratz / H.-O. Hübner, Lebensbewährung nach öffentlicher Erziehung. Eine Hamburger Untersuchung über das Schicksal aus der Fürsorge-Erziehung und der Freiwilligen Erziehungshilfe entlassener Jugendlicher, Darmstadt 1959.
die Zahl der positiven Bewertungen der Arbeitsverhältnisse im Heim durch die ehemaligen Zöglinge doppelt so groß ist wie die Zahl der negativen, können wir auch für die Heimerziehung noch vermuten, daß die zur Verfügung stehenden Arbeitsbedingungen jener Unterschicht-Tendenz folgen.
[028:208] Das sei nun aber – so könnte eingewendet werden – keineswegs ein kritisches Resultat. Denn natürlich entstammen die meisten Probanden, die wegen Dissozialität auffällig und einer Jugendhilfe-Institution zugewiesen werden, der Unterschicht. Sie verfügen dementsprechend nur über jene Fähigkeiten, die sie zu keiner anderen als einer unterschicht-spezifischen Berufsleistung qualifizieren. Ein solches
»Argument«
wäre jedoch nur die scheinbar entideologisierte Fassung jener Jugendhilfe-Maxime vom Beginn des 19. Jahrhunderts.
AB
Specht
AB
und
AB
. Gehen wir diesen Spekulationen aber weiter nach, dann ergibt sich eine interessante Beobachtung: Der Anteil der Fälle von Freiwilliger Erziehungshilfe, also derjenigen Einrichtung, für die ich einen größeren Anteil von Mittelschicht-Kindern vermute als für die Fürsorgeerziehung, liegt in den Bundesländern Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz, Saarland und Bayern am niedrigsten. Er ist zugleich niedriger als der Anteil der Fälle von Fürsorgeerziehung. In den anderen Bundesländern ist das Verhältnis von Fürsorgeerziehung und Freiwilliger Erziehungshilfe entweder ausgewogen oder es ist ein zahlenmäßiges Überwiegen der Freiwilligen Erziehungshilfe festzustellen.
AB
[028:213] Was kann das bedeuten? Es scheint im Sinne meiner Annahme nicht abwegig zu vermuten, daß der geringe Anteil der Freiwilligen Erziehungshilfe in den vier Ländern ein Index für den ausgeprägt schichtenspezifischen Charakter der Heimerziehung ist. (Interessant ist, daß in diesen Ländern auch der schichtenspezifische Auslesemechanismus durch die weiterführenden Schulen sehr ausgeprägt ist.) Denn: Die Vereinbarung von Freiwilliger Erziehungshilfe enthält die größere Wahrscheinlichkeit, einem kleinen und auf bestimmte Verhaltensauffälligkeiten spezialisierten Heim zugewiesen zu werden, als die Anordnung von Fürsorgeerziehung. Dieser pädagogische Vorteil also kommt damit auch mit größerer Wahrscheinlichkeit den Mittelschicht-Kindern zugute. Die Unterprivilegierung der Unterschicht läßt sich also dort vermuten, wo die Anordnung der Fürsorgeerziehung die erheblich überwiegende Maßnahme darstellt.
AB
Ich kehre wieder zurück auf etwas sichereren Boden für die Beurteilung des Zusammenhangs der Variablen Schichtenzugehörigkeit und Dissozialität.
AB
Unterschicht
AB
Glueck
AB
dies.,
AB
Ergebnisse
AB
McClelland
AB
Baldwin
AB
Bronfenbrenner
AB
Strodtbeck
AB
Roberts
AB
Kohn
AB
,
AB
Grimm
AB
Ähnlich verhält es sich mit dem von Glueck als prognosefähiges Merkmal ermittelten verbalen |A B 146|Konkretismus, ein Ergebnis, das den Vergleich mit dem von Bernstein und neuerdings erheblich genauer von Oevermann festgestellten restringierten Sprach-Code von Unterschicht-Kindern herausfordert. Diese Variable korreliert überdies mit einem die Schichtenzugehörigkeit noch präzisierendem Merkmal: der Art der beruflichen Tätigkeit. Sprachlicher Konkretismus und restringierter Sprachgebrauch sind um so ausgeprägter, je geringer die Bedeutung und der Umfang sind, die der sprachlichen Kommunikation der Väter am Arbeitsplatz zukommt.
AB
[028:216] Im Anschluß an solche Untersuchungsbefunde folgerte Thomae für die USA und als Ausgangspunkt für eigene Untersuchungen:
»Im Falle der untersten Klasse ... bildet sich ein Verhaltenssystem aus, das von vornherein auf die
normale
oder
legale
Teilhabe am Sozialprodukt verzichtet. In der oberen Schicht ist die Teilhabe sozusagen selbstverständlich. In der Mittelschicht werden dagegen von Eltern wie Kindern Verhaltenssysteme kultiviert und ausgebaut, welche die Teilhabe am Wohlstand durch Leistung, Wettbewerb, durch Kontrolle des Verhaltens und dergleichen begünstigen.«
14
14H. Thomae, Sozioökonomischer Status und Persönlichkeitsentwicklung, in: Hartmut v. Hentig (Hrsg.), Sozialisierung in einer asozialen Gesellschaft, Neue Sammlung, Jg. 1967, S. 406-412.
Thomae formulierte daraus für eigene Untersuchungen die Hypothese, daß niedriger sozio-ökonomischer Status eine Absperrung und Restriktion des
»psychologischen Lebensraumes«
, erhöhter sozio-ökonomischer Status dagegen eine erhöhte
»Offenheit«
schaffe. Er fand diese Hypothese bestätigt, und zwar sowohl bei Kindern wie bei Erwachsenen, zumal bei alten Leuten. Die restriktive Unterschicht-Situation bewirke außerdem vornehmlich zwei Reaktionsweisen: konformistische Anpassung oder Rückzug in die Aggression.
[028:217] Danach scheint es so, als bringe ein und dieselbe sozio-ökonomische Situation zwei sehr verschiedene Verhaltensweisen hervor, deren eine sozial angepaßtes, deren andere aber dissoziales Verhalten bedeutet. Damit hat Thomae zugleich einen Einwand gegen die These vom schichtenspezifischen Charakter der Dissozialität nahegelegt, jedenfalls sofern diese These auch die Behauptung einschließt, daß die schichtenspezifischen Variablen als Ursachen anzusehen |A B 147|seien. Ähnliches läßt sich aus den Prognoseuntersuchungen Gluecks oder den deutschen Arbeiten von Brauneck und anderen folgern. Die Gluecksche Untersuchung beruht ja bekanntlich auf Paarvergleichen von 500 Jugendlichen mit weitgehend gleichen sozialen Herkunftsmerkmalen, in denen immer ein dissozial gewordener Jugendlicher einem ohne Verhaltensauffälligkeiten gegenübergestellt wurde. Es ließe sich daraus der Einwand formulieren, daß der sozio-ökonomische Status wohl doch keine ausschlaggebende Rolle spielen könne.
[028:218] Dieser Einwand verfängt aber nicht, und zwar deshalb, weil die zusätzlichen Bedingungen, denen die auffällig gewordenen Jugendlichen während ihrer Entwicklung unterlagen, zum größten Teil nur eine Verschärfung der für die Unterschicht ohnehin typischen Merkmale darstellen. Allerdings gibt es eine Beobachtung, die meiner These tatsächlich etwas von ihrer Glaubwürdigkeit nehmen könnte. Nach amerikanischen Untersuchungen gehört es zum Kern der unterschichttypischen Dissozialität, daß die Reaktion auf die sozial erzwungenen Beschränkungen in aggressiver Bandentätigkeit auftritt.15
15A. K. Cohen, Kriminelle Jugend, Reinbek 1961.
Die kriminelle jugendliche Bande aber ist in der Bundesrepublik offenbar kein Phänomen, das mit dem sozio-ökonomischen Status korreliert. Specht, der dieser Frage nachgegangen ist, meint deshalb, daß ökonomische Faktoren hier auch keine Rolle spielen. Er konnte nicht nachweisen, daß der Anschluß an delinquente Gruppen, der bei den männlichen Jugendlichen seiner Stichprobe insgesamt bei 27 Prozent lag, in der unteren Unterschicht häufiger als in den übrigen Schichten vorkommt.16
16Fr. Specht, a. a. O.
Das wäre ein Einwand gegen die Anwendbarkeit der Theorie Cohens auf deutsche Verhältnisse. Cohen wollte die Delinquenz der Unterschicht-Jugend ja gerade auf deren Status-Probleme zurückführen, die sie durch Angriff auf die Mittelschicht und die Schaffung einer eigenen, Selbstsicherheit verleihenden Bezugsgruppe zu lösen hofft. Das aber scheint für deutsche Verhältnisse nicht zuzutreffen, denn das entscheidende Argument Cohens versagt hier: Dissoziale Jugendliche der Unterschicht solidari|A B 148|sieren sich nicht signifikant häufiger als solche aus anderen Schichten.
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Sozialisation und Dissozialität

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Aus den verschiedenen möglichen Einwänden ergibt sich vielleicht doch soviel, daß es nicht schon der generell konstatierbare schichtenspezifische Sozialcharakter ist, der Kinder und Jugendliche der Unterschicht eher als
»Fälle«
von Heimerziehung oder anderen Formen öffentlicher Ersatzerziehung auftreten läßt – von den somatischen Bedingungen einmal abgesehen –, sondern in der Regel eine sozio-kulturelle Variante dieses Charakters, die sich allerdings in den meisten Fällen nur in einer quantitativen Verstärkung der Schichtenmerkmale, nicht in qualitativ anderen Merkmalen ausdrückt.
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Schaefer
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meint
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Dissozialität: ein Unterschicht-Phänomen?

[028:209] Stimmt indessen die These, daß die soziale Zusammensetzung der von Jugendhilfe-Institutionen betreuten Kinder und Jugendlichen das Ergebnis eines schichtspezifischen Ausleseprozesses ist?
[028:210] Obwohl wir über keine Gesamtstatistik verfügen, in der die z. B. in Heimerziehung untergebrachten Minderjährigen nach ihrer sozio-ökonomischen Herkunft aufgeschlüsselt sind, geben einige Einzeluntersuchungen doch durch weitgehende Übereinstimmung halbwegs verläßliche Anhaltspunkte. So können wir damit rechnen, daß ungefähr 75 Prozent der Jungen und 80 Prozent der Mädchen aus Familien stammen, die der Unterschicht angehören.11
11Vgl. Fr. Specht, Sozialpsychiatrische Gegenwartsprobleme der Jugendverwahrlosung, Stuttgart 1967.
Der Rest gehört der unteren und mittleren Mittelschicht an. Betrachtet man also zunächst naiv die Schichtmerkmale der Unterschicht als unabhängige Variable, dann scheint es, als wirke sie dissozialitätsbegünstigend.
[028:211] Zwei Beobachtungen indessen lassen Vorsicht geraten sein bei so allgemeiner Formulierung. Wäre diese These nämlich in solcher Einfachheit ohne Modifikation richtig, könnte man aus ihr folgern, daß mit sinkendem sozio-ökonomischem Niveau Dissozialitätshäufigkeit und Dissozialitätsgrad ansteigen. Das aber ist nicht der Fall. Kontrolliert man nämlich bei den Gruppen, die etwa nach dem |a 119|extremen Gesichtspunkt der Schwersterziehbarkeit ausgelesen werden, die soziale Herkunft, verringert sich der Anteil von Kindern aus Unterschicht-Familien.
[028:212] Die zweite zur Vorsicht veranlassende Beobachtung betrifft die zu vermutende
»Dunkelziffer«
von Mittelschicht-Kindern. Zwar ist der Anteil dieser Gruppe an den Heimeinweisungsfällen in den letzten Jahren gestiegen. Zwar ist vermutlich in den letzten Jahren auch die Schwelle niedriger geworden, die vor allem Eltern der Mittelschicht überwinden müssen, um sich an das Jugendamt um Hilfe zu wenden. Derjenige Teil der Bevölkerung aber, der über hinreichende ökonomische Mittel verfügt, kann auch heute noch die öffentliche Erziehung auf dem Wege über privat|A B 144|wirtschaftliche Beratungs-, Behandlungs- und Therapie-Einrichtungen umgehen. Werden jedoch Erziehungsmaßnahmen der öffentlichen Ersatzerziehung unumgänglich, dann ist zu vermuten, daß die Mittelschicht, wenn irgend möglich, die Zwangseinweisung in die Fürsorgeerziehung dadurch vermeiden wird, daß sie ihr durch die Vereinbarung der Freiwilligen Erziehungshilfe zuvorkommt. Da kein statistisch verläßliches Material vorliegt, muß es bei dieser Vermutung bleiben .......
|A B 145|
[028:214] Aus der jugendkriminologischen Forschung sowohl in der Bundesrepublik wie in England und den USA ergibt sich, daß diejenigen Merkmale, die ein späteres delinquentes Verhalten der Kinder vorhersagen lassen, zum großen Teil mit allgemeinen Merkmalen des Unterricht-Verhaltens zusammenfallen. Sheldon und Eleanor Glueck12
12E. and Sh. Glueck, Unraveling Juvenile Delinquency, Cambridge/Mass. ²1951; dies., Jugendliche Rechtsbrecher, Stuttgart 1963.
haben z. B. ermitteln können, daß delinquente Jugendliche in der Regel aus Familien stammen, die zu Planlosigkeit neigen und dazu,
»von der Hand in den Mund zu leben«
. Dieser Sachverhalt ist freilich für den bürgerlichen
»common sense«
nicht überraschend. Das gilt gewiß auch für die Untersuchungsergebnisse der Sozialisationsforschung von Kohn, Strodtbeck, Bronfenbrenner, Grimm und anderen, daß Unterschicht-Familien generell gegenwartsorientiert sind und wenig zukunftsorientiertes Planungsverhalten zeigen – Ergebniise, die übrigens auch in der deutschen Bildungsforschung bestätigt werden konnten.13
13D. C. McClelland / A. L. Baldwin / U. Bronfenbrenner / F. L. Strodtbeck, Talent and Society, Princeton, N. J., 1958; J. I. Roberts (Ed.), School Children in the Urban Slum, New York 1967; M. L. Kohn, Social Class and Parental Values ; in: The American Journal of Sociology, 64 (1959), S. 337-351; S. Grimm, Die Bildungsabstinenz der Arbeiter, München 1966.
[028:215] Diese Trivialität wird aber bedeutsam, wenn man sie als die Folge einer sozialen Zwangslage interpretiert. Die Unterschicht befindet sich in einer sozialen Situation, durch die der soziale Aufstieg objektiv wenig wahrscheinlich gemacht wird. Sie bildet deshalb ein Wertorientierungsprofil aus, das dieser Lage angepaßt wird, wenn auch resignativ, wenn auch in dem richtigen Gefühl, daß ihr etwas versagt wird, das doch formell, dem Anspruch dieser Gesellschaft nach, ihr zukommen könnte. Nur durch die Aufgabe ihrer schichtenspezifischen Wertorientierung, insbesondere durch eine Veränderung ihres Leistungsverhaltens, können die Angehörigen der Unterschicht aufsteigen; soziale Situation und Berufsrolle aber drängen ihnen einen Orientierungs- und Verhaltenshabitus auf, der – durch die familiäre Erziehungspraxis vermittelt – die Kinder in den Gewohnheiten dieser Schicht festhält, statt sie daraus befreien zu können. ......
[028:219] ...... Sozio-ökonomische und sozio-kulturelle Situation sind keine voneinander unabhängigen Variablen. Wären sie es, müßten wir den international regelmäßig größten Anteil der Unterschicht an Dissozialität für einen Zufall halten. Statt dessen scheint es so zu sein, daß die Zugehörigkeit zur Unterschicht und die damit verbundene Benachteiligung in den Lebenschancen defizitäre Familienstrukturen begünstigt.
|a 120|
[028:220] Solche Strukturen haben eine Sozialisationspraxis zur Folge, welche dissoziale Verhaltensdispositionen leicht entstehen läßt und die Wahrscheinlichkeit mindert, daß entstandene Dispositionen vom gegebenen Erziehungsfeld selbst rückgängig gemacht werden können. – Oder anders formuliert: Verwahrlosung entsteht in unserer Gesellschaft dadurch immer neu, daß eine Gruppe durch den Schichtenaufbau in einer Zwangslage gehalten wird, die sie an der gleichberechtigten Beteiligung am Sozialprodukt hindert.
[028:221] Bei dem Versuch, die vorliegende Sozialisationsforschung auf die ermittelten Regelmäßigkeiten hin durchzusehen, das heißt, die Befunde danach zu ordnen, wie bestimmte familiäre Erziehungseinstellungen immer wieder bestimmte, dazu passende Folgen im Verhalten der Kinder nach |A B 149|sich ziehen, hat Schaeffer ein hypothetisches Modell entwickelt17
17E. S. Schaefer, Converging Conceptual Models for Maternal Behavior and for Child Behavior, in: J. C. Glidewell (Ed.), Parental Attitutes and Child Behavior, Springfield 1961, S. 124-148, und K. Mollenhauer, Sozialisation .... a. a. O.
, das auch für unsere Zwecke tauglich und erklärungsfähig zu sein scheint. Danach lassen sich die Erziehungseinstellungen nach zwei Dimensionen ordnen:
Hier ist das Circumplex-Modell als graphisches Schaubild zu sehen.
[028:222] Jede Erziehungseinstellung, so mein Schaeffer, läßt sich auf der Skala zwischen den beiden Extremen an irgendeinem Punkt eintragen. Trägt man nun die Merkmale der Dimension Autonomy – Control in der Senkrechten, die Merkmale der Dimension Hostility – Love in der Waagrechten ein, dann entsteht ein Koordinatensystem mit vier Quadranten. Die Quadranten bezeichnen typische Sozialisationsweisen.
[028:223] Das Modell erlaubt es, die Variablen der Sozialstruktur, der Genese von Dissozialität und der Formen des pädagogischen Eingriffs in den entsprechenden Jugendhilfe-Maßnahmen zu verbinden. Nach allen Befunden zur Erziehungseinstellung der Unterschicht wäre sie in den unteren Quadranten zu lokalisieren. Sie zeichnet sich durch ein Überwiegen der Kontrollfunktionen aus, Gehorsam, kollektivistische Orientierung, hohe Grade von disziplinierenden Erziehungsweisen, niedriges Aspirationsniveau, geringes Selbständigkeitstraining. Es handelt sich dabei um Einstellungen, die im Normalfall für die Kinder geringe Aufwärtsmobilität, das heißt also zunächst geringen Schulerfolg vorhersagen lassen. Es sind aber auch diejenigen Einstellungen, die, wenn sie besonders extrem ausgeprägt sind, Dissozialität vorhersagen lassen.
[028:224] Sehen wir nun aber auf die bei der pädagogischen Behandlung von dissozialen Jugendlichen übliche Praxis, dann hat es den Anschein – freilich mit Ausnahme der immer zahlreicher werdenden kleinen spezialisierten Heime –, als werde hier genau jenes Sozialisationssyndrom fortgesetzt, |A B 150|das, durch die ökonomischen Bedingungen der sozialen Schicht erzwungen, die Entstehung der Dissozialität vordem gerade begünstigt hatte. In besonders hohem Maße gilt das vom Jugendstrafvollzug. Der Zirkel schließt sich.
[028:225] Für die Jugendhilfe ist das eine fatale Situation. Denn selbst wenn sie durch eine konsequente Veränderung der Bedingungen, unter denen sie zu erziehen sucht, und der Formen, deren sie sich dabei bedient, den Kreis durchbrechen wollte, würde sie nicht mehr leisten können, als nun dem einzelnen Probanden nach seiner Entlassung den Kampf mit der Sozialstruktur aufzubürden. Unter solchen |a 121|Bedingungen erscheint die alte sozialpädagogische Formel
»Fürsorge als persönliche Hilfe«
wie der adäquate Ausdruck einer bewußtlos resignativen Anpassung in die Unvermeidlichkeit des Zirkels. Das beste, was den sogenannten Fürsorgeeinrichtungen zu tun bleibt, ist eine Organisation ihres Erziehungsfelds, die je im einzelnen Fall die restriktiven Bedingungen aufzuheben versucht. Sie kann nur hoffen, daß die so neu entwickelten Motivationen des Jugendlichen ihm selbst, im einzelnen Fall, es möglich machen, den Zirkel zu durchbrechen. Sie weiß aber schon von vornherein, daß die Sozialstruktur für die Produktion weiteren Nachwuchses sorgen wird. Aufgabe einer demokratischen Jugendhilfe aber wäre die Aufhebung der Gültigkeit des Modells.