[013:14] Grundbegriffe. Für die Sozialpädagogik
gelten, wie für den gesamten Bereich der Erziehungswirklichkeit, die
Grundbegriffe der allgemeinen Pädagogik. Indessen treten in ihr doch
eine Reihe von Phänomenen hervor, die in der allgemeinen Pädagogik nur
peripher behandelt werden.
[013:15] 1. Anpassungsschwierigkeiten sind ein fundamentales
sozialpädagogisches Problem. Von Anpassung muß überall dort die Rede
sein, wo eine vorgegebene und relativ stabile Verhaltens- und
Normenstruktur vom Subjekt verlangt, daß es sich auf sie in einer
bestimmten Weise einstellt. Es gibt kaum eine sozialpädagogische
Maßnahme, in der nicht auch eine mißglückte Anpassung korrigiert, eine
versäumte nachgeholt oder eine besonders schwierige eingeübt werden
müßte. Das Heranwachsen in der Familie ist zum großen Teil von dieser
Art, ebenso die sog.
›Resozialisierung‹
von
Straffälligen, die Erziehung von Schwererziehbaren und Verwahrlosten in
Heimen, die Hilfsmaßnahmen im Bereich der Fürsorge, aber auch das
Einüben geselligen Umgangs in Jugendheimen, in der Jugendpflege wie im
Stil jeder Art, in die Regeln der Arbeitsstelle oder einer andern Umgebung. Der Begriff Anpassung deckt dabei nie das Ganze
jedes erzieherischen Geschehens, sondern hebt nur einen, hier freilich
für die Tätigkeit des Sozialpädagogen wichtigen Aspekt des
erzieherischen Umgangs hervor.
|a1 a2 294|
[013:16] Eine charakteristische Schwierigkeit der gegenwärtigen
gesellschaftlichen Lage ergibt sich aus der Notwendigkeit, das Umlernen zu lernen. Nicht
nur die zeitlich aufeinander folgenden sozialen Umwelten des
Heranwachsenden (Familie, Schule, Arbeitsstelle) erfordern durch ihre
Andersartigkeit eine jeweils neue Einstellung auf die je andere
Struktur, sondern auch diejenigen sozialen Umwelten, die nebeneinander
und bisweilen konkurrierend dem Menschen je ein bestimmtes Verhalten
zumuten, verlangen von ihm, daß er sich umstellen, sich immer neu
anpassen, daß er umlernen kann. Ein großer Teil der Hilfen, die die
Sozialpädagogik gibt, sind daher Umlern-Hilfen. Sie sind besonders dort
nötig, wo solche Schwierigkeiten am häufigsten sind: im Bereich der
Fürsorge, der Bewährungshilfe, der Kriminalpädagogik, aber auch bei der
Erziehung Verwahrloster oder in der Jugendpflege. – Hier zeigt sich, daß
diese Erziehungsaufgabe nicht erst bei akuten Konfliktfällen auftritt,
sondern als Vorbereitung für solche Situationen schon in den normalen
Erziehungsverlauf hineingenommen werden sollte. Weiter bringt die
besondere Lage der industriellen Gesellschaft es mit sich, daß Krisen, die sich als
gesellschaftliche Krisen in individuellen Schicksalen niederschlagen, in
der Sozialpädagogik eine immer gewichtigere Rolle spielen. Die Krise als
ein Prozeß der inneren Umwandlung ist mindestens für solche Bereiche der
Erziehungstätigkeit konstitutiv, in denen eine neue Lebenseinstellung
gewonnen werden muß. Die sozialpädagogische Relevanz dieser Phänomene
wird besonders in der Erziehungs- und Familienberatung, in der
Familienfürsorge und dem Jugendstrafvollzug deutlich, d. h. in jenem
Sektor der Sozialpädagogik, der weitgehend den Charakter einer Nothilfe
hat.
[013:17] Gerade bei Krisenphänomenen offenbart sich, wie unerläßlich in
jedem sozialpädagogischen Akt gegenwärtig zu halten ist, daß der
Hilfsbedürftige von sich her schon etwas will und kann. In der alten
Formulierung, Fürsorge sei Hilfe zur Selbsthilfe
(Klumker), war dies
gemeint. Wenn Selbständigkeit und Integrität die Kriterien für geglückte
Erziehung sind, dann müssen Selbständigkeit und Selbsthilfe auch in
allen Erziehungsvorgängen ihre Stelle haben, aber nicht nur als ein
intendiertes Ziel, sondern als etwas, das ständig zu unterstützen ist,
und das auch dann, wenn nur ein Minimum davon im Hilfsbedürftigen
angetroffen wird.
[013:18] 2. Eine Reihe von erzieherischen Maßnahmen, denen jeweils auch
spezifische Haltungen entsprechen, sind für die Sozialpädagogik derart
grundlegend, daß sie in allen ihren Einrichtungen auftreten. Der Schutz vor den Gefährdungen der industriellen
Arbeitswelt ist in den Kleinkinderbewahranstalten zu Beginn des 19. Jhs. und
dann in dem Schutz der Kinder |a1 a2 295|vor der
Industriearbeit eine der ersten Funktionen der Sozialpädagogik gewesen.
Er ist seitdem ausgebaut worden und durchzieht das ganze
sozialpädagogische Feld. Er beruht auf dem Mißtrauen in die Humanität
der faktischen Gesellschaft, auf der Annahme, daß eine
›gesunde‹
Entwicklung der Jugend nur gewährleistet werden kann,
wenn diese nicht schon mit dem ganzen Ernst gesellschaftlicher
Wirklichkeit konfrontiert wird.
[013:19] Die Abwehr des Gefährdenden (Jugendschutzgesetz,
Arbeitsschutz) ist jedoch nur eine Funktion dieses Schutzes; in der
Formulierung
›positiver Jugendschutz‹
ist ausgesprochen, daß das
notwendige Korrelat in einer Unterstützung dessen zu suchen ist, was zu
einer gesunden Entwicklung führt (Kinderspielplätze, Jugendheime,
Jugendbildungsarbeit, Jugenderholungseinrichtungen).
[013:20] Solche Unterstützung geschieht als Pflege. Sie soll anreizen, Kräfte zu
stärken, Gelegenheit zur Übung zu geben. Der Ausdruck Jugendpflege ist daher treffend, da
der Staat sich hier – wenigstens in der Formulierung – aller
nachdrücklich formenden Erziehung zu enthalten strebt und nur
Übungsfelder für ein gesundes Aufwachsen und freies
In-die-Gesellschaft-Hineinwachsen zur Verfügung stellt. Ist dieser
pädagogische Ansatz in der Jugendpflege institutionalisiert, so ist er
doch für alle Einrichtungen der Sozialpädagogik wesentlich; selbst im
Jugendstrafvollzug
ist auf ihn kaum zu verzichten, da auch hier die pädagogische Aufgabe
nur zu bewältigen ist, wenn dem Jugendlichen ein freier Raum bleibt, der
zwar gesichert ist, innerhalb dessen sich aber doch die Spontaneität
frei entfalten kann.
[013:21] Die ältesten Formen sozialpädagogischer Tätigkeit sind Fürsorge und Hilfe. Ursprünglich ein
Reservat christlicher Liebestätigkeit, sind sie heute
selbstverständlicher Bestandteil jeder säkularen Sozialpädagogik. Im
Unterschied zu Schutz und Pflege wollen sie nicht vor latenten
Gefährdungen bewahren oder gegen sie immunisieren, sondern in akuten
Nöten Abhilfe schaffen, die verletzte Menschlichkeit wiederaufrichten,
sei es, daß sie durch leibliche oder wirtschaftliche, sei es, daß sie
durch seelische oder geistige Not Schaden genommen hat. Immer geht es
darum – auch in der materiellen Hilfeleistung (Wirtschaftsfürsorge,
Gesundheitsfürsorge, Subventionierung pädagogischer Einrichtungen u. ä.)
–, den Bedürftigen in die Lage zu versetzen, sein Leben selbständig
führen zu können, und ihm zu helfen, die willkürlich erscheinende Not
des eigenen Schicksals in bewußter Auseinandersetzung zu bewältigen. In
Theorie und Praxis der Einzelfallhilfe (Casework) hat diese Form
sozialpädagogischen Verhaltens ihren prägnantesten Ausdruck
gefunden.
|a1 a2 296|
[013:22] Im Begriff der Beratung ist enthalten, daß alle Sozialpädagogik
immer auch im Medium des Wortes geschieht. Die Tatsache, daß die unter
diesem Begriff zusammenzufassende Gruppe pädagogischer Maßnahmen in der
gegenwärtigen Praxis immer größeren Raum einnimmt (Erziehungsberatung,
Elternberatung, Familienberatung, Mütterberatung, Berufsberatung),
zeigt, daß sich in diesem Begriff ein wichtiger Aspekt der
Sozialpädagogik ausdrückt. Beratung ist Hinweis auf die Lösung eines
Problems; sie ist zu einem wesentlichen Teil Aufklärung (Bewußtmachung),
zum anderen Teil Hinweis auf mögliche Auswege; sie setzt den Willen und
die – wenn auch begrenzte – Fähigkeit des Ratsuchenden, selbst zu
entscheiden und zu handeln, voraus; sie will ihn nicht verändern,
sondern zeigt ihm die Mittel, sich selbst und seine Situation zu
verändern; sie impliziert pädagogischen Takt. Auch für sie gilt, daß sie
– obwohl in bestimmten Einrichtungen institutionalisiert – nicht auf
diese beschränkt ist, sondern alle sozialpädagogischen Verhältnisse
durchzieht, in denen der Heranwachsende bzw. der Hilfsbedürftige oder
Klient als Ratsuchender aufzutreten in der Lage ist.
[013:23] 3. Für die sozialpädagogische Praxis ist von entscheidender
Wichtigkeit, daß sie in
›sozialer‹
Form geschieht.
Gruppenpädagogische Fragen sind deshalb von besonderer Bedeutung. Die
Gruppe ist nicht nur
das Kernstück traditioneller Jugendpflege (Jugendgruppe).
Bewährungshilfe und Schutzaufsicht arbeiten häufig mit Gruppen, im
Strafvollzug wird der Gemeinschaftserziehung ein wichtiger Platz
eingeräumt, für Kinder- und Jugendheime aller Art sind
gruppenpädagogische Kenntnisse und Fähigkeiten fundamental
(Differenzierung innerhalb des Heims, familienanaloge Heimstruktur,
Größe der Gruppen usw.). Sie tauchen überall dort auf, wo das
Erziehungsverhältnis nicht auf den Dialog (wie in der Beratung)
beschränkt bleiben kann, weil vielseitige sozialbildende Wirkungen
angestrebt werden. – Das Heim ist gegenüber Dialog und Gruppe eine kompliziertere
Institution, in der verschiedene Erziehungsverhältnisse wie auch
verschiedene Erziehungsmaßnahmen kombiniert werden können. Neben
personalen Erziehungsverhältnissen entstehen hier die Fragen
sozialpädagogischer Organisation, da es Bedingungen zu schaffen gilt,
unter denen sinnvolle Erziehung geschehen kann. Probleme der Größe, der
Zusammensetzung der Kinder und Jugendlichen, der Gruppierungsformen, der
Mitarbeiterschaft, der Koedukation, der Altersspannen, der
psychologischen Begutachtung und Auswahl, der Geschlossenheit oder
Offenheit bilden hier die wichtigsten Themen.