Sozialpädagogik [Textkritische interaktive Ansicht mit a1 als Leittext]
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[013:1] Sozialpädagogik. b Das Wort Sozialpädagogik hat sich als Bezeichnung für einen bestimmten Umkreis pädagogischer Aufgaben und Einrichtungen und deren Theorie eingebürgert. Die Sozialpädagogik umfaßt alle jene Aufgaben, die in der
indu|a1 a2 289|striellen Gesellschaft
als besondere Eingliederungshilfen notwendig geworden sind und gleichsam an den bKonfliktstellen dieser Gesellschaft entstehen. Es gibt sie in diesem Sinne erst, seit die gesellschaftlichen Vorgänge einer pädagogischen Kritik unterzogen werden und es augenfällig wurde, daß die traditionellen Erziehungswege nicht mehr ausreichten, um den Vorgang des Heranwachsens zu sichern.
[013:2] Es haben vornehmlich drei Motive ihre Entstehung bestimmt:
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[013:3] (1) die Idee einer allgemeinen Volkserziehung; sie bewirkte, im Gefolge der Aufklärung und im Zusammenhang mit ersten Demokratisierungstendenzen, daß die ganze Breite der heranwachsenden Generation in ihrer gesamten Lebenswirklichkeit ein Gegenstand des pädagogischen Interesses und der pädagogischen Bemühung wurde; (2) die Kenntnis der sozialen Bewegung Frankreichs und die Sorge angesichts des
Pauperismus
; man mobilisierte die pädagogischen Kräfte, diesen Entwicklungen zu begegnen, die befürchtete soziale Katastrophe zu verhindern und die neuen Lebenssituationen des Menschen in Stadt und Industrie zu bewältigen; der sozialpädagogische Begriff
Gefährdung
hat hier seinen Ursprung; (3) die
Jugendverwahrlosung
, die erst jetzt als ein im Grunde pädagogisches Problem betrachtet wurde, nämlich sofern offensichtlich wurde, daß die mit diesem Begriff gemeinten Erscheinungen eine Funktion der sozialen und der Erziehungssituation des Menschen sind.b
[013:4] Aus der pädagogischen Reformbewegung im ersten Drittel des 20. Jhs. erwuchsen die Anfänge einer sozialpädagogischen Theorie (Ch. J. Klumker, A. Fischer, G. Bäumer, H. Nohl), die teilweise ihre juristische Entsprechung im Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt von 1924 und im Jugendgerichtsgesetz von 1923 gefunden hat. Jugendpflege, Jugendfürsorge und Gefängniserziehung waren diejenigen Einrichtungen der pädagogischen Praxis, von denen das sozialpädagogische Bewußtsein und die sozialpädagogische Theorie ihren Ausgang nahmen. Seither hat sich das sozialpädagogische Feld durch Umformungen und Erweiterungen verändert und differenziert, so daß heute die vielen Arten der Heimerziehung, der vor- und nebenschulischen Kindererziehung, der Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit, der Erziehungs-, Eltern- und Familienberatung, der organisatorischen Maßnahmen des Kinder- und Jugendschutzes u. ä. noch dazuzurechnen sind (→ Sozialpädagogische Einrichtungen).
[013:5] Gemeinsam ist allen diesen Einrichtungen, daß sie – neben den kontinuierlich das Heranwachsen steuernden oder begleitenden Erziehungswegen von der Familie durch Schule und Berufsbildung bis zur Erwachsenenbildungb – ein bewegliches System von |a1 a2 290|Maßnahmen |b 292|bilden, die im je besonderen Erziehungsfall entweder planvoll eingesetzt werden können oder als helfende Institutionen für das Bedürfnis der Familien, Kinder und Jugendlichen bereitstehen.
[013:6] Sozialpädagogik als Terminus für einen bestimmten Aufgaben- und Einrichtungskomplex ist etwas anderes als das mit dem Begriff Sozialerziehung Gemeinte; dieser Begriff bezeichnet lediglich einen bestimmten Aspekt nahezu aller Erziehungsvorgänge, gleichgültig, ob sich diese Vorgänge nun in der Familie, der Schule, an der Arbeitsstelle oder in einer sozialpädagogischen Institution abspielen. Der Begriff Sozialpädagogik ist demgegenüber an Erziehungseinrichtungen von einer bestimmten Aufgabenart gebunden und so wenig ein Aspekt der Erziehung im allgemeinen Sinne, wie es Familien-, Schul- oder Erwachsenenpädagogik sind.b Das schließt nicht aus, daß die institutionelle Trennung nicht immer gelingt und auch kaum durchgehend zu wünschen ist. Erziehungsberatung und Schule, Erwachsenenbildung und Jugendpflege, Familienerziehung und Fürsorge haben, wie viele andere pädagogische Einrichtungen, nicht nur mannigfache Berührungsstellen, sondern dringen häufig eine in die andere ein und übernehmen dort wechselseitig Aufgaben, wo nur in solcher Kooperation die pädagogische Aufgabe zu bewältigen ist. Andererseits aber ist nicht zu übersehen, daß es die Sozialpädagogik besonders nachdrücklich mit dem sozialerzieherischen Aspekt zu tun hat. Ihre Einrichtungen, als ein dritter pädagogischer Ort neben Familie und Schule, entwickeln sich bmehr und mehr zu eigenständigen, nachholenden oder begleitenden Stätten der Sozialerziehung, die angesichts der fundamentalen Erziehungsprobleme, welche Industrialisierung und Demokratisierungb stellen, von Familie und Schule allein nicht mehr zu lösen sind; denn die Anforderungen, die die moderne Gesellschaft an die Soziabilität ihrer Bürger stellt, sind höher als die sozialen Fähigkeiten, die sich im pädagogisch nicht vermittelten Hineinwachsen in diese Gesellschaft bilden.
[013:7] Grundprobleme. Eine Reihe von Problemen, die an sich in allen pädagogischen Institutionen und Vorgängen eine Rolle spielen, treten in der Sozialpädagogik in charakteristischer Weise hervor und bestimmen ihr Profil.
[013:8] 1. Die Sozialpädagogik ist nicht nur gleichzeitig mit der
industriellen Gesellschaft
entstanden, sondern sie hängt auch der Art nach eng mit dieser zusammen. Sie kommt |b 294|überall dort ins Spiel, wo die soziale Entwicklung das Heranwachsen gefährdet, wo sie dem Menschen Schaden zugefügt hat oder zuzufügen im Begriffe steht. Sie kann daher nur begrenzt von den sozialen und kulturellen Traditionen ausgehen und an diesen Halt finden, denn sie sieht sich dem Werden einer Gesellschaft gegen|a1 a2 291|über, deren Unvollkommenheiten dem Sozialpädagogen unmittelbar als Gefährdungen entgegentreten; das aber bedingt, daß der sozialpädagogischen Tätigkeit immer auch ein sozialkritischer Gedankengang innewohnt. Die in der Praxis täglich neu erfahrene subjektive Entsprechung einer problematischen gesellschaftlichen Lage im einzelnen Erziehungsfall weist die Erziehungstätigkeit auf diese Lage zurück als auf die Bedingungen der individuellen Erziehungsbedürftigkeit. Die sozial-pädagogische Erziehungsrichtung nimmt daher nie nur den direkten Weg auf den einzelnen zu, sondern schließt die Absicht zur Veränderung der Erziehungsbedingungen bmit ein. Neben den pädagogischen Bezug tritt die Erziehungsplanung die bisweilen sogar zur ausschließlichen pädagogischen Tätigkeit werden kann. Das enge Verhältnis zwischen Sozialpädagogik, Fürsorge und Sozialpolitik hat hier seinen Grund.
[013:9] 2. Die sozialpädagogische Praxis geschieht in einem Spannungsfeld zwischen dem als normal Geltenden und den vielen Formen von Abweichungen bis hin zur juristisch definierten Kriminalität. Sie will das
Normale
stützen und fördern, den Abweichungen vorbeugen und, sofern das mit pädagogischen Mitteln zu leisten ist, die eingetretenen Schäden aufheben. Es fällt aber schwer, das
Normale
positiv zu beschreiben, da einerseits Minimalforderungen pädagogisch unfruchtbar sind – der Erziehungsprozeß würde erstarren – und andererseits Maximalforderungen die Breite der heranwachsenden Generation nicht erreichen würden; zwischen beiden liegt ein Spielraum, der dem der Gruppen, Konfessionen und Weltanschauungen entspricht, die je einen besonderen Begriff von
Normalität
vertreten. Wenn deshalb in dieser Hinsicht nur schwer Einigkeit zu erwarten und vielleicht auch nicht zu wünschen ist, so sind doch gewisse Abweichungen beschreibbar; sie werden unter dem Begriff Verwahrlosung zusammengefaßt. Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie haben für die Aufklärung der Verwahrlosungserscheinungen und ihrer Ursachen Entscheidendes geleistet, dabei aber den Begriff in eine Fülle je besonderer
Krankheits
-Bilder aufgelöst. Der Begriff selbst ist, wie sich zeigt, ein pädagogischer, da er das akute Zurückbleiben eines Verhaltens hinter einer gesetzten und dem Individuum angemessenen Erziehungsaufgabe (Moor) bedeutet. Die als Verwahrlosung zu bezeichnenden Erscheinungen wechseln daher in der geschichtlichen Entwicklung je nach den besonderen Erziehungsaufgaben, die in der bestimmten sozialen Situation gestellt sind.
Diesem historischen Wechsel unterliegen allerdings die verschiedenen Verwahrlosungserscheinungen in verschiedenen Graden.
[013:10] Dasselbe gilt für jene Phänomene, die in der sozialpädagogischen Diskussion unter dem Begriff Gefährdung zusammen|a1 a2 292|gefaßt werden. Auch ihre Bestimmung hängt von dem normativen Aspekt der Erziehung ab. Die Sorge um die Gefährdung der Jugend kann sogar als der wesentliche Impuls der gesamten Sozialpädagogik seit ihren Anfängen bezeichnet werden. Die in diesem Begriff und seiner allgemeinen Anwendung vorausgesetzte Diskrepanz zwischen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und den Bedingungen eines gesunden Heranwachsens kann allerdings leicht zu Ideologien führen, wie sich zum Beispiel an den zunächst übertriebenen Befürchtungen im Hinblick auf die Gefährdung der Jugend durch den Film oder die Gefährdung des Menschen durch die Fließbandarbeit gezeigt hat. Eindeutig ist indessen der Begriff bdortb, wo durch bestimmte Einwirkungen die physische Existenz des jungen Menschen in Mitleidenschaft gezogen wird (Reizüberflutung, Verkehr, Kinderarbeit) oder eindeutig beschreibbare psychische Schäden auftreten. In einem pädagogisch verantwortbaren Sinne kann daher überall dort von Gefährdung gesprochen werden, wo die Bedingungen der Autonomie und Initiative bedroht sind.b
[013:11] 3. Da diese Leistungsfähigkeit sich nicht im Prozeß des Heranwachsens gleichsam von selbst herstellt, sondern ihre Entwicklung nachdrücklich gefördert werden muß, liegt alles daran, die Bedingungen für die Entfaltung von Autonomie und Initiative zu erkennen. Die entsprechenden Überlegungen und Versuche sind in den Diskussionen um das Problem der Grundbedürfnisse formuliert worden. Offenbar gibt es eine Reihe von Bedürfnissen, ohne deren Befriedigung keine geordnete Existenz geführt werden kann. Es sind dies zunächst die primären Bedürfnisse der vitalen Existenz, wie das Bedürfnis nach Nahrung, Schlaf, Schutz für das leibliche Dasein, nach Freiheit von Furcht, aber auch nach erotisch-sexuellen Beziehungen.
[013:12] Ihre Befriedigung reicht aber zur Existenzerhaltung nicht aus, |b 296|solange dem Kinde nicht zugleich fundamentale Erfahrungen zuteil werden, deren Ausbleiben bzum sog. Hospitalismus-Syndrom führt (Entwicklungsstillstand, Gewichtsverlust, Schlafstörungen, Wimmern, motorische Verlangsamung, Kontaktstörung bis zur Kontaktunfähigkeit, idiotie-ähnliche Symptome, erhöhte Sterblichkeitsgefahr). Es handelt sich dabei um die – jeweils verschieden formulierten – Erfahrungen der seelischen Geborgenheit, der
affektiven Zufuhr
(Spitz) und der Sprache. Entbehrt das Kind sie über einen längeren Zeitraum, treten nahezu irreversible Schädigungen auf – eine Einsicht, die für alle Familien- und Heimerziehung fundamental ist. Ist die Befriedigung dieser Grundbedürfnisse die Bedingung für vermutlich jede Form humaner Existenz, so ist darüber hinaus noch eine Anzahl von Qualitäten zu nennen, die für die kulturelle |a1 a2 293|Existenz unseres Kulturkreises als Bedingungen angegeben werden können. Erikson nennt: Vertrauen, Autonomie, Initiative, Intimität, Produktivität, Ich-Integrität. Folgt man Erikson hierin, dann wäre es die Aufgabe der Sozialpädagogik, die Entfaltung dieser Qualitäten zu schützen, Versäumtes nachzuholen und ihre Bewährung im Erziehungsraum zu ermöglichen.
[013:13] 4. Für die Sozialpädagogik ist es charakteristisch, daß nicht der Staat ihr ausschließlicher Träger ist, sondern daß private Erziehungsinitiative in ihr eine hervorragende Rolle spielt. Das hängt sowohl mit der Entstehungssituation und der damit begründeten Tradition wie auch damit zusammen, daß private Initiative, konfessionelles und weltanschauliches Engagement, Experimentierfreudigkeit und -möglichkeit hier eine besondere Bedeutung haben. Das Jugendamt hat zwar die Durchführung der im Jugendwohlfahrtsgesetz vorgesehenen Maßnahmen, vor allem die Berücksichtigung des Rechtes des Kindes auf Erziehung (§ 1) zu überwachen; der Vollzug selbst aber verteilt sich unter eine Vielzahl von Trägern und Trägerverbänden (Arbeiterwohlfahrt, Caritas-Verband, Innere Mission, Deutsches Rotes Kreuz usw.). Daß diese Differenziertheit und Pluralität des sozialpädagogisch-institutionellen Feldes nicht nur Schwierigkeiten, sondern auch besondere Chancen in sich birgt, hat sich in Zeiten der Not immer erwiesen.
[013:14] Grundbegriffe. Für die Sozialpädagogik gelten, wie für den gesamten Bereich der Erziehungswirklichkeit, die Grundbegriffe der allgemeinen Pädagogik. Indessen treten in ihr doch eine Reihe von Phänomenen hervor, die in der allgemeinen Pädagogik nur peripher behandelt werden.
[013:15] 1. Anpassungsschwierigkeiten sind ein fundamentales sozialpädagogisches Problem. Von Anpassung muß überall dort die Rede sein, wo eine vorgegebene und relativ stabile Verhaltens- und Normenstruktur vom Subjekt verlangt, daß es sich auf sie in einer bestimmten Weise einstellt. Es gibt kaum eine sozialpädagogische Maßnahme, in der nicht auch eine mißglückte Anpassung korrigiert, eine versäumte nachgeholt oder eine besonders schwierige eingeübt werden müßte. Das Heranwachsen in der Familie ist zum großen Teil von dieser Art, ebenso die sog.
Resozialisierung
von Straffälligen, die Erziehung von Schwererziehbaren und Verwahrlosten in Heimen, die Hilfsmaßnahmen im Bereich der Fürsorge, aber auch das Einüben geselligen Umgangs in Jugendheimen, in der Jugendpflege wie im Stil jeder Art, in die Regeln der Arbeitsstelle oder einer andern Umgebung. Der Begriff Anpassung deckt dabei nie das Ganze jedes erzieherischen Geschehens, sondern hebt nur einen, hier freilich für die Tätigkeit des Sozialpädagogen wichtigen Aspekt des erzieherischen Umgangs hervor.
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[013:16] Eine charakteristische Schwierigkeit der gegenwärtigen gesellschaftlichen Lage ergibt sich aus der Notwendigkeit, das Umlernen zu lernen. Nicht nur die zeitlich aufeinander folgenden sozialen Umwelten des Heranwachsenden (Familie, Schule, Arbeitsstelle) erfordern durch ihre Andersartigkeit eine jeweils neue Einstellung auf die je andere Struktur, sondern auch diejenigen sozialen Umwelten, die nebeneinander und bisweilen konkurrierend dem Menschen je ein bestimmtes Verhalten zumuten, verlangen von ihm, daß er sich umstellen, sich immer neu anpassen, daß er umlernen kann. Ein großer Teil der Hilfen, die die Sozialpädagogik gibt, sind daher Umlern-Hilfen. Sie sind besonders dort nötig, wo solche Schwierigkeiten am häufigsten sind: im Bereich der Fürsorge, der Bewährungshilfe, der Kriminalpädagogik, aber auch bei der Erziehung Verwahrloster oder in der Jugendpflege. – Hier zeigt sich, daß diese Erziehungsaufgabe nicht erst bei akuten Konfliktfällen auftritt, sondern als Vorbereitung für solche Situationen schon in den normalen Erziehungsverlauf hineingenommen werden sollte. Weiter bringt die besondere Lage der industriellen Gesellschaft es mit sich, daß Krisen, die sich als gesellschaftliche Krisen in individuellen Schicksalen niederschlagen, in der Sozialpädagogik eine immer gewichtigere Rolle spielen. Die Krise als ein Prozeß der inneren Umwandlung ist mindestens für solche Bereiche der Erziehungstätigkeit konstitutiv, in denen eine neue Lebenseinstellung gewonnen werden muß. Die sozialpädagogische Relevanz dieser Phänomene wird besonders in der Erziehungs- und Familienberatung, in der Familienfürsorge und dem Jugendstrafvollzug deutlich, d. h. in jenem Sektor der Sozialpädagogik, der weitgehend den Charakter einer Nothilfe hat.
[013:17] Gerade bei Krisenphänomenen offenbart sich, wie unerläßlich in jedem sozialpädagogischen Akt gegenwärtig zu halten ist, daß der Hilfsbedürftige von sich her schon etwas will und kann. In der alten Formulierung, Fürsorge sei Hilfe zur Selbsthilfe (Klumker), war dies gemeint. Wenn Selbständigkeit und Integrität die Kriterien für geglückte Erziehung sind, dann müssen Selbständigkeit und Selbsthilfe auch in allen Erziehungsvorgängen ihre Stelle haben, aber nicht nur als ein intendiertes Ziel, sondern als etwas, das ständig zu unterstützen ist, und das auch dann, wenn nur ein Minimum davon im Hilfsbedürftigen angetroffen wird.
[013:18] 2. Eine Reihe von erzieherischen Maßnahmen, denen jeweils auch spezifische Haltungen entsprechen, sind für die Sozialpädagogik derart grundlegend, daß sie in allen ihren Einrichtungen auftreten. Der Schutz vor den Gefährdungen der industriellen Arbeitswelt ist in den Kleinkinderbewahranstalten zu Beginn des 19. Jhs. und dann in dem Schutz der Kinder |a1 a2 295|vor der Industriearbeit eine der ersten Funktionen der Sozialpädagogik gewesen. Er ist seitdem ausgebaut worden und durchzieht das ganze sozialpädagogische Feld. Er beruht auf dem Mißtrauen in die Humanität der faktischen Gesellschaft, auf der Annahme, daß eine
gesunde
Entwicklung der Jugend nur gewährleistet werden kann, wenn diese nicht schon mit dem ganzen Ernst gesellschaftlicher Wirklichkeit konfrontiert wird.
[013:19] Die Abwehr des Gefährdenden (Jugendschutzgesetz, Arbeitsschutz) ist jedoch nur eine Funktion dieses Schutzes; in der Formulierung
positiver Jugendschutz
ist ausgesprochen, daß das notwendige Korrelat in einer Unterstützung dessen zu suchen ist, was zu einer gesunden Entwicklung führt (Kinderspielplätze, Jugendheime, Jugendbildungsarbeit, Jugenderholungseinrichtungen).
[013:20] Solche Unterstützung geschieht als Pflege. Sie soll anreizen, Kräfte zu stärken, Gelegenheit zur Übung zu geben. Der Ausdruck Jugendpflege ist daher treffend, da der Staat sich hier – wenigstens in der Formulierung – aller nachdrücklich formenden Erziehung zu enthalten strebt und nur Übungsfelder für ein gesundes Aufwachsen und freies In-die-Gesellschaft-Hineinwachsen zur Verfügung stellt. Ist dieser pädagogische Ansatz in der Jugendpflege institutionalisiert, so ist er doch für alle Einrichtungen der Sozialpädagogik wesentlich; selbst im Jugendstrafvollzug ist auf ihn kaum zu verzichten, da auch hier die pädagogische Aufgabe nur zu bewältigen ist, wenn dem Jugendlichen ein freier Raum bleibt, der zwar gesichert ist, innerhalb dessen sich aber doch die Spontaneität frei entfalten kann.
[013:21] Die ältesten Formen sozialpädagogischer Tätigkeit sind Fürsorge und Hilfe. Ursprünglich ein Reservat christlicher Liebestätigkeit, sind sie heute selbstverständlicher Bestandteil jeder säkularen Sozialpädagogik. Im Unterschied zu Schutz und Pflege wollen sie nicht vor latenten Gefährdungen bewahren oder gegen sie immunisieren, sondern in akuten Nöten Abhilfe schaffen, die verletzte Menschlichkeit wiederaufrichten, sei es, daß sie durch leibliche oder wirtschaftliche, sei es, daß sie durch seelische oder geistige Not Schaden genommen hat. Immer geht es darum – auch in der materiellen Hilfeleistung (Wirtschaftsfürsorge, Gesundheitsfürsorge, Subventionierung pädagogischer Einrichtungen u. ä.) –, den Bedürftigen in die Lage zu versetzen, sein Leben selbständig führen zu können, und ihm zu helfen, die willkürlich erscheinende Not des eigenen Schicksals in bewußter Auseinandersetzung zu bewältigen. In Theorie und Praxis der Einzelfallhilfe (Casework) hat diese Form sozialpädagogischen Verhaltens ihren prägnantesten Ausdruck gefunden.
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[013:22] Im Begriff der Beratung ist enthalten, daß alle Sozialpädagogik immer auch im Medium des Wortes geschieht. Die Tatsache, daß die unter diesem Begriff zusammenzufassende Gruppe pädagogischer Maßnahmen in der gegenwärtigen Praxis immer größeren Raum einnimmt (Erziehungsberatung, Elternberatung, Familienberatung, Mütterberatung, Berufsberatung), zeigt, daß sich in diesem Begriff ein wichtiger Aspekt der Sozialpädagogik ausdrückt. Beratung ist Hinweis auf die Lösung eines Problems; sie ist zu einem wesentlichen Teil Aufklärung (Bewußtmachung), zum anderen Teil Hinweis auf mögliche Auswege; sie setzt den Willen und die – wenn auch begrenzte – Fähigkeit des Ratsuchenden, selbst zu entscheiden und zu handeln, voraus; sie will ihn nicht verändern, sondern zeigt ihm die Mittel, sich selbst und seine Situation zu verändern; sie impliziert pädagogischen Takt. Auch für sie gilt, daß sie – obwohl in bestimmten Einrichtungen institutionalisiert – nicht auf diese beschränkt ist, sondern alle sozialpädagogischen Verhältnisse durchzieht, in denen der Heranwachsende bzw. der Hilfsbedürftige oder Klient als Ratsuchender aufzutreten in der Lage ist.
[013:23] 3. Für die sozialpädagogische Praxis ist von entscheidender Wichtigkeit, daß sie in
sozialer
Form geschieht. Gruppenpädagogische Fragen sind deshalb von besonderer Bedeutung. Die Gruppe ist nicht nur das Kernstück traditioneller Jugendpflege (Jugendgruppe). Bewährungshilfe und Schutzaufsicht arbeiten häufig mit Gruppen, im Strafvollzug wird der Gemeinschaftserziehung ein wichtiger Platz eingeräumt, für Kinder- und Jugendheime aller Art sind gruppenpädagogische Kenntnisse und Fähigkeiten fundamental (Differenzierung innerhalb des Heims, familienanaloge Heimstruktur, Größe der Gruppen usw.). Sie tauchen überall dort auf, wo das Erziehungsverhältnis nicht auf den Dialog (wie in der Beratung) beschränkt bleiben kann, weil vielseitige sozialbildende Wirkungen angestrebt werden. – Das Heim ist gegenüber Dialog und Gruppe eine kompliziertere Institution, in der verschiedene Erziehungsverhältnisse wie auch verschiedene Erziehungsmaßnahmen kombiniert werden können. Neben personalen Erziehungsverhältnissen entstehen hier die Fragen sozialpädagogischer Organisation, da es Bedingungen zu schaffen gilt, unter denen sinnvolle Erziehung geschehen kann. Probleme der Größe, der Zusammensetzung der Kinder und Jugendlichen, der Gruppierungsformen, der Mitarbeiterschaft, der Koedukation, der Altersspannen, der psychologischen Begutachtung und Auswahl, der Geschlossenheit oder Offenheit bilden hier die wichtigsten Themen.
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    [013:30] Erikson, E. H. Kindheit und Gesellschaft. 1961
    [013:31] Homans, G. C. Theorie der sozialen Gruppe. 1960
    [013:32] Lattke, H. Soziale Arbeit und Erziehung. 1955
    [013:33] Mollenhauer, K. Einführung in die Sozialpädagogik. 1964
    [013:34] Trost, G. Erziehung im Wandel. 1955
    [013:35] Wurzbacher, G. (Hrsg.) Gruppe, Führung, Gesellschaft. 1961
    [013:36] – (Hrsg.) Der Mensch als soziales und personales Wesen. 1963
b
Begriff und Geschichte.
b
Theorien
b
industriellen Gesellschaften
b
pädagogischen
b
ausreichen
b
Auf der erziehungsideologischen Ebene haben vorwiegend
b
Aufklärung
b
»Pauperismus«
, die soziale Bewegung könnte sich weiter ausbreiten
b
revolutionäre Entwicklung
b
ø
b
Die Funktion dieses Begriffes ist aber von Beginn an auch eine sozial-integrative: es werden mit ihm Anpassungsleistungen an die bürgerliche Klassengesellschaft bewertet.
b
Reformbewegung
b
Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt
b
Jugendgerichtsgesetz
b
nahm
b
Heimerziehung
b
der ambulanten und halbstationären Formen der Jugendhilfe in Wohnkollektiven, der Erziehung, Eltern- und Familienberatung
b
ø
b
[013:3-4] (1) die Idee einer allgemeinen Volkserziehung; sie bewirkte, im Gefolge der Aufklärung und im Zusammenhang mit ersten Demokratisierungstendenzen, daß die ganze Breite der heranwachsenden Generation in ihrer gesamten Lebenswirklichkeit ein Gegenstand des pädagogischen Interesses und der pädagogischen Bemühung wurde; (2) die Kenntnis der sozialen Bewegung Frankreichs und die Sorge angesichts des
»Pauperismus«
, die soziale Bewegung könnte sich weiter ausbreiten; man mobilisierte die pädagogischen Kräfte, diesen Entwicklungen zu begegnen, die befürchtete revolutionäre Entwicklung zu verhindern und die neuen Lebenssituationen des Menschen in Stadt und Industrie zu bewältigen; der sozialpädagogische Begriff
Gefährdung
hat hier seinen Ursprung; (3) die
Jugendverwahrlosung
, die erst jetzt als ein pädagogisches Problem betrachtet wurde, nämlich sofern offensichtlich wurde, daß die mit diesem Begriff gemeinten Erscheinungen eine Funktion der sozialen und der Erziehungssituation des Menschen sind. Die Funktion dieses Begriffes ist aber von Beginn an auch eine sozial-integrative: es werden mit ihm Anpassungsleistungen an die bürgerliche Klassengesellschaft bewertet. Aus der pädagogischen Reformbewegung im ersten Drittel des 20. Jhs. erwuchsen die Anfänge einer sozialpädagogischen Theorie (Ch. J. Klumker, A. Fischer, G. Bäumer, H. Nohl), die teilweise ihre juristische Entsprechung im Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt von 1924 und im Jugendgerichtsgesetz von 1923 gefunden hat. Jugendpflege, Jugendfürsorge und Gefängniserziehung waren diejenigen Einrichtungen der pädagogischen Praxis, von denen das sozialpädagogische Bewußtsein und die sozialpädagogische Theorie ihren Ausgang nahm. Seither hat sich das sozialpädagogische Feld durch Umformungen und Erweiterungen verändert und differenziert, so daß heute die vielen Arten der Heimerziehung, der vor- und nebenschulischen Kindererziehung, der Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit, der ambulanten und halbstationären Formen der Jugendhilfe in Wohnkollektiven, der Erziehung, Eltern- und Familienberatung, der organisatorischen Maßnahmen des Kinder- und Jugendschutzes u. ä. noch dazuzurechnen sind.
b
– und als Einrichtungen der
»Jugendhilfe«
zusammengefasst
b
teils bewegliches, teils noch konservativ starres
b
ad hoc auftauchende Erziehungsprobleme bei
b
Kindern
b
Er kann deshalb auch als Synonym für
»Theorie der Jugendhilfe«
verwendet werden.
b
immer
b
, vor allem aber die durch soziale Ungleichheit produzierten Deprivationen in den Lebens- und Lernchancen von einzelnen und sozialen Gruppen
b
Grundprobleme.
b
industriellen und bürgerlichen Gesellschaft
b
materielle und psychische Ausbeutung, Benachteiligung und Beschädigung, Unterdrückung und Disziplinierung von Menschen entgegentreten. Das
b
sozialpolitischer
b
sozialpädagogische
b
(Stadtteilarbeit, Gemeinwesenarbeit, politische Aktion)
b
Institutionenkritik, Sozialstaatsproblematik und ökonomischen Problemen
b
»Normale«
b
»Normale«
b
»Normalität«
b
Solche Normalitäts-Vorstellungen sind ideologisch, sofern sie von institutionalisierten und interessegebundenen Erwartungen ausgehen. Sie koinzidieren negativ im Begriff der Dissozialität. Mit Hilfe dieses Begriffs oder seiner Äquivalente (z.B. Verwahrlosung) definieren die gesellschaftlich mächtigen Gruppen die Grenzen zwischen erwünschtem und unerwünschtem Verhalten. Das schließt nicht aus, daß der Ausdruck Dissozialität auch objektiv eine be|b 295|stimmte Menge von Verhaltensproblemen bezeichnet, deren Erscheinung und Genese wissenschaftlich aufgeklärt werden kann. Psychologie, Psychoanalyse, Psychiatrie, die soziologische Anomie-Theorie des Interaktionismus u. a. Forschungsrichtungen haben für diese Aufklärung Entscheidendes geleistet. Dennoch gilt, daß die als dissozial zu bezeichnenden Erscheinungen in der geschichtlichen Entwicklung je nach den ökonomischen Bedingungen, den Herrschaftsverhältnissen, den besonderen Erziehungsaufgaben und den je besonderen Situationen wechseln.
b
Dissozialitätserscheinungen
b
normalen
b
führt allerdings in der Regel zu Ideologien
b
kann
b
nur
b
sein
b
z.B. Drogenmißbrauch, Verkehr, Kinderarbeit
b
darüber hinaus
b
Das kann also auch für sozialpädagogische Einrichtungen selbst (z. B. Jugendstrafvollzug, polizeiliche Maßnahmen, Heimerziehung) gelten.
b
nur eine deprivierte
b
möglich ist
b
im extremen Fall
b
Hospitalismus-Syndrom führen kann
b
idiotieähnliche
b
»affektiven Zufuhr«
b
Spitz
b
Sprache
b
Ich- Integrität
b
Erikson
b
private Erziehungsinitiative
b
ø
b
Rechtes des Kindes auf Erziehung
b
Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband
b
Diese Träger-Vielfalt wird mit dem Pluralismus-Prinzip gerechtfertigt und hat im Jugendwohlfahrtsgesetz im Begriff der pädagogischen
»Grundrichtung«
, die in der Kompetenz von Trägern und Eltern (Elternrecht) liegen, seinen Niederschlag gefunden. Faktisch aber bedeutet das eine Minderung demokratischer Kontroll-Möglichkeiten, besonders der demokratisch legitimierten Jugendämter.
b
[013:24] Zur
»Theorie«
der Jugendhilfe.
Eine Theorie, die die Gesamtheit der sozialpädagogischen Phänomene zum Gegenstand hat, ist gegenwärtig noch problematisch. Der Ausdruck
»Theorie«
würde unter solchen Umständen entweder zu einem Sammelnamen für eine Vielzahl unzusammenhängender theoretischer Sätze und Begriffe verblassen , oder aber die Theorie müßte – etwa als Theorie pädagogischer Dysfunktionen in bestimmten |b 296|historischen Kontexten – dem sozialpädagogischen Gegenstand gegenüber auf einer Ebene von Allgemeinheit angesiedelt sein, die sie für das sozialpädagogische Handlungsfeld wenig brauchbar machen würde. Es erscheint daher zweckmäßig, eine Mehrzahl von Theorien anzustreben, die sich je nach dem Handlungsobjekt des Erziehungshandelns in Jugendhilfe-Institutionen unterscheiden. Dabei ist zu beachten, daß eine pädagogische Theorie etwas anderes ist als die Theorie der Genese eines Konfliktes, der pädagogische Interventionen erfordert. So ist z. B. eine Theorie, die die Entstehung devianten Verhaltens zum Gegenstand hat, nur begrenzt für die Planung pädagogischer Interventionen tauglich; aus dem Nachweis eines durch frühe Muttertrennung erzeugten Traumas als Ursache für spätere Dissozialität sind spätere Therapie-Möglichkeiten nur vage vorgegeben. Sozialpädagogische Theorien sind also Theorien für bestimmte pädagogische Interventionen und damit Theorien des institutionalisierten Erziehungshandelns.
[013:25] 1. Eine Schlüsselfunktion kommt den sozialpädagogischen
»Verteilungsinstanzen«
zu; das am ehesten durchschaubare Exempel dafür ist das Jugendamt. Was hier institutionalisiert ist, das ist u. a. ein Klassifikationssystem für interventionsbedürftige Probleme von einzelnen oder Gruppen (Cicourel). Interventionsbedürftigkeit wird dabei nicht von den Klienten definiert, sondern von den intervenierenden Organisationen, also den Fürsorgeverbänden (Peters), den Jugendämtern und Jugendgerichten (Cicourel, Quensel ). Völlig ungeklärt ist dabei, ob die Interventionsinstanzen überhaupt eine signifikante Anzahl derjenigen Fälle erreichen, die nach ihrer Definition interventionsbedürftig sind. Da es kaum eine Rückmeldung gibt im Hinblick auf die Frage, wie wirkungsvoll das Interventionssystem ist; und da überdies die Interventionsinstanz dem Klienten gegenüber immer in der Situation des Mächtigeren ist, ist es wenig wahrscheinlich, daß die Klienten ihren Kriterien für relevante Probleme im Interventionsprozeß Geltung verschaffen können. Wahrscheinlich ist vielmehr, daß sie angesichts bevorstehender oder schon eingeleiteter Intervention ihre Probleme nach den Klassifikationsstandards der Institution umdefinieren. Zunächst werden hier nur Verhaltensmerkmale als Indizien für Interventionsbedürftigkeit identifiziert: Das Entscheidende daran ist, daß solche Verhaltensmerkmale im Kontext der Institutionen eine andere Bedeutung haben als für den betroffenen Klienten. Verhaltensmerkmale (Schulschwänzen, Kleindiebstähle, Arbeitsbummelei etc.) sind zugleich Elemente eines Klassifikationssystems, in dem es nicht nur beschreibend klas|b 297|sifikatorische Ausdrücke gibt, sondern in dem zugleich bestimmte Erklärungsmuster enthalten sind: sie sind Teil einer Vorstellung von devianten Karrieren (Quensel ); das zunächst scheinbar in nur einem Merkmal als deviant klassifizierte Individuum wird im antizipierten Rahmen dieser Karriere interpretiert. Ihm wird, wiederholt und verstärkt sich dieser Vorgang, eine deviante Rolle zugeschrieben. Was an dieser Stelle mit dem betroffenen Individuum geschieht, ist in anderem Zusammenhang als
»Stigmatisierung«
(Goffman) beschrieben worden und damit – im Sinne eines Zirkels – als ein zusätzlicher Faktor bei der Entstehung und Verfestigung devianter Karrieren.
[013:26] 2. Die persönliche Biographie des Klienten aber hat primär ihren Ort nicht in bezug auf eine Einrichtung der Jugendhilfe, sondern im Rahmen der
»Lebenswelt«
des Klienten, als deren Komponenten die materielle Lage, der Ort im System gesellschaftlicher Arbeitsteilung und die Subkultur bzw. die Bezugsgruppen, denen er angehört, gelten können. Diese Lebenswelt ist für ihn der Konstitutionszusammenhang seiner Relevanz-Kriterien, d. h. derjenigen Gesichtspunkte, nach denen er Bedeutsames von weniger Bedeutsamem unterscheidet, Situationen, Probleme und Problemlösungen definiert. Man kann auch sagen: Die Lebenswelt ist das System von Definitionsregeln, in dem sich das Individuum alltäglich bewegt. Genauere Betrachtung bringt jedoch schnell zum Vorschein, daß eine solche Formulierung nur vorläufig sein kann: Die Regeln, mit denen das Individuum alltäglich konfrontiert wird und die zu akzeptieren ihm angeraten werden, sind nicht notwendig kongruent, sie können sogar widersprüchlich sein. Außerdem ist seine Beteiligung an diesem System nicht als passives Reagens zu denken, sondern als Interaktion, in der Beziehungen neu definiert, Regeln damit auch modifiziert werden können. Primäre Lebenswelten, z. B. eine Familie im Kontext ihrer Bezugsgruppen, können danach beurteilt werden, wie weit sie imstande sind, auftauchende Probleme (Diskrepanzen in Beziehungen und Regeln, Störungen durch psychische Belastungen, signifikante Personen etc.) zu lösen (Hansen/Hill ). Damit stellt sich die Frage nach den Ressourcen, über die eine Lebenswelt mindestens verfügen muß, damit Probleme lösbar werden: die Frage nach den sozio-ökonomischen Bedingungen und damit den materiell
»definierten«
Spielräumen, den Bezugsgruppen usw. und die Fragen nach dem Niveau, auf dem überhaupt Problem-Lösungen antizipiert werden können: für die Familie in einer Obdachlosen-Siedlung z. B. sind die realistischen Problemlösungs-Strategien vermutlich vergleichsweise außerordentlich restringiert |b 298|(Haag ). In diesem Sinne ist die Ausarbeitung eines differenzierten und gesellschaftlich präzisierten Begriffs der
»Lebenswelt«
einer der wichtigsten Forschungsaufgaben im Felde der Jugendhilfe und Sozialarbeit. Gleichwohl ist es sinnvoll, eben diese Lebenswelten von dem mit Sanktionen und also mit Macht ausgestatteten Bedeutungs-Kontext der Interventions-Instanzen zu unterscheiden, weil erst durch solche Unterscheidung die Frage nach der Gerechtigkeit (hier: der Angemessenheit an die Lebenswelt des Klienten) der Maßnahmen beantwortet werden kann und eine kritische Theorie der Jugendhilfe möglich wird.
[013:27] 3. Die Interventionsinstanzen können als vermittelnd zwischen den Erwartungen der
»Gesellschaft«
und den
»Lebenswelten«
der Klienten angesehen werden. Die Institutionen produzieren vermutlich ihr Klassifikationssystem für
»problematische Fälle«
nicht selbst, sondern folgen darin gesellschaftlich herrschenden Erwartungen, vermutlich also den mit Macht ausgestatteten und deshalb einflußreichen Gruppen (Autorenkollektiv, Gefesselte Jugend). So wäre z. B. die Frage zu prüfen, in welchem Umfang Klassifikationen von Verhalten als
»deviant«
ihre Rechtfertigung nur in ökonomischen Qualifikationserwartungen haben und welche Funktion in diesem Zusammenhang dem Sozialstaat zukommt. Welche
»Partei«
der Sozialarbeiter oder Sozialpädagoge nimmt, zeigt sich im Konfliktfall nicht so sehr an seinem pädagogischen Verfahren, den methodischen Schritten im Umgang mit den Klienten oder dem Klima positiver Zuwendung, das er zu schaffen versucht, sondern daran, welche Probleme er als interventionsbedürftig interpretiert.
[013:28] 4. Die oft beschworene Diskrepanz von
»Innendienst«
und
»Außendienst«
bzw. von
»Administration«
und
»Treatment«
erscheint so theoretisch wie praktisch in einem neuen Licht. Der im praktischen Umgang mit den Klienten (Treatment) tätige Sozialarbeiter ist einem Berufsrollenproblem konfrontiert, dessen Lösung ihm institutionell außerordentlich erschwert wird: Einerseits ist er abhängiger Agent einer Institution, die an einem relativ starren System von Problem- und Lösungs-Klassifikationen festhält; er kann aber andererseits innerhalb dieser Institution keine stabile Berufstätigkeit aufbauen, da seine tägliche Praxis ihn mit den originären Problemen der Lebenswelt des Klienten konfrontiert, denen gegenüber die institutionalisierten Klassifikationen als dysfunktional erscheinen. Die Probleme des Treatment-Systems haben deshalb immer mindestens zwei Aspekte: die Frage nach den angemessenen Behandlungsverfahren und die Frage der sozialpädagogischen Berufsrollenprobleme.
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[013:29] Bei dieser Problemfeld-Beschreibung handelt es sich nicht um eine Theorie, sondern um einen Begriffs- und Beziehungsrahmen für Probleme. Dieser Rahmen ist zwar aus theoretischen Elementen konstruiert – so z. B. aus Sozialisationstheorien, Stigma-Theorie, Devianz-Theorien, ökonomischer Theorie, therapeutischen Theorien – kann aber für sich selbst nicht den Status einer Theorie beanspruchen. Ob eine
»Theorie der Jugendhilfe«
bzw. eine
»Theorie der Sozialarbeit«
auf diesem Niveau von Komplexität überhaupt möglich ist, ist zweifelhaft. Das wird noch deutlicher, wenn man sich vor Augen hält, daß in unsere Rahmenskizze psychologische und medizinische Daten noch gar nicht aufgenommen wurden. Die Komplexität der Praxis selbst ist also hier schon beträchtlich reduziert worden. Gleichwohl scheint es sinnvoll zu sein, mit solchen Rahmenvorstellungen zu arbeiten, innerhalb derer Theorien lokalisierbar werden, um damit Hypothesen formulieren zu können, deren Relevanz im Rahmen des faktischen sozialpädagogischen Feldes, sowohl praktisch wie theoretisch, bestimmbar ist.
b
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