Verwahrlosung [Textkritische interaktive Ansicht mit a als Leittext]

Verwahrlosung

[011:74] Was ist Verwahrlosung? Die ersten Antworten, die in der Geschichte der Sozialpädagogik auf diese Frage gegeben wurden, waren einfach und naiv, zudem für jedermann einleuchtend und eindeutig. Im Begriff Verwahrlosung faßte man alle jene Merkmale zusammen, die einen oder viele Menschen kennzeichneten, welche sich nicht so verhielten, wie man es gewöhnt war: Menschen, die nicht in die Kirche gingen, die oft in der Schänke saßen, viel tanzten, häufig den Ort wechselten, keinen festen Beruf hatten; Jünglinge, die ihrem Meister nicht aufs Wort gehorchen mochten, der Obrigkeit nicht die schuldige Achtung erwiesen, dem Kartenspiel frönten; |a 282|Kinder, die bettelten, ohne Eltern herumzogen, die Schule vermieden; schließlich jede Art unehrenhaften Gesindels, das nirgends zu Hause war, sich in die neu entstehenden Großstädte verzog, die Schule oder Handwerkerehre gering achtete, Diebe, Brandstifter, Betrüger, dem Genuß und dem Laster Verfallene, herkömmlicher Sitte und bewährtem Brauchtum Entfremdete. Wer diese alle unter dem Begriff der Verwahrlosten subsumierte, urteilte naiv und richtig; naiv, weil er sich nicht zu heiklen Reflexionen über die Gültigkeit seines Urteils, gar zu selbstkritischer Prüfung der Bedingungen seiner eigenen Meinung veranlaßt sah; richtig, weil Verwahrlosung immer die Abwesenheit einer – inneren oder äußeren – Ordnung, einer Regelhaftigkeit des Daseins bedeutet, deren Gültigkeit angenommen werden muß, soll der Begriff sinnvoll sein.
[011:75] So einfach aber das Problem zunächst zu sein scheint, es wird sehr kompliziert, wenn ernsthaft und kritisch nach den Ursachen und den Behandlungsmethoden gefragt wird. Eine Verhaltensabweichung lediglich zu beschreiben, ihre Diskrepanz mit den geltenden Normen zu bezeichnen ist unbefriedigend für den, der solche Abweichungen rückgängig machen will, vor allem, wenn sich mit den Überlegungen eine Skepsis gegenüber traditionellen |A B1 B2 C D1 44|pädagogischen Mitteln oder gegenüber der Gesellschaft verbindet. Die Frage, was ist Verwahrlosung?, bleibt nicht mehr naiv, sondern sie wird zu einer kritischen Frage, die von der Wissenschaft beantwortet werden soll. Das hat zur Folge, daß nun auch bestimmte Ursachenkomplexe in den Verwahrlosungsbegriff mit eingehen. Es zeigt sich nämlich, daß verschiedene Verwahrlosungen höchst unterschiedliche Erscheinungen sein und auf mindestens ebenso unterschiedliche Ursachen zurückgeführt werden können. In die Beantwortung der Frage teilen sich daher auch die verschiedensten Wissenschaften vom Menschen. Medizin, Psychopathologie, Psychiatrie, Tiefenpsychologie, Entwicklungspsychologie, Jurisprudenz, Pädagogik. Wir lassen einige Definitionen folgen:
[011:76] Reicher definiert Verwahrlosung als einen
»Zustand der Erziehungsbedürftigkeit infolge vernachlässigter Erziehung ..., der sich darin äußert, daß das verwahrloste Kind es an der in seinem Alter sonst üblichen sittlichen Reife fehlen läßt und damit zu einer Gefahr für weitere Kreise und die Allgemeinheit wird«
. – Gruhle erweitert diesen Begriff dadurch, daß er festsetzt, Kinder seien dann verwahrlost, wenn sie nicht das Mindestmaß derjenigen Erziehung erfahren, die ihrer Anlage entspricht. – Gregor definiert ausschließlich von der Verhaltensnorm her, wenn er von Verwahrlosung als einem
»moralisch abwegigen Verhalten«
spricht, dem allerdings |a 283|auch eine bestimmte seelische Verfassung entspreche. AB1B2CD1D2Ähnlich meint Rehm, daß Verwahrlosung in einer
»Lockerung des sittlichen Haltes«
bestehe. – Für Cimbal ist Verwahrlosung
»eine soziale Neurose, eine Erkrankung der Persönlichkeit«
; für Eyferth dagegen, der dies als Schwererziehbarkeit von Verwahrlosung unterscheidet, besteht sie in mangelhafter Sozialisierung, zurückzuführen auf das
»Fehlen von notwendigen Forderungen«
; er unterscheidet so den Asozialen (Verwahrlosten) vom Dissozialen (Schwererziehbaren). – Többen bezeichnet als Verwahrlosung (hier im Unterschied zur körperlichen die geistige Verwahrlosung) die
»Erschütterung des seelischen Gleichgewichtes in dem Sinne, daß das Triebleben aus den verschiedensten Ursachen heraus die Gesamtpersönlichkeit richtunggebend und einseitig beeinflußt und eine Entgleisung von dem geraden Wege der geordneten Lebensführung herbeigeführt hat«
. – Opitz bestimmt sehr allgemein Verwahrlosung
»als eine abnorme seelische Erlebnisreaktion«
. –
»Verwahrlosung ist eine gewisse triebbedingte Unordentlichkeit, etwas Chaotisches, ein gewisses Ausein|A B1 B2 C D1 45|andergleiten der Persönlichkeit, weil kein persönlicher Mittelpunkt und keine Grundsätze vorhanden sind, die einer objektiven Wertordnung entsprechen.«
(Bopp) –
»Wesentlich für alle seelische Verwahrlosung ist die Hemmungslosigkeit der Ich- und Geschlechtstriebe, die wegen der Ungehemmtheit zwangsläufig zu einem gemeinschaftswidrigen Handeln führen.«
(Tumlirz)
AB1B2CD1Villinger nennt Verwahrlosung
»eine abnorme charakterliche Ungebundenheit und Bindungsunfähigkeit, die auf eine geringe Tiefe und Nachhaltigkeit der Gemütsbewegung und Willensstrebungen zurückgeht und zu einer Lockerung der inneren Beziehung zu sittlichen Werten – wie Liebe, Rücksicht, Verzicht, Opfer, Recht, Wahrheit, Pflicht, Verantwortung und Ehrfurcht – führtAB1B2CD1D2«
. – Die Vielfalt der Bestimmungen ist verwirrend, z. T. deshalb, weil sie an je andersartigen Fällen gewonnen wurden. Dieser Situation trägt die Definition von W. Mollenhauer Rechnung, die das Gemeinsame der vorangegangenen herausstellt und den vorgängigen Sprachgebrauch mit den logischen Anforderungen, die an eine Bestimmung des Begriffs zu stellen sind, u. E. auf glückliche Weise verbindet:
»Mit Verwahrlosung kennzeichnet man Zustände, die unterhalb einer als feststehend vorausgesetzten Norm liegen. Insbesondere werden als verwahrlost Kinder und Jugendliche bezeichnet, die aus der Bewahrung in einer festen, sie tragenden und schützenden Lebensordnung herausgefallen sind oder die sich anders verhalten, als es den üblichen und altersgemäßen Normen entsprichtAB1B2CD1«
; zugleich handelt es sich um einen
»abgesunkenen Gesamtzustand der PersönlichkeitAB1B2CD1D2«
.
[011:77] Neben dem Bezug auf ein System von Verhaltensnormen wohnt allen diesen Bestimmungen des Begriffs Verwahrlosung der Ansatz bei einem bestimmten Ursachenkomplex inne. So scheint die Divergenz der Begriffe im Phänomen
»Verwahrlosung«
ihren Grund zu haben, und es wäre demnach sinnvoll, ein Wort, das so Unterschiedliches zusammenfassen soll, in der Fachsprache fallen zu lassen; denn nicht nur bestimmte Ursachen, sondern ebenso die dadurch bedingte Behandlungsart werden ja durch den so oder so bestimmten Begriff ins Auge gefaßt. Wenn man den Begriff vermiede und in seine Aspekte auflöste, wäre offenbar für die Präzisierung des Problems viel gewonnen. Konsequent schrumpft das Wort
»Verwahrlosung«
in der Fachliteratur auch häufig zu grober Angabe der Thematik zusammen, während die Erörterungen und Darstellungen selbst sich mit den mannigfachen Differenzierungen beschäftigen, die Verhaltens- und Charakterabweichun|A B1 B2 C D1 46|gen in psychologisch oder psychiatrisch genau beschreibbaren Klassen zusammenstellen.
[011:78] So behandelt etwa Gottschaldt unter dem Titel
Verwahrlosung
: Verzögerungen in der allgemeinen Reifung der psychophysischen Persönlichkeit, passive Verwahrlosung von Schwachsinnigen, Psychopathische Fehlentwicklungen, Verwahrlosung durch Mangelsituationen, neurotische Fehlentwicklungen, Entwicklungsprägungen durch verwahrloste Lebensumstände. – Tumlirz gliedert nach typischen Kombinationen, die er bei den von ihm untersuchten Fällen antraf, wobei unklar bleibt, ob es ihm dabei auf eine Symptomatologie oder auf Ursachen-Konstellationen ankommt: Denkschwäche und Willensstärke, Denkschwäche und Haltlosigkeit, Denkschwäche und Triebhaftigkeit, normale Denkfähigkeit und Gefühlskälte, pathologische Willensschwäche, umweltbedingte Verwahrlosung, Verführung, Verwahrlosung durch Gehaßt-Werden. – Die immer wieder aufgezählten Ursachen der Verwahrlosung sind so vielfältigAB1B2CD1 und umfangreich, daß sie beliebig auch als Ursachen der
»Schwererziehbarkeit«
AB1B2CD1D2 von
»psychogenen Erkrankungen«
oder
»Verhaltens- und Charakterstörungen«
nachgewiesen werden können. Analoges gilt von den Symptomen.
»Verwahrlosung«
löst sich so in einer Fülle von Einzelphänomenen auf, die, von der Psyche des Einzelnen her gesehen, kaum noch unter einem Begriff zusammengefaßt werden können: neurotisch bedingte Fehlentwicklungen, psychopathische Fehlentwicklungen, Charakterstörungen, psychogene und physiogene Erkrankungen, entwicklungsbedingte Krisenphänomene, Persönlichkeitszerfall – um nur einige, sich teils überschneidende Aspekte zu nennen, mit deren Hilfe man versucht, die Mannigfaltigkeit zu gliedern. |a 285|Die Literatur zeigt, daß ein Begriff von Verwahrlosung auf psychologische Weise offenbar überhaupt nicht zu gewinnen ist.
[011:79] Indessen ist auffällig, mit welcher Hartnäckigkeit alle am Problem Beteiligten, allen voran der Gesetzgeber, an dem Wort Verwahrlosung festhalten. Mit ihm kann offenbar etwas bezeichnet werden, das in den psychologischen Analysen nicht aufgeht. Besonders nach den beiden Weltkriegen wurde deutlich, daß mit Verwahrlosung nicht eigentlich ein in die psychologischen Disziplinen gehörendes Phänomen, sondern ein sozialpädagogisches Problem benannt werden sollte, analog der sozialpädagogischen Ausgangslage im 19. Jahrhundert, wie wir sie AB1B2CD1D2 skizziert haben³: Der Begriff Verwahrlosung ist nur sinnvoll in bezug auf den, von dem |A B1 B2 C D1 47|er abgeleitet ist, in bezug auf
»Verwahrung«
oder eine – wie auch immer verstandene – geordnete Existenz. Dieser Komplementärbegriff ist aus der Aufzählung der Verwahrlosungserscheinungen, die wir aus der Literatur des 19. Jahrhunderts referierten, leicht zu gewinnen. Versuchten wir das Gleiche aber für unsere Gegenwart, so stünden wir vor ungleich größeren Schwierigkeiten. Paul Moor bestimmt:
[011:80]
»Mit dem Gegebenen muß er (der Mensch) rechnen, er bleibt an seine Bindungen gebunden, er kann nichts daran ändern. Im Rahmen des Spielraumes aber, den ihm das Gegebene läßt, liegt es an ihm, ob er die Aufgabe erfüllt oder der Verheißung teilhaftig wird. Wenig mag ihm möglich sein, die Aufgabe ist vielleicht klein und die Verheißung dürftig; immer aber kommt es darauf an, daß er die Möglichkeit wahrnehme, die Verheißung erkenne und an sie glaube und die Aufgabe auf sich nehme und sich um sie bemühe ... Für alle Mängel, Unvollkommenheiten und Verfallserscheinungen, die daraus hervorgehen, daß unterblieb, was an Aufgegebenem und Verheißenem möglich gewesen wäre vom Gegebenen her, brauchen wir die Bezeichnung Verwahrlosung.«
(P. Moor, Grundlagen der Heilpädagogik.)
AB1B2CD1D2
[011:81] Dreierlei ist an dieser Bestimmung wichtig: 1. In ihr kommt die Schichtung des Problems zur Sprache zugleich mit der Abhängigkeit der verschiedenen Schichten voneinander; 2. Verwahrlosung erscheint als ein Phänomen, das nur von einem kulturellen Horizont her angemessen bestimmt werden kann; 3. Verwahrlosung ist in erster Linie ein pädagogisches Problem, Verwahrlosung ist ein pädagogischer Begriff, mit dem die Diskrepanz zwischen der Wirklichkeit und der Möglichkeit eines Menschen bezeichnet werden soll. Was möglich ist, wird vom Gegebenen begrenzt, vom
»Aufgegebenen«
her gefordert. Ob ein Mensch verwahrlost ist, vermag |a 286|nur der zu entscheiden, der das
»Aufgegebene«
und das
»Verheißene«
kennt. D. h.: Verwahrlosung läßt sich nicht auf Anhieb konstatieren; um sie zu erkennen, bedarf es einer gründlichen Analyse der pädagogischen Situation. Nicht ein bestimmtes, vielleicht auffallendes und dem Betrachter subjektiv als abweichend von seiner Norm erscheinendes Verhalten darf schon als Verwahrlosung gelten; sondern erst der Nachweis der Differenz, die zwischen dem, was dem Menschen seinem psycho-sozialen Bestand nach möglich war, und dem, was er faktisch erreicht hat, berechtigt zu dem Urteil
»verwahrlost«
.
[011:82] Die Schwierigkeiten des Verwahrlosungsbegriffs sind aber damit |A B1 B2 C D1 48|nicht behoben, sondern umgangen. Jetzt kann nämlich Beliebiges als Verwahrlosung bezeichnet werden, je nach dem, was dem Betrachter als das
»Aufgegebene«
erscheint. Nicht nur Einzelne in Bezug auf eine Gruppe, sondern auch Gruppen, Stände, Klassen, ganze Kulturen oder Gesellschaften, schließlich
»der moderne Mensch«
können in diesem Rahmen als verwahrlost gelten. Der Begriff könnte sich schließlich als ein theologischer herausstellen. Er ist aber ein Begriff mit Rechtsfolgen (JWG §§AB1B2CD1 64 ff.). Es dient weder einer präzisen Theorie noch der praktischen Brauchbarkeit, wenn es zwei voneinander abweichende Bedeutungen des Wortes gibt. Allerdings hat auch der im Gesetz verwendete Begriff nicht die Festigkeit und Präzision, die man von ihm verlangen könnte. Die erfahrungswissenschaftliche Detaillierung der
»Verwahrlosungs«
-Phänomene und die gleichzeitigen gesellschaftlichen Veränderungen haben dahin geführt, daß nicht nur das Bewußtsein von dem, was als Verwahrlosung bezeichnet werden kann, sondern auch von ihrem Bezugsrahmen, von dem, was als geordnete Existenz zu gelten habe, mit Skepsis durchsetzt ist. Nur so ist auch die Ungenauigkeit möglich, mit der bisweilen pauschal von der Verwahrlosung der Erziehenden, von der verwahrlosten Gesellschaft gesprochen wird und damit ein gleichsam theologisches Moment in den Begriff eindringt. Der Verwahrlosungsbegriff ist pädagogisch nur brauchbar, wenn durch ihn die geltenden und faktischen Ordnungen und Verhaltensnormen als
»nicht verwahrlost«
angenommen werden. Das gilt, auch wenn häufig Uneinigkeit darüber bestehen mag, ob ein konkretes Verhalten noch als normal oder schon als abweichend bezeichnet, ob es an einer scheinbar im Schwinden oder an einer scheinbar im Entstehen begriffenen Norm gemessen werden soll. Ohne diesen sozialen Bezugsrahmen aber wäre der Verwahrlosungsbegriff leer, pädagogisch bedeutungslos, und es wäre besser, AB1B2CD1D2statt seiner die psychologisch gewonnenen detaillierten Einteilungen zu ver|a 287|wenden. Verwahrlosung gibt es nur, wo es Kultur gibt. Verwahrlosung als ein pädagogisches Problem taucht nur dort auf, wo bestimmte Aufgaben unbewältigt bleiben, verfehlt oder überhaupt nicht gesehen werden; wo es nicht gelingt, einen gegebenen Bestand von Anlagen und Dispositionen mit den Normen, dem Aufgaben-System der Gruppen der Kultur in ein gültiges Verhältnis zu setzen. Dieses Mißlingen ist das Wesentliche. Mit dem Begriff kann nicht die Beziehung psychologisch erkennbarer Ursachenkomplexe zu Verhaltens- oder Charakterabweichungen als ihren Wirkungen beschrieben, sondern nur das pädagogische Problem bezeichnet werden, das sich ergibt, wenn die erzieherische
»Kultivierung«
der Person mißlungen ist.
|a 356|

K. Mollenhauer. Verwahrlosung

[A01:1] Aus: Einführung in die Sozialpädagogik, Sozialpädagogische Reihe 1, Weinheim, Beltz 1964, S. 43–48.
[A01:2] Literaturhinweise: W. Cimbal. Die Neurosen des Kindes- und Jugendalters. Berlin 1935; H. Eyferth. Gefährdete Jugend. Hannover 1950; K. Gottschaldt. Probleme der Jugendverwahrlosung. Leipzig 1950; A. Gregor, E. Voigtländer. Die Verwahrlosung. Berlin 1918; dies.: Charakterstruktur verwahrloster Kinder und Jugendlicher. Leipzig 1932; H. Gruhle. Die Ursachen der jugendlichen Verwahrlosung und Kriminalität. Berlin 1912; P. Moor. Heilpädagogik. Bern, Stuttgart 1965; E. Opitz. Verwahrlosung im Kindesalter. Göttingen 1959; M. Rehm. Das Kind in der Gesellschaft. München 1925; H. Reicher. Die Theorie der Verwahrlosung und das System der Ersatzerziehung. Wien 1908; W. Runge, O. Rehm. Über die Verwahrlosung des Jugendlichen. Berlin 1926; H. Többen. Die Jugendverwahrlosung und ihre Bekämpfung. Münster 1927; O. Tumlirz. Die Jugendverwahrlosung. Graz 1952; W. Villinger. Aktuelle Probleme kindlicher und jugendlicher Asozialität. Dtsche. Med. Wschr. 1949 (1098); die zusammenfassende Definition von
»Verwahrlosung«
von W. Mollenhauer: Pädag. Lexikon. Stuttgart 1961, Sp. 997.
AB1B2CD1D2
3. Gesundheit, Gefährdung, Verwahrlosung
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auf’s
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bezeichnen,
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Reicher
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Gruhle
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Gregor
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A
[011:76] Reicher definiert Verwahrlosung als einen
»Zustand der Erziehungsbedürftigkeit infolge vernachlässigter Erziehung ..., der sich darin äußert, daß das verwahrloste Kind es an der in seinem Alter sonst üblichen sittlichen Reife fehlen läßt und damit zu einer Gefahr für weitere Kreise und die Allgemeinheit wird«
. – Gruhle erweitert diesen Begriff dadurch, daß er festsetzt, Kinder seien dann verwahrlost, wenn sie nicht das Mindestmaß derjenigen Erziehung erfahren, die ihrer Anlage entspricht. – Gregor definiert ausschließlich von der Verhaltensnorm her, wenn er von Verwahrlosung als einem
»moralisch abwegigen Verhalten«
spricht, dem allerdings |a 283|eine bestimmte seelische Verfassung entspreche. Ähnlich meint Rehm, daß Verwahrlosung in einer
»Lockerung des sittlichen Haltes«
bestehe. – Für Cimbal ist Verwahrlosung
»eine soziale Neurose, eine Erkrankung der Persönlichkeit«
; für ExferthEyferth dagegen, der dies als Schwererziehbarkeit von Verwahrlosung unterscheidet, besteht sie in mangelhafter Sozialisierung, zurückzuführen auf das
»Fehlen von notwendigen Forderungen«
; er unterscheidet so den Asozialen (Verwahrlosten) vom Dissozialen (Schwererziehbaren). – Többen bezeichnet als Verwahrlosung (hier im Unterschied zur körperlichen die geistige Verwahrlosung) die
»Erschütterung des seelischen Gleichgewichtes in dem Sinne, daß das Triebleben aus den verschiedensten Ursachen heraus die Gesamtpersönlichkeit richtunggebend und einseitig beeinflußt und eine Entgleisung von dem geraden Wege der geordneten Lebensführung herbeigeführt hat«
. – Opitz bestimmt sehr allgemein Verwahrlosung
»als eine abnorme seelische Erlebnisreaktion«
. –
»Verwahrlosung ist eine gewisse triebbedingte Unordentlichkeit, etwas Chaotisches, ein gewisses Ausein|A B1 B2 C D1 45|andergleiten der Persönlichkeit, weil kein persönlicher Mittelpunkt und keine Grundsätze vorhanden sind, die einer objektiven Wertordnung entsprechen.«
(Bopp) –
»Wesentlich für alle seelische Verwahrlosung ist die Hemmungslosigkeit der Ich- und Geschlechtstriebe, die wegen der Ungehemmtheit zwangsläufig zu einem gemeinschaftswidrigen Handeln führen.«
(Tumlirz)
Villinger nennt Verwahrlosung
»eine abnorme charakterliche Ungebundenheit und Bindungsunfähigkeit, die auf eine geringe Tiefe und Nachhaltigkeit der Gemütsbewegung und Willensstrebungen zurückgeht und zu einer Lockerung der inneren Beziehung zu sittlichen Werten – wie Liebe, Rücksicht, Verzicht, Opfer, Recht, Wahrheit, Pflicht, Verantwortung und Ehrfurcht – führt«
. – Die Vielfalt der Bestimmungen ist verwirrend, zum Teil deshalb, weil sie an je andersartigen Fällen gewonnen wurden. Dieser Situation trägt die Definition von W. Mollenhauer Rechnung, die das Gemeinsame der vorangegangenen herausstellt und den vorgängigen Sprachgebrauch mit den logischen Anforderungen, die an eine Bestimmung des Begriffs zu stellen sind, u. E. auf glückliche Weise verbindet:
»Mit Verwahrlosung kennzeichnet man Zustände, die unterhalb einer als feststehend vorausgesetzten Norm liegen. Insbesondere werden als verwahrlost Kinder und Jugendliche bezeichnet, die aus der Bewahrung in einer festen, sie tragenden und schützenden Lebensordnung herausgefallen sind oder die sich anders verhalten, als es den üblichen und altersgemäßen Normen entspricht«
; zugleich handelt es sich um einen
»abgesunkenen Gesamtzustand der Persönlichkeit«
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wird
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Verwahrlosung
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,
AB1B2CD1D2
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eine
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Neurotisch
A
[011:78] So behandelt etwa Gottschalk unter dem Titel
Verwahrlosung
: Verzögerungen in der allgemeinen Reifung der psychophysischen Persönlichkeit, passive Verwahrlosung von Schwachsinnigen, Psychopathische Fehlentwicklungen, Verwahrlosung durch Mangelsituationen, neurotische Fehlentwicklungen, Entwicklungsprägungen durch verwahrloste Lebensumstände. – Tumlirz gliedert nach typischen Kombinationen, die er bei den von ihm untersuchten Fällen antraf, wobei unklar bleibt, ob es ihm dabei auf eine Symptomatologie oder auf Ursachen-Konstellationen ankommt: Denkschwäche und Willensstärke, Denkschwäche und Haltlosigkeit, Denkschwäche und Triebhaftigkeit, normale Denkfähigkeit und Gefühlskälte, pathologische Willensschwäche, umweltbedingte Verwahrlosung, Verführung, Verwahrlosung durch Gehaßt-Werden. – Die immer wieder aufgezählten Ursachen der Verwahrlosung sind so vielfältig und umfangreich, daß sie beliebig auch als Ursachen der
»Schwererziehbarkeit«
von
»psychogenen Erkrankungen«
oder
»Verhaltens- und Charakterstörungen«
nachgewiesen werden können. Analoges gilt von den Symptomen.
»Verwahrlosung«
löst sich so in einer Fülle von Einzelphänomenen auf, die, von der Psyche des Einzelnen her gesehen, kaum noch unter einem Begriff zusammengefaßt werden können: neurotisch bedingte Fehlentwicklungen, psychopathische Fehlentwicklungen, Charakterstörungen, psychogene und physiogene Erkrankungen, entwicklungsbedingte Krisenphänomene, Persönlichkeitszerfall – um nur einige, sich teils überschneidende Aspekte zu nennen, mit deren Hilfe man versucht, die Mannigfaltigkeit zu gliedern. |a 285|Die Literatur zeigt, daß ein Begriff von Verwahrlosung auf psychologische Weise offenbar überhaupt nicht zu gewinnen ist.
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oben
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Bezug
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Bezug
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Komplementär-Begriff
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Paul Moor
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A
[011:80]
»Mit dem Gegebenen muß er (der Mensch) rechnen, er bleibt an seine Bindungen gebunden, er kann nichts daran ändern. Im Rahmen des Spielraums aber, den ihm das Gegebene läßt, liegt es an ihm, ob er die Aufgabe erfüllt oder der Verheißung teilhaftig wird. Wenig mag ihm möglich sein, die Aufgabe ist vielleicht klein und die Verheißung dürftig; immer aber kommt es darauf an, daß er die Möglichkeit wahrnehme, die Verheißung erkenne und an sie glaube und die Aufgabe auf sich nehme und sich um sie bemühe ... Für alle Mängel, Unvollkommenheiten und Verfallserscheinungen, die daraus hervorgehen, daß unterblieb, was an Aufgegebenem und Verheißenem möglich gewesen wäre vom Gegebenen her, brauchen wir die Bezeichnung Verwahrlosung.«
(P. Moor, Grundlagen der Heilpädagogik)
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D. h.
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war
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an seiner
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