Sozialarbeit im Spannungsfeld sozialer Konflikte – Aspekte eines zukünftigen Selbstverständnisses [Textkritische interaktive Ansicht mit a als Leittext]
|b 8| |a 129|

Sozialarbeit im Spannungsfeld sozialer Konflikte – Aspekte eines zukünftigen Selbstverständnisses

[031:1] Das Selbstverständnis der Sozialarbeiter hat sich lange Zeit ausgedrückt in der Formel, Sozialarbeit sei persönliche Hilfe für den sozial schwachen Mitbürger. Die Leistungsfähigkeit dieser Formel ist jedoch vor allem durch drei Tendenzen der jüngsten Entwicklung in Frage gestellt:
  1. 1.
    [031:2] Durch die zunehmende Arbeitsteilung innerhalb der Sozialarbeit, die Formeln eines so personalistischen Charakters als nicht mehr sachadäquat erkennen lassen.
  2. 2.
    [031:3] Durch die zunehmende Professionalisierung der Sozialarbeit, die mit der Arbeitsteilung einhergeht und die ein Berufsbewußtsein zur Folge hat, das sich an erlernbaren Berufstätigkeiten orientiert und damit Formeln unbrauchbar erscheinen läßt, die den moralischen oder affektiven Appell auf Kosten solcher erlernbarer Verfahren betont.
  3. 3.
    [031:4] Schließlich ist die Formel problematisch geworden angesichts einer nachwachsenden Generation von Sozialarbeitern, die prinzipiell mit solchen Formeln und die in ihnen angesprochenen sozialethischen oder moralischen Appelle sich nicht mehr identifizieren kann oder will.
[031:5] Auf diese Weise entstehen innerhalb der Sozialarbeit selbst Spannungen, und zwar in einer doppelten Hinsicht: Spannungen zwischen dem gegenwärtigen Status der Sozialarbeit und ihrer eigenen Vergangenheit und Spannungen im gegebenen System von Sozialarbeit selbst. Denn natürlich ist Arbeitsteilung nicht nur ein Prozeß, der gesellschaftliche Reibungsflächen vermindert, sondern zugleich ein Prozeß, der neue Reibungsflächen hervorbringt. Formuliert man dies noch abstrakter, dann könnte man zu einer Definition gelangen, von der Wolfgang Bäuerle bei einer Erörterung der gesellschaftlichen Situation der Sozialarbeit ausgeht. Diese Definition oder Bestimmung von Sozialarbeit lautet:
»Die Sozialarbeit leistet als notwendige soziale Institution einen Beitrag zur Milderung von Spannungen, und zwar zur Milderung von Spannungen, die zwischen dem beschleunigten sozialen Wandel und den Kräften der Beharrung im einzelnen oder in Gruppen bestehen können.«
Ich nehme diese Definition zum Ausgangspunkt für den zweiten Abschnitt meines Referats.

Der gesellschaftliche Ort der Sozialarbeit

[031:6] Bäuerle hat mit Hilfe dieser Formel zeigen können, wie fruchtbar es sein kann, mit einer solchen Definition bei Abhandlungen zum Problem der Sozialarbeit einzusetzen. In der |a 130|Tat handelt es sich nämlich bei der Sozialarbeit um Probleme kultureller und sozialer Phasenverschiebung, um cultural-lag-Probleme, um Anpassungsprobleme. Wer heute Sozialarbeit betreibt, der hat es mit Individuen oder Gruppen der Bevölkerung zu tun, die rascher gesellschaftlicher Veränderungen wegen in Schwierigkeiten geraten, die solcher Veränderung wegen, sei es aus persönlichen, sei es aus Gründen ihrer kollektiven Herkunft, benachteiligt sind. Der Sozialarbeiter hat es offenbar mit dem Ausgleich solcher Spannungen, mit nachträglichen Anpassungsprozessen zu tun. Und er hat es auch zu tun mit sich selbst und seiner Berufsrolle, mit der Tatsache nämlich, daß es in der Sozialarbeit bzw. in den verschiedenen, unter ihrem Namen zusammengefaßten Berufe, dem gegenwärtigen Stand unserer Gesellschaft angemessene Formen der Hilfeleistung gibt und andere Formen der Hilfeleistung, die wir eher im 19. Jahrhundert lokalisieren würden als in einer aufgeklärten gegenwärtigen Industriegesellschaft. Insofern also scheint mir der Ansatz von Bäuerle und die Wahl eines solchen definitorischen Ausgangspunktes nicht unzweckmäßig zu sein. Zweckmäßig also erweist sich dieser Ausgangspunkt bei der Analyse eines ganz bestimmten Problembereichs dessen, was wir Sozialarbeit nennen. Ein solcher Ansatz aber, und das wäre mein Einwand, verdeckt zugleich die gesellschaftspolitischen Spannungen und Widersprüche, für die Sozialarbeit symptomatisch ist. Bäuerles Betrachtungsweise ist technisch-funktional. Sie sieht das gesellschaftliche System als einen Zusammenhang von Faktoren und Funktionen, deren optimale Zusammen|b 9|stimmung irgendwo und irgendwann einmal hergestellt werden muß. Er sieht den Zusammenhang der Gesellschaft etwa, wie man den Zusammenhang eines rationalisierten Industriebetriebes sehen könnte, in dem es auch gewisse Reste von noch nicht modernisierten Bestandteilen gibt. In dem Maße, in dem die Modernisierung solcher Bestandteile gelingt, wird – so wird hier nahegelegt – dann auch die Gesamtleistungsfähigkeit steigen und das Funktionieren des Gesamtsystems befriedigender werden.
[031:7] Der hier sich andeutende politisch widersprüchliche Charakter der Sozialarbeit steckt nicht erst seit heute in ihr, sondern ist bereits an ihren Anfängen erkennbar. Was bedeutet es eigentlich, daß das frühe Selbstverständnis der Sozialarbeit im Begriff der
»Nothilfe«
seinen Ausdruck fand? In dieser Formel steckt immer ein Vorwurf der Gesellschaft gegenüber. Es steckt darin die Behauptung, daß es sich um eine Gesellschaft handelt, in der Menschen immer wieder in Not geraten, um eine Gesellschaft, die sich in einem prinzipiell unbefriedigenden Zustand befindet.
[031:8] Indessen hat die Formel
»Sozialarbeit als Nothilfe«
auch etwas Doppeldeutiges; sie ist nicht so eindeutig und nie so eindeutig gemeint gewesen, wie es scheinen könnte. Wenn ich Sozialarbeit als Nothilfe bestimme, kann ich sie sehr wohl auch als das caritative Instrument der herrschenden Gruppen zur Befriedigung und Beruhigung der sozial schwachen Schichten verstehen. Ich kann sie in dieser Formel verstehen als ein Instrument, daß dasjenige politische Problem, das mit dem Vorhandensein solcher Schichten der Gesellschaft gestellt ist, nicht löst, sondern nur erträglicher macht. Die moderne Variante dieser ideologischen Figur, die in der Sozialarbeit des 19. Jahrhunderts ihren vielleicht am deutlichsten erkennbaren Ort hat, ist
»Sozialarbeit als Anpassungshilfe in Konfliktfällen«
. In einem solchen Verständnis bleibt das gesellschaftliche Gesamtsystem, das Sozialarbeit immer wieder beklagenswerterweise notwendig macht, völlig unberührt. Es bleibt unberührt die Tatsache der ungleichen Verteilung der Lebenschancen, es bleibt unberührt und unangetastet das gute Gewissen der Gesellschaft, das politische Problem, das von der Tatsache Sozialarbeit nicht zu trennen ist. Charakteristisch für ein solches unpolitisches Selbstverständnis der Sozialarbeit ist ein Satz von Pfaffenberger:
»Die eigentlich natio|a 131|nalen Unterschiede im Fortschritt der Sozialarbeit sind nur von peripherer Bedeutung, zentral ist für sie der Standort einer Gesellschaft auf dem durch die Industrialisierung ausgelösten Entwicklungsweg zur industriellen Massengesellschaft. Hierin unterscheiden sich einzelne Gesellschaften; und was die eine an der anderen als andersartig und fremd ansieht, ist im wesentlichen das andere Entwicklungsstadium im gleichen Weg der Wandlungsprozesse.«
Auch hier wird so getan, als handle es sich bei
»Gesellschaften«
um eine etwas erweiterte Form arbeitsteilig zu regelnder moderner Industriebetriebe. Das Problem der Sozialarbeit besteht hiernach darin, die Anpassungsvorgänge effektiver zu gestalten, weniger Reibungsflächen aufkommen zu lassen, dem einzelnen ein größeres Maß subjektiver Befriedigung im sozialen System zu vermitteln. Bei Pfaffenberger erscheint es zudem so, als sei die amerikanische Gesellschaft selbstverständlich den europäischen um einige Längen voraus und als bestünde das Problem der Sozialarbeit als Beruf bei uns in nichts anderem als einem möglichst raschen Nachholen derjenigen Defizite, die uns im Vergleich mit den Vereinigten Staaten deutlich werden. Hier wird gar nicht mehr politisch reflektiert, sondern es wird mit Selbstverständlichkeit davon ausgegangen, daß das
»richtige«
Modell des gesellschaftlichen Fortschritts in den Vereinigten Staaten am wirkungsvollsten und am überzeugensten realisiert ist. Darin aber steckt eine schwerwiegende politische Entscheidung, die indessen ausgeklammert wird, wenn man Sozialarbeit so zu interpretieren versucht, wie es hier geschieht.
[031:9] Eine andere Interpretation der Formel
»Sozialarbeit als Nothilfe«
könnte ihren politischen Stellenwert zum Vorschein bringen. Das würde dann geschehen, wenn wir versuchen, uns auf die Tatsache zu konzentrieren, daß Sozialarbeit Symptom einer bestimmten Lage der Gesellschaft im ganzen ist: daß Sozialarbeit die notwendige Folge einer bestimmten Sozialstruktur ist, daß sie u.a. die Folgeerscheinung einer in soziale Schichten gegliederten Gesellschaft ist, und zwar in Schichten, die sich unterscheiden nach unterschiedlichen Lebenschancen, nach einer unterschiedlichen Verteilung auch der materiellen Güter. Gerade solche unterschiedlichen Verteilungen sind für das Entstehen von Notsituationen, von Konfliktsituationen und Mangelsituationen gravierend. Der Sozialarbeiter hätte also zu überlegen, was sich politisch für sein Selbstbewußtsein und Selbst|b 10|verständnis aus der Tatsache ergibt, daß er einen Beruf hat, dessen Selbstverständnis eigentlich ein konstitutives Minderwertigkeitsgefühl sein müßte, nämlich das Gefühl der Minderwertigkeit einer Gesellschaft, die einen solchen Berufsstand nötig macht.
[031:10] Das zentrale Problem des Selbstverständnisses scheint mir also in der Art zu liegen, mit der diese Doppelheit der Interpretationsmöglichkeiten, die ich andeutete, bewältigt wird. In der Regel finden wir in der Sozialarbeit zwei Wege solcher Bewältigung. Den ersten Weg nenne ich den karitativen Weg. Sozialarbeit wird hier verstanden als Integrationshilfe. Die Aufgabe des Sozialarbeiters wird dann formuliert oder wird dann gesehen im Eingliedern oder Wiedereingliedern eines einzelnen oder einer Gruppe in ein gegebenes soziales System. Das wird besonders deutlich, wenn Sozialarbeit von Verbänden betrieben wird, die eine integrative Weltanschauung zu vertreten beanspruchen. Der Verbandspluralismus schützt nicht vor jenem politischen Defizit, schützt nicht davor, ein mangelhaftes Bewußtsein von der politischen Situation der Sozialarbeit auszubilden. Gerade der ideologische Verbandspluralismus im Bereich der Sozialarbeit enthält stärkere konservative Elemente als das Reden vom Pluralismus bisweilen glauben machen möchte, und zwar besonders dort, wo der Verband sich mit einer Ideologie, einer Weltanschauung, einer Konfession glaubt ausstatten zu müssen und damit noch ein zusätzliches Gehäuse bereithält, in das die einzelnen zu integrieren sind. Ideologischer Verbandspluralismus |a 132|kann daher eine doppelte Integration des Klienten bedeuten und damit auch eine doppelte Abhängigkeit und ideologische Verblendung derer, die in ihm arbeiten. Interessant ist in diesem Zusammenhang die immer wieder auftauchende Formel, in der Sozialarbeit ginge es um die
»Sorge für den ganzen Menschen«
, eine Formel, die in dem Augenblick fatal wird, wo der Gegenstand dieser Sorge, der
»ganze«
Mensch und seine
»Notlage«
, beliebig nach je zur Verfügung stehender Ideologie interpretiert werden können. Solange das Subsidiaritätsprinzip gilt, werden solche Verbände auch
»Notlagen«
finden, die ihnen ihre Ideologie zu formulieren erlauben.
[031:11] Den zweiten Weg in Richtung auf ein Selbstverständnis nenne ich den
»aufgeklärten Weg«
, so wie er sich in dem eingangs gegebenen Zitat Bäuerles dokumentiert. Hier wird Sozialarbeit bestimmt als eine methodische Hilfe, die allerdings nicht als Nothilfe angemessen zu interpretieren wäre, sondern die allgemein notwendig ist. Aus der Tatsache industrieller Gesellschaften wird die Konsequenz gezogen, daß es in ihnen immer und notwendigerweise Gruppen geben müsse, die mit dem Prozeß der gesellschaftlichen Veränderungen nicht Schritt halten können, weil die beständig wechselnden Lernanforderungen permanente Anpassungsprobleme zur Folge haben. Einer solchen Interpretation kommt die Tatsache entgegen, daß in den Begriff Sozialarbeit zunehmend Aufgaben und Einrichtungen hineingenommen werden, die in der Tat mit dem Ausdruck
»Nothilfe«
nicht mehr angemessen bezeichnet werden können, wie es z. B. die Entwicklung der Jugendpflege und der Jugendarbeit zeigen. Am Anfang unseres Jahrhunderts wurde Jugendpflege durchaus entspechend jenes karitativen Selbstverständnisses betrieben, nämlich als eine vorbeugende Maßnahme zur Beschwichtigung der Jugend unterer sozialer Schichten, damit sie ja nicht der Verführung durch die Sozialdemokratie verfiele. Die weitere Entwicklung der Jugendpflege aber, insbesondere unter dem neuen Namen
»Jugendarbeit«
nach dem Krieg, hat gezeigt, daß es Bereiche, Aufgaben und Verfahren gibt, mithin auch ein neues Selbstverständnis, die nun schlechterdings mit Nothilfe nicht mehr angemessen zu bezeichnen sind. Auch Gertrud Bäumer hatte sich ja schon darum bemüht, den
»Nothilfecharakter«
von Sozialarbeit und Sozialpädagogik möglichst zurückzudrängen zugunsten eines anderen, am
»normalen«
Lernprozeß orientierten Verständnisses. Dieser Weg scheint mir zwar im Hinblick auf die Behandlungsprobleme und im Hinblick auf die Selbstdarstellung der Sozialarbeit in der Öffentlichkeit zweckmäßig und brauchbar zu sein, weil er den Sozialarbeiter aus dem gleichsam asozialen Winkel der Gesellschaft herausgeholt, ihm ein sicheres Selbstgefühl vermittelt und mit größerem Ansehen ausstatten könnte. Aber ob dieser Ausweg nicht seinerseits wieder politisch blind macht, ist die Frage, die ich in diesem Referat immer wieder stellen möchte.
[031:12] Beide Wege, sowohl der karitative wie dieser, den ich den aufgeklärten Weg nenne, sind verständlich und beide Wege sind gut motiviert. Der Sozialarbeiter, selbst Repräsentant der bürgerlichen Gesellschaft, möchte nicht mit seinem Publikum verwechselt werden, |b 11|also entwickelt er ein Selbstverständnis, das ihm seinen eigenen gesellschaftlichen Wert gegenüber den Klienten sichert. Bei einem Beruf wie diesem, der durch gewiß viele Rollenkonflikte belastet ist, ist das nicht verwunderlich. Aber ist es politisch legitim? Oder anders, konkreter und zugleich polemisch ausgedrückt: Die Solidarität mit den Hilfsbedürftigen als den Angehörigen einer unterprivilegierten sozialen Klasse, die einmal das Motiv für die Gründung der Arbeiterwohlfahrt war, ist inzwischen zu einigen methodischen Tricks zusammengeschrumpft oder pervertiert. Noch genauer und polemischer: Die Technik der Einzelfallhilfe ist eine Art Schutzschild, der den Sozialarbeiter vor der Solidarisierung mit seinen Klienten bewahrt. Einzelfallhilfe ist zwar eine sehr subtile Tech|a 133|nik, um das Verständnis des Klienten zu ermöglichen mit Hilfe psychologischer und sozialer Informationen und erlernbarer Formen des Umgangs mit ihm; aber das Verständnis des Klienten ist etwas anderes als die Solidarisierung mit ihm bzw. mit der Gruppe, der er zugehört und ihren sozialen Interessen. Die Methode der Einzelfallhilfe nimmt dem Sozialarbeiter daher mindestens der Möglichkeit nach das Bewußtsein von den gesellschaftlichen Widersprüchen, an deren Konfliktpunkten er arbeitet.

Konfliktlagen der Sozialarbeit

  1. 1.
    [031:13] Sozialarbeit hat es mit der Tatsache der Unterprivilegierung sozialer Gruppen und Schichten zu tun. Fürsorgeerziehungsstatistik und Kriminalstatistik zeigen, daß diejenigen, die von ihr betroffen sind, entschieden vorwiegend den unteren sozialen Schichten angehören. Die Häufung von Mangelsituationen in diesen Schichten ist unleugbar. Das betrifft zwar nicht alle Einrichtungen der Sozialarbeit gleichermaßen; in der Erziehungsberatung z. B. scheint es so zu sein, daß dort die Gesamtbevölkerung annähernd gleichmäßig repräsentiert ist; aber sie ist eher ein Sonderfall. Im ganzen kann man sagen, daß diejenigen Menschen, mit denen Sozialarbeit zu tun hat, sich in bestimmten sozialen Schichten häufen, und das läßt die Annahme häufig erscheinen, daß es sich hier um einen Sachverhalt handelt, der für unsere Gesellschaft strukturell ist: In unserer Gesellschaft gibt es nach wie vor große Bereiche, in denen die Lebenschancen weit geringer als in anderen sind, in denen prinzipiell der heranwachsenden Generation nicht dasjenige vermittelt werden kann, was als das Recht auf Bildung und gleiche Lebenschancen der Bürger in einer demokratischen Gesellschaft zu bezeichnen ist. Wir brauchen uns nur die Siedlungsstrukturen unserer Großstädte anzusehen, die Häufung von ökonomischen, pädagogischen, fürsorgerischen, schulischen Mangelsituationen, um zu erkennen, daß wir zwar eine demokratisch verfaßte Gesellschaft haben, aber auf dem Unterbau einer undemokratischen Verteilung der Lernchancen.
  2. 2.
    [031:14] Sozialarbeit hat es zu tun mit dem moralischen Anspruch eines bürgerlichen Berufsstandes gegenüber Klienten, denen dieser Anspruch fremd ist. Man sollte sich immer wieder klar machen, daß der Berufsstand der Sozialarbeiter, und über ihn hinaus nahezu alle pädagogischen Berufe, dem bürgerlichen Typus von Wertorientierung zugehören. Das ist zwar nicht bei jedem einzelnen Sozialarbeiter der Fall, denn der Sozialarbeiterberuf ist ein Aufstiegsberuf. Der Anteil derer, die selbst aus den Schichten stammen, denen die Klienten zugehören, ist in dieser Berufsgruppe größer als in vergleichbaren, z. T. pädagogischen Berufen. Wir wissen aber, daß Aufstiegsstreben einhergeht mit einer besonders intensiven Identifikation mit dem Wertbewußtsein derjenigen Schicht, in die man aufsteigen will. Das bedeutet eine Gefährdung seines Berufsbewußtseins, die sich der Sozialarbeiter deutlich machen muß; eine Art Deformation professionell, die aus der Schichtenproblematik erwächst, in der er sich befindet. Wir brauchen uns nur zu fragen, welche eigentlich die geistigen Güter sind, die wir für wertvoll halten, was wir eigentlich unter einem sinnvollen Leben oder einer sinnvollen Freizeit verstehen, wie wir eigentlich auf angeblich ungepflegte Haare oder angeblich ungewaschene Hälse reagieren, ich fürchte, daß die kleinbürgerliche Barbarei der sogenannten Springer-Zeitungen in den Wertorientierungen etwas repräsentiert, das ein Bestandteil des bürgerlichen Wertbewußtseins überhaupt und damit auch der sozialen und pädagogischen Berufe ist.
  3. 3.
    [031:15] Sozialarbeit hat es mit einer Gesellschaft zu tun, die sie verleugnet. Seit vielen Jahren schon diskutiert unsere Öffentlichkeit den Bildungsnotstand, die Bildungskatastrophe. |a 134|Gewiß werden hier die Defizite dieser Gesellschaft, insbesondere im Hinblick auf ihren |b 12|Demokratisierungsprozeß, besonders deutlich. Es ist aber, wie mir scheint kein Zufall, daß in dieser schon lange andauernden Diskussion die Sozialarbeit keine Rolle spielt. Es ist kein Zufall, daß über Sozialarbeit und Jugendhilfe kaum mit öffentlicher Wirksamkeit diskutiert wird. Das ist erklärlich: am Bildungswesen ist jedermann interessiert kraft seines eigenen Interesses an der Teilnahme an den Gütern dieser Gesellschaft. Das Bildungswesen verspricht ihm den sichersten Weg zu diesem Ziel. An Sozialarbeit kann nicht jeder kraft seines eigenen Interesses interessiert sein, denn ihre Dienste gelten einer Gruppe, der man selbst in der Regel nicht zugehört.
  4. 4.
    [031:16] Die Sozialarbeit hat es mit der Tatsache zu tun, daß sowohl die Sozialarbeiter wie auch ihre Klienten eine soziale Minorität darstellen. Die gesellschaftliche Macht der Sozialarbeit steht in einem Mißverhältnis zu dem Gewicht, das die Interessen haben müßten, die sie vertritt und die darin zum Ausdruck kommen, daß an dieser Stelle der Gesellschaft das demokratische Defizit noch einmal sehr nachdrücklich formuliert wird. Sozialarbeit bietet keine ökonomisch verwertbare Leistung. Es ist deshalb schwer, für diese Minorität eine besondere Aufmerksamkeit zu fordern und schwer, im Hinblick auf ihre Interessen Solidarität zu verlangen. Ebenso stellen die von den Sozialarbeitern betreuten oder von der Sozialarbeit betreuten Minderheiten kein ökonomisch gewichtiges Potential dar. Die Gefahr einer solchen Situation ist die nicht mehr politische, sondern sentimentale Solidarisierung mit der Gruppe der Klienten und wiederum des Rückzuges in ein karitatives Selbstverständnis: resignative Anpassung an das Bestehende. Das aber bedeutet eine neuerliche Ideologisierung der Selbstrolle und des Selbstverständnisses statt einer politischen Reflektion dieses Konfliktes. In dieser Lage ist der Sozialarbeiter besonders der Verführung ausgesetzt, die in dem Begriff des Gemeinwohls liegt. Er darf sich als Repräsentant der Gemeinschaft und ihrer Ordnungen fühlen; er ist Repräsentant von integrierten Trägerverbänden; er ist diesen oder den kommunalen Ordnungen gegenüber verantwortlich und von ihnen abhängig als denen, die ihm Arbeit geben und ihm Selbstbewußtsein und Selbstsicherheit leihen können. Da ist es wenigstens verständlich, wenn er sich einem Sprachgebrauch anschließt, der nicht der legitime Sprachgebrauch der Klienten ist, sondern der Sprachgebrauch derer, die in der Gesellschaft die herrschenden Gruppen stellen.
[031:17] Ich habe versucht zu zeigen, wie der gesellschaftspolitische Konflikt, in dem sich die Sozialarbeit befindet, nicht nur die beteiligten Berufe, sondern auch die Klienten betrifft, und daß beide, durch die Allgemeinheit der sozialstrukturellen Bedingungen vermittelt, notwendig zusammengehören. Der Sozialarbeiter aber ist seiner Rolle nach nicht nur Repräsentant der Ordnung, sondern vornehmlich Anwalt seiner Klienten. Ein Anwalt ist ein Interessenvertreter: Am Anfang des Demokratisierungsprozesses stand jene immer wieder mit Recht zitierte These von Jean Jacques Rousseau, die besagte, daß im Hinblick auf die Probleme einer demokratischen Erziehung das Recht des Kindes, das Recht des einzelnen Menschen auf Glück gegen alle anderen Ansprüche zu sichern oder durchzusetzen sei. Der Sinn dieser These war das Interesse an einer humanen Existenz gegenüber einer Gesellschaft, die solche Existenz zu sichern nicht in der Lage war. Seitdem gehört es zum Bestand des demokratischen Selbstverständnisses, daß alles Lernen unter dem Gesichtspunkt des Interesses der Lernenden beurteilt werden muß, also an die Interessen des einzelnen, seine gesellschaftliche Position und seine Lebenschancen gebunden ist. Dieses Postulat gilt für alle Berufe, die den Menschen zum
»Gegenspieler«
haben. Damit ist aber zugleich ein fundamentaler Rollenwiderspruch formuliert, der für |a 135|alle diese Berufe dadurch bestimmt ist, daß jeder, der einen solchen Beruf ausübt, in dem Spannungsfeld zwischen zwei in ihren Erwartungen sich widersprechenden Bezugsgruppen steht: zwischen der Gruppe derer, denen er zu ihrem Interesse verhelfen will, und der Gruppe derer, die an der Integration jener Gruppe interessiert ist; zwischen denjenigen also, deren objektives Interesse an Humanität in dieser Gesellschaft nicht befriedigt wird, und denjenigen, die solche Interpretation für einen überspannten Gedanken halten.
[031:18] Durch die Art seines Auftrages muß die Tätigkeit des Sozialarbeiters deshalb durch soziale Interessen geleitet sein. Sein Selbstverständnis hat den legitimen Anknüpfungspunkt nicht in den Interessen seiner eigenen sozialen Herkunft oder in den Interessen der ihn beauftragenden sozialen Gruppen, sondern im Interesse der von ihm Betreuten an der Emanzipation aus ihrer unterprivilegierten Lage. Das Thema seiner Tätigkeit ist |b 13|deshalb nicht nur der Konflikt, seine Ursachen und seine Behebung, sondern das interessegeleitete Lernen der Klienten unter den Bedingungen sozialer Konflikte.
[031:19] Was ich für die Sozialarbeit zu formulieren versucht habe, hat Herbert Marcuse als das Dilemma bestimmt, in dem sich jeder befindet, der heute versucht, gesellschaftlich relevante Phänomene im Hinblick auf Zukunftsprognosen zu analysieren. Er sagt von seinem Buch
»Der eindimensionale Mensch«
, es schwanke durchweg zwischen zwei einander widersprechender Hypothesen:
»1. daß die fortgeschrittene Industriegesellschaft imstande ist, eine qualitative Änderung für die absehbare Zukunft zu unterbinden; 2. daß Kräfte und Tendenzen vorhanden sind, die diese Eindämmung durchbrechen und die Gesellschaft sprengen können. Ich glaube nicht, daß eine klare Antwort gegeben werden kann. Beide Tendenzen bestehen nebeneinander und sogar die eine in der anderen. Die erste Tendenz ist die herrschende, und alle Vorbedingungen eines Umschwungs, die es geben mag, werden benutzt, ihn zu verhindern. Vielleicht kann ein Unglück die Lage ändern, aber solange nicht die Anerkennung dessen, was getan und was verhindert wird, was Bewußtsein und Verhalten des Menschen umwälzt, wird nicht einmal eine Katastrophe eine Änderung herbeiführen.«
Ich teile diesen Pessimismus nicht. Ich teile ihn insbesondere im Hinblick auf die Sozialarbeit nicht, sofern es dem Sozialarbeiter gelingt, ein politisches Verständnis seiner Rolle zu erringen, das aus der Einsicht in die Lage der Klienten politische Energie zu schlagen vermag.