
Autorenspiegel
1949 | geboren in Rotenburg/Wümme |
1968 | Abitur an einem Naturwissenschaftlichen Gymnasium in Celle |
1968–1969 | studium generale am Leibniz-Kolleg in Tübingen |
1969 | Jura-Studium in Tübingen, seit 1971 in Göttingen |
1972 | Abbruch des Jurastudiums, verschiedene Gelegenheitsjobs als Kellnerin und Verkäuferin |
1973–1974 | Arbeit als
“Bezugsperson” in einem
Kinderladen |
1974/77 | Studium der Erziehungswissenschaft in Göttingen |
1946 | geboren in Stuttgart; aufgewachsen in Stuttgart (bis 1963) und Frankfurt | |
1966/67 | Ziviler Ersatzdienst | |
1967/74 | Studium der Erziehungswissenschaft, Soziologie, Psychologie und Rechtswissenschaft in Frankfurt | |
1973 | Diplom in Pädagogik | |
1974/77 | Wiss. Assistent am der |
1928 | geboren in Berlin |
1944/48 | Luftwaffenhelfer, Gefangenschaft, Abitur |
1948/50 | Studium an der |
1950/52 | Volksschullehrer in Bremen |
1952/58 | Studium der Pädagogik, Soziologie und Literaturwissenschaft in Hamburg und Göttingen, Promotion |
1958/65 | Wissenschaftlicher Assistent bzw. Akademischer Rat in Göttingen und Berlin () |
1965/77 | Prof. für Pädagogik an der (1965) und an den (1966), (1969) und (1972) |
1943 | geboren in Frankfurt |
1963 | Abitur |
1963–1968 | Studium der Germanistik, Geschichte, Philosophie, Staatsexamen |
1969–1978 | Studium der Erziehungswissenschaften in Frankfurt, Tutor |
1972/77 | Wiss. Assistent am Pädagogischen Seminar der Universität Göttingen |
Studierhinweise
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–[V46:7] Grundprobleme pädagogischer Theoriebildung (Kurs: Einführung in die pädagogische Theoriebildung 1 und 2)
-
–[V46:8] anthropologische Grundkenntnisse (Kurs: Einführung in die Anthropologie der Erziehung 1 und 3)
-
–[V46:9] Grundkenntnisse von Methoden erziehungswissenschaftlicher ForschungB√
Kursübersicht
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1.[V46:13] Einleitung
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2.[V46:14] Zur Geschichte der Kritischen Theorie
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3.[V46:15]“Traditionelle”und“kritische”Theorie
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4.[V46:16] Ästhetische Theorie
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1.[V46:18] Zur Thematik der Kritischen Theorie und ihrer pädagogischen Relevanz
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2.[V46:19] Zur Methode der Kritischen Theorie
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3.[V46:20] Utopie und Ideologie: Zur Normativitätsproblematik
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1.[V46:22] Erziehung als Interaktion
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2.[V46:23] Probleme einer kritischen Didaktik
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3.[V46:24] Zur Methodologie erziehungswissenschaftlicher Forschung
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1.[V46:26] Abweichendes Verhalten – Normalität und Anormalität
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2.[V46:27] Moralische Erziehung – postkonventionelle Moral
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3.[V46:28] Ästhetische Erziehung – kritische Produktivität
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4.[V46:29] Grundregeln des Erziehungshandelns – Erziehung als Vergesellschaftung
LernzieleB√
-
–[V46:31] die für die“Kritische Theorie”charakteristische Kombination von philosophischen und gesellschaftstheoretischen Fragestellungen kennen;
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–[V46:32] die Bedeutsamkeit dieser Fragestellungen für das pädagogische Handeln und seine Ziele, für die Auswahl der Thematik und für die Methoden erziehungswissenschaftlicher Forschung diskutieren können;
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–[V46:33] die Aufnahme und Verarbeitung der Kritischen Theorie in der gegenwärtigen erziehungswissenschaftlichen Diskussion kennen und beurteilen können;
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–[V46:34] beliebige pädagogische Probleme im Sinne der an die“Kritische Theorie”sich anschließenden“Kritischen Erziehungswissenschaft”darstellen können;
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–[V46:35] Vorstellungen von einer Form des Umgangs mit sich selbst und einer Erziehungspraxis entwickeln können, die mit jener Theorie übereinstimmt.
Literaturverzeichnis B√
Einführende bzw. grundlegende Literatur (zur Anschaffung empfohlen)
Grundlegende Literatur (Originaltexte der Kritischen Theorie)
Weiterführende Literatur
Texte zu erziehungswissenschaftlichen Fragestellungen
LiteraturverzeichnisB√
Einführende Literatur (zur Anschaffung empfohlen)
Grundlegende Orininaltexte der Kritischen Theorie
Darstellungen und Kritiken
Weiterführende theoretisch und praktisch relevante Literatur
Nachschlagewerke
Glossar
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affirmativ[V46:123] vorhandene Einstellungen, Vorstellungen, Handlungsmuster, u.a. verstärkend, bekräftigendB√
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Antizipation (antizipatorisch)[V46:124] die Vorwegnahme von für die Zukunft erwarteten oder gewünschten Ereignissen in der Vorstellung
- B√
- B√
-
Deduktion (deduziert)[V46:127] die Ableitung von Begriffen, Sätzen, Hypothesen aus einer vorgegebenen TheorieB√
- B√
- B√
- |B 60|
- B√
- B√
-
Diskurs[V46:132] eine Auseinandersetzung, in der Geltungsansprüche von Sätzen problematisiert und argumentativ überprüft werden, ohne daß andere als argumentative Faktoren den Fortgang der Erörterung wesentlich beeinträchtigen
-
dogmatisch[V46:133] ein Standpunkt, der davon ausgeht, daß für wesentlich gehaltene Behauptungen (Theorien) nicht in Frage gestellt werden können oder dürfen, d.h. der den grundsätzlich hypothetischen Status theoretischer Sätze leugnetB√
- B√
-
Emanzipation (emanzipiert)[V46:135] Befreiung von Zwängen (Herrschaftsverhältnissen, Vorurteilen, Ideologien), die geschichtlich entstanden sind und infolgedessen auch durch weitere geschichtliche Prozesse wiederum abgeschafft werden könnenB√
- |B 61|
-
Erkenntnisinteresse[V46:136] die Richtung, die die theoretische Aufmerksamkeit nimmt (auf bestimmte Gegenstände, Probleme, praktische Fragen), die die Bevorzugung bestimmter Modelle und wissenschaftlicher Verfahren der Erkenntnisgewinnung zur Folge hatB√
- |A [22]|
- |A 23|
-
Geisteswissenschaftliche Pädagogik[V46:137] eine Richtung der Erziehungswissenschaft, die im Anschluß an das Verstehen der historischen Zusammenhänge, innerhalb deren Erziehung geschieht, und der Ausdrucksformen, deren sich die pädagogische Praxis bedient, zur Aufgabe macht; das wesentliche Erkenntnisinstrument war dabei das Interpretieren von Texten (Hermeneutik). Wichtigste Vertreter: , , , B√
- B√
- B√
-
heteronom[V46:140] einer Sache, um die es geht, fremder Bestimmung bzw. fremdem Gesetz folgendB√
- |B 62|
- B√
-
Historizität[V46:142] die Geschichtlichkeit eines Gegenstandes, d.h. daß er sowohl geschichtlich entstanden ist wie auch in der weiteren Geschichte verändert werden kannB√
- B√
-
Ideologie[V46:144] ein Zusammenhang von Sätzen (Behauptungen), der vom Autor als wahr behauptet wird, bei näherer Betrachtung indessen (Ideologiekritik) sich als ein Zusammenhang falscher Sätze über die gesellschaftliche Wirklichkeit erweist, wobei das spezifisch“Falsche”sich seinerseits als Folge historisch-gesellschaftlicher Vorgänge oder Zustände erweisen läßt
- B√
- B√
- B√
-
intersubjektiv[V46:148] verschiedenen Subjekten gemeinsam (z.B. Zeichen, deren Bedeutung von verschiedenen an einer Interaktion beteiligten Personen geteilt wird; Behauptungen, deren Geltung von verschiedenen Personen akzeptiert wird, usw.)B√
- B√
- B√
- B√
- B√
- B√
-
materialistisch[V46:154]
ein theoretischer Standpunkt, in dem davon ausgegangen wird, daß alle sozialen Ereignisse nur zureichend erklärt werden können, wenn sie letzten Endes auf die der menschlichen Gattung eigentümliche Notwendigkeit zurückgeführt werden, daß der Mensch darauf angewiesen ist, seine materielle Existenz durch Arbeit zu sichern (historischer Materialismus)B√ - |A [24]|
- |A 25|
-
Objektivationen[V46:155]
die vom Menschen produzierten, aber dann relativ unabhängig vom einzelnen bestehenden Gestalten, Institutionen, subkulturellen Erscheinungen (z.B. Formen der Arbeit und Arbeitsteilung, soziale Einrichtungen, Texte, usw.)B√ -
objektivistisch[V46:156]
eine Betrachtungsweise sozialer Phänomene, nach der die Spontaneität des einzelnen Individuums keine wesentliche Rolle spielt und statt dessen menschliches Verhalten nur aus den sogenannten objektiv gegebenen Verhältnissen erklärt werden sollB√ - |B 65|
- B√
-
Operationalisierung[V46:158]
die Definition eines Begriffes dadurch, daß angegeben wird, welche Verfahren (Operationen) angewandt werden müssen, um den empirischen Gehalt des Begriffes zu zeigen. (Beispiel: Intelligenz ist, was der Intelligenztest mißt). -
Paradigma[V46:159]
der charakteristische Zusammenhang von Begriffen (Theorie) und Methoden, in dem zugleich festgesetzt wird, was als sinnvoller Gegenstand der Erkenntnis gelten soll und auf welche Weise Behauptungen über denselben überprüft werden können (z.B. das Paradigma einer mythologischen Erklärung des Kosmos, das Paradigma einer erfahrungswissenschaftlichen Erklärung des Kosmos)B√ -
Praxis[V46:160]
das zielorientierte Handeln des Menschen (im Unterschied zu Akten des Erkennens) einschließlich der Verständigung über diejenigen Ziele (Normen, Werte), die für das Handeln Geltung beanspruchen sollenB√ -
Prognose[V46:161]
ein Typus theoretischer Sätze, in denen Behauptungen über die Zukunft formuliert werden, auf der Grundlage gemachter ErfahrungenB√ - B√
- B√
- B√
- B√
- B√
- B√
- B√
- B√
- B√
- B√
- B√
- B√
-
Reflexion[V46:174]
eine Art des Denkens, in der das Denken sich selbst und seine Bedingungen zum Gegenstand macht (Nachdenken über die Regeln des eigenen Denkens) - B√
- B√
- |A [26]|
- |A 27|
-
Telos[V46:177]
das Ziel eines Denk- oder Handlungsvorganges; eine teleologische Betrachtung ist eine solche, die ein Ereignis von seinem Ziel her zu erklären versucht (Beispiel:“Warum hat X so gehandelt?”“Er hat so gehandelt, um das Ziel Z zu erreichen.”)B√ - B√
-
universal[V46:179]
unter allen der Erfahrung prinzipiell zugänglichen Bedingungen geltendB√ -
Verabsolutierung[V46:180]
eine Operation des Denkens, in der eine Behauptung, die nur relative bzw. beschränkte Geltung beanspruchen kann, so vorgetragen wird, als gelte für sie jene Einschränkung des Geltungsanspruches nichtB√ - B√
-
Weltanschauungspädagogik[V46:182]
ein Typus pädagogischen Denkens, in dem die Sätze über Erziehung (z.B. Sätze über das“richtige”pädagogische Verhalten) aus Werten und Normen abgeleitet werden, die sich selbst wissenschaftlicher Kontrolle entziehen, durch eine weltanschauliche Entscheidung gesetzt sindB√ -
Wissenschaftstheorie[V46:183]
der Zusammenhang von theoretischen Aussagen und wissenschaftlichen Verfahren, in denen die (methodologischen, geschichtlichen, gesellschaftlichen) Grundlagen der Wissenschaften einer kritischen Analyse unterzogen werden.
Lernziele
B√- B√
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▷[V46:186] Sie sollen die zentralen Begriffe der Kritischen Theorien in ihrem Zusammenhang verstehen und diskutieren können.
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▷[V46:187] Sie sollen die Kritische Theorie von dem, was von ihr selbst als“Traditionelle Theorie”bezeichnet wird, unterscheiden können.
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▷[V46:188] Sie sollen lernen, daß jede Theorie, gleich welcher Gestalt, eine gesellschaftliche Funktion erfüllt.
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▷[V46:189] Sie sollen lernen, die Tatsache ernst zu nehmen, daß auch Ihr eigenes Denken in der praktischen Bewegung der Geschichte lokalisiert ist.
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▷[V46:190] Sie sollen lernen, sich der Frage zu stellen, wie pädagogische Handlungsziele als geschichtliche Erscheinungen begründet werden können.
1.1 Einleitung
(M. Horkheimer: Kritische Theorie Bd. 2, Frankfurt 1968, S. 148)
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▷[V46:196] Sie hatten (ungefähr zwischen 1926 und 1929 geboren) den Faschismus noch in seiner letzten Phase bewußt erlebt, in der Zwangsjacke der“”, als Luftwaffenhelfer, als Soldaten faschistische Gewalt am eigenen Leibe erlebt oder über ihre und ihrer Eltern Freunde kennengelernt.
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▷[V46:197] Sie hatten, als sie genötigt waren, die Ausbildung zur Hochschulreife nach Beendigung des Krieges zu Ende zu führen, die politische Hilflosigkeit ihrer Lehrer erfahren. Diese Pädagogen verleugneten plötzlich, was sie gestern noch gelehrt hatten, oder sie versuchten, wo sie ehrlich mit sich und ihren Schülern waren – das moralische, politische und argumentative Dilemma ihrer gesellschaftlichen Existenz offenzulegen.
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▷[V46:198] Sie hatten teils bei Hochschullehrern studiert (, , , B√ u.a.), die selbst Antifaschisten waren und die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in der Emigration, in Konzentrationslagern oder im Widerstand verbracht haben.
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▷[V46:199] Sie hatten schließlich, aus diesen Erfahrungen folgend, |A 32|ein zunächst vorwiegend praktisches Berufsinteresse: Sie wurden, ehe sie an der Universität wiederum ihre wissenschaftlichen Studien fortsetzten, Lehrer an Volks- und Berufsschulen (z.B. , , , Mollenhauer, ), um einer veränderten pädagogischen Praxis zum Leben zu verhelfen.
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▷[V46:201] Die ungebrochene Fortsetzung der geisteswissenschaft lichen Pädagogik, die die pädagogische Praxis nur interpretierte, und zwar ohne ihren gesellschaftlichen Charakter zu zeigen;
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▷[V46:202] Die normative Weltanschauungspädagogik, die im Faschismus ihre brutalste Pointe gebildet hatte und sich nun unter verschiedenen Namen (konfessionellen, existenz|A 33|philosophischen, ideengeschichtlichen, ja selbst empirischen) wiederum empfahlB√ und letzten Endes B√kein anderes als ein dogmatisches Verständnis von Erziehung und Erziehungswissenschaft produzieren konnte.
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▷[V46:204] theoretische Konsequenzen aus der Erfahrung mit der geschichtlichen Praxis zu ziehen, also die FrageB√, wohin B√die Geschichte nach dem Willen der Menschen laufen sollte, sich zu eigen zu machen, damit wurde akzeptiert, daß das Problem pädagogischer Handlungsziele, das in der Weltanschauungspädagogik dogmatisch beantwortet wurde, nicht etwa unterschlagen werden konnte;
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▷[V46:205] solche Konsequenzen mit den Mitteln der gesellschaftlichen Analyse pädagogischer Praxis zu erarbeiten, also auch die hermeneutische Erfahrung der geisteswissenschaftlichen Pädagogik nicht zu verleugnen;
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▷[V46:206] sich sozialwissenschaftlich-empirischer Verfahren zu bedienen; denn nur unter dieser Voraussetzung konnte die Hoffnung bestehen, die Ursachen und vielfältigen Zwischenglieder zur Erklärung des Dilemmas der gegenwärtigen Erziehungs- und Bildungspraxis aufzudecken: nämlich daß man sich in Deutschland (Ost und West) abermals aufmachte, die Rede von einer – am Begriff eines möglichen qualitativ-demokratischen Fortschritts gemessen –“verspäteten Nation”(Plessner) zu bestätigen.
(H. Blankertz: Pädagogik unter wissenschaftstheoretischer Kritik. In: Erziehungswissenschaft 1971 zwischen Herkunft und Zukunft der Gesellschaft . S. Oppolzer (Hrsg.), Wuppertal/ Ratingen 1971, S. 30)
1.2. Zur Geschichte der
“Kritischen Theorie”
1.2.1 Vorbemerkung
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▷[V46:280] Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft als Herrschaftszusammenhang unter dem Gesichtspunkt ihrer möglichen Aufhebung, d.h. Begreifen der Gesellschaft in ihrer geschichtlichen Gewordenheit und Veränderlichkeit;
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▷[V46:281] Reflexion der eigenen Theorie als Moment eben jenes gesellschaftlichen Zusammenhanges, den sie selbst analysiert, d.h. Begreifen der geschichtlichen Bedingtheit und Relativität von Theorie;
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▷[V46:282] Anleitung zu und kritische Reflexion von gesellschaftsverändernder Praxis, in deren Verlauf sich erst Wahrheits- und Geltungsanspruch der theoretisch erarbeiteten Perspektiven einlösen kann, d.h. begreifendes Denken als Moment kritischer Praxis.
1.2.2 Geschichte des
1.2.3. Auseinandersetzung mit dem Faschismus
(Horkheimer, Vernunft und Selbsterhaltung, S. 27/28).
(Marcuse, Kultur und Gesellschaft , Bd. I, S. 32)
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1.[V46:322] Der Liberalismus beruhte auf der Idee der freien Konkurrenz der Individuen. Im Zusammenspiel der viel fältigen Einzeltätigkeiten sollte sich aus dem Widerstreit der verschiedenen Bedürfnisse und Interessen |A 45|das Gleichgewicht der Wirtschaft als harmonisches Ganzes naturwüchsig herstellen und erhalten. Diese Konzeption widersprach jedoch der gesellschaftlichen Realität: Die Unversöhnlichkeit der sozialen Gegensätze zwischen einer herrschenden und einer beherrschten Klasse und die krisenhafte Entwicklung des Kapitalismus, die die behauptete Harmonie immer wieder zu stören drohten, veranlaßten den liberalistischen Staat entgegen seinem Postulat der Selbstregulation des Marktes zu gewaltsamen Eingriffen im Interesse des Privateigentums – und das hieß im Interesse der ohnehin ökonomisch Mächtigen, in deren Hand die Masse des Privateigentums (nämlich an Produktionsmitteln) versammelt war –, um Stabilität und Wachstum des Wirtschaftssystems zu sichern.
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2.[V46:323] Die fortschreitende Zusammenballung des Kapitals, der damit verbundene latente oder offene Mißbrauch von Marktmacht durch Monopolgruppen auf der einen Seite, die Deklassierung weiter Teile des Bürger- und Kleinbürgertums und die gleichzeitige Organisierung einer revolutionären Gegenmacht innerhalb der Arbeiterklasse auf der anderen Seite, führten zu einer Verschärfung der sozialen Gegensätze, die die faschistische Bewegung zu bannen versprach. Gleichzeitig erforderte der Kapitalverwertungsprozeß angesichts der immer wiederkehrenden ökonomischen Krisen, die schließlich in der Weltwirtschaftskrise von 1929 einen Höhepunkt erreichten, der die Gesellschaft in ihrer Gesamtstruktur zu erschüttern drohte, eine zentralistische Staatsherrschaft, die mit den Mitteln weitausgreifender Planung und militärischer Organisation die Interessen des organisierten Monopolkapitalismus politisch absichern konnte.
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3.[V46:324] Der Begriff der Vernunft, zunächst Mittel der Selbst behauptung des bürgerlichen Individuums gegenüber den geistlichen und weltlichen Autoritäten des absolutistischen Staats, wurde in der realhistorischen Entwicklung um seine ursprünglich gesellschaftskritische Dimension |A 46|verkürzt. Als das aufsteigende Bürgertum an die Macht kam und die privatwirtschaftliche Organisation der Gesellschaft politisch durchsetzen konnte, wurde zwar die Idee eines vernünftigen Interessenausgleichs im Diskurs freier Bürger, mit deren Hilfe sich das Bürgertum gegenüber dem Feudalismus emanzipiert hatte, als allgemeingültiges Prinzip behauptet und formalrechtlich institutionalisiert, real jedoch nicht eingelöst.
(Horkheimer, Kritische Theorie, Bd. II, S. 312)
Übungsaufgabe
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1.[V46:337] Stellen Sie sich vor, Sie hätten Ihre Eltern oder andere Angehörige der älteren Generation zu befragen über die gegenwärtige Praxis der Berufsverbote aus politischen Gründen!
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2.[V46:338] Formulieren Sie bis zu zehn Fragen, die Sie ihnen stellen würden!
(Sollten Sie keine Einfälle für die Formulierung von Fragen haben, dann könnten Sie sich Anregungen holen in dem Buch von Max Frisch: Tagebücher 1966 – 71. Suhrkamp Verlag und Büchergilde Gutenberg). -
3.[V46:339] Stellen Sie den unter 1. genannten Personen diese Fragen!
1.3.
“Traditionelle” und
“Kritische Theorie”
()
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▷[V46:347] die theoretische Vernachlässigung von Genesis und Wirkung (Entstehungs- und Verwertungszusammenhang) wissenschaftlicher Erkenntnis. Dagegen will die Kritische Theorie die sich blind durchsetzende wechselseitige Abhängigkeit von Therapieproduktion und gesellschaftlicher Entwicklung, von unerkannter Parteilichkeit der Theorie und theoretisch nicht reflektierter B√Anwendung ihrer Ergebnisse durchbrechen;
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▷[V46:348] die fachspezifische Bornierung der Forschungstätigkeit und die damit verbundene Herauslösung der Untersuchungsgegenstände aus ihrem Realzusammenhang. Ohne die Berechtigung fachwissenschaftlichen Vorgehens grundsätzlich zu bestreiten, will die Kritische Theorie die Partikularisierung der Erkenntnis und die Isolierung der Erkenntnisgegenstände in der Reflexion des beiden gemeinsamen geschichtlich-gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs aufheben;
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▷[V46:349] die Verselbständigung der wissenschaftlichen Methode von ihrem Gegenstand und deren Vereinheitlichung nach dem Muster naturwissenschaftlichen Vorgehens. |B 47|Demgegenüber fordert die Kritische Theorie, |A 51|daß die Methoden der Gesellschaftswissenschaften dem praktisch-geschichtlichen Charakter ihrer Erkenntnisgegenstände entsprechen.
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▷[V46:350] das Postulat der Wertfreiheit von Wissenschaft. Aus der Einsicht in die unausweichliche Interessengebundenheit von menschlicher Erkenntnis erhebt die Kritische Theorie B√die Begründung gesellschaftlicher Parteinahme B√zum Gegenstand ihrer theoretischen Reflexion.
1.3.1 Interesse und Vernunft
(Horkheimer: Kritische Theorie, Bd. 1, S. 210 – im folgenden abgekürzt: KT I/II)
(KT II, 165)
1.3.2. Theorie und Praxis
(TKT, S. 27)
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1.[V46:363] dem Aspekt der Erkenntnistheorie
-
2.[V46:364] dem Aspekt der Gesellschaftskritik
-
3.[V46:365] dem Aspekt revolutionärer Praxis.
1.3.2.1. Erkenntnistheoretischer Aspekt
Übungsaufgabe
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1.[V46:371] Versuchen Sie an den genannten oder beliebigen anderen Tatsachen Ihrer Erfahrung, sich deren gesellschaftliche Produziertheit bewußt zu machen!
-
2.[V46:372] Folgen Sie dabei der von vorgenommenen analytischen Trennung zwischen wahrgenommenem Gegenstand und wahrnehmendem Organ: Notieren Sie Ihre Einfälle nachfolgend entsprechend dieser Aufteilung!
- |A 60|
-
3.[V46:373] Versuchen Sie sich aber schließlich bewußt zu machen, daß die beiden Seiten der Tatsachenproduktion in Wirklichkeit nicht voneinander zu trennen sind; denn wir können vom wahrgenommenen Gegenstand uns eben auf Grund von Wahrnehmungen eine Vorstellung zu machen.
1.3.2.2. Gesellschaftskritischer Aspekt
(TKT I, 263)
(TKT, S. 30)
(TKT, S. 31)
1.3.2.3 Praktisch-Revolutionärer Aspekt
(KT I, S. 219)
(KT II, 189)
(KT I, 136)
(TKT, S. 34)
Lektüreaufgabe 1
4.1. Ästhetische Theorie
(Th. W. Adorno, Zur gesellschaftlichen Lage der Musik, in: Zeitschrift für Sozialforschung 1 (1932), S. 105)
(Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, Frankfurt a.M. 1975, S. 249).
(Einleitung in die Musiksoziologie, S. 214)
(Dissonanzen S. 29)
Lektüreaufgabe 2
Übungsaufgabe
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1.[V46:489] Haben Sie schon einmal – natürlich außerhalb des Karnevals – Ihr Gesicht stark geschminkt, wie z.B. Clowns, Pantomimen oder Schauspieler es häufig machen? Warum haben Sie Hemmungen, dies zu tun?
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2.[V46:490] Versuchen Sie einmal, Ihr Gesicht vor dem Spiegel anzumalen, so daß es Ihnen wenig vertraut erscheint. Versuchen Sie, sich über die Empfindungen, die Sie dabei haben, und über die Widerstände, die in Ihnen auftauchen, klar zu werden! Welche besondere Art von Lust bereitet Ihnen das?
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3.[V46:491] Stellen Sie sich nun noch vor, daß Sie so geschminkt anderen Personen beliebigen Alters gegenüber treten würden: z.B. Gäste empfangen, Nachbarn besuchen, einkaufen, auf einen Spielplatz gehen, an einem Gottesdienst teilnehmen. Wie, glauben Sie, verändern sich Ihre Lust- und Unlustgefühle, Ihre Widerstände, Ihre Ängste und Erwartungen?
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4.[V46:492] Tun Sie es!
B√Resumée: Fragen an die Pädagogik
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1.[V46:494] Kinder kommen mit einer biologisch beschreibbaren Ausstattung ihres Organismus zur Welt. Andererseits ist ihr Bildungsprozeß sowohl als eine Ausformung dieser Ausstattung wie auch als Lern- und Umlernprozeß bestimmbar. Die Pädagogik drückt diesen Sachverhalt mit dem Begriff“Bildsamkeit”aus. Der Kritischen Theorie können wir nun in dieser Sache die Aufforderung entnehmen, die Bildsamkeit, den Weg, den sie durch den Bildungsprozeß des Einzelnen nimmt, als ein Produkt gesellschaftlich-menschlicher Tätigkeit, ja selbst als solche Tätigkeit zu sehen und nicht als Entfaltung einborener Anlagen.
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2.[V46:495] Wo die bürgerliche Pädagogik das Erziehungs- und Bildungsziel in seiner allgemeinsten Form zu beschreiben versuchte, sprach sie von der“Mündigkeit”. Die Kritische Theorie verlangt hier eine Präzisierung, und zwar in zwei Richtungen: einerseits muß ermittelt werden, was aus der Tatsache folgt, daß“Mündigkeit”eine normative Kategorie ist, die historisch der bürgerlichen Gesellschaft zugehört und in dieser |A 82| Historizität ideologiekritisch bedacht werden muß. Andererseits steckt auch in dieser Kategorie, freilich in historisch besonderer Form, eine geschichtspraktische Antizipation, die Idee der Selbstbestimmung des Menschen nämlich, die über die bürgerliche Gesellschaft hinausweist; wo aber liegt der Geltungsgrund für eine Norm, in der Selbstbestimmung und Freiheit von Leid für alle gefordert ist und wie hätte B√die Pädagogik mit dieser Frage umzugehenB√?
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3.[V46:496] Die Kritische Theorie verlangt vom Wissenschaftler wie vom Bürger überhaupt, daß sie sich zu dem gegebenen historischen Bestand an Institutionen, Werten, Vorstellungen, Gewohnheiten in eine kritische Distanz setzen, d.h. diese nicht als unveränderbare Fakten akzeptieren, sondern sie unter dem Gesichtspunkt ihrer Änderbarkeit betrachten. Für den Erziehungsvorgang nun ist wesentlich, daß das Kind, um sich bilden zu können, mit dem historisch gegebenen kulturellen Bestand vertraut gemacht wird. Wie der Künstler auf das historisch produzierte Material der von ihm verwendeten Medien angewiesen ist, um Neues zu“montieren”, so ist das Kind auf die Aneignung jener Kompetenzen angewiesen, die die Beteiligung als Gesellschaftsmitglied überhaupt erst möglich machen. Zugleich aber müßte es – nach den Postulaten der Kritischen Theorie – lernen, sich jenem kulturellen Material gegenüber distanziert zu verhalten, um ihm nicht ideologisch zu verfallen. Ist dieses Problem innerhalb einer pädagogischen Theorie lösbar?
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4.[V46:497] Und schließlich: Folgt man den Grundannahmen der Kritischen Theorie, dann muß jede Lebensäußerung als Moment des ganzen gesellschaftlichen Zusammenhanges in einer besonderen geschichtlichen Situation betrachtet werden, im Falle der gegenwärtigen Form der bürgerlichen Gesellschaft besonders als Moment der kapitalistischen Ökonomie. Für die Erziehungswissenschaft sind damit mindestens zwei Fragen aufgeworfen, die sich aus der |A 83|erkenntnistheoretischen Position der Kritischen Theorie ergeben: Was folgt aus der Annahme, daß auch der, der über Erziehung (wissenschaftlich) nachdenkt, durch die Begriffe, Verfahren und“wahrnehmenden Organe”an den geschichtlichen Zusammenhang gebunden ist, den er erkennen will – und was folgt aus der Annahme, daß auch der Gegenstand des Erkennens – die Erziehung nämlich in allen ihren Ausprägungen – Moment des gleichen Zusammenhanges ist? Was folgt daraus für die Wahl, die der Erziehungswissenschaftler für seine Themen und die Wahl, die er hinsichtlich seiner Methoden zu treffen hätte?