Soziale Arbeit heute [Textkritische interaktive Ansicht mit a als Leittext]
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Soziale Arbeit heute

Gedanken über ihre sozialen und ideologischen Voraussetzungen

[004:1] Bei der Erörterung des mir gestellten Themas kann man sich nach zwei Richtungen wenden, je eine von zwei möglichen Seiten der Sache betrachten. Die eine Möglichkeit wäre, in den pädagogischen Raum hineinzublicken, die andere, den Blick nach außen auf die Bedingungen dieses Raumes zu richten. Nun geht es auf dieser Tagung ja eigentlich um das Bewußtsein des Sozialarbeiters. Das Bewußtsein aber ist mindestens ebenso stark durch das
Außen
bestimmt, wie durch das, was er innerhalb seines Arbeitsraumes vorfindet und regeln muß. Zwischen beiden, dem Innen- und dem Außenraum, besteht ein kompliziertes Verhältnis von Bedingungen, Abhängigkeiten, Autonomien, das ich hier nicht erörtern kann. Ich will mich darauf beschränken, einiges über das Bewußstein des Sozialarbeiters und seine Praxis zu sagen, soweit es sein und seiner Arbeit Verhältnis zu jenem Außenraum betrifft.
[004:2]
In Goethes Welt ist das Klappern der Webstühle noch eine Störung gewesen, in der Zeit Ulrichs begann man das Lied der Maschinensäle, Niethämmer und Fabriksirenen schon zu entdecken. Man darf freilich nicht glauben, die Menschen hätten bald bemerkt, daß ein Wolkenkratzer größer sei als ein Mann zu Pferd; im Gegenteil, noch heute, wenn sie etwas Besonderes von sich hermachen wollen, setzen sie sich nicht auf den Wolkenkratzer, sondern aufs hohe Roß, sind geschwind wie der Wind und scharfsichtig, nicht wie ein Riesenrefraktor, sondern wie ein Adler. Ihr Gefühl hat noch nicht gelernt, sich ihres Verstandes zu bedienen, und zwischen diesen beiden liegt ein Unterschied der Entwicklung, der fast so groß ist wie der zwischen dem Blinddarm und der Großhirnrinde. Es bedeutet also kein gar kleines Glück, wenn man darauf kommt,... daß der Mensch in allem, was ihm für das Höhere gilt, sich weit altmodischer benimmt, als es seine Maschinen sindb
(R. Musil).
[004:3]
Ausdruckskrisen und Anfälle von Erotik:b

Das ist der Mensch von heute,

das Innere ein Vakuum,b

die Kontinuität der Persönlichkeitb

wird gewahrt von den Anzügen,b

die bei gutem Stoff zehn Jahre halten.b

Der Rest Fragmente.b

halbe Laute,b

Melodienansätze aus Nachbarhäusern,b

Negerspiritualsb

oder Ave Mariasb
(G. Benn).
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[004:4]
Vollende nicht deine Persönlichkeit, sondern die einzelnen deiner Werke.
Antisynthetik. Verharren vor dem Unvereinbaren. Das Nebeneinander der Dinge zum Ausdruck bringen. Die Dinge zersprengen. Die Bruchflächen funkeln lassen.
Wir alle leben etwas anderes, als wir sindb
(G. Benn) .
[004:5]
Die alten Schriften bekommen viele Deutungen, die gegenüber dem schwachen Material mit einer Energie vorgehen, die nur gedämpft istb ... durch die Ehrfurcht, über die man sich geeinigt hat. Alles geschieht in der ehrlichsten Weise, nur daß innerhalb einer Befangenheit gearbeitet wird, die sich niemals |b 80|löst, keine Ermüdung aufkommen läßt und durch das Sichheben einer geschickten Hand meilenweit sich verbreitet. Schließlich heißt aber Befangenheit nicht nur Verhinderung des Ausblicks, sondern auch jene des Einblicks, wodurch ein Strich durch alle diese Bemerkungen gezogen wirdb
(F. Kafka) .
[004:6]
Das heutige Geschehen verlangt eine neue Art von Voraussicht und eine neue Methode ... Zugleich ist es nötig, daß sich unser Fühlen, Denken und Handeln in mancher Beziehung radikal von den bisher erfolgten Methoden unterscheidet. Nur durch die Umformung des Menschen selber ist ein Umbau der Gesellschaft möglich. Die Neubestimmung der menschlichen Aufgaben, die Umwandlung der menschlichen Fähigkeiten und die Umgestaltung unserer moralischen Gesetze sind nicht etwa ein Thema für erbauliche Predigten und utopische Visionen. Sie sind lebenswichtige Fragen für uns alle, und wir können lediglich darüber nachdenken, was sinnvollerweise in dieser Richtung geschehen kannb
(K. Mannheim) .
[004:7]
Man muß es schätzen, wenn ein Mann von heute noch das Bestreben hat, etwas Ganzes zu sein,
sagte Walter.
Das gibt es nicht mehr
b meinte Ulrich.
Du brauchst bloß in eine Zeitung hineinzusehen. Sie ist von einer unermeßlichen Undurchsichtigkeit erfüllt. Da ist die Rede von so viel Dingen, daß es das Denkvermögen eines Leibniz überschritte. Aber man merkt es nicht einmal. Man ist anders geworden. Es steht nicht mehr ein ganzer Mensch einer ganzen Welt gegenüber, sondern ein menschliches Etwas bewegt sich in einer allgemeinen Nährflüssigkeit.
Sehr richtig,
sagte Walter sofort.
Es gibt eben keine ganze Bildung mehr im Goetheschen Sinn. Aber darum gibt es heute auch zu jedem Gedanken einen Gegengedanken und zu jeder Neigung gleich die entgegengesetzte. Jede Tat und ihr Gegenteil finden heute im Intellekt die scharfsinnigsten Gründe, mit denen man sie sowohl verteidigen wie verurteilen kann. Ich begreife nicht, wie Du das in Schutz nehmen magst
(R. Musil) .
[004:8] In diesen Äußerungen ist eine grundlegende Skepsis angedeutet, die das Bild betrifft, das sich der Zeitgenosse von sich macht. Solche Skepsis scheint nichts Neues zu sein. Sie ist, soweit sie sich auf unser Verhältnis zur Tradition, zur Vergangenheit, zum Überlieferten bezieht, seit der Kulturkritik geläufig. Allein in diesen Zitaten ist mehr gesagt: Die Grundlagen der Kulturkritik bis heute, das in ihnen vorausgesetzte und festgehaltene
Menschliche
, das
Humanum
, eben das pathetische Rückgrat solcher Kritik, wird hier angegriffen, in seiner Gültigkeit bezweifelt und selbst noch als Rest der traditionellen Welt verstanden.
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[004:9] Genau das ist der Ausgangspunkt dieses Referates: Die Sprache, die wir reden, ist unserer Praxis häufig nicht mehr angemessen, jedenfalls
in allem, was ihm (dem Menschen) für das Höhere gilt
; die Voraussetzungen, die wir im Hinblick auf den heute realen Menschen machen, entbehren der Entsprechung in der Wirklichkeit, denn
die Kontinuität der Persönlichkeit wird (lediglich) gewahrt von den Anzügen
; unsere Welt ist ein Nebeneinander von Heterogenem. Die Konsequenzen wären: eine Kritik unserer Theorie im Hinblick auf das heute Menschenmögliche, und eine Kritik unserer Praxis, unserer Methoden im Hinblick auf die solche Praxis leitenden Vorstellungen von Sittlichkeit, Menschlichkeit, Normalität, Gesundheit usw. Es handelt sich dabei nicht nur um ein Problem, das |b 81|den Sozialarbeiter selbst, seine Theorie und Praxis betrifft, sondern ebenso um ein Problem, das überall auftaucht, wo Menschen erziehend oder helfend miteinander umgehen, wo bestimmte Vorstellungen des Richtigen und Rechten mit den praktischen Möglichkeiten zu leben, d. h. dieses Richtige und Rechte zu verwirklichen, zusammentreffen und Konflikte hervorrufen. Denn es ist nicht das Problem eines Berufes, sondern das Problem unserer Gesellschaft.
[004:10] Ich will den theoretischen Äußerungen einige Beispiele aus der alltäglichen Lebenspraxis an die Seite stellen:
[004:11] 1 Ein Mädchen kauft sich eine neue Lampe, die ihrem persönlichen Geschmack in besonderer Weise entspricht. Sie erlebt dann aber, daß sie eines Tages genau die gleiche bei Bekannten findet, das geschieht öfter, und schließlich sieht sie sie in Schaufenstern und wird sich der massenweisen Produktion dieses Artikels bewußt, der ihr ursprünglich als ein ganz individuelles, ihren persönlichen Bedürfnissen entsprechendes Exemplar erschienen war. Der Spaß ist ihr verdorben. Sie fühlt sich hintergangen, irgendwie betrogen, sie ist verärgert und äußert das. Ich erkläre daraufhin, daß das typisch bürgerlich gedacht und gefühlt sei. Sie erwartet nämlich von den produzierten Dingen, daß sie imstande seien, als ihre persönliche Ausdruckswelt zu fungieren, ihr persönliches Bedürfnis nach einer individuellen Innerlichkeit und deren Ausdruck zu befriedigen. Sie stellt damit an die moderne Gesellschaft unerfüllbare Anforderungen; ein Serienprodukt kann das seinem Wesen nach als einzelnes Ding nicht mehr leisten. Das Mädchen resigniert und bastelt sich in Zukunft ihre Lampe selbst.
[004:12] 2 Ein Kind wächst in einer Familie auf, die einen kultivierten und sehr klaren, sich in alle Lebensbereiche erstreckenden Stil hat. Die Hausmusikpflege ist dieser Familie genauso eigentümlich wie – sagen wir b die Wohlerzogenheit der Kinder und die religiöse Bindung. In allem aber drückt sich dieser einheitliche Familienstil aus. Der Jugendliche verläßt diese Familie und erlebt, daß er die gewonnenen Erfahrungen nicht übertragen kann, daß die widersprechenden Erfahrungen, die er nun in der Gesellschaft macht, vor der Wahlurne, im Berufsleben, im Kino, mit moderner Kunst, daß diese mit seinem Ich, so wie es in der Familie gebildet worden ist, nicht in Einklang zu bringen sind. Er er|a 6|fährt, soweit er in die moderne Gesellschaft hineinzuwachsen versucht, daß die in der Familie erworbenen Fähigkeiten und Wertvorstellungen offenbar nur dort gelten, daß die Familie offenbar ein isoliertes Inseldasein in einer ganz anderen Welt führt. Er versucht sich dem Neuen anzupassen; dieser Versuch mißlingt, weil er dieses Anpassen nicht gelernt hat; er distanziert sich von der Familie, randaliert und verwahrlost. Das Jugendamt schickt ihn in ein Heim, das nach dem
Familienprinzip
organisiert ist.
[004:13] 3 Der Leiter einer konfessionellen Jugendgruppe sieht das Wesen seiner Arbeit darin, eine Gemeinschaft heranzubilden, die sich einem gemeinsamen, das ganze Leben umgreifenden Auftrag unterstellt, gleichsam eine Elite-Gruppe im Dienste einer christlich-kirchlichen Erneuerung zu schaffen. In der Nachbarschaft ist ein Heim der offenen Tür. Er erlebt nun, wie seine Jungen immer häufiger dieses Heim besuchen, in dem ihnen ein vielseitiges Freizeitprogramm günstige Angebote macht. Damit ihm die Jungen nicht weglaufen, übernimmt er notwendig und ohne sich der Tragweite bewußt zu sein, zunächst wenig, dann aber immer mehr von diesem Stil einer Jugendbetreuung, bis er eines Ta|b 82|ges feststellt, daß er eigentlich zu einer Art Konferencier, einem Arrangeur von immer neuen unterhaltenden und unterrichtenden Veranstaltungen geworden ist und sich seiner
eigentlichen
Aufgabe völlig entfremdet hat. An dieser
eigentlichen
Aufgabe aber hält er fest; er versucht, dem
entfremdenden
Trend entgegenzuarbeiten, es gelingt ihm aber nur bei Wenigen. Bei der größeren Zahl resigniert er. Die Vorstellung, mit einer Elite zu arbeiten, verstärkt sich natürlich bei ihm, ebenso seine kulturkritischen Neigungen. Seine Ideologie, die etwas anderes ist als sein Glaube, nämlich die Vorstellung von einer bestimmten Art, in der der Glaube sozial zu fungieren habe, über bestimmte Konsequenzen, die sich aus ihm für die Arbeit mit Jugendlichen ergeben, oder auch Vorstellungen solcher Art, die mit seinem Glauben nichts zu tun haben, diese Ideologie aber gibt er nicht auf.
[004:14] 4 Ein Junge aus einer völlig geordneten,
normalen
Familie beginnt, Geld zu stehlen. In der Beratungsstelle stellt sich heraus: Der Vater hat ihn in eine Internatsschule geschickt, die er schon selbst besucht hat, eine
ausgezeichnete Schule
. Der Junge sagt über diese Schule, ihre Methoden seien
unmodern
, er ginge lieber in eine öffentliche Stadtschule. Er liest viel Zeitschriften, zeigt vor allem Interesse für Technisches und Abenteuergeschichten. Der Vater ist der Meinung, der Junge brauche nicht so viel zu lesen, er solle lernen; außerdem habe er Freunde, die ihm, dem Vater nicht gefielen und die er dem Sohn daher verbiete, denn ein Erzieher habe die Pflicht, über die Freundschaften seines Zöglings streng zu wachen. Außerdem weist der Vater immer auf seine eigene Kindheit hin:
Ich habe auch kein Taschengeld gehabt
,
Ich habe auch gehorchen müssen
. Die Mutter äußert sich in der Beratungsstelle garnicht. Das Familienleben ist ordentlich, korrekt, im landläufigen Sinne normal; dem Jungen
fehlt es an nichts
– aber er erlebt schon in seiner kindlichen Umwelt |a 7|eine andere Wirklichkeit, die mit der Familie nicht in Einklang zu bringen ist. Er versucht diese Diskrepanz – eine Diskrepanz zwischen Ideologie und Wirklichkeit – durch sein Verhalten zu kompensieren; er stiehlt. Der Erziehungsberater schickt ihn in ein anderes Internat.
[004:15] 5 Erwachsene und Jugendliche sitzen zusammen im Kino und sehen einen Durchschnittsfilm. Die Jugendlichen äußern laute Zwischenbemerkungen, bisweilen ironische Beifallsrufe, kommentierendes Gelächter. Die Erwachsenen sind empört, sie sind beleidigt, in ihrer Faszination gestört zu werden; aber sie erklären diesen Film für jugendgefährdend.
[004:16] Man wird zugeben müssen, daß die in jedem Fall gezogene Konsequenz nicht nur heute möglich, sondern sogar nicht gerade selten ist. Ich behaupte nun, daß diese Konsequenzen auf einer falschen Interpretation der Fälle beruhen, auf einem falschen Aspekt, unter dem jeweils das Verhältnis gesehen wird, in dem die einzelne Situation zu unserer gegenwärtigen Wirklichkeit steht. Meine Absicht im Folgenden ist der Versuch, das zu begründen und einen möglicherweise richtigeren Aspekt anzudeuten.

I. Das Problem.

[004:17] Das hier in Frage stehende Problem ist schon ziemlich alt. Es beginnt mit der Entstehung der Sozialpädagogik und fand vor zwei Jahren wieder – jedenfalls in der Gilde b – in dem Referat von b|b 83|Trost einen anschaulichen Ausdruck. Es beginnt nicht nur mit der Geschichte der Sozialpädagogik, sondern es ist auch sowohl für ihre Entwicklung wie ihre geschichtliche Gestalt strukturbestimmend. Als die ersten Anzeichen der neuen gesellschaftlichen Entwicklung sich bemerkbar machten, und innerhalb der verschiedenen sozialen Gebilde auch menschlich und pädagogisch fühlbar wurden – der kirchliche Gemeindeverband lockerte sich, die Familie schrumpfte zur Kleinfamilie zusammen, das Handwerk bot den großen Zahlen von Gesellen keine Sicherheit mehr, die befreiten Bauern, kleinen Handwerker, Tagelöhner, Dienstboten strömten in die Städte und Fabriken, die Großstädte entstanden, ein Phänomen, dem gegenüber man ratlos war, wie unsere Stadtplanung heute noch zeigt da spürte man, daß die vorhandenen sozialen und pädagogischen Einrichtungen dieser allmählich sich verändernden Lage nicht mehr gewachsen waren. Man sah: Kinder verwahrlosten, Jugendliche wurden kriminell, Dienstboten ungehorsam, Arbeiter kommunistisch, die Schulen konnten nicht mehr erziehen, die Familie konnte nicht mehr bewahren, der Zeitgeist wurde
materialistisch
. Man fragte sich, wie das geschehen konnte und was zu tun war.
[004:18] Die Antwort war im einzelnen freilich schwierig, man mußte experimentieren, Institutionen schaffen und verändern, ergänzen, helfen, unterstützen oder strafen, in jeder Situation neu abwägen. Im Grundsätzlichen aber war die Antwort einfach: Die Gesellschaft war korrumpiert, infolgedessen der Mensch in Gefahr; und man |a 8| wußte – glaubte zu wissen wie der gesunde, normale, sittliche Mensch zu sein hatte und wie andererseits auch eine Gesellschaft zu sein hatte: ein Organismus nämlich, in dem die Teile sich wie lebendige Glieder zueinander verhielten, ohne sich zu
entfremden
, ein Volksganzes, in dem sich ein und dieselbe soziale Struktur, die der Familie oder der christlichen Gemeinde, (Corpus Christi), in allen sozialen Gebilden analog wiederholt. Von diesem Bild geordneter Sozialverhältnisse nun entfernte sich die reale Gesellschaft, dieser Entwicklung aber mußte man entgegenwirken. So, in großen Zügen, sah das Selbstverständnis der Sozialpädagogik aus.
[004:19] Gehört das Geschilderte wirklich der vergangenen Geschichte an, oder drückt sich etwa im Begriff
Lebenseinigung
von b Trost nicht die im Wesen gleiche Haltung aus? Statt zu fragen: welche neue Weise zu leben zeigt sich an den Veränderungenb, wird gefragt: Welche Abweichungen zeigt diese Weise von unserer Vor|b 84|stellung vom Menschen wird gefolgert: Also sind die Schwierigkeiten, die zum Gegenstand einer Sozialpädagogik oder sozialen Arbeit werden, Folgen solcher Abweichung und nicht die Folgen einer noch nicht gelungenen Einstellung auf die neue Lage. Der Sozialarbeiter versteht sich damit als einer, der im Grunsätzlichen im Recht ist – die Gesellschaft ist im Unrecht. Er orientiert sich auf diese Weise an dem Gewordenen, Traditionellen, nicht aber an dem Werdenden, an dem zur Zukunft hin Offenen. In einer dynamischen Gesellschaft verhält er sich statisch, obwohl er bereit sein mag, sich im einzelnen Fall der veränderten Lage anzupassen und seine Methode auf die neue Lebenspraxis einzustellen. Man verzichtet etwa auf die Forderung, ein Jugendlicher werde unbedingt in einer Jugendgruppe vor Gefährdungen bewahrt, man anerkennt die neuen Gesellungsformen und nutzt sie methodisch, man weiß, daß das patriarchalische Leitbild unserer Lage nicht mehr angemessen ist oder daß nicht nur bDürers Handzeichnungen, sondern auch bMacke und bFeininger ästhetisch erziehen. Die Frage aber ist, ob solche Umstellungen im einzelnen wirklich auch eine Veränderung des Bewußtseins, eine Umstellung unserer leitenden Vorstellungen bedeutet. Handelt es sich bei den aufgezählten Einsichten nur um Konzessionen an eine neue, aber im Grunde doch unerfreuliche Situation, gleichsam um taktische Erwägungen, die die strategischen Prinzipien unbeeinflußt lassen? Jedenfalls war das Verhalten der Sozialpädagogen bis in die sozialpädagogische Bewegung hinein ganz sicher dieser Art. Die Wesenszüge der neuen Gesellschaft waren noch so wenig deutlich, daß ein radikales Verlassen der traditionellen ideologischen Voraussetzungen der Arbeit als ein utopischer Vorgriff hätte erscheinen müssen. Aber das ist heute bereits anders. Diese Wesenszüge sind uns immer klarer geworden, und man kann durchaus von einer gewissen Einheitlichkeit in der Analyse dessen sprechen, was wir die moderne Gesellschaft oder die moderne Kultur nennen. Wer, wie es noch vor 30 Jahren im Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge geschah, vom corpus mysticum des Volksganzen als dem tragenden Grund aller Wohlfahrtspflege sprechen würde, hätte wohl wenig Aussicht auf sachlich ernst zu nehmende Resonanz. Aber das ist freilich ein besonders expo|a 9|nierter Begriff, gegen den wir durch drastische geschichtliche Erfahrungen skeptisch geworden sind. Auch das kann nur ein Zugeständnis sein, ohne daß die mögliche Grundhaltung des Sozialarbeiters, die Gesellschaft sei auf einem gefährlichen, das eigentlich Menschliche pervertierenden Weg und unsere rational-technische Zivilisation sei im Grund inhuman, damit aufgegeben sein muß. Eine solche Haltung aber entnimmt ihre Prinzipien ja nicht der gegenwärtigen Wirklichkeit, sondern einer in der Vergangenheit gewordenen Konzeption von Mensch und Gesellschaft, freilich in der Meinung, es handele sich dabei um allgemeingültige Normen, das Menschenwürdige, das Gesunde, Intakte könne immer nur ein und dasselbe sein. Dem gegenüber – so meine ich – muß nun aber doch gefragt werden, ob die von uns als
Zugeständnisse
be|b 85|zeichneten Einstellungen und Maßnahmen nicht untereinander einen Zusammenhang bilden, einen Zusammenhang der Praxis, der Wirklichkeit, der sich auch zu Phänomenen außerhalb der sozialen Arbeit herstellen lassen müßte, der die Soziale Arbeit auf grundsätzlich andere Voraussetzungen verweist.

II. Anthropologische Aspekte.

[004:20] Wenn von dem gesprochen wird, was der Mensch braucht, um Mensch zu sein, von seinen Grundbedürfnissen, von den Grundverhältnissen, die er immer und überall erfahren müsse, um das Humanum in sich verwirklichen zu können, dann wird immer vorausgesetzt, daß es das
Allgemein-Menschliche
unabhängig von besonderen Zeiten und Räumen überhaupt gebe. Aber stimmt denn diese Gleichung Mensch = Mensch? Sie stimmt nur, wenn man das mit Menschlichkeit bezeichnete soweit formalisiert, daß es eben auf alle Zeiten und Räume paßt, wenn man allgemein von menschlichem Kontakt, von Geborgenheit, Anerkennung, Selbständigkeit spricht. Im Grunde aber war der Mensch immer ein anderer, ganz besonders in dem, was je eine Zeit für das wesentlich Menschliche hielt. Die Behauptung, das allgemeingültige Wesen des Menschen spreche sich in der oder jener Hinsicht aus, ist nichts als der Versuch, dem von einer Generation oder Epoche geforderten Menschenbild zur Durchsetzung zu verhelfen, oft sogar ein nachträglicher Versuch, Verschwindendes festzuhalten, zu retten gegen eine neue, andere Entwicklung. Eine solche Behauptung aber ist ideologisch.
[004:21] Den organisch-einheitlichen Körper kannte Homer nicht, bei seinen Helden
bewegen sich die hurtigen Glieder
(vergl.
B. Snell, Die Entstehung des Geistes
)
; der Körper ist keine Einheit, sondern eine Vielheit. Begriffe wie unser
Gemüt
und
Innerlichkeit
hätte der Barockdichter bOpitz überhaupt nicht verstanden. Es ist zweifelhaft, ob der leibeigene Bauer des 15. Jahrhunderts so etwas wie eheliche Liebe gekannt hat. Der christliche Glaube galt als eine Bedingung, ohne die man im Vollsinne des Wortes nicht Mensch sein konnte. Den Webern um 1800 erschien es unmenschlich, mehr zu arbeiten, als zur unmittelbaren Befriedigung der Bedürfnisse des Augenblicks notwendig war. Und daß – um einen Menschen zu erziehen, zu bilden – dessen Selbsttätigkeit unerläßlich sein, daß er Erfahrungen |a 10|machen müsse im eigenen Handeln, das gibt es erst seit bHerder und bPestalozzi.
[004:22] Was der Mensch wirklich ist und sein soll, wird jeweils neu und anders bestimmt. Und jene verräterischen und heute so geläufigen Attribute wie
echt
oder
eigentlich
bezeichnen nur die Verlegenheit, in der wir uns befinden und die bMusil mit Recht das
Prinzip des unzureichenden Grundes
genannt hat. Eine gewisse und vielleicht berechtigte Scheu, die Überlieferung zu verlassen und das Neue präzise und konkret zu be|b 86|stimmen, läßt uns stattdessen vom
echt Menschlichen
reden, in der uns selbst täuschenden Meinung, es sei damit die Rede von irgendetwas Wirklichem.
Der sogenannte echte Mensch ... ist die Leerstelle für die Erfüllung des Traums der vielen
(Horkheimer, Zum Begriff des Menschen heute, Festschrift für H. Plessner, S. 264)
.
[004:23] Wenn also in der sozialen Arbeit die Rede von Grundbedürfnissen ist, müssen wir uns fragen, welchen konkreten Ausdruck denn die Bedürfnisse und ihre Befriedigung finden sollen; erst dann wird sich zeigen, ob hinter solchen Begriffen ideologische Vorstellungen stehen und welche Wirklichkeit mit ihnen gemeint ist. Denn für solche Bestimmung bedarf es noch anderer Wirklichkeiten, die gleichfalls als besondere, für sich bestehende erscheinen; in ihnen zusammen und in ihrer Beziehung ist allein der Begriff realisiert.
Das Einzelne für sich entspricht seinem Begriffe nichtb
(Hegel, Enzykl. I § 213)
.
[004:24] Ruth Bang nennt unter den unerläßlichen und immer gültigen Grundbedürfnissen des Menschen die Anerkennung. Man kann sich darüber sicher sehr schnell einigen, ohne zu merken, wie verschiedenartig und u. U. sogar widersprechend die Vorstellungen sind, die man dabei hat. Das, was ich anerkenne, ist doch nicht das Kind an sich und unmittelbar, sondern immer nur das Kind in einer bestimmten Äußerung, in einem Verhalten, einer Leistung. Das Entscheidende ist doch nur, durch das Medium welcher Äußerung sich das Kind sich als ein anerkanntes erfährt und welcher Zusammenhang schließlich in den vielen Anerkennungsakten und den Akzenten, die in ihnen gesetzt werden, sich herstellt. Erst dann wird ein solcher Begriff konkret. Und es ist dann auch entscheidend, ob ich Ausdrücke von Gehorsam und Einordnung oder von Selbständigkeit und Emanzipation, emotionales oder rationales, impulsives oder distanziertes Verhalten, besonders durch Anerkennung honoriere; oder: was nenne ich überhaupt Gehorsam oder Selbständigkeit, was nenne ich einen Fehler, den das Kind ja als solchen zu spüren bekommt, auch wenn ich ihn dulde?
[004:25] An diesen Hinweisen ist – so hoffe ich – deutlich geworden, daß die bestimmten Vorstellungen, die wir von dem
normalen
Menschen haben, wenn man will, die
Ideologie eines Menschenbildes
, bis in die sogenannten
Grundbedürfnisse
hinabreicht, von denen man meint, sie lägen nun wirklich jenseits alles Bedingten und Relativierbaren, sie seien gleichsam anthropologisch allgemeingültig und ideologiefrei. In einer autoritär-patriarchalischen Familie vor 200 Jahren waren die
Grundbedürfnisse
sicher nicht schlechter befriedigt als in einer normalen modernen. Trotzdem aber endet ein Jugendlicher, der heute unter jenen Familien|a 11|verhältnissen aufwächst, u. U. und wenn es gut geht, in der Erziehungsberatung. Auch Geborgenheit ist eben immer nur eine bestimmte und besondere, und die Rede von Geborgenheit und Entwurzelung – wenn sich hinter ihr nicht eine kulturpessimistische Ideologie verbirgt – scheint mir nichts als ein Umgehen mit leeren Begriffen zu sein, solange offen bleibt, welche konkrete bergende Lebensform, welche konkreten Wurzeln da gemeint sind.
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[004:26] Solche Formulierung des Allgemein-Menschlichen, ob es nun als
Grundbedürfnisse
oder als andere Formulierung auftritt, bezeichnet recht gut die Verlegenheit, in der wir uns befinden und die auf dieser Tagung erörtert werden soll. Sie enthält nämlich im besten Falle die Einsicht, daß mit einem einseitig traditionell oder wie auch immer bestimmten Menschenbild keine allgemeine Grundlegung der sozialen Arbeit geleistet werden kann. Sie macht uns aber andererseits auch deutlich, daß das eigentliche Problem noch offen ist: nämlich wie muß denn nun der Mensch bestimmt sein, der in unserer Gegenwart lebt und leben soll und unter welchen Voraussetzungen hat soziale Arbeit zu geschehen? Oder konkreter: in welcher Weise verwirklicht sich heute der Mensch, wie hat er sich schon durch die ihn umgebende Welt, in dem Zusammenhang
anderer Wirklichkeiten
bestimmt, wie sieht die Praxis seines Lebens aus?
[004:27] Diese Frage wird sehr leicht verbaut und zwar durch das merkwürdige Phänomen, daß der Mensch im Laufe der letzten 150 Jahre zwar die Umstände, in denen er lebt, ziemlich grundlegend verändert hat, selbst aber – jedenfalls in seinem Bewußtsein – der alte geblieben ist. Er verhält sich zu sich selbst so, wie ihn eine vorindustrielle Generation ausgelegt hat. Er glaubt von sich, daß er das bleiben könne, was er war, während er sich doch selbst ein Leben zu führen auferlegt hat, das mit diesem Einstmals nur noch wenig zu tun hat.
[004:28] Daß so etwas nicht ohne Schwierigkeiten bleibt, müßte eigentlich auf der Hand liegen. Und diese Schwierigkeiten äußern sich auch in der Tat als Kulturpessimismus, als Generationsspannungen, in dem Gefühl einer Berufsgruppe – eben der Sozialarbeiter –b überfordert zu sein, als Ausweich- und Fehlhaltung im individuellen Bereich, oder auch als verfehlte Städteplanung, als Verkehrsproblem, oder als besondere Ideologie-Anfälligkeit, Irrationalismus, falsches Sicherheitsbedürfnis etc. Vor diesem Hintergrund entsteht für die soziale Arbeit eine ganz allgemeine Aufgabe, die sie mit vielen gesellschaftlichen Institutionen teilt, die sich bei ihr aber in besonderer Schärfe stellt: Dem Menschen helfen, sich zu verändern, sich einzustellen auf seine Lage, seine Praxis, und seine Theorie, sein Verhalten und sein Bewußtsein in Übereinstimmung zu bringen. Genau das nämlich geschah nicht in dem eingangs angeführten Beispiel des Mädchens mit der Lampe: sie kaufte aus der modernen Produktion, ohne sich über die Wirklichkeit und die Konsequenzen solchen Verhaltens klar zu sein. – Daß die zwischenmenschlichen Beziehungen heute ein interessantes und vieldiskutiertes Thema sind, ist in diesem Zusammenhang symptomatisch. Denn in ihnen werden
die sozialen Veränderungen unmittelbar in psychische Veränderungen umgesetzt
b |a 12| (Mannheim, Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaues, S. 24)
; in ihnen prallen aber auch unmittelbar die Hoffnungen, die ich hege, die Vorstellungen, die ich vom Menschen habe, und die realen Möglichkeiten des Verhaltens aufeinander. (Denn zwischenmenschliche Beziehungen gibt es in fast allen Bereichen des Lebens).
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[004:29] Soll das alles nun heißen, daß die alten Ideologien durch eine neue, die alten Menschenbilder durch ein neues abzulösen wären? Nein und ja! Ein Charakteristikum unserer Gesellschaft besteht darin, daß sie historisch ist. D. h. es gehört zu ihrem Wesen, daß sie über ihr Entstehen, ihre Geschichte und die Überlieferung reflektiert und daß auf diese Weise das Vorangegangene, die Vergangenheit mit ihren vielfältigen Möglichkeiten menschlicher Verwirklichung in ihr aufgehoben ist. Es gehört damit zu ihrer Struktur, daß die Vielheit der Aspekte, der Weltanschauungen oder Ideologien in ihr als Möglichkeiten gegenwärtig sind und an den verschiedenen Stellen ins Spiel treten können. Ebenso aber gehört es zu ihrem Wesen, daß in ihr keiner dieser Aspekte mehr verabsolutiert werden kann. Keiner dieser Aspekte kann und darf das Ganze zu umgreifen versuchen, da das Ganze ja eben in jenem Nebeneinander existiert. Das, was also bisher die Funktion einer das Ganze umgreifenden Ideologie hatte, christlich, humanistisch, sozialistisch oder wie auch immer, das wird jetzt ausgefüllt durch ein bestimmtes Verhalten all diesen möglichen Aspekten gegenüber. Praktisch will ich damit sagen: eine christliche Beratungsstelle geht, wenn sie sich so bezeichnet, an ihrer eigentlichen Aufgabe vorbei. Die Aufgabe ist der sachentsprechende Umgang mit den Weltaspekten – wobei die Sache in der Situation des Hilfsbedürftigen besteht ist deren richtige Verwendung.
[004:30] Ich sagte, die allgemeinste Aufgabe der sozialen Arbeit bestünde darin, allen Menschen zu helfen, sich auf die Lage umzustellen. Ich meine nicht die individuelle Lage eines Einzelnen, obwohl sich dann auch für sie Konsequenzen ergeben. Ich meine vielmehr die Lage der Gesellschaft, von der ja die Lage des Einzelnen auch nur ein variiertes, pointiertes oder verzerrtes Spiegelbild ist. Was also ist unsere Lage? Das über den historistischen Charakter unserer Gesellschaft Gesagte muß uns noch für die soziale Praxis ergänzt werden. Unsere Gesellschaft ist nicht einsinnig, sondern mehrsinnig. Es gibt in ihr nicht nur die heterogensten Aspekte, sondern auch heterogene Bereiche, die je anderen Strukturgesetzen folgen. bPestalozzi konnte noch glauben, daß das Hineinwachsen in die Gesellschaft wie ein Ausbreiten in konzentrischen Kreisen vor sich gehe, so daß schließlich auch der Kreis des Staates noch als Analogie zur Familie zu verstehen sein konnte (Landesvater). Das im inneren Kern, in der Familie Erworbene behielt seine Gültigkeit in jedem sozialen Bereich, in ihr konnten die sittlichen Fundamente für alles Weitere gelegt, die Elemente alles Komplizierteren gelernt werden. Der Stufengang war der vom Einfachen zum Komplizierten.
[004:31] Dieses Bild stimmt nicht mehr. Familie, Politik, Arbeit, industrielle Freizeit lassen sich nicht mehr als Analogien verstehen. Es sind heterogene Bereiche, disparat, |a 13| sie sind, wie ich es ausdrückte, mehrsinnig. Jeder Bereich hat einen eigenen, autonomen, von den anderen unabhängigen Sinn. Die Familie ist einer – freilich zeitlich und vielleicht auch in anderer Hinsicht der erste. Aber
das vielgebrauchte Wort von
Keimzelle des Staates
ist einfach falsch. Im Staatsaufbau z. B. hat die Familie keine Heimat mehr.
(Lambrecht. Die Soziologie, S. 379)
.
[004:32] Dem entspricht die ideologische Situation. Auch da ein Nebeneinander des Vielen und Verschiedenen, der Interessen und Weltanschauungen. Jeder einzelne der gesellschaftlichen Bereiche hat gleichsam ein ihm zugeordnetes Bewußtsein. Der Mensch aber ist nun in der unangenehmen Lage, immer in mehreren solcher Bereiche zugleich leben zu müssen. Er muß gleichsam je ein Bewußtsein ändern, denn die Erwartung, die er einem geordneten Familienleben gegenüber hegt, kann er kaum hoffen, auch im Betrieb befriedigt zu finden, anders ist es im Kino, in der Wahlversammlung, anders in der Schule, anders im Jazz-Klub. Analogien bestehen zwischen diesen Bereichen kaum. Das in einem Bereich gültige Verhalten, die dort gewonnene Erfahrung gelten nicht im anderen. In einer solchen Lage ist
der ganzheitliche Mensch
eine sehr fragwürdige Formulierung. Eine Forderung, meine Tätigkeit dadurch
menschlich
zu gestalten, daß ich sie mit meinem eigenen ganzen Wesen ausfülle, ist angesichts dieser Situation geradezu absurd.
Unser Sozialapparat baut sich durchgängig so auf, daß er die Menschen immer je in einer bestimmten Hinsicht betrifft, sie aber als ganze Person nicht in sich eingliedert und nicht einmal in Anspruch nimmtb
(Freyer, die Idee der Freiheit im technischen Zeitalter, Universitas XIV/3,1959, S. 231)
. Das bedeutet aber für das Ideologieproblem, daß die in einem Bereich gültigen Normen, werden sie für das Ganze in Anspruch genommen, ein falsches Bewußtsein verraten. Ja mit einer solchen ideologischen Forderung dränge ich als Sozialarbeiter meine Klienten geradezu in die Konfliktsituationen hinein, denn das Geforderte ist im Normalfall gar nicht zu leisten. Die Sache hat also zwei Seiten: Sie betrifft den Sozialarbeiter und sein Bewußtsein, seine Prinzipien – und sie betrifft den Klienten, die möglichen Ursachen seiner Not und die möglichen Wege seiner sozialen Wiederanpassung.
[004:33] Die einsinnige Interpretation unserer sozialen Wirklichkeit also wäre ein Rückfall. Er macht sich als ideologische Täuschung bald bemerkbar, wenn man ihn nicht – wie im Kommunismus – mit Gewalt durchsetzt. Die mehrsinnige Gesellschaft ist eben nicht unter einen einheitlich verbindlichen Inhalt wie die Produktion, eine bestimmte Sozialethik, ein klassischer Bildungskanon, eine umgreifende Idee zu subsumieren.
[004:34] Daraus ergibt sich nun aber – wie ich meine – eine durchaus positive Bestimmung der Lage und des Menschen in dieser Lage. Da der Mensch sich als ein je anderer verhält, da er sich nicht mehr ganzheitlich engagiert und gar nicht mehr so engagieren darf, verhält er sich zu seinem je anderen Verhalten faktisch distanziert. Er spielt Rollen. Der Begriff der
Sozialen Rolle
ist sicher nicht zufällig heute zu einem soziologischen Terminus geworden. Distanzierung ist die Voraus|a 14|setzung zur Beherrschung. Die Ironie ist das Medium unseres Umgangs mit der Welt: eine Sache, ein Verhalten, eine Institution, eine Vorstellung in ihrem relativen Recht belassen, sie aber nicht als verbindlich für seine Person anzuerkennen. Das
Bewußtmachen
der Tiefenpsychologie ist nur ein methodisches Sym|b 90|ptom dieses modernen Sachverhaltes. Jede Weltanschauung aber versucht mit ihrer Einseitigkeit, diese moderne Verhaltensstruktur zu durchbrechen.

III. Konsequenzen.

[004:35] Mit den letzten Erörterungen habe ich mich etwas weit von der sozialen Arbeit entfernt. Aber nur scheinbar, denn es läßt sich nun einiges unmittelbar folgern, das für die Praxis der sozialen Arbeit durchaus von Belang ist. Ich will das in Andeutungen tun.
[004:36] Man erlebe heute die Notwendigkeit, schrieb Musil,
eine Moral, die seit zweitausend Jahren immer nur im kleinen dem wechselnden Geschmack angepaßt worden ist, in den Grundlagen der Form zu verändern und gegen eine andere einzutauschen, die sich der Beweglichkeit der Tatsachen genauso anschmiegt
. (
Mann ohne Eigenschaften
, S.
259)
. bMakarenko b äußert, die Begriffe für die sogenannten Tugenden sagen für sich noch gar nichts, ihr konkreter Inhalt müsse je neu bestimmt werden für den Zusammenhang, in dem sie gelten sollen. Und über eine solche neue Bestimmung lesen wir etwa kulturkritisch bei bHorkheimer:
Anweisungen, Rezepte, Leitbilder treten anstelle der moralischen Substanz
. Die Kritik, die sich in diesem letzten Zitat ausspricht, muß man nicht teilen, denn: Was ist die
moralische Substanz
? Aber der Hinweis drauf, daß Anweisungen, Rezepte und Leitbilder dort fungieren, wo früher sittlich-verbindliche Normen ihre Stelle hatten, liegt in der Richtung dessen, was ich meine. Eine sittliche Norm im alten Sinne kann ich nicht abwechselnd gelten lassen und ignorieren, hier annehmen und dort nicht. Eine Anweisung aber gilt von vornherein und immer nur für einen bestimmten und begrenzten Bereich oder Vorgang. Ich kann mich nach vielen und auch widersprechenden Anweisungen nach einander verhalten. Die alte Frage der Moralität wird damit hier gegenstandslos. Die Moral hat sich, wie Musil sagt,
in der Form verändert
, in ihrem Material tat sie es schon immer. Die Anweisungen nun, Rezepte oder Leitbilder für die Familie, die Schule, den Beruf, die Freizeit stehen heute anstelle einer kontinuierlich durch alle Bereiche gehenden verbindlichen Norm. Und wenn ich recht sehe, ist das heute nicht nur in der gesellschaftlichen Praxis im weitesten Sinne schon Wirklichkeit, sondern wird auch in der sozialen Arbeit, etwa im Casework schon in Methode umgesetzt. Das moralische ist ein anderes je nach den mit einem bestimmten Bereich gesetzten Zwecken. Jeder Bereich hat seine eigene Moral, oder, in der Sprache des Casework: Die Prinzipien der Behandlung müssen immer erst aus der individuellen Situation des Klienten entwickelt werden.
[004:37] Das bedeutet: Verzicht auf eine sittliche Leitidee in der sozialen Arbeit – die Maßstäbe für Behandlung und Lebensführung des Hilfsbedürftigen nur aus seiner |a 15|Situation, vor allem aber dem gesellschaftlichen Bereich, |b 91|dem seine Schwierigkeiten zugehören, entwickeln, – das heißt ferner: Die Maßstäbe sind nicht übertragbar Alle
inneren
,
ganzheitlichen
Bindungen sind zu vermeiden, sie erschweren nur den existenznotwendigen Wechsel der Positionen Das Prinzip der
Wohnstubenerziehung
als Kern aller sittlichen Erziehung ist fragwürdig – die Familie ist in ihrer sozialpädagogischen Bedeutung nur noch relativ neben anderen Bereichen – der Klient, der Ratsuchende, Hilfsbedürftige, der Zögling muß lernen, Rollen zu spielen, sich den Bereichen anzupassen, d. h. aber ebenso nachdrücklich: sich selbst zu bestimmen.
[004:38] Auch die Autorität, die ja immer im engen Zusammenhang mit der Sittlichkeit gehen wird, verändert sich unter diesem Aspekt. Die autorisierte Person ist dieses nicht, weil sie einen allgemein verbindlichen sittlichen Inhalt repräsentiert oder kraft einer bestimmten Funktion zu fordern berufen ist, sondern sie ist dadurch autorisiert, daß sie auf einen Sachzusammenhang hinweist und die Beherrschung dieses Zusammenhangs repräsentiert, damit zugleich die Selbstbeherrschung paradigmatisch vorbildet. Schlechthin von
persönlicher Autorität
zu sprechen, ist also mindestens ungenau. Die autorisierte Person verweist auf die Autorität der Sache – etwa einer normal funktionierenden Familie, eines organisierten Betriebes, eines zu lernenden Inhaltes, eines geordneten Heimes, eines bestimmten Berufes etc. Autorität ist daher dort anzutreffen und nur dort zu rechtfertigen, wo das Maß an Sachbeherrschung, an Weltbeherrschung am größten ist. Das Gefälle zwischen zweien, das Autorität ermöglicht, ist also kein sittliches im traditionellen Sinne, es ist ein Gefälle, das auf unterschiedlicher Weltbeherrschung beruht. Die Autorität verschwindet in dem Augenblick, wo die Freiheit der Sache gegenüber bei beiden das gleiche Niveau erreicht hat. Es geht also nicht um die Anerkennung einer bestimmten Autoritätsperson, sondern einer notwendigen Funktion, des in einer bestimmten sozialen Hinsicht notwendigen Verhaltens.
[004:39] Da nun aber, wie ich behaupte, die Gesellschaft mehrsinnig ist, ergäbe sich besonders in pädagogischer Hinsicht, eine weitere, sehr wichtige Konsequenz: Der Heranwachsende muß lernen, in den heterogenen Bereichen des sozialen Lebens sich frei zu bewegen. Das bedeutet, daß Autorität ihm immer schon als nur relativ gültig präsentiert werden darf; zur Erfahrung der Autorität würde damit grundsätzlich auch die Erfahrung von deren Grenze gehören. Es wäre folglich eine pädagogische Aufgabe, den jungen Menschen nicht irgendeine Autorität überhaupt sondern möglichst viele, unter einander verschiedene Autoritäten erfahren zu lassen. Die pädagogische Provinz, der einsinnige und einheitliche Erziehungsraum, seine Stileinheit und Stilreinheit, wäre danach kaum zu vertreten. Eine Konsequenz wäre z. B. in ästhetischer Hinsicht gerade die Stilmischung und Vielheit als Prinzip. Der Umgang mit heterogenen Bildungsinhalten, Epochen, Stilrichtungen in der Gegenwart entspricht ja genau dem wechselnden Verhalten in den verschiedenen sozialen Bereichen. Die Autorität eines Stils, etwa der Fugen des Wohltemperierten Klaviers oder der ex|b 92|pressionistischen Malerei kann daher |a 16|ebenso wie eine sittliche Norm eine Einsinnigkeit repräsentieren, fordern und hervorrufen, die dann später im gesellschaftlichen Leben keine Entsprechung mehr findet.
[004:40] Solche Überlegungen waren nun auch anzustellen im Hinblick auf andere, in der sozialen Arbeit grundlegende Vorstellungen. Was nennen wir eigentlich
Verwahrlosung
? Welche Vorstellung vom Menschen steht hinter der Feststellung, ein bestimmter Jugendlicher sei verwahrlost? Welches sind die viel berufenen gefährdenden Momente der modernen Gesellschaft und wieso eigentlich sind sie gefährdend? Stellt man sich damit, etwa mit dem Jugendschutzgesetz, nichtb auf einen permanenten aussichtslosen Kampf gegen die Gesellschaft ein, und wäre es nicht sinnvoller, nicht das Bewahren vor den sogen. gefährdenden Phänomenen zum Prinzip zu erheben, sondern den Umgang mit ihnen erlernen zu lassen – vielleichtb und dann vor allem erst selbst diesen Umgang zu lernen? Was kann schließlich über das Ethos des Sozialarbeiters gesagt werden und über seine – wie es heißt –
persönlichen Voraussetzungen
?
[004:41] Diese Fragen kann ich nicht erörtern. Sie können nur im unmittelbaren Kontakt mit Praxis behandelt und vielleicht gelöst werden. Worauf es mir ankam, war nur, die Richtung anzudeuten, in der, wie ich meine, eine Selbstkritik der sozialen Arbeit verlaufen müßte.
b
b
...,
b
.
b
Robert
b
ø
b
[004:2]
»In Goethes Welt ist das Klappern der Webstühle noch eine Störung gewesen, in der Zeit Ulrichs begann man das Lied der Maschinensäle, Niethämmer und Fabriksirenen schon zu entdecken. Man darf freilich nicht glauben, die Menschen hätten bald bemerkt, daß ein Wolkenkratzer größer sei als ein Mann zu Pferd; im Gegenteil, noch heute, wenn sie etwas Besonderes von sich hermachen wollen, setzen sie sich nicht auf den Wolkenkratzer, sondern aufs hohe Roß, sind geschwind wie der Wind und scharfsichtig, nicht wie ein Riesenrefraktor, sondern wie ein Adler. Ihr Gefühl hat noch nicht gelernt, sich ihres Verstandes zu bedienen, und zwischen diesen beiden liegt ein Unterschied der Entwicklung, der fast so groß ist wie der zwischen dem Blinddarm und der Großhirnrinde. Es bedeutet also kein gar kleines Glück, wenn man darauf kommt ..., daß der Mensch in allem, was ihm für das Höhere gilt, sich weit altmodischer benimmt, als es seine Maschinen sind.«
(Robert Musil)
b
/
b
/
b
/
b
/
b
/
b
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b
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b
/
b
/
b
.
b
Gottfried
b
[004:3]
»Ausdruckskrisen und Anfälle von Erotik:/ Das ist der Mensch von heute, das Innere ein Vakuum,/ die Kontinuität der Persönlichkeit/ wird gewahrt von den Anzügen,/ die bei gutem Stoff zehn Jahre halten./ Der Rest Fragmente./ halbe Laute,/ Melodienansätze aus Nachbarhäusern,/ Negerspirituals / oder Ave Marias. «
(Gottfried Benn)
b
zersprangen
b
.
b
Gottfried
b
ø
b
[004:4]
»Vollende nicht deine Persönlichkeit, sondern die einzelnen deiner Werke.«
»Antisynthetik. Verharren vor dem Unvereinbaren. Das Nebeneinander der Dinge zum Ausdruck bringen. Die Dinge zersprangen. Die Bruchflächen funkeln lassen.«
»Wir alle leben etwas anderes, als wir sind.«
(Gottfried Benn)
b
.
b
aber
b
.
b
Franz
b
ø
b
[004:5]
»Die alten Schriften bekommen viele Deutungen, die gegenüber dem schwachen Material mit einer Energie vorgehen, die nur gedämpft ist. ... durch die Ehrfurcht, aber die man sich geeinigt hat. Alles geschieht in der ehrlichsten Weise, nur daß innerhalb einer Befangenheit gearbeitet wird, die sich niemals |b 80|löst, keine Ermüdung aufkommen läßt und durch das Sichheben einer geschickten Hand meilenweit sich verbreitet. Schließlich heißt aber Befangenheit nicht nur Verhinderung des Ausblicks, sondern auch jene des Einblicks, wodurch ein Strich durch alle diese Bemerkungen gezogen wird.«
(Franz Kafka)
b
.
b
Karl
b
ø
b
[004:6]
»Das heutige Geschehen verlangt eine neue Art von Voraussicht und eine neue Methode ... Zugleich ist es nötig, daß sich unser Fühlen, Denken und Handeln in mancher Beziehung radikal von den bisher erfolgten Methoden unterscheidet. Nur durch die Umformung des Menschen selber ist ein Umbau der Gesellschaft möglich. Die Neubestimmung der menschlichen Aufgaben, die Umwandlung der menschlichen Fähigkeiten und die Umgestaltung unserer moralischen Gesetze sind nicht etwa ein Thema für erbauliche Predigten und utopische Visionen. Sie sind lebenswichtige Fragen für uns alle, und wir können lediglich darüber nachdenken, was sinnvollerweise in dieser Richtung geschehen kann. «
(Karl Mannheim)
b
Man muß es schätzen, wenn ein Mann von heute noch das Bestreben hat, etwas Ganzes zu sein
,
b
Das gibt es nicht mehr
b
,
b
Du brauchst bloß in eine Zeitung hineinzugehen. Sie ist von einer unermeßlichen Undurchsichtigkeit erfüllt. Da ist die Rede von so viel Dingen, daß es das Denkvermögen eines Leibniz überschritte. Aber man merkt es nicht einmal. Man ist anders geworden. Es steht nicht mehr ein ganzer Mensch einer ganzen Welt gegenüber, sondern ein menschliches Etwas bewegt sich in einer allgemeinen Nährflüssigkeit
.
b
Sehr richtig
,
b
Es gibt eben keine ganze Bildung mehr im Goetheschen Sinn. Aber darum gibt es heute auch zu jedem Gedanken einen Gegengedanken und zu jeder Neigung gleich die entgegengesetzte. Jede Tat und ihr Gegenteil finden heute im Intellekt die scharfsinnigsten Gründe, mit denen man sie sowohl verteidigen wie verurteilen kann. Ich begreife nicht, wie Du das in Schutz nehmen magst
.
b
»
Man muß es schätzen, wenn ein Mann von heute noch das Bestreben hat, etwas Ganzes zu sein
, sagte Walter.
Das gibt es nicht mehr
, meinte Ulrich.
Du brauchst bloß in eine Zeitung hineinzugehen. Sie ist von einer unermeßlichen Undurchsichtigkeit erfüllt. Da ist die Rede von so viel Dingen, daß es das Denkvermögen eines Leibniz überschritte. Aber man merkt es nicht einmal. Man ist anders geworden. Es steht nicht mehr ein ganzer Mensch einer ganzen Welt gegenüber, sondern ein menschliches Etwas bewegt sich in einer allgemeinen Nährflüssigkeit
.
Sehr richtig
, sagte Walter sofort.
Es gibt eben keine ganze Bildung mehr im Goetheschen Sinn. Aber darum gibt es heute auch zu jedem Gedanken einen Gegengedanken und zu jeder Neigung gleich die entgegengesetzte. Jede Tat und ihr Gegenteil finden heute im Intellekt die scharfsinnigsten Gründe, mit denen man sie sowohl verteidigen wie verurteilen kann. Ich begreife nicht, wie Du das in Schutz nehmen magst
. «
b
Robert
b
ø
b
[004:7]
»
Man muß es schätzen, wenn ein Mann von heute noch das Bestreben hat, etwas Ganzes zu sein
, sagte Walter.
Das gibt es nicht mehr
, meinte Ulrich.
Du brauchst bloß in eine Zeitung hineinzugehen. Sie ist von einer unermeßlichen Undurchsichtigkeit erfüllt. Da ist die Rede von so viel Dingen, daß es das Denkvermögen eines Leibniz überschritte. Aber man merkt es nicht einmal. Man ist anders geworden. Es steht nicht mehr ein ganzer Mensch einer ganzen Welt gegenüber, sondern ein menschliches Etwas bewegt sich in einer allgemeinen Nährflüssigkeit
.
Sehr richtig
, sagte Walter sofort.
Es gibt eben keine ganze Bildung mehr im Goetheschen Sinn. Aber darum gibt es heute auch zu jedem Gedanken einen Gegengedanken und zu jeder Neigung gleich die entgegengesetzte. Jede Tat und ihr Gegenteil finden heute im Intellekt die scharfsinnigsten Gründe, mit denen man sie sowohl verteidigen wie verurteilen kann. Ich begreife nicht, wie Du das in Schutz nehmen magst
. «
(Robert Musil)
b
machten
b
d.h.
b
fünf
b
(1)
b
[004:11] (1) Ein Mädchen kauft sich eine neue Lampe, die ihrem persönlichen Geschmack in besonderer Weise entspricht. Sie erlebt dann aber, daß sie eines Tages genau die gleiche bei Bekannten findet, das geschieht öfter, und schließlich sieht sie sie in Schaufenstern und wird sich der massenweisen Produktion dieses Artikels bewußt, der ihr ursprünglich als ein ganz individuelles, ihren persönlichen Bedürfnissen entsprechendes Exemplar erschienen war. Der Spaß ist ihr verdorben. Sie fühlt sich hintergangen, irgendwie betrogen, sie ist verärgert und äußert das. Ich erkläre daraufhin, daß das typisch bürgerlich gedacht und gefühlt sei. Sie erwartet nämlich von den produzierten Dingen, daß sie imstande seien, als ihre persönliche Ausdruckswelt zu fungieren, ihr persönliches Bedürfnis nach einer individuellen Innerlichkeit und deren Ausdruck zu befriedigen. Sie stellt damit an die moderne Gesellschaft unerfüllbare Anforderungen; ein Serienprodukt kann das seinem Wesen nach als einzelnes Ding nicht mehr leisten. Das Mädchen resigniert und bastelt sich in Zukunft ihre Lampe selbst.
b
(3)
b
b
jugendliche
b
Isoliertes
b
[004:12] (3) Ein Kind wächst in einer Familie auf, die einen kultivierten und sehr klaren, sich in alle Lebensbereiche erstreckenden Stil hat. Die Hausmusikpflege ist dieser Familie genauso eigentümlich wie – sagen wir die Wohlerzogenheit der Kinder und die religiöse Bindung. In allem aber drückt sich dieser einheitliche Familienstil aus. Der jugendliche verläßt diese Familie und erlebt, daß er die gewonnenen Erfahrungen nicht übertragen kann, daß die widersprechenden Erfahrungen, die er nun in der Gesellschaft macht, vor der Wahlurne, im Berufsleben, im Kino, mit moderner Kunst, daß diese mit seinem Ich, so wie es in der Familie gebildet worden ist, nicht in Einklang zu bringen sind. Er er|a 6|fährt, soweit er in die moderne Gesellschaft hineinzuwachsen versucht, daß die in der Familie erworbenen Fähigkeiten und Wertvorstellungen offenbar nur dort gelten, daß die Familie offenbar ein Isoliertes Inseldasein in einer ganz anderen Welt führt. Er versucht sich dem Neuen anzupassen; dieser Versuch mißlingt, weil er dieses Anpassen nicht gelernt hat; er distanziert sich von der Familie, randaliert und verwahrlost. Das Jugendamt schickt ihn in ein Heim, das nach dem
»Familienprinzip«
organisiert ist.
b
(3)
b
DerLeiter
b
"eigentlichen"
b
"eigentlichen"
b
[004:13] (3) DerLeiter einer konfessionellen Jugendgruppe sieht das Wesen seiner Arbeit darin, eine Gemeinschaft heranzubilden, die sich einem gemeinsamen, das ganze Leben umgreifenden Auftrag unterstellt, gleichsam eine Elite-Gruppe im Dienste einer christlich-kirchlichen Erneuerung zu schaffen. In der Nachbarschaft ist ein Heim der offenen Tür. Er erlebt nun, wie seine Jungen immer häufiger dieses Heim besuchen, in dem ihnen ein vielseitiges Freizeitprogramm günstige Angebote macht. Damit ihm die Jungen nicht weglaufen, übernimmt er notwendig und ohne sich der Tragweite bewußt zu sein, zunächst wenig, dann aber immer mehr von diesem Stil einer Jugendbetreuung, bis er eines Ta|b 82|ges feststellt, daß er eigentlich zu einer Art Konferencier, einem Arrangeur von immer neuen unterhaltenden und unterrichtenden Veranstaltungen geworden ist und sich seiner "eigentlichen" Aufgabe völlig entfremdet hat. An dieser "eigentlichen" Aufgabe aber hält er fest; er versucht, dem
»entfremdenden«
Trend entgegenzuarbeiten, es gelingt ihm aber nur bei Wenigen. Bei der größeren Zahl resigniert er. Die Vorstellung, mit einer Elite zu arbeiten, verstärkt sich natürlich bei ihm, ebenso seine kulturkritischen Neigungen. Seine Ideologie, die etwas anderes ist als sein Glaube, nämlich die Vorstellung von einer bestimmten Art, in der der Glaube sozial zu fungieren habe, über bestimmte Konsequenzen, die sich aus ihm für die Arbeit mit Jugendlichen ergeben, oder auch Vorstellungen solcher Art, die mit seinem Glauben nichts zu tun haben, diese Ideologie aber gibt er nicht auf.
b
(4)
b
gar nicht
b
[004:14] (4) Ein Junge aus einer völlig geordneten,
»normalen«
Familie beginnt, Geld zu stehlen. In der Beratungsstelle stellt sich heraus: Der Vater hat ihn in eine Internatsschule geschickt, die er schon selbst besucht hat, eine
»ausgezeichnete Schule«
. Der Junge sagt über diese Schule, ihre Methoden seien
»unmodern«
, er ginge lieber in eine öffentliche Stadtschule. Er liest viel Zeitschriften, zeigt vor allem Interesse für Technisches und Abenteuergeschichten. Der Vater ist der Meinung, der Junge brauche nicht so viel zu lesen, er solle lernen; außerdem habe er Freunde, die ihm, dem Vater nicht gefielen und die er dem Sohn daher verbiete, denn ein Erzieher habe die Pflicht, über die Freundschaften seines Zöglings streng zu wachen. Außerdem weist der Vater immer auf seine eigene Kindheit hin:
»Ich habe auch kein Taschengeld gehabt«
,
»Ich habe auch gehorchen müssen«
. Die Mutter äußert sich in der Beratungsstelle gar nicht. Das Familienleben ist ordentlich, korrekt, im landläufigen Sinne normal; dem Jungen
»fehlt es an nichts«
– aber er erlebt schon in seiner kindlichen Umwelt |a 7|eine andere Wirklichkeit, die mit der Familie nicht in Einklang zu bringen ist. Er versucht diese Diskrepanz – eine Diskrepanz zwischen Ideologie und Wirklichkeit – durch sein Verhalten zu kompensieren; er stiehlt. Der Erziehungsberater schickt ihn in ein anderes Internat.
b
(5)
b
[004:15-16] (5) Erwachsene und Jugendliche sitzen zusammen im Kino und sehen einen Durchschnittsfilm. Die Jugendlichen äußern laute Zwischenbemerkungen, bisweilen ironische Beifallsrufe, kommentierendes Gelächter. Die Erwachsenen sind empört, sie sind beleidigt, in ihrer Faszination gestört zu werden; aber sie erklären diesen Film für jugendgefährdend. Man wird zugeben müssen, daß die in jedem Fall gezogene Konsequenz nicht nur heute möglich, sondern sogar nicht gerade selten ist. Ich behaupte nun, daß diese Konsequenzen auf einer falschen Interpretation der Fälle beruhen, auf einem falschen Aspekt, unter dem jeweils das Verhältnis gesehen wird, in dem die einzelne Situation zu unserer gegenwärtigen Wirklichkeit steht. Meine Absicht im Folgenden ist der Versuch, das zu begründen und einen möglicherweise richtigeren Aspekt anzudeuten.
b
1
b
ø
b
Soziale Arbeit
b
Friedrich
b
Enticklung
b
–,
b
–,
b
ø
b
Friedrich
b
Welche
b
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b
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Grundsätzlichen
b
Albrecht
b
August
b
Lionel
b
2
b
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b
»Mensch = Mensch«
b
(
Snell, 1955
)
b
Martin
b
Johann Gottfried
b
Johann Heinrich
b
Robert
b
Vielen.
b
Horkheimer 1957:
b
ø
b
.
b
Hegel 1827:
b
ø
b
(1958: 38)
b
ø
b
als solches
b
je
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b
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b
– nämlich: Wie
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b
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b
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.
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1958:
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bestände
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Johann Heinrich
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1958:
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1959:
b
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sozialen
b
3
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verwenden
b
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b
Musil 1952:
b
Anton S.
b
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b
(1958)
b
Max
b
(1957: 268)
:
»Anweisungen, Rezepte, Leitbilder treten anstelle der moralischen Substanz«
b
darauf
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demnach
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z.B.
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ø
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Gesellschaft,
b
nur
b
sogenannten
b
,
b
ø
b

Literatur

    [004:42] Bang, R. (1958): Psychologische und methodische Grundlagen der Einzelfallhilfe (Casework). Wiesbaden
    [004:43] Freyer, H. , 1959: Die Idee der Freiheit im technischen Zeitalter. In: Universitas, 14. Jg., S. 225 - 233
    [004:44] Hegel, G. W. F. (1827): Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse zum Gebrauch seiner Vorlesungen. Heidelberg, 2. Ausgabe
    [004:45] Lambrecht, S. (1958): Die Soziologie. Aufstieg einer Wissenschaft. Ein Leitfaden für Praxis und Bildung. Stuttgart-Degerloch 3. Auflage
    [004:46] Makarenko, A. S. (1958): Ein Buch für Eltern. Berlin
    [004:47] Mannheim, K. (1958): Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus. Darmstadt
    [004:48] Musil, R. (1952): Der Mann ohne Eigenschaften. Hamburg
    [004:49] Snell, B. (1955): Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen. Hamburg, 3. Auflage.