Anpassung [Textkritische interaktive Ansicht mit a als Leittext]
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Anpassung

I.

[008:1] Schon seit längerem scheint die deutsche1
1Diese Einschränkung scheint notwendig zu sein, da in der französischen und besonders angelsächsischen Literatur die Situation anders ist.
pädagogische Diskussion um einen Begriff reicher geworden zu sein. Das wäre, besonders in der Diskussion um die Reform des Bildungswesens und den Begriff der Bildung kaum bemerkenswert, wenn es nicht so aussähe, als entwickele sich das Wort
Anpassung
in der Tat zu einem pädagogischen Grundbegriff, der in der Beschreibung gegenwärtiger Erziehungsprobleme eine konstituierende Rolle spielt. Indessen kann jedoch keine Rede davon sein, daß er sich, im Zusammenhang der gegenwärtigen pädagogischen Diskussion, schon als wissenschaftlich brauchbarer Terminus erweist. Vielmehr fungiert er eher als Vehikel mehr oder weniger ausgesprochener Ängste oder Wünsche, als diffamierendes Etikett soziologisch argumentierender Positionen, als Symptom vorgängiger Meinungen und Weltanschauungen, bestenfalls noch als Mittel, die eigene, eben
nicht-angepaßte
Haltung deutlicher hervortreten zu lassen, ohne die logische Unklarheit zu bemerken, die doch darin liegt.2
2In dem nach der Niederschrift dieses Aufsatzes erschienenen Buch von Helmut Schelsky, Anpassung oder Widerstand – Soziologische Bedenken zur Schulreform, Heidelberg 1961, wird dieses Dilemma prägnant referiert (S. 127 ffø). Im übrigen aber behält der Begriff auch dort seine terminologische Unbestimmtheit bei.
Nun hat in jüngster Zeit der Deutsche Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen den Begriff thematisch in seine Überlegungen einbezogen und damit den gleichsam blinden Fleck innerhalb der Erziehungswissenschaft ins Bewußtsein gehoben. Mit der Forderung, die Erziehung habe sowohl die Fähigkeit der Anpassung wie die des Widerstandes hervorzubringen, ist allerdings kaum mehr geleistet, als eine Andeutung des Problems. Der Deutsche Ausschuß scheint sich dessen auch durchaus bewußt zu sein in dem Satz, es werde heute
weder die Anpassung noch der Widerstand genügend ernst genommen und an den richtigen Stellen |a 348||c 188|geleistet
3
3
Empfehlungen und Gutachten, Folge 5, Stuttgart 1960, S. 31
; desgleichen das Gutachten
Zur Situation und Aufgabe der deutschen Erwachsenenbildung
, Folge 4 Stuttgart 1960, S. 27 f.
, wenn wir diesen Satz nicht nur als eine Empfehlung an die Praxis, sondern auch als Hinweis auf eine noch zu leistende Aufgabe der wissenschaftlichen Theorie verstehen dürfen.
[008:2] Wie notwendig eine Klärung des hier in Frage stehenden Phänomens ist, zeigt auch die außerordentlich hohe Reizbarkeit dem Wort
Anpassung
gegenüber, die in Diskussionen immer wieder zu bemerken ist und kurzschlüssig eine rationale Durchleuchtung hemmt, eine Reizbarkeit, die es dem
Auslöser
leicht macht, die geringe Zahl möglicher Reaktionen vorherzusagen.
4
4Anschauliches Material dazu bietet neben der Kritik am
Rahmenplan
des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen vor allem die Kritik am sog.
Bremer Plan
.
Der Vorwurf des
Soziologismus
ist in solchen Augenblicken ständig präsent. Gerade
soziologistische
Theorien scheinen es ja zu sein, die sich durch die häufige Verwendung des Begriffs
Anpassung
selbst als solche entlarven. Zwei Motive bedingen vor allem die genannte Reizbarkeit oder Empfindlichkeit: der Pädagoge empfindet die Anpassungsforderungen als einen Angriff auf seinen Autonomie-Anspruch, als Übergriff benachbarter Disziplinen, und sich selbst damit zum Funktionär erniedrigt; er sieht in ihnen außerdem einen Angriff auf sein Selbstverständnis, auf die Überlieferungen einer langen Tradition, auf sein
Menschenbild
, das – mindestens seit Herder – seine Vorstellungen vom
Gebildeten
und der
Bildung
bestimmt.
Wie leicht ersichtlich ist, koinzidieren beide Motive in einer unseren kulturellen Zusammenhang bestimmenden anthropologischen Position. In der Reaktion des Pädagogen treten sie jedoch auseinander, vorgetragen einerseits in der Form erziehungswissenschaftlicher, andererseits weltanschaulicher Argumente. (Näheres dazu Abschnitt III)
[008:3] Es ist aber nicht nur die ungeklärte Problemlage, die die erziehungswissenschaftliche Erörterung des Anpassungsbegriffes notwendig macht; es ist ebensowohl die Häufigkeit, mit der der Begriff in anderen wissenschaftlichen Disziplinen auftritt; so in der Lernpsychologie, der Soziologie, der Psychoanalyse. Der Begriff hat in diesen Disziplinen eine Bestimmung erfahren, auf die die pädagogische Kritik nur beschränkt anwendbar ist. Und wenn einerseits
Anpassung
ein bevorzugtes Angriffsziel der Kulturkritik ist, so muß darauf hingewiesen werden, daß andererseits der Begriff in bestimmten sozialanthropologischen Systemen, etwa der Schule Malinowskis, als Mit|a 349||c 190|tel fungiert, die Kulturkritik gerade zu entschärfen, ohne damit jedoch einem soziologischen Konservatismus das Wort zu reden. Es erscheint daher lohnend, von der erziehungswissenschaftlichen Problematik im engeren Sinne unabhängig, sich die verschiedenen Aspekte des Phänomens zu vergegenwärtigen, ihren Bezug zur Erziehungswirklichkeit zu zeigen, um dann die Erörterung im eigenen, erziehungswissenschaftlichen Felde aufzunehmen. Schließlich muß noch darauf hingewiesen werden, daß es sich im folgenden nur um eine Bestimmung und Präzisierung der Probleme handeln kann.

II.

[008:4] Mit Anpassung – in welchem Sinne auch immer von ihr die Rede ist – bezeichnen wir eine bestimmte Relation zwischen Subjekt und außersubjektiver Wirklichkeit. Als Mittel psychischer Orientierung dient sie der Vermeidung von Konflikten. In diesem Sinne paßt man sich den Formen der Höflichkeit, den Anforderungen einer Arbeitsstelle oder den Bräuchen eines fremden Landes an. Die Verhaltenssteuerung ist dann der Umwelt kongruent; das Verhalten selbst indiziert die vorhandene oder fehlende Kongruenz, bzw., und mit einem sozialpsychologischen Terminus bezeichnet, das
psychische Gleichgewicht
. Die Gesamtheit der Anpassungsvorgänge wird von Hartmann daher allgemein bestimmt als
ein erhaltungsgemäßes |b1 b2 271|Inbeziehungsetzen von Genotypus und Außenwelt
5
|b1b2 354|5
Heinz Hartmann, Ich-Psychologie und Anpassungsproblem, in: Psyche XIV/2, 1960, S. 100
; ähnlich
H. Thomae, Handbuch der Psychologie, Bd. 4, Göttingen 1960, S. 290
:
Die Qualität der Angepaßtheit bezieht sich auf die mehr oder minder konstante Übereinstimmung des Verhaltens des Subjekts mit den Gegebenheiten der jeweiligen Umwelt, insbesondere den Forderungen und Normen der Sozietät.
Kriterium der Anpassung sei
die Harmonisierung zwischen Eigenanspruch und Realität
. (291)
b1b2
. Der Phänotypus, u. a. das Ergebnis dieser auf Gleichgewicht gerichteten Vorgänge, ist durch Angepaßtsein wesentlich bestimmt. Was daher in der Sozialpsychologie als
Sozialisierung
bezeichnet wird, wird nach diesem Schema verstanden.
[008:5] Die entscheidende Voraussetzung dieses Verständnisses liegt in der Tatsache, daß die Auseinandersetzung mit der Außenwelt, das Hervorbringen von Verhaltensweisen, die dieser Außenwelt adäquat sind, nicht in jedem Falle und in jeder Generation neu zu geschehen braucht, sondern daß – für einen bestimmten kulturellen Zusammenhang – einmal gefundene Lösungen institutionalisiert werden. Die folgenden Generationen brauchen das so tradierbar Gewordene nur zu übernehmen, zu lernen. Ihre Leistung liegt in der Einübung |a 350||c 190|des gegebenen Verhaltensbestandes, durch den das Gleichgewicht des Individuums garantiert wird. Anpassungsvorgänge sind damit als Lernvorgänge bestimmt. Das für die verschiedenen Kulturen je charakteristische
normative Equilibrium
6
|b1b2 354|6Peter R. Hofstätter, Einführung in die Sozialpsychologie, Wien 1954, S. 247 ff.
kann als der Inbegriff der Anpassungsleistungen verstanden werden, die von vorangegangen Generationen vollbracht wurden. Indem das Individuum das
richtige Maß
7
|b1b2 354|7a. a. O., S. 256.
in den verschiedensten Verhaltenssektoren, das fundierende Normensystem, lernt, lernt es, zur Befriedigung seiner Bedürfnisse sich der traditionellen Formen und Wege zu bedienen, ja überhaupt nur eine der Zahl und Form nach begrenzte Gruppe von Bedürfnissen zu haben. Nur so ist die
normale
kulturelle Existenz, nur so also auch innersubjektives, psychisches Gleichgewicht möglich8
|b1b2 354|8Zur Bestimmung der
Angepaßtheit
als Gleichgewichtszustand vgl. auch H. Thomae, Persönlichkeit, Bonn b1b21960², S. 26; A. Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, Hamburg 1957, S. 39; W. Guyer, Wie wir lernen, Erlenbach-Zürich 1952, S. 22 ff; K. Mannheim, Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus, Darmstadt 1958, S. 433.
.
[008:6] Angesichts der kulturellen Selbstverständlichkeiten, angesichts der eine Kultur fundierenden Normen- und Verhaltenssysteme scheint es keine anderen Möglichkeiten als Anpassung oder Fehlentwicklung zu geben. Indessen zeigt aber die nähere Betrachtung, daß hier ein zweiter Aspekt auf die Sache eingeführt werden muß. Zwei Phänomene zwingen dazu: die Tatsache, daß die Anpassungsleistung, die das Individuum im Hinblick auf traditionelle Verhaltensweisen und Normen zu vollbringen hat, seine Leistungen sind und nicht etwa biologisch erklärbare Determinationen9
9In die Erörterung der Abgrenzung biologischer von anthropologischer Betrachtung treten wir hier nicht ein. Sie wird vorausgesetzt.
– und das Hervorbringen neuer, eine Kultur oder einen neuen kulturellen Entwicklungsschritt konstituierender Institutionen und Verhaltungsweisen ohne tradierte Vorläufer; kurz: die Tatsache des Kulturwandels. Das heißt nicht nur, daß die Anpassungsleistung der Möglichkeit nach als eine vom Individuum intendierte verstanden werden muß (in der Tat ist sie es ja oft nicht, etwa bei der Anpassung des Kleinkindes an die Selbstverständlich|b1 b2 271|keiten des Familienlebens), es heißt ebensowohl, daß jenes Gleichgewicht hergestellt wird durch eine Veränderung der Situation, durch ein
passendes
Arrangement von Instrumenten, durch Finden eines passenden Weges, durch Hervorbringen einer das Gleichgewicht ermöglichenden, in der Situation gleichsam
erfundenen
Verhaltensform. So kann eigensinniges Verhalten einem Vor|a 351||c 191|gesetzten gegenüber diesem Gleichgewicht dienen; zwar erscheint es dem oberflächlichen Blick keineswegs angepaßt; insofern aber, als Eigensinnigkeit eine innerhalb unserer Kultur praktikable Verhaltensform darstellt, ist es durchaus als eine angepaßte zu bezeichnen. Sehr sinnvoll ist hier die Unterscheidung Riesmanns, der das Angepaßtsein in jenem oberflächlichen Sinne als
overadjusted
bezeichnet und in ihm gerade eine moderne Fehlform der Anpassung sieht, in der das aktive Moment eliminiert wurde. Der Überangepaßte wählt nicht, entscheidet sich nicht, sondern läßt sich durch die Situation in Richtung auf das unauffälligste Verhalten determinieren.
[008:7] Diese im Anpassungsvorgang implizierte Möglichkeit eines aktiven Bezuges zur Außenwelt, einer Veränderung nicht nur seiner selbst, sondern auch der auf einen Zweck gerichteten Arrangements der Verhältnisse, in denen das Individuum in einen Gleichgewichtszustand zu kommen, den Zustand der Angepaßtheit zu erreichen bestrebt ist, tritt in den Differenzierungen verschiedener sozial-psychologischer und soziologischer Theorien deutlich hervor. So unterscheidet etwa Hartmann, in Anlehnung an Freud und die beiden Begriffe sozialpsychologisch interpretierend,
Autoplastik
und
Alloplastik
als die beiden Seiten des Anpassungsvorganges.
Der Vorgang der Anpassung kann durch Veränderung der Umgebung geschehen, in der das Individuum lebt (Werkzeuggebrauch, Technik im weitesten Sinne etc.), oder durch zweckmäßige Veränderung im psychophysischen System. Im Unterschied zum biologischen Phänomen der
Anpassung
oder
Einpassung
bleibt die Anwendungsbreite der Alloplastik für den Menschen charakteristischb1b2
10
|b1b2 354|10H. Hartmann, a. a. O., S. 102.
.
[008:8] In derselben Hinsicht unterscheidet Piaget Assimilation (Veränderung des Gegenstandes) und Akkomodation (Veränderung des Individuums)11
|b1b2 354|11Vgl. dazu ferner die parallelen Unterscheidungen von Gehlen, Guyer und Mannheim in den zitierten Werken, außerdem bei Ch. Bühler in einer interessanten Varianteb1b2 in: Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem, Göttingen, b1b21959², S. 17 ff.
. Nur unter der Voraussetzung solcher Differenzierung ist auch ein angemessenes Verständnis des Anpassungsbegriffes der Sozialanthropologie möglich. Alloplastische Leistungen werden hier allerdings nicht nur als Veränderungen im Arrangement vorgefundener Möglichkeiten verstanden, sondern als schöpferisches Hervorbringen. Danach besteht der kulturfundierende Vorgang darin, die physiologischen Bedürfnisse, gleichsam die biolo|b1 b2 273|gische Basis des |a 352||c 192|Menschen, zu überformen durch Phänomene der Organisation und Institution. Organisierung und Institutionalisierung sind die primären Anpassungsleistungen des Menschen, in denen er eine Umwelt derart verändert, daß sie das Gleichgewicht ermöglicht und stabilisiert. Alle Impulshandlungen werden
physiologisch diktiert, aber zu erworbenen Gewohnheiten umgeformt
.
Von diesem Standpunkt aus erscheint die Kultur als ein gewaltiger Apparat der Anpassung, der durch Übung, durch das Vermitteln von Fertigkeiten, das Lehren von Normen und die Ausbildung des Geschmacks Anerzogenes und Naturgegebenes miteinander verschmilzt und so ein Wesen schafft, dessen Verhalten nicht durch das Studium der Anatomie und Physiologie allein bestimmt werden kann.
12
|b1b2 354|12B. Malinowsky, Die Dynamik des Kulturwandels, Wien-Stuttgart 1951, S. 94.
Anpassungsfähigkeit als Bedingung der Möglichkeit kulturellen Fortschritts ist innerhalb dieser Theorie identisch mit Bildsamkeit.13
|b1b2 354|13
Was an von der Natur garantierter Sicherheit verloren gegangen ist, wird durch den Vorteil größerer Bildsamkeit wieder wettgemacht.
So
war diese Anpassungsfähigkeit der menschlichen Natur der Boden, dem der menschliche Fortschritt entsproß, in dem er Wurzel schlug und sich auch erhalten hat.
(R. Benedikt, Urformen der Kultur, Hamburg 1955, S. 16)
.
b1b2
[008:9]
Alloplastische Anpassung
kann also zwei sorgsam zu unterscheidende Phänomene bezeichnen: das Arrangieren vorhandener Mittel zum Zwecke des psychischen Gleichgewichts und das Hervorbringen solcher Mittel, tradierbarer Verhaltensmuster, zwar zum gleichen Zweck, aber doch mit dem im Vergleich zum ersten Phänomen entscheidenden Unterschied, daß im Hinblick auf den vorhandenen kulturellen Horizont etwas Neues gefunden oder erfunden wird. Es könnte diesem zweiten Phänomen gegenüber die Meinung bestehen, daß es lediglich in den Anfangsstadien kultureller Entwicklung anzutreffen sei, alles Folgende dagegen sich auf Autoplastik, auf Anpassung an das schon Bestehende beschränke, also ausschließliche Veränderung bzw. Formung der Individuen nach Maßgabe der kulturellen Tradition sei14
|b1b2 354|14Angesichts solcher Differenzierungen erscheinen Polemiken gegen den Anpassungsbegriff wie die von W. Fischer oder K.-G. Pöppel gegenstandslos; vgl. W. Fischer, Zum Problem der Anpassung in der Pädagogik,14, S. 272 ff.b1b2 Gerhard Pöppel, Anpassung und Eigenständigkeit als pädagogische Frage, Vierteljahresschrift f. Wiss. Päd. XXXV/2, 1959, S. 89 ff.
. Dagegen ließe sich einwenden, daß solche Meinung nur in Bezug auf einige entwicklungsindifferente Primitiv-Kulturen zutrifft. Überall dort hingegen, wo kulturelle Entwicklungen, Veränderungen vor sich gehen, muß angenommen werden, daß dem Prozeß des Tradierens ein solcher des Neufindens oder Erfindens parallel geht; es wäre sonst nicht einzusehen, wie überhaupt kontinuierliche |a 353||c 193|Veränderungen kultureller Horizonte erklärbar sein sollen. Aber selbst dies vorausgesetzt, bleibt doch die darin verborgene pädagogische Frage noch offen. Selbst wenn nämlich kulturelle Veränderungen laufend bewirkt werden, und zwar von den gleichsam experimentierfreudigen oder auf Experimente angewiesenen Bereichen und Situationen, wäre eine Meinung denkbar, nach der solches Experimentieren, genauer: solches Verändern des kulturellen Horizontes nicht in den Bereich der Erziehung gehöre, diese vielmehr sich ausschließlich auf das Vermitteln des Vorhandenen zu beschränken habe. Das bedeutet aber |b1 b2 274|exakt im Sinne der bisher dargestellten Theorien: Erziehung ist Anpassung des Heranwachsenden an den überlieferten Normen- und Verhaltensbestand. Diese Konsequenz ist die Ironie aller traditionalistischen Erziehungstheorien in der Gegenwart. – Wir wollen indessen dieser Frage hier noch nicht weiter nachgehen, sondern vorerst, nach den Problemen
Gleichgewicht
und
Alloplastik
einen dritten Aspekt auf das Phänomen stärker hervorheben.
[008:10] Ruth Benedict bemerkt, durchaus in Übereinstimmung mit dem bisher Dargestellten, daß die Anpassungsfähigkeit ein sozio-kulturelles Grundphänomen sei15
|b1b2 354|15R. Benedict, a. a. O.
. Sie führt im Hinblick auf primitive Kulturen aus, daß die standardisierten Anpassungsleistungen identisch seien mit den einzigen Bedingungen, die es ermöglichen, als Mensch zu überleben. Die kulturellen Institutionen,
das ganze Gebäude der materiellen und ideellen Standardbegriffe seines Volkes
16
|b1b2 354|16a. a. O., S. 22.
sind im Rückblick eines amerikanischen Indianers etwas,
das ebenso wertvoll war wie das Leben selbst
. Verhaltensstabilisierung und Humanisierung sind nur zwei Aspekte auf ein und dieselbe Sache. Die darin enthaltene Frage formuliert Gehlen:
Wie ist es einem instinktgebundenen, dabei antriebsüberschüssigen, umweltbefreiten und weltoffenen Wesen möglich, sein Dasein zu stabilisieren?
17
|b1b2 354|17A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur, Bonn 1956, S. 47
Das ist die kulturelle Existenzfrage. Die Lebenschancen eines
Inneren
sind minimal, wenn es nicht durch Institutionen, Organisationen, Habitualisierungen gestützt wird, d. h. wenn es nicht durch Anpassungen autoplastisch modifiziert wird, denn die hier vor sich gehende Veränderung trägt den
Charakter dessen, was man Anpassung nennt
18
|b1b2 355|18Guyer, a. a. O., S. 24.
. Lernen, und zwar das Lernen des für die verschiedenen Kulturen je besonders definierten Humanums, könnte daher auch in |a 354||c 194|Terminis solcher Modifikationen in Richtung auf Angepaßtsein beschrieben werden. Diese, das Individuum modifizierenden Anpassungen sind etwa die mit den psychologischen Begriffen
Prägung
und
Verfestigung
gemeinten Sachverhalte19
|b1b2 355|19Vgl. H. Thomae, Persönlichkeit, Bonn b1b21960² und ders., Entwicklung und Prägung, in: Handbuch der Psychologie, hrsg. von Ph. Lersch, F. Sander, H. Thomae und K. Wilde, Bd. 3 Göttingen 1959.
. In beiden Fällen handelt es sich um dauerhafte Anpassungsleistungen, um autoplastische Veränderungen, die die kulturelle Existenz erst ermöglichen. So werden im Individuum die sogenannten
kulturellen Selbstverständlichkeiten
schon im Kleinkindalter hervorgebracht, indem es Einwirkungen ausgesetzt wird, die den kulturadäquaten Charakter determinieren20
|b1b2 355|20Vgl. dazu besonders R. Benedict, a. a. O.; H. Thomae, Entwicklung und Prägung, a. a. O. (dort auch weitere Literaturangaben).
.
[008:11] An solche fundamentalen Anpassungen anschließend und auf ihnen basierend gibt es dann aber auch die Vielfalt partieller Prägungen und Verfestigungen, die Orientierung in immer wieder analogen Situationen er|b1 b2 275|möglichen. Der Zustand des Angepaßtseins ist nicht starre Unausweichlichkeit, sondern schließt eine gewisse Plastizität mit ein. Angepaßtheit muß die Anpassungsfähigkeit nicht ausschließen.
Die Verfestigung ... ist als
Fixierung des Sinnvollen
nicht nur Ergebnis der mannigfachen Orientierungsschritte des sich anpassenden Individuums, sondern auch Grundlage für alle weiteren Orientierungen. Denn ohne eine gewisse Verfestigung der eben vollbrachten Orientierungsleistung wäre ja jede gemachte Erfahrung schon jeweils im nächsten Augenblick wieder verloren. Dennoch bleibt im Allgemeinen das Gefüge so plastisch, daß es jede neue Situation wieder in ihrer Eigenart zu erfassen vermagb1b2
21
|b1b2 355|21H. Thomae, Persönlichkeit, S. 46.
. Oder, in einer anderen Richtung weitergedacht: solche Habitualisierung des Verhaltens ist nicht nur Fixierung und erst recht kein Hindernis der Bildsamkeit, sondern immer auch produktiv weiterführend,
da sie die Entlastungschancen für höhere, kombinationsreichere Motivationen herstellt und diese damit geradezu fundiert
22
|b1b2 355|22A. Gehlen, Urmensch, S. 48.
.
[008:12] Erziehung scheint daher unter diesen Aspekten keine andere Funktion zu haben, als die Anpassungsleistungen der heranwachsenden Generation im Hinblick auf den kulturellen Bestand zu bewerkstelligen bzw. zu unterstützen. In den Erziehungsformen primitiver Kulturen findet diese These ihre Bestätigung. Die Möglichkeit des Wi|a 355||c 195|derstandes kann dort in die Erziehung nicht aufgenommen werden; sie ist nicht denkbar, sondern wird durch ein mehr oder weniger differenziertes System von Tabuierungen von vornherein ausgeschlossen. Die Bildung eines revolutionären oder auch nur reformerischen Bewußtseins liegt außerhalb pädagogischer Erwägbarkeiten. Menschenwerdung ist nur möglich auf dem Wege der Anpassung.

III.

[008:13] Ch. Bühler kritisiert solche Thesen als einseitig, indem sie statt des Begriffs Anpassung ein Begriffspaar einführt, um so dem Problem des Lebenslaufs, der Persönlichkeitsentwicklung näher zu kommen. Der
selbstbeschränkenden Anpassung
(an anderer Stelle:
anpassende Selbstbeschränkung
) stellt sie die schöpferische Expansion gegenüber23
|b1b2 355|23
Ch. Bühler, a. a. O., S. 19, 27
.
. Damit ist zweifellos auf ein Phänomen hingewiesen, das im bisher erörterten Anpassungsbegriff nicht aufzugehen scheint. Indessen sind doch zwei Einschränkungen der Polemik Bühlers möglich. 1. Auch die
schöpferische Expansion
bedient sich – wie das von Bühler angeführte biographische Material selbst zeigt – bestimmter vorhandener Mittel und Wege. Das Individuum produziert diese Mittel und Wege nicht aus sich, sondern findet sie vor, um mit ihrer Hilfe, in ihnen eine neue Intention zu verwirklichen; |b1 b2 276|das von Bühler gemeinte
Schöpferische
wäre also möglicherweise identisch mit dem von Gehlen genannten
Antriebüberschuß
. 2. Das
Normative Equilibrium
unseres kulturellen Zusammenhanges ist u. a. dadurch bestimmt, daß
schöpferische Expansion
kulturell gefordert wird. Insofern ist der Unproduktive für uns ein defizienter Modus unserer kulturellen Existenz. In diesem Sinne ist
schöpferische Expansion
eine notwendige Seite der erforderlichen Anpassungsleistungen. Der nur sich
selbstbeschränkend Angepaßte
wäre damit gerade der Nichtangepaßte (im Sinne der Riesmannschen
overadjusted
), jedenfalls dann, wenn Angepaßtheit Kongruenz von kulturellen Normen und kulturellem Charakter bedeutet.
[008:14] Es ist aber zu fragen, ob eine solche Nivellierung des mit
schöpferischer Expansion
oder dem von Riesmann angeführten
autonomen Verhalten
Gemeinten den geschichtlichen Sachverhalt nicht verfälscht24
|b1b2 355|24
Die Autonomen sind jene, die im großen und ganzen gesehen fähig sind, sich entsprechend der Verhaltensnormen ihrer Gesellschaft zu benehmen ... die aber zwischen Konformität und Nonkonformität frei entscheiden könnenb1b2
(David Riesmann, Die einsame Masse, Hamburg 1958, S. 254)
.
. Denn mit der Aufnahme der Forderung autonomer Sub|a 356||c 196|jektivität in den kulturell bedingten Charaktertypus wird dieser in eine neue Ebene gehoben, und zwar dadurch, daß er sich nicht in der Angepaßtheit an die kulturellen Verhaltensnormen erschöpft, sondern die Reflexion über diese mit enthält. Zum
Gebildeten
in diesem kulturellen Horizont gehört es, daß er prinzipiell, mindestens in der Reflexion, den gegebenen kulturellen Verhaltensbestand zu überschreiten imstande ist25
|b1b2 355|25Innerhalb pädagogischer Theorien ist dieser Sachverhalt zum ersten Mal eindrucksvoll von Schleiermacher in dem
Reflexion
betitelten Abschnitt seiner
Monologen
dargestellt.
. Er hat Distanz von den Normen seiner Kultur, er ist
kritisch
26
|b1b2 355|26Vgl. dazu die Bestimmung des Gebildeten und der Kritik in den Frühschriften Friedrich Schlegels.
, er objektiviert. Darin unterscheidet sich seine
Bildung
von der in Terminis der Anpassung hinreichend beschreibbaren Erziehung anderer kultureller Systeme. Insofern als das hier mit
Reflexion
und
Autonomie
Gemeinte zu einer sozio-kulturellen Tatsache wurde, d. h. nicht mehr auf den genialen Einzelfall beschränkt blieb, gehört es auch zu dem kulturell bedingten Charaktertypus, und erst insofern werden diese Phänomene pädagogisch bedeutsam. Anpassung und Widerstand ist damit ein Begriffspaar, das sinnvoll sowohl diesen Charakter wie auch die ihm zugehörige pädagogische Aufgabe im Allgemeinen bezeichnet.
[008:15] Allerdings sollte der Sprachgebrauch hier noch differenziert werden. Von Widerstand gegen bestimmte Verhaltensformen und Tendenzen der industriellen Gesellschaft ist oft in einem Sinn die Rede, den ich abkürzend traditionalistisch nennen möchte. Wenn etwa Widerstand bedeutet, das traditionelle Kulturerbe des christlichen Abendlandes Entwicklungen gegenüber zu bewahren, die dieses Erbe in der Gegenwart zu bedrohen scheinen, so wird die Formel hier in einer Bedeutung verwendet, die dem Phänomen der Anpassung – das bisher Dargestellte immer vorausgesetzt |b1 b2 277|– nicht entgegensteht, sondern im Begriff der Anpassung selbst aufgeht. Der Gegensatz ist kein faktischer, sondern ein ideologischer. Faktisch nämlich handelt es sich hier lediglich um zwei, allerdings verschiedene, Normen- und Verhaltenssysteme, die im Individuum zur Konkurrenz gebracht werden sollen27
|b1b2 355|27Solche von der Gesellschaft ernst genommene und tolerierte Konkurrenz setzt allerdings die oben genannte
Reflexion
voraus, wenn auch ein Beispiel Malinowskis, Magie und Gegenmagie in einer melanesischen Kultur betreffend, darauf hinzuweisen scheint, daß schon in primitiven Gesellschaften ähnliche Phänomene zu bemerken sind.
. Bestimmten Sektoren des gegenwärtigen bzw. in der Entwicklung befindlichen Verhaltenssystems sollen, um dieser Entwicklung in bestimmter Absicht und Richtung zu steuern, andere, in unserer Geschichte als Tradition vorhandene Normensysteme ent|a 357||c 197|gegengesetzt werden. Neben der Anpassung an das Gegenwärtige, oder auch diese ausschließend gegen sie gerichtet, wird die Anpassung an ein Traditionelles gefordert. Wenn auf dieser Ebene also von Widerstand gesprochen wird, so ist es der Widerstand anders Angepaßter. Er ist soziologisch vergleichbar mit dem Widerstand afrikanischer Kulturen dem Europäismus gegenüber. Beide Polemiken treffen nicht die Anpassung schlechthin, sondern nur bestimmte, inhaltlich von anderen unterscheidbare Anpassungsleistungen. Die Formel
Widerstand und Anpassung
, in dem eben skizzierten Sinne angewandt, verfehlt also im Grunde das mit dem Begriff Anpassung für uns gegebene Problem. Dagegen formuliert sie ein anderes, das aber genauer durch die Begriffe Überlieferung und Aktualität bezeichnet wäre.
[008:16] Indessen bleibt die von uns zunächst hervorgehobene Bedeutung des Gegensatzpaares Anpassung und Widerstand von den letzten Einwänden unberührt. Insofern, als Reflexion und autonome Subjektivität zu unserem kulturell bedingten Charaktertypus gehören, gehören zu ihm die kritische Distanz, nicht nur dem gegenwärtig mächtigsten, sondern allen anderen möglichen Angeboten von Normensystemen gegenüber28
|b1b2 355|28Vgl. dazu die Andeutungen zum Bildungsbegriff bei Schelsky, a. a. O., S. 78 ff.
. Dieser Gedanke gehört der nachrousseauschen Erziehungstheorie wesentlich zu, ja er hat die moderne pädagogische Reflexion überhaupt erst hervorgebracht, in ihrem Ursprung bei Rousseau am anschaulichsten in der Gegenüberstellung von
Mensch
und
Bürger
, theoretisch am präzisesten in den Erörterungen Schleiermachers über
Erhalten
und
Verbessern
. Da die Reflexion – im Unterschied zu den Anpassungsleistungen – sich der Habitualisierung immer wieder entzieht, bleibt sie eine ständig zu leistende Aufgabe und bezeichnet den Kern unseres Bildungsproblems. Man könnte paradox, und das heißt ungenau, formulieren: nur der reflektierende Mensch ist der unserem kulturellen Zusammenhang angepaßte.
[008:17] Nun scheint aber, sozialpsychologisch gesehen, das hier mit Reflexion und Autonomie Bezeichnete zu koinzidieren mit dem alloplastischen Vermögen, der Fähigkeit zur Assimilation, der aktiven Anpassung. In beiden |b1 b2 278|Fällen werden schon geleistete fundamentale Anpassungen vorausgesetzt, werden diese in Akten überschritten, die als
schöpferische Expansion
oder auch als
Widerstand
sichtbar |a 358||c 198|werden können. Eine genauere Beschreibung indessen macht die Differenz deutlich. Alloplastik kann bedeuten, daß eine auf psychisches Gleichgewicht gerichtete Veränderung der Umwelt vor sich geht, dabei aber noch durchaus innerhalb eines kulturell bestimmten Horizontes bleibt, indem nämlich die zur Verfügung stehenden Mittel lediglich zu neuen, für die subjektiven Zwecke tauglichen Arrangements zusammengefügt werden. Alloplastik kann andererseits aber auch heißen, daß der kulturelle Horizont selbst überschritten und verändert wird. Sozialpsychologisch mag diese Unterscheidung bedeutungslos sein, da eine evolutionäre Erklärung denkbar und sinnvoll wäre. Kulturanthropologisch dagegen handelt es sich um eine geradezu notwendige Unterscheidung, und es ist zu bezweifeln, ob solches Verändern kultureller Horizonte, solche kulturschöpferischen Leistungen noch mit Anpassung zu bezeichnen sind, wenn nicht der Begriff eine für praktische Unterscheidungen unbrauchbare Allgemeinheit erlangen soll. So muß etwa das, was die Phänomene künstlerischer Hervorbringungen fundiert, in einer anderen anthropologischen Ebene als der der Anpassungen lokalisiert gedacht werden. Indessen: auch in primitiven Kulturen mag die kulturelle Veränderung als ein der Kultur immanenter Vorgang eine Tatsache sein. – Allein, das Bewußtsein solcher Änderungen ist für den kulturellen Charakter nicht konstitutiv, es ist nicht einmal vorhanden. So etwa finden Akkulturationen (zwischen Siegern und Besiegten, zwischen Benachbarten etc.) zwar statt, die Gesetzmäßigkeiten jedoch bleiben für die Beteiligten uneinsichtig, die Vorgänge sind der Planbarkeit entzogen. Erst durch die mannigfachen Berührungen und Auseinandersetzungen mit heterogenen Kulturen, durch die Kenntnisnahme fremder Normensysteme und die Einsicht in die Relativität des eigenen29
|b1b2 355|29Vgl. dazu das historische Material, das sich gerade zu diesem Problem bei P. Hazard, Die Krise des europäischen Geistes, Hamburg, 1939, findet.
, kurz, durch den Prozeß der Aufklärung, ging das Reflektieren über die Anpassung, die Möglichkeit der Veränderung des kulturellen Horizontes, auf den hin Anpassung zu leisten wäre, in das Bewußtsein, in den kulturellen Charakter mit ein. Auch die aus diesem Bewußtsein resultierenden Phänomene der Veränderung kultureller Horizonte als Alloplastik unter den Begriff der Anpassung zu subsumieren, wäre zumindest eine terminologische Ungenauigkeit. Daß einzelne Leistungen dieser Art immer schon aufgetreten waren, ist zwar schwerlich zu leugnen. Als einzelne unzusammenhängende |a 359||c 199|Fakten hat es sie in den verschiedenen Kulturen und Individuen vermutlich immer gegeben. Als soziale |b1 b2 279|Tatsache hingegen sind sie kaum vor der Entstehung jenes kritischen Bewußtseins aufgetreten.
[008:18] Eine pädagogische Theorie, die aus solchem Bewußtsein hervorgeht, fühlt sich mit Recht durch den Begriff der Anpassung chokiert; allerdings nur dann mit Recht, wenn mit Anpassung die ganze pädagogische Aufgabe innerhalb unserer Kultur beschrieben werden soll. Indessen ist Anpassung nur die eine Seite; der pädagogisch zu ihr gehörende Gegensatz ist die autonome Subjektivität.

IV.

[008:19] Abschließend ist zu fragen, ob die angestellten Erörterungen wirklich zur Erhellung der aktuellen Problemlage beitragen. Wir lesen bei Gehlen:
Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technischen Verhältnisse haben heutzutage eine Übermacht, die dazu nötigt, den Begriff Anpassung einzuführen, wenn man das Verhalten der Menschen beschreiben willb1b2
30
|b1b2 355|30A. Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, S. 39.
. Das von uns Geschilderte, die von uns beschriebene Entwicklung scheint hier gerade umgekehrt dargestellt zu sein, so, als sei Anpassung ein erst in jüngster Zeit aufgetauchtes Phänomen. Das ist nun freilich unrichtig. Der von der Sozialpsychologie mit Anpassung bezeichnete Sachverhalt ist nicht nur für das Verhalten der Menschen in der modernen Gesellschaft charakteristisch. Charakteristisch hingegen ist die häufige Verwendung dieses Begriffes und das Phänomen, für welches diese Häufigkeit symptomatisch ist: das Problem nämlich, das dem kritischen Bewußtsein aus den unausweichlich geforderten Anpassungsleistungen erwächst. Tatsächlich sind diese vielfältiger, heterogener, widersprüchlich geworden; gleichzeitig ist der auf den einzelnen ausgeübte Druck, jedenfalls im Bewußtsein der einzelnen, gestiegen. Da dem kritischen Bewußtsein die prinzipielle Möglichkeit der Ausflucht aus dem kulturellen Horizont gegenwärtig ist, ist ihm die faktische Einengung um so lastender. Insofern ist die psychoanalytische These, die Neurose sei unserer Kultur zugehörig, verständlich. Und
noch die gelungene Kur trägt das Stigma des Beschädigten, der vergeblichen und sich pathetisch übertreibenden Anpassung ... Indem der Geheilte dem irren Ganzen sich ähnelt, wird er erst recht krank, ohne |a 360||c 200|daß doch der, dem die Heilung mißlingt, darum gesünder wäre
31
|b1b2 355|31
Th. W. Adorno, Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, in Sociologica, Aufsätze. Max Horkheimer zum 60. Geburtstag gewidmet, Frankfurter Beiträge zur Soziologie, Bd. 1, Frankfurt am Main 1955, S. 22 f.
; vgl. dazu ferner Alexander Mitscherlich, Aggressionen und Anpassung, in: Psyche X, 1956/57, S. 177, 193.
– ein circulus vitiosus, der durch Anpassung nicht zu durchbrechen ist.
[008:20] Damit ist nun aber auf eine Wendung des Problems hingewiesen, die für die moderne Lage des Anpassungsphänomens erst ausschlaggebend ist. Was wir heute im Sprachgebrauch und in zeitkritischen Reflexionen als Anpassung bezeichnen, ist offenbar in seiner Art etwas anderes als dasjeni|b1 b2 280|ge, welches den bisher vorgetragenen Theorien entspricht. Nicht nur das veränderte Bewußtsein läßt das angeblich in seiner Art gleichbleibende Phänomen
Anpassung
in anderer Weise erscheinen; das Phänomen scheint im Zusammenhang der industriellen Gesellschaft ein anderes geworden zu sein und in den angeführten anthropologischen und sozialpsychologischen Beschreibungen nicht aufzugehen. Unter diesem Aspekt einer veränderten Selbstauslegung des Menschen wie der gesellschaftlichen Realverhältnisse ist daher der oben angeführten Meinung Gehlens recht zu geben, um eine detaillierte Erforschung dieser Zusammenhänge einzuleiten, besonders aber in der Erziehungswissenschaft. Offensichtlich nämlich ist der Zwang zur Anpassung so groß, daß die Distanzierung immer seltener gelingt. Gehlen weist auf
Opportunismus
,
Selbstauslöschung
und
Feminisierung
(Konsumenteneinstellung) als spezifisch-moderne Weisen der Angepaßtheit hin32
|b1b2 355|32
A. Gehlen, a. a. O., S. 41 f.
und b1b2ihre moralische Unausfüllbarkeit. Die Vorstellungen von sittlicher Erziehung wären an solchen Phänomenen neu zu überprüfen. Ein weiteres in dieser Hinsicht zu verfolgendes Problem wäre der Zusammenhang moderner Anpassungsforderungen mit bestimmten Charakterzügen, defizienten Verhältnismodis, wie ihn etwa Mitscherlich in ersten Ansätzen für das Verhältnis von Angepaßtheit und Aggressivität gezeit hat33
|b1b2 355|33A. Mitscherlich, a. a. O., S. 177-193.
. Welche Folgen hat die faktische Heteronomie der verschiedenen Anpassungsforderungen für die Art der Lebensbewältigung und die noch sinnvoll zu fordernden Lebensleistungen? Was läßt sich realistisch unter solchen Voraussetzungen noch unter dem
Gebildeten
verstehenø und welche Konsequenzen ergeben sich aus der Forderung Mitscherlichs, die
Anpassungsverweigerung
solle gestärkt werden34
|b1b2 355|34
a. a. O., S. 193
.
, für die Erziehungspraxis? Schließlich ist |a 361||c 201|nicht nur zu fragen, wie sich unter der Voraussetzung eines reflektierenden und sich kritisch distanzierenden Bewußtseins die Anpassungen verändert haben, sondern auch, inwiefern die Reflexion und die subjektive Autonomie als integrierender Bestandteil der
Bildung
von dem neuen Phänomen betroffen wurde.
[008:21] So rückte der Begriff in den Mittelpunkt der einschlägigen Diskussion, Soziologie und Sozialpsychologie drangen damit immer weiter in das Gebiet ein, das die Pädagogik ihr eigen glaubte. Dieses Ärgernis jedoch hat die Pädagogik weitgehend sich selbst zuzuschreiben. Durch die Beschränkung auf die Probleme der
Bildung
, durch eine mangelhafte Ausbildung eigener empirischer Methoden, besonders aber durch die Isolierung der
Erziehungswissenschaft
ihren sozialen Bedingungen gegenüber verlor sie einen wesentlichen und für alles Heranwachsen fundamentalen Be|b1 b2 281|reich, eben den der Anpassungen, aus den Augen35
|b1b2 355|35Bezeichnend dafür scheint mir die Behandlung von Gewohnheit und Dressur als Grenzfälle, besonders aber die Behandlung des Phänomens
Erziehungswirklichkeit
, wie sie etwa in jüngster Zeit von J. Drechsler (Das Wirklichkeitsproblem in der Erziehungswissenschaft, Heidelberg 1959) vorgelegt wurde. Welche wissenschaftlichen Probleme indessen diese Situation stellt, ist nachdrücklich von W. Brezinka ausgeführt worden. (Die Pädagogik und die erzieherische Wirklichkeit, Z. f. Päd. V, 1959. S. 1 ff.) Vergl. auch Heinrich Roth, Die Bedeutung der empirischen Forschung für die Pädagogik, in: Pädagogische Forschung und pädagogische Praxis, Veröffentlichungen der Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung 1, Heidelberg 1958.
. Sie darf sich daher nicht wundern, wenn sie nun von benachbarten Disziplinen auf die von ihr vernachlässigten Probleme pädagogisch mißverständliche Antworten zurückerhält. Dennoch bleibt es richtig, daß pädagogisches Reflektieren innerhalb unseres kulturellen Horizontes unter der Voraussetzung geschieht, unsere Lebensführung erschöpfe sich nicht in Anpassungsleistungen, sondern gehe immer auch in Leistungen der Distanzierung vor sich. Insofern diese These ein gleichsam kulturanthropologisches Axiom ist, ist es überhaupt die Bedingung der Möglichkeit pädagogischen Reflektierens. Identifikationen mit dem Gegebenen bleiben nach wie vor die Basis kultureller Existenz. Sie reihen sich aber in dem Augenblick dem zitierten Zirkel ein, in dem die Aufklärung über die Bedingungen der einzelnen und kollektiven Existenz die Fähigkeit zum Widerstand, zur kritischen Distanz, die autonome Subjektivität hervorzubringen nicht imstande ist. Indessen bleibt eine solche Formulierung bedeutungslos, wenn die Forschung bei den hier versuchten begrifflichen Klärungen stehenbleibt und die Beantwortung der angedeuteten offenen Fragen der gegenwärtigen Situation nicht empirisch in Angriff nimmt; denn die detaillierte Bestimmung dessen, was wir die vom einzelnen in der ge|a 362||c 202|genwärtigen Lage geforderten Anpassungsleistungen nennen, die Bestimmung des moralischen Problems, das mit ihnen gegeben ist, schließlich auch der Distanzierungs- und Entscheidungsmöglichkeiten, die durch die faktische sozialpsychische Lage bedingt sind, wird kaum ohne pädagogisch-empirische Analysen sinnvoll möglich sein.
b1b2
ø
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Peter R. Hofstätter.
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H. Thomae.
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.
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.
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1953
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5
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H. Hartmann
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6
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8
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R. Benedict.
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ø
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Gerhard Pöppel.
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1950
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b
R. Benedikt
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11
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12
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13
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H. Thomae.
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Ch. Bühler
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Schelsky. Anpassung und Widerstand. Heidelberg 1961
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Einzelnen
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Einzelnen
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26
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Th. W. Adorno,
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b1b2
Frankfurt/M.
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27
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A. Gehlen
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auf
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Verhaltensmodi
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gezeigt
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A. Mitscherlich
b1b2
,
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29
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wurden
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30
b1b2
Grenzfällen
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J. Drechsler
b1b2
.
b1b2
wissenschaftlichen
b1b2
W. Brezinka
b1b2
.
b1b2
.
b1b2
,
b1b2
Vgl.
b1b2
Heinrich Roth.
b1b2
.
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Einzelnen