Die für dieses
Zitat in der 1. Auflage der Theorien zum
Erziehungsprozeß im Literaturverzeichnis angegebene
Publikation von Nyssen war inkorrekt und wurde dort in der 3.
Auflage korrigiert. Es handelt sich um Nyssen,
1971. [Klaus-Peter Horn]
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Das Ergebnis der Zitateprüfung kann in folgendem Zotero-Eintrag eingesehen werden: F8YWHLER
[047:7] Es ist sicher richtig [...], daß Pädagogik – sowohl in ihrer praktischen wie in ihrer
erziehungswissenschaftlichen Gestalt – innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft
in der Regel in Form eines Systems affirmativer Handlungs- und Erkenntnisregeln
aufgetreten ist. Sie hat sich keine theoretische Basis verschaffen können, von
der her es möglich gewesen wäre, das bestehende bürgerliche System pädagogischer
Distributionen – der Verteilung von Lebenschancen nach Maßgabe geltender und
materiell fundierter Herrschaftsbeziehungen – so strikt zu analysieren, daß das
Denken einer gesellschaftlichen Alternative notwendig zu ihrem Geschäft
gehörte.
[047:8] Dieses Problem – oder dieser Vorwurf – läßt sich auf verschiedenen
Ebenen erörtern:
–
[047:9] auf der Ebene des institutionell gegebenen
Handlungszusammenhangs in Familien, Schulen, Freizeiteinrichtungen,
Heimen etc., in denen die institutionell gesetzten Zwecke entweder
akzeptiert |b 423|oder nur auf gleicher Ebene gegen besser
funktionable vertauscht wurden;
–
[047:10] auf der Ebene gegenständlicher Theorie,
in der die gesellschaftlichen Bezüge nur als Randbedingungen eine Rolle
spielen, nicht aber zum zentralen Forschungsinteresse der Erziehungswissenschaften wurden;
–
[047:11] auf der Ebene wissenschaftstheoretischer
Begründung, wo es keine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem
Anspruch einer historisch-materialistischen Wissenschaftsauffassung gegeben
hat.
[047:12] (9)
[047:13] Diese Erörterung kann indessen auch hier nicht vorgenommen werden [...] Vorweg aber seien wenigstens einige Merk|A1 A2 A3 10|male der wissenschaftlichen Situation auf der
Ebene gegenständlicher Theorie genannt:(9 f.)
1.
[047:14] Das Problem der sozialen Ungleichheit und seiner pädagogischen
Folgen ist innerhalb der Erziehungstheorie nicht als eines ihrer
Hauptprobleme thematisiert worden.
»Ungleichheit«
wurde
von ihr immer eher als ein Thema der Soziologie betrachtet.
2.
[047:15]
»Arbeit«
wurde innerhalb der
Erziehungstheorie nur zum Gegenstand, sofern sie sich den
Bildungsinstitutionen als Teil des Curriculums eingliedern ließ, also in
Berufsschulen, in der Polytechnischen Bildung, der Arbeitslehre; allenfalls
noch in der Form eines formalisierten Arbeitsbegriffs, an dem nur noch die
Lernschritte interessieren, die im Verlauf eines Arbeitsvorganges
aufeinander folgen. Aber Arbeit als gesellschaftlich-konkretes Phänomen, als
Produktion einer Gesellschaft in bestimmten historischen Lagen, lag am Rande
des erziehungstheoretischen Interesses.
3.
[047:16] Mit den Fragen der Produktion hängen die Fragen nach der
Verwertung derjenigen Qualifikationen zusammen, die in den
Bildungsinstitutionen erworben werden oder erworben werden sollen. Statt
diese konkrete durch Institutionen und Sanktionen erzwungene Verknüpfung von
Erziehung und Gesellschaft in ihre Forschungsinteressen aufzunehmen,
orientierte sich die Erziehungstheorie eher an abstrakten Lern- und
Bildungszielen. Die Frage nach dem gesellschaftlichen
»Nutzen«
von Erziehung und Ausbildung blieb den Ökonomen vorbehalten;
der Erziehungstheorie schien dies ein marginales Thema zu sein.
4.
[047:17] Die dominierende Rolle, die im bürgerlichen Denken die Ka|b 424|tegorie
»Individualität«
spielt,
hat in der Pädagogik dazu geführt, daß Prozesse der
»Kollektivität«
eher abgewertet und abgewehrt wurden. Solidarität und
gemeinschaftliches Handeln wurden keine das Forschungsinteresse leitende
Begriffe; sie wurden zudem frühzeitig suspekt dadurch, daß sie in der
sozialistischen Pädagogik der zwanziger Jahre nachdrücklich unter dem
Gesichtspunkt einer klassenspezifisch orientierten Erziehungstheorie
hervorgehoben wurden und diese Theorie außerdem streckenweise in ihren
pädagogischen Sätzen den Charakter der alten normativen
Weltanschauungspädagogik hatte – was freilich nicht für ihre
gesellschaftstheoretischen Begründungen, sondern nur für die Form ihrer
pädagogisch-normativen Deduktion gilt.(10)
|A1 A2 A3 11|
5.
[047:18] Der geisteswissenschaftlichen Pädagogik erschien Gesellschaft
vornehmlich in Begriffen von
»Kultur«
, d. h. von
ideologischen Systemen, deren Substrat und Genese zu vernachlässigen erlaubt
schien. Kultur erschien damit allzu leicht schon als Gesellschaft und nicht
als deren ideologisches Derivat. Infolgedessen tauchte auch
gesellschaftlich-politisches Handeln nicht als ein Thema auf, das zu
behandeln für die Erziehungstheorie unabdingbar wäre.
[047:19] Defizite dieser Art haben einen doppelten Effekt gehabt. Einerseits
haben sich Soziologie, Politikwissenschaft und Ökonomie der vernachlässigten
Themen zum Teil angenommen. Pädagogik erscheint dort – besonders im Rahmen
soziologischer Forschung – als ein System von praktischen und theoretischen
Regeln, das selbst dem von der Pädagogik als
»Kultur«
zusammengefaßten Komplex zugehört und also – sofern dieser Komplex als System
bürgerlich-ideologischer Institutionen bestimmt werden kann – einer
ideologiekritischen Analyse unterzogen werden muß: d. h.
»Pädagogik«
muß demjenigen Substrat konfrontiert werden, dem sie ihre
Maximen verdankt (Ökonomie, Herrschaft, Ungleichheit). Die Themen, an denen
dieses Interesse augenfällig geworden ist, sind
»politische
Bildung«
,
»Bildungsbarrieren«
und
»Sozialisation«
.
[047:20] Die Skepsis gegenüber der bürgerlichen Pädagogik hat aber andererseits
zu einer noch weitergehenden Reaktion geführt: der Entwertung einer Theorie, die
sich die intersubjektiven Prozesse, die pädagogisches Handeln im Detail
ausmachen, zu ihrem Gegenstand macht. Das Mißtrauen gegenüber dem konservativen
|b 425|Charakter der Pädagogik veranlaßte besonders
Autoren, die sich der
»linken«
Bewegung zurechnen,
Erziehungsvorgänge nur noch in politischen bzw. ökonomischen Begriffen zu fassen
oder sie gar nicht mehr zum Thema zu machen, vielmehr die Analyse von
Bedingungen der Erziehung und deren Folgen im Kapitalverwertungsprozeß an die
Stelle von Erziehungstheorie zu setzen. Auf der theoretischen Ebene wird damit
die Differenz von Politik und Pädagogik (bzw. von politischer Ökonomie und
Erziehungswissenschaft), auf der praktischen Ebene die zwischen politischem und
pädagogischem Handeln vernichtet. Das wäre kein Verlust, wenn als eindeutig
geklärt gelten könnte, daß es sich bei der Behauptung dieser Trennung um einen
ideologischen Satz und bei der Praxis dieser Trennung um die
Institutionalisierung eines ideologischen In|A1 A2 A3 12|teresses handelt. Genau dies wird von mir
energisch bestritten. Zwar ist zutreffend, daß die Trennung von Politik und
Pädagogik häufig oder gar in der Regel die Funktion gehabt hat, politische
Fragestellungen dem Erziehungsdenken fernzuhalten, um es dadurch den
Herrschaftsinteressen dienstbar zu erhalten; zwar ist ebenso richtig, daß jene
Trennung ihre Genese in der Geschichte bürgerlicher Ideologien hat; Fragen nach
Funktion und Genese aber liegen auf einer anderen Ebene als die Fragen der Geltung.(11f.)
[047:21] Da es sich hierbei um ein für alle Theorien im Erziehungsfeld
fundamentales Problem handelt, müssen seine Aspekte mindestens skizziert werden,
weil sonst Mißverständnisse unvermeidlich sind und Kontroversen entlang einer
falsch bestimmten Konfliktlinie entstehen. Ich versuche deshalb, das Verhältnis
von Politik und Pädagogik (was als Sammelname für Praxis und Theorie der
Erziehung gelten soll) in einigen Thesen bzw. Hypothesen zu bestimmen:
[047:22] 1. Es ist die Annahme sinnvoll, daß jeder Erziehungsvorgang in den
Merkmalen seines Vollzuges politische Implikationen enthält. Der Erwachsene
bleibt auch als Erziehender ein Erwachsener in einem bestimmten
gesellschaftlich-politischen Kontext. Er gibt seine Berufsrolle nicht auf, wenn
er Vater ist; er gibt seine Rolle als Interessenvertreter nicht auf, wenn er
Lehrer ist; er gibt seine Abhängigkeit von einem Anstellungsträger nicht auf,
wenn er Heimerzieher ist; er gibt seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten
sozialen Gruppe, zu einer Klasse, seine ökonomischen, seine |b 426|Macht- und Prestige-Interessen nicht auf, wenn er erzieht: Kurz:
die Tatsache, daß er in einem durch Herrschaft strukturierten gesellschaftlichen
Kontext lebt, kann er zwar verleugnen, er kann sie aber nicht abschaffen;
jedenfalls nicht im Vollzug seines pädagogischen Handelns. Unter diesem Aspekt
erscheint also der gesellschaftliche Kontext als die
»Basis«
der Erziehung, seine politischen Komponenten gehören somit auch zu den
Basis-Komponenten des Erziehungsvorgangs. Erziehung ist nicht ein politisches
Exterritorium, in dem die Tatsache von Herrschaft und ihrer ökonomischen
Bedingungen suspendiert wäre. In diesem Sinne können die materiellen Spielräume,
die durch den sozialen Ort eines bestimmten Erziehungsfeldes gegeben sind, nicht
lediglich als Randbedingungen in die erziehungswissenschaftliche Analyse
eingebracht werden, sie gehören zu ihren konstitutiven Komponenten.(12)
|A1 A2 A3 13|
[047:23] 2. Es ist die Annahme sinnvoll, daß kein Erziehungsvorgang durch
Rekurs auf seine politischen Komponenten oder Implikationen vollständig und
zureichend erklärt werden kann. Unterstellt man jedoch, daß die entgegengesetzte
Annahme sinnvoll ist, daß also durchaus Erziehungsvorgänge zureichend in
politischen Begriffen beschrieben und erklärt werden können, dann würde diese
totale Subsumtion pädagogischer Phänomene unter die Kategorien der Herrschaft
und der Ökonomie einen Handlungstypus im Erziehungsfeld nahelegen, der nur noch
partiell rational werden könnte: Legitimes Handeln im Erziehungsfeld wäre dann
nämlich nur solches, das sich auf die politischen Basisbedingungen der Erziehung
richtet; innerhalb des Erziehungsfeldes wären nur noch – nach
funktionalistischem Muster – Wiederholungen und damit Bekräftigungen der
politischen Bedingungen möglich. Das ist das Dilemma der
»pädagogischen Linken«
: Durch ihre politische Theorie zu der
dichotomischen Unterscheidung von
»systemstabilisierenden«
und
»systemsprengenden«
Handlungen genötigt, verfügt sie über
keinen kategorialen Rahmen, der
»systemsprengendes Handeln«
als unmittelbares Erziehungshandeln zu fassen vermag. Zur Deduktion aus der
politischen Theorie genötigt, strukturiert sich das pädagogische Handlungsfeld
allzu leicht im Sinne einer normativen Indoktrination [...] Indessen: dies ist – wie sich in mancher Erziehungspraxis der letzten
Jahre gezeigt hat – eine mögliche, nicht aber eine notwendige Folge des
politischen Ver|b 427|ständnisses von Erziehung. Gerade der
Handlungskonsequenzen wegen muß alles daran gelegen sein, Erziehungswissenschaft
nicht zur Bildungssoziologie oder zu einem Anwendungsfall politischer Ökonomie
schrumpfen zu lassen. Sie würde sonst ihren Gegenstand verlieren und damit auch
den pädagogischen Handlungszusammenhang sich selbst überlassen. [...] Es ist die Annahme sinnvoll, daß neben den politischen Basisbedingungen
eine zweite Gruppe von Basisbedingungen des Erziehungshandelns gedacht werden
muß. In |A1 A2 A3 14|einer
Auseinandersetzung mit der marxistischen Erziehungstheorie und besonders im
Anschluß an [...]Bernfeld drückt Friedhelm Nyssen1
| 489|1Friedhelm
Nyssen (Hrsg.): Schule im Kapitalismus, Göttingen
1970.
das so aus: (13f.)
[047:24a]
»Die Ohnmacht von Kindern gegenüber
Erwachsenen ist, das behaupte ich, ein
kapitalismusunabhängiges Phänomen, eine, mit Bernfeld
gesprochen, Konstante aller Erziehung.«
[047:27] [...] Jeder aus dem politischen Theoriezusammenhang deduzierte Satz, der in
pädagogischen Kontexten gelten soll, muß sich als legitim im Hinblick auf den
Umgang mit einer heranwachsenden Generation als eines Umgangs mit abhängigen Unerwachsenen ausweisen. Jeder Satz oder
jede Regel im Zusammenhang dieses Umgangs muß auf seine politischen
Implikationen hin befragt werden. Beides zusammengenommen erst vermag
pädagogische Legitimität zu konstituieren. [...] (14)
|A1 A2 A3 15|
[047:28] 3. In den vorangegangenen Sätzen wurde unterstellt, was nun als dritte
These zum Verhältnis von Politik und Pädagogik formuliert werden soll: Für alles
Erziehungshandeln muß eine andere Struktur postuliert werden als für politisches
Handeln. [...] Politisches Handeln steht unter dem Druck praktischer Ziele; der
politisch Handelnde trägt – als Erwachsener – das Risiko seines Handelns selbst;
er hat es allenfalls anderen Erwachsenen gegenüber zu verantworten, die ihn zur
Rede stellen können. Pädagogisches Handeln ist demgegenüber zu postulieren als
ein Handeln mit
»gebrochener Intention«
; die Intentionen des
Erziehenden müssen sich im Lichte der zu interpretierenden Intentionen des
Educandus reflektieren. Der
Herrschaftszusammenhang, den auch Erziehung immer schon enthält, kann wenigstens
in einem seiner Aspekte tatsächlich aufgehoben werden: als Herrschaftsbeziehung
zwischen dem mächtigen, über alle Mittel der Bedürfnisbefriedigung verfügenden
Erwachsenen und dem zunächst ohnmächtigen Kinde; die Erziehung des Kindes ist
abgeschlossen, |b 428|wenn diese Differenz verschwunden ist.
Diese Differenz kann nur verschwinden, wenn ihr Ziel – Verständigung und
gemeinschaftliches Handeln unter Gleichen – im Erziehungshandeln selbst schon
antizipiert wird, und zwar nicht nur als gedachtes, sondern als eines, dessen
Merkmale in der Praxis des Erziehungshandelns real hervorgebracht werden [...] Insofern ist pädagogisches kommunikatives Handeln.
[047:29] Eine solche Unterscheidung hat ihre Gefahren. Sie ist überhaupt nur
vertretbar unter der Bedingung der ersten These. Pädagogisches Handeln verfällt
in Illusion, wenn es über die politischen Grenzen hinwegsieht, die die
historisch-konkreten kommunikativen Spielräume beschränken und in der Gestalt
materieller Bedingungen und ihrer psychischen Folgen Kommunikation immer wieder verzerren. (15)
|A1 A2 A3 16|
[047:30] [...] Offenbar ist das, was im Vorstehenden als Pädagogik bezeichnet wurde,
seiner Aufgabe nach darauf angewiesen, [...] darauf zu bestehen, daß die entsprechenden Handlungszusammenhänge
imstande sind, ein Maximum differenzierter kognitiver Strukturen
hervorzubringen. Freilich wäre das gleiche für politische Handlungszusammenhänge
zu postulieren. Unsere Unterscheidung liefe also auf das Postulat hinaus, daß
pädagogisches Handeln nur als Praxis der Aufklärung in dem strikt kognitiven
Sinne dieses Wortes und als Bildung der für solche Praxis unerläßlichen
Bedingungen im Individuum selbst legitimiert werden kann[...] (16)
A1A2A3
Statt einer Einleitung: Pädagogik und
Politik
A1A2A3
[047:6] Das in diesem Buch angewandte Verfahren, die
Anordnung der behandelten Probleme, ihre Reihenfolge und die damit
nahegelegten Bedeutsamkeiten werden mir vermutlich von manchem den
Vorwurf einbringen, es handele sich hier wiederum um ein unpolitisches
oder
»politisch nicht hinreichend reflektiertes«
Unternehmen. Es erscheint deshalb angebracht, vorweg einige Bemerkungen
zum Verhältnis von Pädagogik und Politik zu machen.
A1A2A3
und soll an dieser Stelle nicht neuerdings
ausführlich begründet werden
A1A2A3
Erziehungswissenschaft
A1A2A3
ø
A1A2A3
, und einzelne Probleme werden später noch eingehend
behandelt werden.
A1A2A3
ø
A1A2A3
ø
A1A2A3
ø
A1A2A3
ø
A1A2A3
oder es verliert überhaupt an Relevanz zugunsten
einer Kritik, die erst
»oberhalb«
der pädagogischen
Institutionen ansetzt: bei den Verwertungsproblemen des Kapitalismus.
Dem politischen Handlungsbedürfnis oder Handlungsdruck wird die
theoretische Stringenz und die Rationalität der Handlungsvollzüge
aufgeopfert.
A1A2A3
Das zwingt aber zu einer positiven Formulierung der
Annahme, daß kein Erziehungsvorgang durch Rekurs auf seine politischen
Komponenten oder Implikationen vollständig erklärt werden kann:
A1A2A3
Kanitz
und
A1A2A3
ø
A1A2A3
ø
A1A2A3
[047:24]
»Die Ohnmacht von Kindern gegenüber
Erwachsenen ist, das behaupte ich, ein
kapitalismusunabhängiges Phänomen, eine, mit Bernfeld
gesprochen, Konstante aller Erziehung.[047:25] Und genau damit ist,
wenn wir den Grundgedanken von Kanitz, daß kindliche Lernarbeit als
Moment des gesamtgesellschaftlichen Arbeitsprozesses betrachtet
werden muß, akzeptieren, der Punkt bezeichnet, wo in eben jenem
Arbeitsprozeß ein Moment sich geltend macht, das aus den
politisch-ökonomisch bestimmbaren Ablaufgesetzen dieses
Arbeitsprozesses sich nicht ableiten läßt. Das aber bedeutet,
daß gerade diese Ablaufgesetze nicht nur nach ihren
gesellschaftlichen Determinanten sich bestimmen, sondern auch
durch das Grundproblem aller Erziehung, das aus dem
Generationenproblem, aus dem Gegensatz von kindlicher Ohnmacht
und Allmacht der Erwachsenen entsteht, bestimmt werden. Gewiß:
dieses Generationenproblem erscheint in sehr verschiedener Weise
je nach Gesellschaftsformation – jedoch der mehr oder weniger
umfangreiche
›Naturrest‹
, der aus der
Grundtatsache, daß jede Gesellschaft sich mit Hilfe neuer
Generationen reproduzieren muß, verbleibt auch in der noch so
vergesellschafteten Mechanik der kapitalistischen Gesellschaft.
Diese Gesellschaft kann zwar ihrer neuen Generation vorschreiben
– aber auch das nur begrenzt –, wie und zu welchem Lohn sie
lernen soll und damit die neue Generation im Kanitzschen Sinne
ausbeuten, aber sie kann nicht aus Jung Alt machen. [047:26] Die Konsequenz daraus ist, daß
Erziehung nicht vollständig den Verwertungsgesetzen des Kapitals
– diese Gesetze sind es ja, die nach Marx die Mechanik der
gesellschaftlichen Entwicklung im Kapitalismus ausmachen –
subsumiert sein kann«
(Nyssen 1971, S. 24
f.)
.
A1A2A3
Da das Erziehungshandeln als Handeln überhaupt nicht beschrieben werden kann ohne diese
Annahme, ist es jedoch unzureichend, nur von einem
»Rest«
zu s prechen: Ohne Berücksichtigung dieser Annahme ist
nämlich von Erziehung gar nicht die Rede.
A1A2A3
Was das im einzelnen heißt, wird im Verlaufe dieses
Buches noch zu zeigen sein.
A1A2A3
Der Unterschied entspricht der Differenz zwischen
Diskurs und Aktion. Diskurs: das Problematisieren von
Lebenszusammemhängen mit der Unterstellung, daß vernünftige
Verständigung und Konsensus möglich sind. Aktion: das unmittelbar
verändernde Eingreifen in Lebenswelten und deren institutionelle
Bedingungen mit der Unterstellung, daß vernünftige (gerechte)
Verständigung und Konsensus aufgrund bestehender Herrschaftsbeziehungen
nicht mehr möglich sind.
A1A2A3
. Oder anders formuliert: Im pädagogischen Handeln
sollen die individuellen empirischen Bedingungen hervorgebracht werden,
unter denen rationales politisches Handeln allererst möglich ist.
A1A2A3
ø
A1A2A3
Die hier vorgenommene Unterscheidung kann aber auch
grundsätzlich irreführend sein. Sie gilt ja nur unter der Bedingung
eines Begriffs von
»Politik«
, der als viel zu
beschränkt erscheinen mag: Politik als kollektive Vertretung von
Interessen in den Formen des auf Veränderung zielenden Kampfes. Die auf
diese Weise konstruierte Alternative zwischen pädagogischem und
politischem Handeln täuscht darüber hinweg, daß die Unterscheidung mit
Hilfe eines Kriteriums vorgenommen wurde, das auch auf jede der beiden Seiten sinnvoll angewendet
werden kann: die Grade der Differenziertheit der in einer Handlung
aktualisierten kognitiven Struktur.
A1A2A3
auf einem Maximum einer Differenziertheit zu
bestehen, oder genauer:
A1A2A3
. Wie weit das auch für andere Handlungszusammenhänge
gilt, braucht dann hier nicht weiter erörtert zu werden. Vermutlich ist
auch ein Begriff von Politik denkbar, der dem gleichen Postulat folgt.
Ob dieser Begriff aber historisch sinnvoll wäre, ist eine andere
Frage.