Der gesellschaftliche Ort der Sozialarbeit
[031:6] Bäuerle hat mit
Hilfe dieser Formel zeigen können, wie fruchtbar es sein kann, mit einer
solchen Definition bei Abhandlungen zum Problem der Sozialarbeit
einzusetzen. In der |a 130|Tat handelt es sich nämlich bei
der Sozialarbeit um Probleme kultureller und sozialer Phasenverschiebung, um
cultural-lag-Probleme, um
Anpassungsprobleme. Wer heute Sozialarbeit betreibt, der hat es mit
Individuen oder Gruppen der Bevölkerung zu tun, die rascher
gesellschaftlicher Veränderungen wegen in Schwierigkeiten geraten, die
solcher Veränderung wegen, sei es aus persönlichen, sei es aus Gründen ihrer
kollektiven Herkunft, benachteiligt sind. Der Sozialarbeiter hat es offenbar
mit dem Ausgleich solcher Spannungen, mit nachträglichen Anpassungsprozessen
zu tun. Und er hat es auch zu tun mit sich selbst und seiner Berufsrolle,
mit der Tatsache nämlich, daß es in der Sozialarbeit bzw. in den verschiedenen, unter ihrem Namen zusammengefaßten Berufe, dem gegenwärtigen Stand unserer Gesellschaft angemessene Formen
der Hilfeleistung gibt und andere Formen der Hilfeleistung, die wir eher im
19. Jahrhundert lokalisieren würden als in einer aufgeklärten gegenwärtigen
Industriegesellschaft. Insofern also scheint mir der Ansatz von Bäuerle und die Wahl eines
solchen definitorischen Ausgangspunktes nicht unzweckmäßig zu sein.
Zweckmäßig also erweist sich dieser Ausgangspunkt bei der Analyse eines ganz
bestimmten Problembereichs dessen, was wir Sozialarbeit nennen. Ein solcher
Ansatz aber, und das wäre mein Einwand, verdeckt zugleich die
gesellschaftspolitischen Spannungen und Widersprüche, für die
Sozialarbeit symptomatisch ist. Bäuerles Betrachtungsweise ist technisch-funktional. Sie sieht
das gesellschaftliche System als einen Zusammenhang von Faktoren und
Funktionen, deren optimale Zusammen|b 9|stimmung irgendwo
und irgendwann einmal hergestellt werden muß. Er sieht den Zusammenhang der
Gesellschaft etwa, wie man den Zusammenhang eines rationalisierten
Industriebetriebes sehen könnte, in dem es auch gewisse Reste von noch nicht
modernisierten Bestandteilen gibt. In dem Maße, in dem die Modernisierung
solcher Bestandteile gelingt, wird – so wird hier nahegelegt – dann auch die
Gesamtleistungsfähigkeit steigen und das Funktionieren des Gesamtsystems
befriedigender werden.
[031:7] Der hier sich andeutende politisch widersprüchliche Charakter der
Sozialarbeit steckt nicht erst seit heute in ihr, sondern ist bereits an
ihren Anfängen erkennbar. Was bedeutet es eigentlich, daß das frühe
Selbstverständnis der Sozialarbeit im Begriff der
»Nothilfe«
seinen Ausdruck fand? In dieser Formel steckt immer ein
Vorwurf der Gesellschaft gegenüber. Es steckt darin die Behauptung, daß es
sich um eine Gesellschaft handelt, in der Menschen immer wieder in Not
geraten, um eine Gesellschaft, die sich in einem prinzipiell
unbefriedigenden Zustand befindet.
[031:8] Indessen hat die Formel
»Sozialarbeit als
Nothilfe«
auch etwas Doppeldeutiges; sie ist nicht so eindeutig und
nie so eindeutig gemeint gewesen, wie es scheinen könnte. Wenn ich
Sozialarbeit als Nothilfe bestimme, kann ich sie sehr wohl auch als das
caritative Instrument der herrschenden Gruppen zur Befriedigung und
Beruhigung der sozial schwachen Schichten verstehen. Ich kann sie in dieser
Formel verstehen als ein Instrument, daß dasjenige politische Problem, das mit dem Vorhandensein solcher
Schichten der Gesellschaft gestellt ist, nicht löst, sondern nur
erträglicher macht. Die moderne Variante dieser ideologischen Figur, die in
der Sozialarbeit des 19. Jahrhunderts ihren vielleicht am deutlichsten
erkennbaren Ort hat, ist
»Sozialarbeit als Anpassungshilfe
in Konfliktfällen«
. In einem solchen Verständnis bleibt das
gesellschaftliche Gesamtsystem, das Sozialarbeit immer wieder
beklagenswerterweise notwendig macht, völlig unberührt. Es bleibt unberührt
die Tatsache der ungleichen Verteilung der Lebenschancen, es bleibt
unberührt und unangetastet das gute Gewissen der Gesellschaft, das
politische Problem, das von der Tatsache Sozialarbeit nicht zu trennen ist.
Charakteristisch für ein solches unpolitisches Selbstverständnis der
Sozialarbeit ist ein Satz von Pfaffenberger:
»Die eigentlich natio|a 131|nalen
Unterschiede im Fortschritt der Sozialarbeit sind nur von peripherer
Bedeutung, zentral ist für sie der Standort einer Gesellschaft auf
dem durch die Industrialisierung ausgelösten Entwicklungsweg zur
industriellen Massengesellschaft. Hierin unterscheiden sich einzelne
Gesellschaften; und was die eine an der anderen als andersartig und
fremd ansieht, ist im wesentlichen das andere Entwicklungsstadium im
gleichen Weg der Wandlungsprozesse.«
Auch hier wird so getan, als handle es sich bei
»Gesellschaften«
um eine etwas erweiterte Form arbeitsteilig zu
regelnder moderner Industriebetriebe. Das Problem der Sozialarbeit besteht
hiernach darin, die Anpassungsvorgänge effektiver zu gestalten, weniger
Reibungsflächen aufkommen zu lassen, dem einzelnen ein größeres Maß
subjektiver Befriedigung im sozialen System zu vermitteln. Bei Pfaffenberger erscheint es
zudem so, als sei die amerikanische Gesellschaft selbstverständlich den
europäischen um einige Längen voraus und als bestünde das Problem der
Sozialarbeit als Beruf bei uns in nichts anderem als einem möglichst raschen
Nachholen derjenigen Defizite, die uns im Vergleich mit den Vereinigten
Staaten deutlich werden. Hier wird gar nicht mehr politisch reflektiert,
sondern es wird mit Selbstverständlichkeit davon ausgegangen, daß das
»richtige«
Modell des gesellschaftlichen Fortschritts in
den Vereinigten Staaten am wirkungsvollsten und am überzeugensten realisiert ist. Darin aber steckt eine schwerwiegende politische
Entscheidung, die indessen ausgeklammert wird, wenn man Sozialarbeit so zu
interpretieren versucht, wie es hier geschieht.
[031:9] Eine andere Interpretation der Formel
»Sozialarbeit
als Nothilfe«
könnte ihren politischen Stellenwert zum Vorschein
bringen. Das würde dann geschehen, wenn wir versuchen, uns auf die Tatsache
zu konzentrieren, daß Sozialarbeit Symptom einer bestimmten Lage der
Gesellschaft im ganzen ist: daß Sozialarbeit die notwendige Folge einer
bestimmten Sozialstruktur ist, daß sie u.a. die Folgeerscheinung einer in
soziale Schichten gegliederten Gesellschaft ist, und zwar in Schichten, die
sich unterscheiden nach unterschiedlichen Lebenschancen, nach einer
unterschiedlichen Verteilung auch der materiellen Güter. Gerade solche
unterschiedlichen Verteilungen sind für das Entstehen von Notsituationen,
von Konfliktsituationen und Mangelsituationen gravierend. Der Sozialarbeiter
hätte also zu überlegen, was sich politisch für sein Selbstbewußtsein und
Selbst|b 10|verständnis aus der Tatsache ergibt, daß er
einen Beruf hat, dessen Selbstverständnis eigentlich ein konstitutives
Minderwertigkeitsgefühl sein müßte, nämlich das Gefühl der Minderwertigkeit
einer Gesellschaft, die einen solchen Berufsstand nötig macht.
[031:10] Das zentrale Problem des Selbstverständnisses scheint mir also in
der Art zu liegen, mit der diese Doppelheit der
Interpretationsmöglichkeiten, die ich andeutete, bewältigt wird. In der
Regel finden wir in der Sozialarbeit zwei Wege solcher Bewältigung. Den
ersten Weg nenne ich den karitativen Weg. Sozialarbeit wird hier verstanden
als Integrationshilfe. Die Aufgabe des Sozialarbeiters wird dann formuliert
oder wird dann gesehen im Eingliedern oder Wiedereingliedern eines einzelnen
oder einer Gruppe in ein gegebenes soziales System. Das wird besonders
deutlich, wenn Sozialarbeit von Verbänden betrieben wird, die eine
integrative Weltanschauung zu vertreten beanspruchen. Der
Verbandspluralismus schützt nicht vor jenem politischen Defizit, schützt
nicht davor, ein mangelhaftes Bewußtsein von der politischen Situation der
Sozialarbeit auszubilden. Gerade der ideologische Verbandspluralismus im
Bereich der Sozialarbeit enthält stärkere konservative Elemente als das
Reden vom Pluralismus bisweilen glauben machen möchte, und zwar besonders
dort, wo der Verband sich mit einer Ideologie, einer Weltanschauung, einer
Konfession glaubt ausstatten zu müssen und damit noch ein zusätzliches
Gehäuse bereithält, in das die einzelnen zu integrieren sind. Ideologischer
Verbandspluralismus |a 132|kann daher eine doppelte
Integration des Klienten bedeuten und damit auch eine doppelte Abhängigkeit
und ideologische Verblendung derer, die in ihm arbeiten. Interessant ist in
diesem Zusammenhang die immer wieder auftauchende Formel, in der
Sozialarbeit ginge es um die
»Sorge für den ganzen
Menschen«
, eine Formel, die in dem Augenblick fatal wird, wo der
Gegenstand dieser Sorge, der
»ganze«
Mensch und seine
»Notlage«
, beliebig nach je zur Verfügung stehender
Ideologie interpretiert werden können. Solange das Subsidiaritätsprinzip
gilt, werden solche Verbände auch
»Notlagen«
finden, die
ihnen ihre Ideologie zu formulieren erlauben.
[031:11] Den zweiten Weg in Richtung auf ein Selbstverständnis nenne ich
den
»aufgeklärten Weg«
, so wie er sich in dem eingangs
gegebenen Zitat Bäuerles
dokumentiert. Hier wird Sozialarbeit bestimmt als eine methodische Hilfe,
die allerdings nicht als Nothilfe angemessen zu interpretieren wäre, sondern
die allgemein notwendig ist. Aus der Tatsache industrieller Gesellschaften
wird die Konsequenz gezogen, daß es in ihnen immer und notwendigerweise
Gruppen geben müsse, die mit dem Prozeß der gesellschaftlichen Veränderungen
nicht Schritt halten können, weil die beständig wechselnden
Lernanforderungen permanente Anpassungsprobleme zur Folge haben. Einer
solchen Interpretation kommt die Tatsache entgegen, daß in den Begriff
Sozialarbeit zunehmend Aufgaben und Einrichtungen hineingenommen werden, die
in der Tat mit dem Ausdruck
»Nothilfe«
nicht mehr
angemessen bezeichnet werden können, wie es z. B. die Entwicklung der
Jugendpflege und der Jugendarbeit zeigen. Am Anfang unseres Jahrhunderts
wurde Jugendpflege durchaus entspechend
jenes karitativen Selbstverständnisses betrieben, nämlich als eine vorbeugende Maßnahme zur
Beschwichtigung der Jugend unterer sozialer Schichten, damit sie ja nicht
der Verführung durch die Sozialdemokratie verfiele. Die weitere Entwicklung
der Jugendpflege aber, insbesondere unter dem neuen Namen
»Jugendarbeit«
nach dem Krieg, hat gezeigt, daß es Bereiche, Aufgaben
und Verfahren gibt, mithin auch ein neues Selbstverständnis, die nun
schlechterdings mit Nothilfe nicht mehr angemessen zu bezeichnen sind. Auch
Gertrud
Bäumer hatte sich ja schon darum bemüht, den
»Nothilfecharakter«
von Sozialarbeit und Sozialpädagogik
möglichst zurückzudrängen zugunsten eines anderen, am
»normalen«
Lernprozeß orientierten Verständnisses. Dieser Weg scheint
mir zwar im Hinblick auf die Behandlungsprobleme und im Hinblick auf die
Selbstdarstellung der Sozialarbeit in der Öffentlichkeit zweckmäßig und
brauchbar zu sein, weil er den Sozialarbeiter aus dem gleichsam asozialen
Winkel der Gesellschaft herausgeholt, ihm ein sicheres Selbstgefühl
vermittelt und mit größerem Ansehen ausstatten könnte. Aber ob dieser Ausweg
nicht seinerseits wieder politisch blind macht, ist die Frage, die ich in
diesem Referat immer wieder stellen möchte.
[031:12] Beide Wege, sowohl der karitative wie dieser, den ich den
aufgeklärten Weg nenne, sind verständlich und beide Wege sind gut motiviert.
Der Sozialarbeiter, selbst Repräsentant der bürgerlichen Gesellschaft,
möchte nicht mit seinem Publikum verwechselt werden, |b 11|also entwickelt er ein Selbstverständnis, das ihm seinen eigenen
gesellschaftlichen Wert gegenüber den Klienten sichert. Bei einem Beruf wie
diesem, der durch gewiß viele Rollenkonflikte belastet ist, ist das nicht
verwunderlich. Aber ist es politisch legitim? Oder anders, konkreter und
zugleich polemisch ausgedrückt: Die Solidarität mit den Hilfsbedürftigen als
den Angehörigen einer unterprivilegierten sozialen Klasse, die einmal das
Motiv für die Gründung der Arbeiterwohlfahrt war, ist inzwischen zu einigen methodischen
Tricks zusammengeschrumpft oder pervertiert. Noch genauer und polemischer:
Die Technik der Einzelfallhilfe ist eine Art Schutzschild, der den
Sozialarbeiter vor der Solidarisierung mit seinen Klienten bewahrt.
Einzelfallhilfe ist zwar eine sehr subtile Tech|a 133|nik,
um das Verständnis des Klienten zu ermöglichen mit Hilfe psychologischer und
sozialer Informationen und erlernbarer Formen des Umgangs mit ihm; aber das
Verständnis des Klienten ist etwas anderes als die Solidarisierung mit ihm
bzw. mit der Gruppe, der er zugehört und ihren sozialen Interessen. Die
Methode der Einzelfallhilfe nimmt dem Sozialarbeiter daher mindestens der
Möglichkeit nach das Bewußtsein von den gesellschaftlichen Widersprüchen, an
deren Konfliktpunkten er arbeitet.
Konfliktlagen der Sozialarbeit
-
1.
[031:13] Sozialarbeit hat es mit der Tatsache der
Unterprivilegierung sozialer Gruppen und Schichten zu tun.
Fürsorgeerziehungsstatistik und Kriminalstatistik zeigen, daß
diejenigen, die von ihr betroffen sind, entschieden vorwiegend den
unteren sozialen Schichten angehören. Die Häufung von Mangelsituationen
in diesen Schichten ist unleugbar. Das betrifft zwar nicht alle
Einrichtungen der Sozialarbeit gleichermaßen; in der Erziehungsberatung
z. B. scheint es so zu sein, daß dort die Gesamtbevölkerung annähernd
gleichmäßig repräsentiert ist; aber sie ist eher ein Sonderfall. Im
ganzen kann man sagen, daß diejenigen Menschen, mit denen Sozialarbeit
zu tun hat, sich in bestimmten sozialen Schichten häufen, und das läßt
die Annahme häufig erscheinen, daß es sich hier um einen Sachverhalt
handelt, der für unsere Gesellschaft strukturell ist: In unserer
Gesellschaft gibt es nach wie vor große Bereiche, in denen die
Lebenschancen weit geringer als in anderen sind, in denen prinzipiell
der heranwachsenden Generation nicht dasjenige vermittelt werden kann,
was als das Recht auf Bildung und gleiche Lebenschancen der Bürger in
einer demokratischen Gesellschaft zu bezeichnen ist. Wir brauchen uns
nur die Siedlungsstrukturen unserer Großstädte anzusehen, die Häufung
von ökonomischen, pädagogischen, fürsorgerischen, schulischen
Mangelsituationen, um zu erkennen, daß wir zwar eine demokratisch
verfaßte Gesellschaft haben, aber auf dem Unterbau einer
undemokratischen Verteilung der Lernchancen.
-
2.
[031:14] Sozialarbeit hat es zu tun mit dem moralischen Anspruch
eines bürgerlichen Berufsstandes gegenüber Klienten, denen dieser
Anspruch fremd ist. Man sollte sich immer wieder klar machen, daß der
Berufsstand der Sozialarbeiter, und über ihn hinaus nahezu alle
pädagogischen Berufe, dem bürgerlichen Typus von Wertorientierung
zugehören. Das ist zwar nicht bei jedem einzelnen Sozialarbeiter der
Fall, denn der Sozialarbeiterberuf ist ein Aufstiegsberuf. Der Anteil
derer, die selbst aus den Schichten stammen, denen die Klienten
zugehören, ist in dieser Berufsgruppe größer als in vergleichbaren, z.
T. pädagogischen Berufen. Wir wissen aber, daß Aufstiegsstreben
einhergeht mit einer besonders intensiven Identifikation mit dem
Wertbewußtsein derjenigen Schicht, in die man aufsteigen will. Das
bedeutet eine Gefährdung seines Berufsbewußtseins, die sich der
Sozialarbeiter deutlich machen muß; eine Art Deformation professionell, die aus der Schichtenproblematik erwächst, in
der er sich befindet. Wir brauchen uns nur zu fragen, welche eigentlich
die geistigen Güter sind, die wir für wertvoll halten, was wir
eigentlich unter einem sinnvollen Leben oder einer sinnvollen Freizeit
verstehen, wie wir eigentlich auf angeblich ungepflegte Haare oder
angeblich ungewaschene Hälse reagieren, ich fürchte, daß die
kleinbürgerliche Barbarei der sogenannten Springer-Zeitungen in den
Wertorientierungen etwas repräsentiert, das ein Bestandteil des
bürgerlichen Wertbewußtseins überhaupt und damit auch der sozialen und
pädagogischen Berufe ist.
-
3.
[031:15] Sozialarbeit hat es mit einer Gesellschaft zu tun, die sie
verleugnet. Seit vielen Jahren schon diskutiert unsere Öffentlichkeit
den Bildungsnotstand, die Bildungskatastrophe. |a 134|Gewiß werden hier die Defizite dieser Gesellschaft, insbesondere im
Hinblick auf ihren |b 12|Demokratisierungsprozeß,
besonders deutlich. Es ist aber, wie mir scheint kein Zufall, daß in dieser schon lange andauernden Diskussion
die Sozialarbeit keine Rolle spielt. Es ist kein Zufall, daß über
Sozialarbeit und Jugendhilfe kaum mit öffentlicher Wirksamkeit
diskutiert wird. Das ist erklärlich: am Bildungswesen ist jedermann
interessiert kraft seines eigenen Interesses an der Teilnahme an den
Gütern dieser Gesellschaft. Das Bildungswesen verspricht ihm den
sichersten Weg zu diesem Ziel. An Sozialarbeit kann nicht jeder kraft
seines eigenen Interesses interessiert sein, denn ihre Dienste gelten
einer Gruppe, der man selbst in der Regel nicht zugehört.
-
4.
[031:16] Die Sozialarbeit hat es mit der Tatsache zu tun, daß sowohl
die Sozialarbeiter wie auch ihre Klienten eine soziale Minorität
darstellen. Die gesellschaftliche Macht der Sozialarbeit steht in einem
Mißverhältnis zu dem Gewicht, das die Interessen haben müßten, die sie
vertritt und die darin zum Ausdruck kommen, daß an dieser Stelle der
Gesellschaft das demokratische Defizit noch einmal sehr nachdrücklich
formuliert wird. Sozialarbeit bietet keine ökonomisch verwertbare
Leistung. Es ist deshalb schwer, für diese Minorität eine besondere
Aufmerksamkeit zu fordern und schwer, im Hinblick auf ihre Interessen
Solidarität zu verlangen. Ebenso stellen die von den Sozialarbeitern
betreuten oder von der Sozialarbeit betreuten Minderheiten kein
ökonomisch gewichtiges Potential dar. Die Gefahr einer solchen Situation
ist die nicht mehr politische, sondern sentimentale Solidarisierung mit
der Gruppe der Klienten und wiederum des Rückzuges in ein karitatives
Selbstverständnis: resignative Anpassung an das Bestehende. Das aber
bedeutet eine neuerliche Ideologisierung der Selbstrolle und des
Selbstverständnisses statt einer politischen Reflektion dieses
Konfliktes. In dieser Lage ist der Sozialarbeiter besonders der
Verführung ausgesetzt, die in dem Begriff des Gemeinwohls liegt. Er darf
sich als Repräsentant der Gemeinschaft und ihrer Ordnungen fühlen; er
ist Repräsentant von integrierten Trägerverbänden; er ist diesen oder
den kommunalen Ordnungen gegenüber verantwortlich und von ihnen abhängig
als denen, die ihm Arbeit geben und ihm Selbstbewußtsein und
Selbstsicherheit leihen können. Da ist es wenigstens verständlich, wenn
er sich einem Sprachgebrauch anschließt, der nicht der legitime
Sprachgebrauch der Klienten ist, sondern der Sprachgebrauch derer, die
in der Gesellschaft die herrschenden Gruppen stellen.
[031:17] Ich habe versucht zu zeigen, wie der gesellschaftspolitische
Konflikt, in dem sich die Sozialarbeit befindet, nicht nur die beteiligten
Berufe, sondern auch die Klienten betrifft, und daß beide, durch die
Allgemeinheit der sozialstrukturellen Bedingungen vermittelt, notwendig
zusammengehören. Der Sozialarbeiter aber ist seiner Rolle nach nicht nur
Repräsentant der Ordnung, sondern vornehmlich Anwalt seiner Klienten. Ein
Anwalt ist ein Interessenvertreter: Am Anfang des Demokratisierungsprozesses
stand jene immer wieder mit Recht zitierte These von Jean Jacques
Rousseau, die besagte, daß im Hinblick
auf die Probleme einer demokratischen Erziehung das Recht des Kindes, das
Recht des einzelnen Menschen auf Glück gegen alle anderen Ansprüche zu
sichern oder durchzusetzen sei. Der Sinn dieser These war das Interesse an
einer humanen Existenz gegenüber einer Gesellschaft, die solche Existenz zu
sichern nicht in der Lage war. Seitdem gehört es zum Bestand des
demokratischen Selbstverständnisses, daß alles Lernen unter dem
Gesichtspunkt des Interesses der Lernenden beurteilt werden muß, also an die
Interessen des einzelnen, seine gesellschaftliche Position und seine
Lebenschancen gebunden ist. Dieses Postulat gilt für alle Berufe, die den
Menschen zum
»Gegenspieler«
haben. Damit ist aber
zugleich ein fundamentaler Rollenwiderspruch formuliert, der für |a 135|alle diese Berufe dadurch bestimmt ist, daß jeder,
der einen solchen Beruf ausübt, in dem Spannungsfeld zwischen zwei in ihren
Erwartungen sich widersprechenden Bezugsgruppen steht: zwischen der Gruppe
derer, denen er zu ihrem Interesse verhelfen will, und der Gruppe derer, die
an der Integration jener Gruppe interessiert ist; zwischen denjenigen also,
deren objektives Interesse an Humanität in dieser Gesellschaft nicht
befriedigt wird, und denjenigen, die solche Interpretation für einen
überspannten Gedanken halten.
[031:18] Durch die Art seines Auftrages muß die Tätigkeit des
Sozialarbeiters deshalb durch soziale Interessen geleitet sein. Sein
Selbstverständnis hat den legitimen Anknüpfungspunkt nicht in den Interessen
seiner eigenen sozialen Herkunft oder in den Interessen der ihn
beauftragenden sozialen Gruppen, sondern im Interesse der von ihm Betreuten
an der Emanzipation aus ihrer unterprivilegierten Lage. Das Thema seiner
Tätigkeit ist |b 13|deshalb nicht nur der Konflikt, seine
Ursachen und seine Behebung, sondern das interessegeleitete Lernen der
Klienten unter den Bedingungen sozialer Konflikte.
[031:19] Was ich für die Sozialarbeit zu formulieren versucht habe, hat
Herbert Marcuse
als das Dilemma bestimmt, in dem sich jeder befindet, der heute versucht,
gesellschaftlich relevante Phänomene im Hinblick auf Zukunftsprognosen zu
analysieren. Er sagt von seinem Buch
»Der
eindimensionale Mensch«
, es schwanke durchweg zwischen
zwei einander widersprechender Hypothesen:
»1. daß die fortgeschrittene Industriegesellschaft
imstande ist, eine qualitative Änderung für die absehbare Zukunft zu
unterbinden; 2. daß Kräfte und Tendenzen vorhanden sind, die diese
Eindämmung durchbrechen und die Gesellschaft sprengen können. Ich
glaube nicht, daß eine klare Antwort gegeben werden kann. Beide
Tendenzen bestehen nebeneinander und sogar die eine in der anderen.
Die erste Tendenz ist die herrschende, und alle Vorbedingungen eines
Umschwungs, die es geben mag, werden benutzt, ihn zu verhindern.
Vielleicht kann ein Unglück die Lage ändern, aber solange nicht die
Anerkennung dessen, was getan und was verhindert wird, was Bewußtsein und Verhalten des Menschen umwälzt, wird nicht
einmal eine Katastrophe eine Änderung herbeiführen.«
Ich teile diesen Pessimismus nicht. Ich teile ihn insbesondere im
Hinblick auf die Sozialarbeit nicht, sofern es dem Sozialarbeiter gelingt,
ein politisches Verständnis seiner Rolle zu erringen, das aus der Einsicht
in die Lage der Klienten politische Energie zu schlagen vermag.