Das Kinder-System [Textkritische interaktive Ansicht mit a als Leittext]
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Das Kinder-System

[054:273] In unseren bisherigen Erörterungen mag der Eindruck entstanden sein, daß Verhalten und Bildung der Kinder vollständig von den Erwachsenen, den Eltern, abhängen. Tatsächlich kann man sich diese Zusammenhänge als eine lineare Ursachenkette denken; ein solches Modell wird auch nicht selten im Bereich der Familien- und Sozialisationsforschung verwendet, beispielsweise in der folgenden Form:
[054:274] Die unzureichende materielle und soziale Situation, in der ein Kind heranwächst, führt zu (ist hinreichende Ursache für) einem relativ eingeschränkten Bildungsniveau; dieses hat zur Folge (ist hinreichend Ursache für) eine Berufstätigkeit an den unteren Rängen des Systems der Arbeitsteilung; daraus folgt sowohl die Orientierung an Verkehrsformen, die in der entsprechenden sozialen Lage üblich sind, wie auch die Gattenwahl; in der Ehe wiederholen sich, in der Form von Rollenzuschreibungen und Beziehungsproblemen, jene Verkehrsformen in einer familienspezifischen Weise; dadurch wachsen die Kinder durch Imitation des Erwachsenenverhaltens und durch die Sanktionsgewalt der Eltern über die Kinder in eben diese Verkehrsformen hinein, werden in ihrem Sinne gebildet; die Folge ist, daß ihr Bildungsgang dem der Eltern analog verläuft – die Geschichte beginnt wieder von vorn.
[054:275] Aus der zunächst angenommenen linearen Abhängigkeit der einzelnen Faktoren voneinander wird – durch die Abbildung dieser Denkweise auf einen Lebenslauf – ein Zirkel. Die Familienerziehung erscheint als ein Glied in einer längeren Kette sozialer Ereignisse, gleichsam unausweichlich oder – wie es häufig in mißbräuchlicher Verwendung dieses Ausdrucks heißt –
»notwendig«
. Nach einem solchen Modell sind innerhalb des Zirkels natürlich noch weitere Faktoren (besonders Schule und Berufsausbildung) anzunehmen, wenn der Lebenszyklus voll erfaßt werden soll. Hurrelmann hat das in einer schematischen Darstellung des
»zirkulären Verlaufs des Sozialisationsprozesses«
getan (siehe S. 78).
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(entnommen aus: Hurrelmann 1975, S. 140).
[054:276] Gegen eine solche Modell-Vorstellung ist nichts einzuwenden, wenn sie sich als bestätigungsfähig erweist und wenn die im Modell unterstellten Abhängigkeiten (Hypothesen) zwischen den einzelnen Gliedern der Kette sich durch empirische Prüfung als gültig herausgestellt haben. Indessen repräsentiert dieses Modell (wie prinzipiell jedes
»Bild«
, das wir uns von der |A 78| A
»Wirklichkeit«
machen) nur eine von vielen möglichen Sichtweisen. Es hebt deshalb auch einige Probleme besonders hervor, andere tauchen darin gar nicht auf, z. B. folgende:
[054:277] Man muß das familiale Lernfeld nicht im Hinblick auf seine Homogenität, die Gleichartigkeit ihrer einzelnen Elemente betrachten, sondern man kann die Aufmerksamkeit ebensogut gerade auf die Ungleichartigkeiten richten, die in der Familie, und zwar gleichzeitig, auftauchen. Was geschieht z. B., wenn die Erwartungen, die die Erwachsenen an das Kind richten, nicht übereinstimmen? Was geschieht, wenn das Kind Meinungsverschiedenheiten zwischen den Eltern beobachtet, die nicht zugunsten eines Elternteils entschieden werden? Was ge|a 79|schieht, wenn im Kind Bedürfnisse, Wünsche, Motive entstehen, die in der Familie keine Befriedigungs- und Handlungschancen haben, ohne allerdings derart durch Sanktionen bedroht zu sein wie im Falle des Familien-Protokolls im vorigen Abschnitt? Fälle dieser Art sind nur interpretierbar, wenn wir eine Eigentätigkeit des Kin|A 79|des annehmen, die sich jenem Zirkel nicht voll integrieren läßt. Angesichts offener Probleme, angesichts von Widersprüchen und Konflikten stellt es seine Tätigkeit ja nicht ein; es kann sich – wenigstens der Möglichkeit nach – produktiv verhalten, sei es, daß es trotz des Machtgefälles zwischen Erwachsenen und Kindern eine Position im Eltern-Kind-System nachdrücklich zur Geltung zu bringen sucht, sei es, daß es in der sozialen Beziehung zu seinen Geschwistern oder anderen Kindern sich ein Feld für eigene Aktionen verschafft. Die erste Möglichkeit steht dem Kind nur offen, wenn das Kontrollverhalten der Eltern es zuläßt; die zweite Möglichkeit ist dem Kind nur in pathologischen Grenzfällen verschlossen: Die Geschwister-Beziehungen bilden im Regelfall ein Subsystem der Familie, zunächst auf die eigenen Geschwister beschränkt, tendenziell aber immer auch andere Kinder schon miteinbeziehend. Zur Geschwister-Konstellation ein Beispiel:
[054:278]
...
»Du kannst überhaupt nichts ausstehen.«

Als sie das sagte, wurde ich noch viel deprimierter.
»Doch. Doch sicher. Sag das nicht. Warum zum Kuckuck sagst du so etwas?«

»Weil du gar nichts gern hast. Die Schule hast du nicht gern, und überhaupt alles hast du nicht gern. Einfach nichts.«

»Doch! Da täuschst du dich – in dem Punkt täuschst du dich wirklich! Warum zum Kuckuck mußt du so etwas sagen?«

Herr im Himmel, sie deprimierte mich wahnsinnig.
»Weil es so ist«
, sagte sie.
»Oder sag irgend etwas, was du gern hast.«

»Irgend etwas? Was ich gern habe?«
fragte ich.
»Schön.«
Dummerweise konnte ich mich nicht richtig konzentrieren. Manchmal ist das schwierig ...
»Du kannst überhaupt nichts aufzählen?«

»Doch, das kann ich. Doch, das kann ich.«

»Gut, dann sag’s.«

»Allie hab ich gern«
, sagte ich.
»Und was ich grade jetzt tue. Hier bei dir sitzen und reden und an alles Mögliche denken und –«
...
»Das ist nicht wirklich etwas!«

»Allerdings ist das wirklich etwas! Selbstverständlich! Warum zum Kuckuck denn nicht? Die Leute meinen immer, etwas sei nicht wirklich etwas. Das habe ich allmählich schon verdammt satt.«

»Hör auf zu fluchen. Also schön, sag etwas anderes. Sag etwas, was du gern sein möchtest.«
...
»Weißt du, was ich gern sein möchte?«
fragte ich.
»Weißt du, was ich sein möchte? Ich meine, wenn ich die Wahl hätte?«

»Was? Fluch nicht so.«

»Kennst du das Lied
Wenn einer einen anderen fängt, der durch den Roggen läuft
? ich wäre gern –«
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»Es heißt
Wenn einer einen anderen trifft, der durch den Roggen läuft
«
! sagte Phoebe.
»Das ist ein Gedicht von Robert Burns«

»Das weiß ich auch, daß es ein Gedicht von Robert Burns ist.«

Sie hatte aber ganz recht. Es heißt
Wenn einer einen anderen trifft, der durch den Roggen läuft
. Damals wußte ich das allerdings noch nicht.
»Ich dachte, es hieße
Wenn einer einen anderen fängt
«
, sagte ich.
»Aber jedenfalls stelle ich mir immer kleine Kinder vor, die in einem Roggenfeld ein Spiel machen. Tausende von kleinen Kindern, und keiner wäre in der Nähe – kein Erwachsener, meine ich – außer mir. Und ich würde am Rande einer verrückten Klippe stehen. Ich müßte alle festhalten, die über die Klippe hinauslaufen wollen – ich meine, wenn sie nicht achtgeben, wohin sie rennen, müßte ich vorspringen und sie fangen. Das wäre alles, was ich den ganzen Tag lang tun würde. Ich wäre einfach der Fänger im Roggen. Ich weiß schon, daß das verrückt ist, aber das ist das einzige, was ich wirklich gern wäre. Ich weiß natürlich, daß das verrückt ist.«

(Salinger 1962, S. 215 ff.)
[054:279] Schon im Sprachspiel zeigt sich die Eigentümlichkeit dieses familialen Subsystems. Frage und Antwort unterliegen nicht dem Druck elterlicher Gewalt; die Überlegenheit des Jungen ist lediglich die Überlegenheit des fortgeschritteneren Bildungsprozesses, seine Rede ist komplexer. Außerdem beruht das Gespräch zwischen den Geschwistern auf einer Übereinkunft, aus der die Erwachsenen ausgeschlossen sind und in der Anzeichen einer kindlichen Gegenwelt auftauchen, in der Probleme sagbar werden, die vor den Standards der Erwachsenen keinen Bestand hätten (
»Die Leute meinen immer, etwas sei nicht wirklich etwas«
), eine Gegenwelt vor allem, in der andere Relevanz-Kriterien Geltung haben, in der Bedeutsames und Bedeutungsloses anders verteilt ist. Zu sagen, daß das eben die Phantasiewelt der Kinder ausmache, hieße das Problem verharmlosen. Die kindlich-jugendliche Utopie des
»Fängers im Roggen«
ist eben nur an ihrer einen Seite phantastisch; an der anderen ist sie der Ausdruck eines auf eine bestimmte Form sozialer Beziehung gerichteten Willens, der hier in den Symbolen des Spiels und des Schutzes verschlüsselt ist. Der Sprecher-Schreiber des zitierten Textes symbolisiert in dem
»Fänger«
nichts anderes als die Funktion, die er den Erwachsenen, Erziehern, Eltern zuschreiben möchte; im Spiel symbolisiert er die Tatsache, daß das Netz von Beziehungen, das Kinder unter sich im Spiel entfalten, durchaus den Charakter einer Sozietät hat, er weiß freilich,
»daß das verrückt ist«
, aber das Bild drückt dennoch seinen dringendsten Wunsch aus. Daß solche Utopie sich nicht außer|A 81|halb, sondern allenfalls am Rande der
»Realität«
bewegt, zeigt ein von Anna Freud berichtetes Beispiel, allerdings durch barbarische Umstände erzwungen:
[054:280]
»A. Freud und S. Dann (1961/62) berichten von einer Gruppe von sechs jüdischen Kleinkindern, die seit dem frühesten Alter im Konzentrationslager gelebt und ihre Eltern verloren hatten und auch keine Beziehungen zu anderen Erwachsenen anknüpfen konnten. Als sie nach Kriegsende nach England gebracht wurden, zeigte sich, daß die Kinder sich eng aneinander angeschlossen hatten, sie stellten eine fest verbundene Gruppe dar und konnten es nicht ertragen, wenn ein Kind auch nur für kurze Zeit von |a 81|den anderen getrennt wurde. Neid und Wettstreit gab es zwischen ihnen nicht. Ihre Liebe hatte sich anstatt den Eltern oder vertrauten Erwachsenen den Gleichaltrigen zugewandt«
(Hundertmarck 1969, S. 14).
[054:281] Dies hat nun mit
»Spiel«
, wenn überhaupt, dann nur noch sehr entfernt etwas zu tun. Aber selbst in diesem extremen Fall tritt etwas von der oben erwähnten Utopie hervor, für die andere Regeln gelten als unter dem unmittelbaren Zugriff der Erwachsenen. Die Übernahme von
»Rollen«
, von dauerhaftem sozialen Verhalten anderen gegenüber, wird also nicht nur in der Beziehung zu den Erwachsenen gelernt – wiewohl dort allemal die Voraussetzungen erworben werden –, sondern auch in den Beziehungen der
»Kinderwelt«
. Die für die antiautoritäre Kinderladen-Bewegung wie auch für die
»Free-School-Bewegung«
leitende Vorstellung, die Kinder müßten in Auseinandersetzung mit ihresgleichen ihr soziales Handeln selbst regulieren (Claßen 1975), hat darin ihre Begründung. Soziales Verhalten von Kindern, ebenso wie ihr Umgang mit den Gegenständen ihrer Wahrnehmung und ihrer Einbildungskraft, sind immer auch mehr als eine Wiederholung, eine
»Reproduktion«
dessen, was in der Gesellschaft der Erwachsenen geschieht (die Frage ist nur, wie lange es sich halten kann angesichts der täglich erfahrenen Übermacht der Erwartungen von Eltern, Nachbarn und Bildungseinrichtungen).
[054:282] In dem kurzen
»Aufsatz«
eines etwa 10jährigen Mädchens aus einem
»Schülerladen«
zum Vergleich zwischen
»Schülerladen und Zuhause«
heißt es:
[054:283]
»Zu Hause muß ich hören, was meine Eltern sagen, aber hier darf ich mich so benehmen, wie ich es für richtig halte. Wenn hier mal jemand einen Ausdruck sagt, dann wird es gar nicht ernst genommen, im Gegenteil zu meinem Elternhaus, dort muß ich mich wie ein Mädchen benehmen, sagen meine Eltern. Hier wird mir bei den Schularbeiten geholfen, aber zu Hause hat niemand Zeit für mich, denn meine Eltern |A 82|haben nie Zeit, weil wir vier Kinder sind und meine Eltern alle beide arbeiten müssen, können sie sich nicht um uns kümmern, aber im Schülerladen kann man uns helfen, denn da sind sie für uns da. [054:284] Wenn ich zu Hause mal etwas kaputt mache, dann werde ich gleich angemeckert. Hier im Schülerladen ist das gar nicht so schlimm. Hier dürfen wir auch ab und zu mal rumtoben. Zu Hause heißt es immer gleich seid doch still, was sollen denn die Mieter von uns denken usw. Wenn man in der Wohnung laut ist, dann beschweren sich die Mieter beim Hauswart, und man wird gekündigt. Im Schülerladen dürfen wir auch nicht laut sein, aber wir dürfen uns doch immerhin noch so benehmen, wie wir es wollen. Wenn uns keiner was verbietet, können wir von uns aus leise sein«
(Autorenkollektiv 1971, S. 292)
.
[054:285] Die Orientierungen innerhalb des Kinder-Systems bilden, das zeigt sich an diesem Beispiel, eine Gegenwelt auch insofern, als sie sich auf die herrschaftsbestimmten Alltagserfahrungen beziehen, auf deren Belastungen und Verbote, Anforderungen und Tabus, und häufig nur Umkehrungen sind: Dem Verbot wird das Bedürfnis, der Vereinzelung die Gemeinsamkeit, der Leistung die Phantasie, dem Tabu die karikierende Offenheit entgegengesetzt. Es charakterisiert unser Verhältnis zu diesem Aspekt des Bildungsprozesses, daß die Erzie|a 82|hungsforschung sich bisher fast ausschließlich den von Erwachsenen kontrollierten Formen des Lernens zugewandt hat. Aussagen über das Kinder-Subsystem der Familie, aber auch über andere nicht durch den Eingriff von Erwachsenen bestimmte Handlungsfelder gleichaltriger Kinder, sind nahezu notwendig Vermutungen oder Berichte über subjektiv Erfahrenes. Indes gibt es doch schon einige Anhaltspunkte:
[054:286] 1. Daß Geschwister innerhalb der Familie ein eigenes Subsystem von Regeln und Inhalten ausbilden oder ausbilden können, hat sich in der Zwillingsforschung gezeigt. Die Kommunikation zwischen den Geschwistern kann so dicht werden, daß ein Zusammenhang spezifischer Symbole und Inhalte entsteht, der für Außenstehende nur noch schwer zu entschlüsseln ist. Insbesondere erreichen – was unter Kindern ohnehin noch stärker ausgeprägt ist als unter Erwachsenen – die nicht-sprachlichen Formen der Verständigung einen hohen Ausbildungsgrad und bewirken eine Abschließung gegen die soziale Umwelt. Diese Eigenständigkeit, da sie unter anderem auf Kommunikationsmerkmalen beruht, die öffentlich schwer zugänglich sind, also auf Privatsprache innerhalb eines Zweier-Systems, bedeutet gleichzeitig auch relative Nicht-Teilhabe an dem weiteren kommunikativen Geschehen, damit auch Einschränkung von Lern|A 83|perspektiven und Zurückbleiben des Bildungsprozesses (Lurija/Judowitsch 1970).
[054:287] 2. Als eigentliche Domäne der
»Kinderwelt«
galt seit je das Spiel (Flitner 1972). Markiert in der Kommunikation die Sprache bzw. die symbolische Funktion von Gesten den Anbindungspunkt des Kinder-Systems an das Erwachsenen-System, so ist es im Spiel die Tatsache, daß hier antizipierend gelernt wird, die kulturellen Gehalte in der Form von Spielen abbildend und in den Spielraum des Kindes transformierend. Das aber ist – wie wir schon gesagt haben – nur die eine Seite. Kinderspiele haben eine eigentümliche historische Konstanz; das rollenartige Durchspielen der an den Leib gebundenen Grundprobleme des familialen Haushaltes (Kochen, Pflegen, Heilen usw.), Ballspiele, Blinde Kuh, Reifen springen, Windmühle, Laufspiele, Drachen steigen usw. sind offenbar sowohl von historischen wie sozialen Umständen wenigstens relativ unabhängig oder ändern sich in wesentlich langsameren Rhythmen, als das in der Erwachsenen-Kultur der Fall ist (vgl. Boesch 1900). Dennoch ist der pädagogische Eingriff in diese Sphäre unverkennbar. Die ambivalente Einstellung der Eltern zur relativen Eigenständigkeit des Kinder-Subsystems ist im Kinderzimmer gleichsam architektonisch symbolisiert: Es sind eben die Eltern, die innerhalb des familialen Lebensraums das Kinderzimmer ausgrenzen und so eine Balance versuchen zwischen den kindlichen Bedürfnissen und ihren eigenen Kontroll-Interessen.
[054:288] 3. Im Spiel werden ferner Grundmuster der Interaktion erworben und stabilisiert. Nicht nur die Interaktionen mit den Eltern und die Wahrnehmungen der Beziehungen zwischen Mutter und Vater, sondern auch die Interaktionen der Kinder untereinander bilden den notwendigen Rahmen für den Erwerb der Fähigkeiten des interpersonellen Handelns (Flavell 1975). Im folgenden Bei|a 83|spiel wird zwar nicht über eine Geschwistergruppe berichtet; die Art der beobachteten Ereignisse aber gleicht dem Geschehen in Geschwister-Gruppen hinreichend, um sie hier zu diskutieren.
[054:289]
»Uwe (3;10) sitzt mit Hans (4;3) an der Tür. Beide haben kleine Lastautos beladen. Uwe liegt auf der Erde, macht Autogeräusche nach, fährt an der Puppenecke vorbei. Er stößt Hans an, der protestiert, Uwe bleibt stehen. Hans:
Du brauchst hier nichts zu machen!
Uwe bleibt da, er sieht Sigrid (4;8) zu, die eine Puppe in den Puppenwagen setzt. Monika (3;3), die dabeisteht, ruft:
Du sollst hier weggehen!
Uwe läßt das Auto ein Stück weit fahren, kippt dann die Steine aus. Monika tritt mit den Füßen dagegen, schiebt ihm dann aber einige Steine zu, die in die Puppenecke gefallen waren. Er belädt |A 84|nun auch das Auto, das Hans stehengelassen hat, und bringt es Hans, der wieder in der Bauecke ist. Hans baut einen sehr hohen Turm . Uwe läuft sechsmal mit Bausteinen zu ihm, sieht dann Peters Turm an und gibt die Steine nun abwechselnd Hans und Peter«
(Hundertmarck 1969, S. 20)
.
[054:290] In noch unausgebildeter Form deuten sich an diesem Beispiel verschiedene Fähigkeiten (Kompetenzen) an. Das Übernehmen einer Position (Autofahrer, Mutter); das Beobachten und Entschlüsseln der Handlungen und Äußerungen anderer (die beobachtende Haltung Uwes; der Protest:
»Du brauchst hier nichts zu machen«
); das Sich-Hineinversetzen in die Motive und Handlungsabsichten anderer, d. h. die Übernahme einer Rolle in bezug auf die Rolle des anderen (... belädt das Auto ... und bringt es Hans); die Kooperation in einem gemeinsamen Handlungskontext ( ... läuft sechsmal mit Bausteinen ... und gibt die Steine nun abwechselnd Hans und Peter). Die Beschreibung übernimmt offenbar die Perspektive Uwes; stünde Sigrid im Mittelpunkt der Darstellung, so würden sich vermutlich auch die Ereignisse anders anordnen; sie ist die Älteste in der Gruppe. Damit soll darauf hingewiesen werden, daß Hierarchien, die sonst nur in der von den Eltern abhängigen Position erlebt werden, auch im Kindersystem auftreten und daß dort, im Unterschied zur Beziehung zu den Eltern, vom Kinde selbst die Rolle des Älteren, Stärkeren, Fähigeren, Dominanten eingenommen werden kann.
[054:291] 4. Die nahezu ununterbrochene Nötigung, zwischen eigenen Impulsen (Bedürfnissen, Triebwünschen) und den von der Erwachsenen-Kultur nur zugelassenen Inhalten und Handlungen eine erträgliche Balance herzustellen, erzeugt die kindlichen Interaktionsrituale, die vor allem im Kindervers einen sprachlichen Ausdruck gefunden haben.
[054:292]
»Den Kindervers begreifen wollen, heißt, ihn in seinen sozialen Funktionen sehen und seine unterschiedlichen Erscheinungsformen als Funktionsmodelle. Wenn er nämlich etwas nicht ist, so etwa ein schönes Spielzeug des behüteten Einzelkindes. Auch als Unmutsventil ist er nicht zu trennen von einer Gemeinschaft der Unmutigen und ihrem Wunsch zur kollektiven Willenskundgebung. Auch als Ausdrucksmittel dient er vornehmlich dem Ausdruck einer verschworenen Spießgesellschaft, ja er ermöglicht überhaupt erst die Verschwörung. Was ohne ihn in ohnmächtiger Isolierung verharren müßte, weil es über keinerlei technischen Organisationsapparat verfügt, dem bietet sich hier ein differenziertes und doch wieder handliches Instrumentarium dar, geeignet, die dringendsten Sozialprobleme gemeinschaftlich zu erledigen. [054:293] |A 85||a 84|Er dient allerdings nicht allein der Regelung außenpolitischer Belange und der Grenzziehung gegenüber der institutionalisierten Autorität. Gleich unentbehrlich scheint seine Anwesenheit in allen möglichen internen Interessenstreitigkeiten. Bedenken wir bitte, daß gerade in so flüchtigen, mehr oder minder zufällig sich konstituierenden Gemeinschaften wie es Spielhorden, Straßenbekanntschaften, Kindergartencliquen sind, zunächst einmal alles strittig ist. Da taucht zum Beispiel immer wieder neu und dringend die Frage nach den Eigentumsverhältnissen auf; weshalb denn auch so Sprüchlein wie
Geschenkt ist geschenkt / Und Wiederholen ist gestohlen
unentbehrlich sind. Eine ständige Beunruhigung geht zwangsläufig von solchen Individuen aus, die dazu neigen, Gruppengeheimnisse an die Erziehungsbevollmächtigten zu verraten; also versucht man, die Denunzianten, Petzer, Streikbrecher, wo man sie rechtlich schwer belangen kann, zumindest unter moralischen Druck zu setzen:
Klafferkatt / Go no Stadt / Käup Di’n Putt vull Fiegen / Kannst Du gaut no swiegen
. Oder wie soll man sich etwa bündig gegen den Lügner versichern, einen Typus, der jedes Vertrauensverhältnis von Grund auf zunichte macht? Wie gegen den Angeber, der sich mit ungedeckten Versprechungen Vorteile erschleicht? Wie schließlich gegen die Wehleidigkeit, den weinerlichen Angsthasen, die beleidigte Leberwurst, die auf ihre Weise zum Spielverderber werden und die ungeschriebenen Solidaritätsgesetze verletzen? Nun, brachialer Terror erweist sich auch hier meist als das schlechteste aller Sozialisierungsmittel, und weil es zwar nicht an Klägern, wohl aber an Richtern und einem funktionskräftigen Justizapparat fehlt, übernimmt die Klage gleichzeitig den Part der Anklage, des Bannspruchs, der moralischen Pression«
(Rühmkorf 1967, S. 78 f.)
.
[054:294] Kinderverse sind ein sehr subtiles Mittel für Verhaltensregulierung; zugleich aber auch sind sie ein Mittel, unterdrückte Gehalte zur Sprache bringen zu können: Angriff gegen die Erwachsenen, fäkale und genitale Phantasien, Lügengeschichten und Sinn-Verdrehungen oder die Trivialisierung der pathetischen Rituale der Erwachsenen-Kultur (
»Macht hoch die Tür / die Tor macht auf / es kommt der Herr / im Dauerlauf«
). Dabei handelt es sich keineswegs nur, wie mancher meinen mag, um Form-Probleme. Einerseits ist, direkt oder indirekt, im Kindervers immer auch die normative Orientierung des Verhaltens angesprochen; die Auseinandersetzung mit den sozialen Normen, mit Verhaltenserwartungen von Erwachsenen und Gleichaltrigen, ist ja ein wesentlicher Inhalt des Lebens des Kindes. Andererseits sind auch die Taktiken des interpersonellen Verkehrs Inhalt kindlichen Lernens. Das Wahrnehmen des anderen, das Deuten seiner Motive, das Erkennen-Können seiner Absichten, das Regulieren von Streit-Situationen, das Herstellen von Gemeinsamkeit usw.
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Zusammenfassung

[054:295] Im Durchgang durch die Aspekte der familialen Lebenswelt, des Ehe-, Eltern-Kind- und Kinder-Systems haben wir eine Fülle von Begriffen verwendet, Dimensionen ermittelt, Betrachtungsweisen durchgespielt – immer allerdings in lockerer Interpretation und nicht durchweg systematisch, nicht immer empirisch gesichert, von Beispielen und nicht von den Ergebnissen der Forschung |a 85|ausgehend. Aber auch in dieser wenig strengen Form der Darstellung waren natürlich theoretische Annahmen leitend. Ehe wir in den folgenden Kapiteln diese Annahmen, ihre theoretischen Traditionen und praktischen Bedeutsamkeiten diskutieren, versuchen wir hier eine knappe Zusammenfassung der bisherigen Erörterungen und reduzieren dabei zugleich die Vielfalt der Informationen auf wenige Grundbegriffe:
  1. 1.
    [054:296] Die gegenwärtige Familie stellt sich ihren Kindern als ein nach Regeln geordnetes Lernmilieu dar, das die Struktur des Alltagshandelns hat – im Unterschied zu den professionell institutionalisierten Lernmilieus wie Kindergarten, Schule, Heim usw. Daß es nach Regeln geordnet ist, bedeutet nicht, daß es ein harmonisches Milieu ist; vielmehr ist die Familie ein Konfliktfeld, ein
    »battleground«
    , in dem verschiedene Bedürfnisse, Erfahrungen und Intentionen aufeinandertreffen und zu einem, wenn auch immer wieder revidierbaren, Konsensus gebracht werden müssen.
  2. 2.
    [054:297] Die Konflikte haben, in grober Einteilung, zwei Quellen: einerseits muß die Familie mit ihren materiellen Bedingungen fertig werden, vor allem mit Einkommen und Beruf, und sie muß diese Bedingungen zu einem halbwegs befriedigenden Stil des innerfamilialen Umgangs verarbeiten. Neben dieser, wie auch immer mittelbaren, Auseinandersetzung mit der
    »äußeren Natur«
    muß sie andererseits die Probleme der
    »inneren Natur«
    bewältigen: sie muß dem zunächst nur biologisch bestimmten Organismus des Kindes ein Bildungsangebot machen, das es diesem ermöglicht, im Prozeß der Person-Werdung eine Balance zwischen Bedürfnissen und kulturellen Anforderungen (sozialen Erwartungen) zu finden.
  3. 3.
    [054:298] Alle Probleme innerhalb der Familie stellen sich für die Kinder als Probleme der Interaktion dar, und zwar in drei sich überschneidenden Teil-Systemen: die Interaktion zwischen den Eltern, die die Kinder täglich erfahren; die Interaktion zwischen den Eltern und Kindern, die prinzipiell durch Abhängigkeit ge|A 87|kennzeichnet ist; die Interaktion zwischen den Kindern, die durch die Gehalte einer kindlichen
    »Gegenwelt«
    , durch die im Spiel wenigstens streckenweise realisierten Basisregeln von Interaktion eine relative Eigenständigkeit hat.
  4. 4.
    [054:299] In diesen Familien-Interaktionen werden Schemata der Erfahrung präsentiert, an denen das Kind lernt und die es in seine Vorstellungen (Begriffe) und seine Handlungen übernimmt.
  5. 5.
    [054:300] In diesem Interaktionsfeld dominieren die Erwachsenen, spielen sie den herrschenden Part. Ihre Probleme, ihre Interaktionsmuster und Erfahrungs-Schemata sind deshalb Schlüssel-Ereignisse der Familienerziehung.
  6. 6.
    [054:301] Durch tägliches Verflochtensein in Produktion und Konsum haben die Muster und Schemata mindestens in einigen – vermutlich den dominanten – Komponenten ihre
    »Basis«
    außerhalb der Familie. Die gesellschaftlich bestimmenden Verkehrsformen bestimmen so auch die Interaktion in der Familie, werden zu pädagogisch bestimmenden Verkehrsformen.
  7. 7.
    [054:302] Das bedeutet schließlich, daß die Familienerziehung – ihr empirischer Be|a 86|griff – ein durch und durch historisches Phänomen ist. Alles was in ihr geschieht, erhält seine Bedeutung nur durch den geschichtlichen Zusammenhang, dessen Glied sie ist. Sie kann deshalb auch – selbst wenn unsere empirische Phantasie sich das gegenwärtig nicht vorstellen kann – durchaus historisch überflüssig werden; das gilt zumal dann, wenn wir bedenken, daß die Begriffe und Phantasien, die wir über die Familie entwickeln, durch einen Lernprozeß in eben dieser sozialen Institution mindestens mit-gebildet wurden.

Literatur

    [A06:1] Autorenkollektiv am Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin: Sozialistische Projektarbeit am Berliner Schülerladen Rote Freiheit. Frankfurt 1971.
    [A06:2] Boesch, H.: Kinderleben in der deutschen Vergangenheit. Leipzig 1900.
    [A06:3] Classen, J. (Hrsg.): Antiautoritäre Erziehung in der wissenschaftlichen Diskussion. Heidelberg 1975.
    [A06:4] Flavell, J. H. u. a.: Rollenübernahme und Kommunikation bei Kindern. Weinheim, Basel 1975.
    [A06:5] Flitner, A.: Spielen – Lernen. Praxis und Deutung des Kinderspiels. München 1972.
    [A06:6] Hurrelmann, K.: Erziehung und Gesellschaft. Reinbek 1975.
    [A06:7] Lurija, A. R./Judowitsch, F. I.: Die Funktion der Sprache in der geistigen Entwicklung des Kindes. Düsseldorf 1970.
    [A06:8] Rühmkorf, P.: Über das Volksvermögen. Reinbek 1967.
    [A06:9] Salinger, J. D.: Der Fänger im Roggen. Köln, Berlin 1962.
A
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A
(entnommen aus: Hurrelmann 1975, S. 140).
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