Pädagogik der “Kritischen Theorie” [Teil 1] [Textkritische interaktive Ansicht mit A als Leittext]
Hier ist das Cover der Erstausgabe des Studienbriefs Pädagogik der Kritischen Theorie zu sehen.
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Hier ist eine Fotografie der Autor*innen abgebildet.
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Autorenspiegel

[V46:1]

Christiane Giffhorn

1949 geboren in Rotenburg/Wümme
1968 Abitur an einem Naturwissenschaftlichen Gymnasium in Celle
1968–1969 studium generale am Leibniz-Kolleg in Tübingen
1969 Jura-Studium in Tübingen, seit 1971 in Göttingen
1972 Abbruch des Jurastudiums, verschiedene Gelegenheitsjobs als Kellnerin und Verkäuferin
1973–1974 Arbeit als
Bezugsperson
in einem Kinderladen
1974/77 Studium der Erziehungswissenschaft in Göttingen
[V46:2]

Wolfgang Keckeisen

1946 geboren in Stuttgart; aufgewachsen in Stuttgart (bis 1963) und Frankfurt
1966/67 Ziviler Ersatzdienst
1967/74 Studium der Erziehungswissenschaft, Soziologie, Psychologie und Rechtswissenschaft in Frankfurt
1973 Diplom in Pädagogik
1974/77 Wiss. Assistent am Pädagogischen Seminar der Universität Göttingen
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[V46:3]

Klaus Mollenhauer

1928 geboren in Berlin
1944/48 Luftwaffenhelfer, Gefangenschaft, Abitur
1948/50 Studium an der PH Göttingen
1950/52 Volksschullehrer in Bremen
1952/58 Studium der Pädagogik, Soziologie und Literaturwissenschaft in Hamburg und Göttingen, Promotion
1958/65 Wissenschaftlicher Assistent bzw. Akademischer Rat in Göttingen und Berlin (Freie Universität)
1965/77 Prof. für Pädagogik an der PH Berlin (1965) und an den Universitäten Kiel (1966), Frankfurt (1969) und Göttingen (1972)
[V46:4]

Michael Parmentier

1943 geboren in Frankfurt
1963 Abitur
1963–1968 Studium der Germanistik, Geschichte, Philosophie, Staatsexamen
1969–1978 Studium der Erziehungswissenschaften in Frankfurt, Tutor
1972/77 Wiss. Assistent am Pädagogischen Seminar der Universität Göttingen
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Studierhinweise

[V46:5] Erziehungswissenschaft wird auf verschiedene Weisen betrieben. Im folgenden Kurs wollen wir einen Typus von erziehungswissenschaftlichem Denken und Forschen darstellen, dem sich – ungefähr seit 1968 – einige Erziehungswissenschaftler zuwandten, angeregt durch die Frankfurter
Kritische Theorie
(zu dieser gehören vor allem die Philosophen/ Soziologen Adorno, Habermas, Horkheimer, Marcuse).
[V46:6] Um diesen Kursus mit Gewinn und ohne übermäßige Verständnisschwierigkeiten durcharbeiten zu können, sollten Sie mindestens über folgende Grundkenntnisse verfügen:
  • [V46:7] Grundprobleme pädagogischer Theoriebildung (Kurs: Einführung in die pädagogische Theoriebildung 1 und 2)
  • [V46:8] anthropologische Grundkenntnisse (Kurs: Einführung in die Anthropologie der Erziehung 1 und 3)
  • [V46:9] Grundkenntnisse von Methoden erziehungswissenschaftlicher ForschungB
[V46:10] Wir empfehlen Ihnen besonders, aus dem Kurs : Einführung in die pädagogische Theoriebildung II noch einmal die Interpretation des Vorlesungstextes von F. D. Schleiermacher (S. 11–23) und aus dem Kurs : Einführung in die Anthropologie der Erziehung II das Kapitel über
gesellschaftliche Ansätze
(S. 37 ff.) zu studieren.
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[V46:11] Die Übungsaufgaben dieses Kurses werden Sie vielleicht teils für ungewöhnlich oder gar unzweckmäßig halten. Versuchen Sie dennoch, sie zu lösen. Wir sind nämlich der Meinung, daß die Einsicht in die Hemmungen, Widersprüche und Bedingtheiten des eigenen Denkens, Fühlens und Handelns zu den Grunderfahrungen gehört, ohne die eine
Pädagogik der Kritischen Theorie
u.E. ihren Sinn verlöre.
|A 7| |B 5|

Kursübersicht

[V46:12] Kurseinheit 1: Was ist
Kritische Theorie
?
  1. 1.
    [V46:13] Einleitung
  2. 2.
    [V46:14] Zur Geschichte der Kritischen Theorie
  3. 3.
    [V46:15]
    Traditionelle
    und
    kritische
    Theorie
  4. 4.
    [V46:16] Ästhetische Theorie
[V46:17] Kurseinheit 2: Zur pädagogischen Relevanz der Kritischen Theorie
  1. 1.
    [V46:18] Zur Thematik der Kritischen Theorie und ihrer pädagogischen Relevanz
  2. 2.
    [V46:19] Zur Methode der Kritischen Theorie
  3. 3.
    [V46:20] Utopie und Ideologie: Zur Normativitätsproblematik
[V46:21] Kurseinheit 3: Die Rezeption der Kritischen Theorie durch die Erziehungswissenschaft
  1. 1.
    [V46:22] Erziehung als Interaktion
  2. 2.
    [V46:23] Probleme einer kritischen Didaktik
  3. 3.
    [V46:24] Zur Methodologie erziehungswissenschaftlicher Forschung
[V46:25] Kurseinheit 4: Perspektiven einer kritischen Erziehungswissenschaft
  1. 1.
    [V46:26] Abweichendes Verhalten – Normalität und Anormalität
  2. 2.
    [V46:27] Moralische Erziehung – postkonventionelle Moral
  3. 3.
    [V46:28] Ästhetische Erziehung – kritische Produktivität
  4. 4.
    [V46:29] Grundregeln des Erziehungshandelns – Erziehung als Vergesellschaftung
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LernzieleB

[V46:30] Wenn Sie den vorliegenden Kurs durchgearbeitet haben, dann sollten Sie
  • [V46:31] die für die
    Kritische Theorie
    charakteristische Kombination von philosophischen und gesellschaftstheoretischen Fragestellungen kennen;
  • [V46:32] die Bedeutsamkeit dieser Fragestellungen für das pädagogische Handeln und seine Ziele, für die Auswahl der Thematik und für die Methoden erziehungswissenschaftlicher Forschung diskutieren können;
  • [V46:33] die Aufnahme und Verarbeitung der Kritischen Theorie in der gegenwärtigen erziehungswissenschaftlichen Diskussion kennen und beurteilen können;
  • [V46:34] beliebige pädagogische Probleme im Sinne der an die
    Kritische Theorie
    sich anschließenden
    Kritischen Erziehungswissenschaft
    darstellen können;
  • [V46:35] Vorstellungen von einer Form des Umgangs mit sich selbst und einer Erziehungspraxis entwickeln können, die mit jener Theorie übereinstimmt.
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Literaturverzeichnis B

Einführende bzw. grundlegende Literatur (zur Anschaffung empfohlen)

    [V46:36] Adorno, Th.W.: Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt/M. 1975
    [V46:37] Habermas, J.: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt/M. 1975
    [V46:38] Horkheimer, M.: Traditionelle und kritische Theorie, Frankfurt/M. (Fischer-Taschenbuch 6015) 1974
    [V46:39] Klafki, W.: Aspekte kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft, Weinheim 1976
    [V46:40] Lenzen, D.: Didaktik und Kommunikation, Frankfurt/M. 1973 (Fischer Athenäum 3006)
    [V46:41] Marcuse, H.: Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt 1965 (edition suhrkamp)
    [V46:42] Mollenhauer, K.:Theorien zum Erziehungsprozeß, München 1975
    [V46:43] Mollenhauer, K./Rittelmeyer, Chr.: Methoden der Erziehungswissenschaft, München 1977
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Grundlegende Literatur (Originaltexte der Kritischen Theorie)

    [V46:44] Adorno, Th.W.: Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt/M. 1973
    [V46:45] Ders.: Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1974 (suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 2)
    [V46:46] Fromm, E.: Sozialpsychologischer Teil, in: Studien über Autorität und Familie, Paris 1936
    [V46:47] Habermas, J.: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt 1968 (suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 1)
    |B 8|
    [V46:48] Ders.: Was ist Universalpragmatik? in: Karl-Otto Apel (Hrsg.), Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt/M. 1976
    [V46:49] Ders.: Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, in: Habermas/Luhmann, Theorie der Gesellschaft und Sozialtechnologie, Frankfurt/M. 1974
    [V46:50] Habermas, J./Friedeburg/Oehler/Weltz: Student und Politik, Neuwied 1961
    [V46:51] Horkheimer, M. : Kritische Theorie I/II, Frankfurt/M. 1968
    [V46:52] Ders.: Traditionelle und Kritische Theorie, Frankfurt/M. 1975
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    [V46:53] Institut für Sozialforschung (Hrsg.): Soziologische Exkurse. Frankfurt/M. o.J.
    [V46:54] Marx, Karl: Die deutsche Ideologie
    [V46:55] Ders.: Thesen über Feuerbach
    [V46:56] Beide Texte vollständig in: Marx/Engels Werke, Bd. 3, Berlin (DDR) 1969; oder – in für die Zwecke des Kurses hinreichenden Auszügen – in: Karl Marx: Friedrich Engels, Studienausgabe in 4 Bänden, Bd. 1 Frankfurt/MB (Fischer Taschenbuch 6059)
    [V46:57] Ziehe, Th.: Pubertät und Narzißmus, sind Jugendliche entpolitisiert? Frankfurt/M. 1975
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Weiterführende Literatur

    [V46:58] Adorno, Th.W.: Noten zur Literatur, Bd. I und II, Frankfurt/M. 1958 und 1961
    [V46:59] Ders.: Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1966
    [V46:60] Ders.: Minima moralis. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/M. 1969 (Bibliothek Suhrkamp 236)
    [V46:61] Adorno/Frenkel-Brunswik/Levinson/Sanford: The Authoritarian Personality (Studies in Prejudice, Vol. I), New York 1950
    [V46:62] Benjamin, W.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt/M. 1963
    [V46:63] Ders.: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, Frankfurt/M. 1975 (Bibliothek Suhrkamp 2)
    [V46:64] Bernfeld/Reich/Jurinetz/Sapir/Stoljarov: Psychoanalyse und Marxismus, Frankfurt/M. 1970
    [V46:65] Brenner, Ch.: Grundzüge der Psychoanalyse, Frankfurt/M. 1967
    [V46:66] Dermitzel, R.: Thesen zur antiautoritären Erziehung, in: Kursbuch 17, 1969, S. 179–187
    [V46:67] Freud, S. : Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Frankfurt/M. 1977
    [V46:68] Fromm, E.: Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie, Frankfurt/M. 1970
    |A 13|
    [V46:69] Habermas, J.: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt/M. 1975
    [V46:70] Ders.: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied 1961
    [V46:71] Horkheimer, M.: Dämmerung (unter dem Pseudonym Heinrich Regius), Zürich 1934
    |B 10|
    [V46:72] Laplanche/Dontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Bd. I und II, Frankfurt/M. 1973
    [V46:73] Marcuse, H.: Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1973 (Bibliothek Suhrkamp)
    [V46:74] Offe, C.: Tauschverhältnis und politische Steuerung. Zur Aktualität des Legitimationsproblems, in: BStrukturprobleme des kapitalistischen Staates, Offe (Hrsg.) Frankfurt/M. 1972
    [V46:75] Wolf, M.: Individuum/Subjekt/ Vergesellschaftung der Produktion, in: Ästhetik und Kommunikation, Heft 15/16 1974, S. 83–103
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Texte zu erziehungswissenschaftlichen Fragestellungen

    [V46:76] Blankertz, H.: Theorien und Modelle der Didaktik, München (9. Auflage) 1975
    [V46:77] Brumlik, M./Keckeisen, W.: Etwas fehlt. Zur Kritik und Bestimmung von Hilfsbedürftigkeit, in: Krimi. J. 4/1976
    [V46:78] Cicourel, A.: Sprache in der sozialen Interaktion, München 1975
    B
    [V46:80] Döbert, R./Habermas, J. (Hrsg.): Die Entwicklung des Ichs, Köln/Berlin 1977
    [V46:81] Elias, N.: Der Prozeß der Zivilisation, Frankfurt/M. 1976
    [V46:82] Foucault, M.: Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. 1976
    [V46:83] Frommann, A./Schramm, D./Thiersch, H.: Sozialpädagogische Beratung, in: Z.f.Päd. 5/1976
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    [V46:84] Heinze, Th./Müller, E ./Stickelmann, B./Zinnecker, J.: Handlungsforschung im pädagogischen Feld, München 1975
    B
    [V46:87] Kamper, D. (Hrsg.): Über die Wünsche, München 1977
    [V46:88] Keckeisen, W.: Die gesellschaftliche Definition abweichenden Verhaltens, München 1974
    [V46:89] Klafki, W.: Aspekte kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft, Weinheim 1976
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    [V46:90] Lenzen, D.: Didaktik und Kommunikation, Frankfurt 1973
    [V46:91] Lorenzer, A.: Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie, Frankfurt 1972
    [V46:92] Meyer-Denkmann, G.: Struktur und Praxis neuer Musik im Unterricht, Wien 1972
    [V46:93] Mollenhauer, K.: Theorien zum Erziehungsprozeß, München 1972
    [V46:94] Mollenhauer, K.: Interaktion und Organisation in pädagogischen Feldern, in Z.f.Päd. 13. Beiheft, hrsg. von H. Blankertz
    [V46:95] Moser, H.: Aktionsforschung als kritische Theorie der Sozialwissenschaften, München 1975
    B
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LiteraturverzeichnisB

Einführende Literatur (zur Anschaffung empfohlen)

    [V46:97] Th. W. Adorno, Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt (suhrkamp taschenbuch II) 1975
    [V46:98] M. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie. Frankfurt (Fischer Taschenbuch 6015) 1974
    [V46:99] H. Marcuse, Kultur und Gesellschaft I. Frankfurt (edition suhrkamp 101) 1965

Grundlegende Orininaltexte der Kritischen Theorie

    [V46:100] Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie. Frankfurt (suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 2) 1974
    [V46:101] ders., Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie. Frankfurt 1973 (Gesammelte Schriften Bd. 14)
    [V46:102] J. Habermas, Erkenntnis und Interesse. Frankfurt (suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 1) 1975
    [V46:103] M.Horkheimer, Kritische Theorie I/II. Frankfurt 1968
    [V46:104] Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Soziologische Exkurse. Frankfurt o.J.
    [V46:105] K. Marx, Die deutsche Ideologie
    [V46:106] ders., Thesen über Feuerbach
    [V46:107] Beide Texte vollständig in: Marx/Engels Werke, Bd. 3, Berlin (DDR) 1969; oder – in für die Zwecke des Kurses hinreichenden Auszügen – in: |A 19|Karl Marx: Friedrich Engels, Studienausgabe in 4 Bänden, Bd. 1 Frankfurt/M (Fischer Taschenbuch 6059)
|B 14|

Darstellungen und Kritiken

    [V46:108] H. Gumnior/R. Ringguth, Horkheimer. Rowohlts Bildmonographien 208. 1973
    [V46:109] M. Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923–1950. Frankfurt 1976
    [V46:110] Kritik und Interpretationen der Kritischen Theorie. Gießen (Verlag Andreas Achenbach) 1975 (Reprint)
    [V46:111] A. Schmidt, Zur Idee der Kritischen Theorie. München (Reihe Hanser 149) 1974

Weiterführende theoretisch und praktisch relevante Literatur

    [V46:112] Th. W. Adorno, Minima moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt (Bibliothek Suhrkamp 236) 1969
    B
    [V46:113] W. Benjamin, Berliner Kindheit um Neunzehnhundert. (Frankfurt Bibliothek Suhrkamp 2) 1975
    [V46:114] ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt B(edition suhrkamp 28)
    |A 20|
    [V46:115] M. Horkheimer, Dämmerung (unter dem Pseudonym Heinrich Regius). Zürich 1934
    [V46:118] H. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft. Frankfurt (Bibliothek Suhrkamp 158). 1973
    B
|B 15|

Nachschlagewerke

[V46:119] Nachschlagewerke, die der Kritischen Theorie voll gerecht würden, liegen nicht vor.
[V46:120] Wir empfehlen dennoch:
    [V46:121] J. Hoffmeister, Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg 1955
    [V46:122] G. Klaus/M. Buhr(Hrsg.), Marxistisch-leninistisches Wörterbuch der Philosophie. Reinbek (Rowohlt Taschenbücher 6155-7)
|A 21|

Glossar

  • affirmativ
    [V46:123] vorhandene Einstellungen, Vorstellungen, Handlungsmuster, u.a. verstärkend, bekräftigendB
  • Antizipation (antizipatorisch)
    [V46:124] die Vorwegnahme von für die Zukunft erwarteten oder gewünschten Ereignissen in der Vorstellung
  • B
  • B
  • Deduktion (deduziert)
    [V46:127] die Ableitung von Begriffen, Sätzen, Hypothesen aus einer vorgegebenen TheorieB
  • B
  • B
  • |B 60|
  • B
  • B
  • Diskurs
    [V46:132] eine Auseinandersetzung, in der Geltungsansprüche von Sätzen problematisiert und argumentativ überprüft werden, ohne daß andere als argumentative Faktoren den Fortgang der Erörterung wesentlich beeinträchtigen
  • dogmatisch
    [V46:133] ein Standpunkt, der davon ausgeht, daß für wesentlich gehaltene Behauptungen (Theorien) nicht in Frage gestellt werden können oder dürfen, d.h. der den grundsätzlich hypothetischen Status theoretischer Sätze leugnetB
  • B
  • Emanzipation (emanzipiert)
    [V46:135] Befreiung von Zwängen (Herrschaftsverhältnissen, Vorurteilen, Ideologien), die geschichtlich entstanden sind und infolgedessen auch durch weitere geschichtliche Prozesse wiederum abgeschafft werden könnenB
  • |B 61|
  • Erkenntnisinteresse
    [V46:136] die Richtung, die die theoretische Aufmerksamkeit nimmt (auf bestimmte Gegenstände, Probleme, praktische Fragen), die die Bevorzugung bestimmter Modelle und wissenschaftlicher Verfahren der Erkenntnisgewinnung zur Folge hatB
  • |A [22]|
  • |A 23|
  • Geisteswissenschaftliche Pädagogik
    [V46:137] eine Richtung der Erziehungswissenschaft, die im Anschluß an Wilhelm Dilthey das Verstehen der historischen Zusammenhänge, innerhalb deren Erziehung geschieht, und der Ausdrucksformen, deren sich die pädagogische Praxis bedient, zur Aufgabe macht; das wesentliche Erkenntnisinstrument war dabei das Interpretieren von Texten (Hermeneutik). Wichtigste Vertreter: W. Dilthey, H. Nohl, W. Flitner, E. WenigerB
  • B
  • B
  • heteronom
    [V46:140] einer Sache, um die es geht, fremder Bestimmung bzw. fremdem Gesetz folgendB
  • |B 62|
  • B
  • Historizität
    [V46:142] die Geschichtlichkeit eines Gegenstandes, d.h. daß er sowohl geschichtlich entstanden ist wie auch in der weiteren Geschichte verändert werden kannB
  • B
  • Ideologie
    [V46:144] ein Zusammenhang von Sätzen (Behauptungen), der vom Autor als wahr behauptet wird, bei näherer Betrachtung indessen (Ideologiekritik) sich als ein Zusammenhang falscher Sätze über die gesellschaftliche Wirklichkeit erweist, wobei das spezifisch
    Falsche
    sich seinerseits als Folge historisch-gesellschaftlicher Vorgänge oder Zustände erweisen läßt
  • B
  • B
  • B
  • intersubjektiv
    [V46:148] verschiedenen Subjekten gemeinsam (z.B. Zeichen, deren Bedeutung von verschiedenen an einer Interaktion beteiligten Personen geteilt wird; Behauptungen, deren Geltung von verschiedenen Personen akzeptiert wird, usw.)B
  • B
  • B
  • B
  • B
  • B
  • materialistisch
    [V46:154]
    ein theoretischer Standpunkt, in dem davon ausgegangen wird, daß alle sozialen Ereignisse nur zureichend erklärt werden können, wenn sie letzten Endes auf die der menschlichen Gattung eigentümliche Notwendigkeit zurückgeführt werden, daß der Mensch darauf angewiesen ist, seine materielle Existenz durch Arbeit zu sichern (historischer Materialismus)B
  • |A [24]|
  • |A 25|
  • Objektivationen
    [V46:155]
    die vom Menschen produzierten, aber dann relativ unabhängig vom einzelnen bestehenden Gestalten, Institutionen, subkulturellen Erscheinungen (z.B. Formen der Arbeit und Arbeitsteilung, soziale Einrichtungen, Texte, usw.)B
  • objektivistisch
    [V46:156]
    eine Betrachtungsweise sozialer Phänomene, nach der die Spontaneität des einzelnen Individuums keine wesentliche Rolle spielt und statt dessen menschliches Verhalten nur aus den sogenannten objektiv gegebenen Verhältnissen erklärt werden sollB
  • |B 65|
  • B
  • Operationalisierung
    [V46:158]
    die Definition eines Begriffes dadurch, daß angegeben wird, welche Verfahren (Operationen) angewandt werden müssen, um den empirischen Gehalt des Begriffes zu zeigen. (Beispiel: Intelligenz ist, was der Intelligenztest mißt).
  • Paradigma
    [V46:159]
    der charakteristische Zusammenhang von Begriffen (Theorie) und Methoden, in dem zugleich festgesetzt wird, was als sinnvoller Gegenstand der Erkenntnis gelten soll und auf welche Weise Behauptungen über denselben überprüft werden können (z.B. das Paradigma einer mythologischen Erklärung des Kosmos, das Paradigma einer erfahrungswissenschaftlichen Erklärung des Kosmos)B
  • Praxis
    [V46:160]
    das zielorientierte Handeln des Menschen (im Unterschied zu Akten des Erkennens) einschließlich der Verständigung über diejenigen Ziele (Normen, Werte), die für das Handeln Geltung beanspruchen sollenB
  • Prognose
    [V46:161]
    ein Typus theoretischer Sätze, in denen Behauptungen über die Zukunft formuliert werden, auf der Grundlage gemachter ErfahrungenB
  • B
  • B
  • B
  • B
  • B
  • B
  • B
  • B
  • B
  • B
  • B
  • B
  • Reflexion
    [V46:174]
    eine Art des Denkens, in der das Denken sich selbst und seine Bedingungen zum Gegenstand macht (Nachdenken über die Regeln des eigenen Denkens)
  • B
  • B
  • |A [26]|
  • |A 27|
  • Telos
    [V46:177]
    das Ziel eines Denk- oder Handlungsvorganges; eine teleologische Betrachtung ist eine solche, die ein Ereignis von seinem Ziel her zu erklären versucht (Beispiel:
    Warum hat X so gehandelt?
    Er hat so gehandelt, um das Ziel Z zu erreichen.
    )B
  • B
  • universal
    [V46:179]
    unter allen der Erfahrung prinzipiell zugänglichen Bedingungen geltendB
  • Verabsolutierung
    [V46:180]
    eine Operation des Denkens, in der eine Behauptung, die nur relative bzw. beschränkte Geltung beanspruchen kann, so vorgetragen wird, als gelte für sie jene Einschränkung des Geltungsanspruches nichtB
  • B
  • Weltanschauungspädagogik
    [V46:182]
    ein Typus pädagogischen Denkens, in dem die Sätze über Erziehung (z.B. Sätze über das
    richtige
    pädagogische Verhalten) aus Werten und Normen abgeleitet werden, die sich selbst wissenschaftlicher Kontrolle entziehen, durch eine weltanschauliche Entscheidung gesetzt sindB
  • Wissenschaftstheorie
    [V46:183]
    der Zusammenhang von theoretischen Aussagen und wissenschaftlichen Verfahren, in denen die (methodologischen, geschichtlichen, gesellschaftlichen) Grundlagen der Wissenschaften einer kritischen Analyse unterzogen werden.
|A [28]| |A 29| |B 16|

Lernziele

B
  • B
  • [V46:186] Sie sollen die zentralen Begriffe der Kritischen Theorien in ihrem Zusammenhang verstehen und diskutieren können.
  • [V46:187] Sie sollen die Kritische Theorie von dem, was von ihr selbst als
    Traditionelle Theorie
    bezeichnet wird, unterscheiden können.
  • [V46:188] Sie sollen lernen, daß jede Theorie, gleich welcher Gestalt, eine gesellschaftliche Funktion erfüllt.
  • [V46:189] Sie sollen lernen, die Tatsache ernst zu nehmen, daß auch Ihr eigenes Denken in der praktischen Bewegung der Geschichte lokalisiert ist.
  • [V46:190] Sie sollen lernen, sich der Frage zu stellen, wie pädagogische Handlungsziele als geschichtliche Erscheinungen begründet werden können.
|A 30| |B 17|

1.1 Einleitung

[V46:191] Im Thema
Pädagogik der Kritischen Theorie
ist nicht Bein Sachverhalt benannt, den es völlig zweifelsfrei schon gibt. Mit ihm soll vielmehr eine Frage aufgeworfen werden:
Wir wollen prüfen, ob der Typus von Gesellschaftstheorie, der in der Zeit des herannahenden Faschismus im Frankfurter Institut für Sozialforschung unter dem Namen
Kritische Theorie
entwickelt wurde, ge eignet ist, auch der Wissenschaft von der Erziehung als theoretischer Ausgangspunkt zu dienen;
wir wollen ferner prüfen, inwieweit Erziehungswissenschaftler bisher jene Kritische Theorie in ihrem eigenen Denken verwendet haben;wir wollen schließlich diskutieren, mit welchem Recht solche Erziehungswissenschaftler sich auf die Kritische Theorie berufen.
[V46:192] Eine der fundamentalen Forderungen, die von den Vertretern der Kritischen Theorie an das Denken, an das erkennende Individuum gerichtet werden, hat Horkheimer in der Form einer Behauptung so formuliert:
[V46:193]
Die Tatsachen, welche die Sinne uns zuführen, sind in doppelter Weise gesellschaftlich präformiert: Durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstandes und den geschichtlichen Charakter des wahrnehmenden Organs.

(M. Horkheimer: Kritische Theorie Bd. 2, Frankfurt 1968, S. 148)
[V46:194] Wir werden im Verlauf dieses Textes noch sehen, welche Probleme mit dieser Behauptung bzw. Forderung im einzelnen aufgeworfen sind (vgl. 1.3.2.). Hier wollen wir zunächst eine didaktische Konsequenz ziehen und skizzieren, wie es geschichtlich überhaupt dazu kam, daß in den 60er Jahren dieses Jahrhunderts eine Reihe von Pädagogen |A 31|(manche bevorzugen den Ausdruck
Erziehungswissenschaftler
) auf das Denken jener Frankfurter Sozialphilosophen und Soziologen zurückgriff, um für das pädagogische Denken eine
bessere
Orientierung zu finden; was in jener Situation die geschichtliche Besonderheit des
wahrgenommenen Gegenstandes
und das
wahrnehmenden Organs
gewesen ist.
[V46:195] Gegen Ende der 50er Jahre hatten an einigen deutschen BUniversitäten, beispielsweise in Göttingen und Marburg, mehrere junge Erziehungswissenschaftler ihre Dissertation abgeschlossen, denen Folgendes gemeinsam war:
|B 18|
  • [V46:196] Sie hatten (ungefähr zwischen 1926 und 1929 geboren) den Faschismus noch in seiner letzten Phase bewußt erlebt, in der Zwangsjacke der
    Hitlerjugend
    , als Luftwaffenhelfer, als Soldaten faschistische Gewalt am eigenen Leibe erlebt oder über ihre und ihrer Eltern Freunde kennengelernt.
  • [V46:197] Sie hatten, als sie genötigt waren, die Ausbildung zur Hochschulreife nach Beendigung des Krieges zu Ende zu führen, die politische Hilflosigkeit ihrer Lehrer erfahren. Diese Pädagogen verleugneten plötzlich, was sie gestern noch gelehrt hatten, oder sie versuchten, wo sie ehrlich mit sich und ihren Schülern waren – das moralische, politische und argumentative Dilemma ihrer gesellschaftlichen Existenz offenzulegen.
  • [V46:198] Sie hatten teils bei Hochschullehrern studiert (Abendroth, Blochmann, Heydorn, BPlessner u.a.), die selbst Antifaschisten waren und die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in der Emigration, in Konzentrationslagern oder im Widerstand verbracht haben.
  • [V46:199] Sie hatten schließlich, aus diesen Erfahrungen folgend, |A 32|ein zunächst vorwiegend praktisches Berufsinteresse: Sie wurden, ehe sie an der Universität wiederum ihre wissenschaftlichen Studien fortsetzten, Lehrer an Volks- und Berufsschulen (z.B. Blankertz, Klafki, Lempert, Mollenhauer, Roeder), um einer veränderten pädagogischen Praxis zum Leben zu verhelfen.
[V46:200] Als sie nach Abschluß ihrer akademischen
Lehrjahre
um 1960 sich nach Orientierungen umsahen, die für die von ihnen in der eigenen akademischen Lehre zu verantwortende Erziehungswissenschaft fundamental sein könnten, bot sich ihnen
B |B 19| in ihrer Wissenschaft wie in der gesellschaftlichen Praxis B ein verwirrendes Bild. Mit der gesellschaftlichen Restauration im
CDU-Staat
Bwurden auch die so zialen Ungleichheiten wieder hergestellt, konnten autoritäre Ideologien unangefochten wieder Platz greifen; anscheinend blieb die deutsche Erfahrung mit dem Faschismus ohne deutliche Folgen, es sei denn in der Form eines pauschalen
Anti-Totalitarismus
, der jedoch nur als
Anti-Kommunismus
gesellschaftlich wirksam wurde.
B Eine
pädagogische Bewegung
, wie sie in den 20er Jahren als praktischer Bezug für erziehungstheoretische Arbeiten existierte, gab es nicht.
Für theoretische Orientierung waren deshalb – wollte man seine, wenn auch im Vergleich zu Anderen und Älteren harmlose Faschismus-Erfahrungen nicht verleugnen – zwei Wege nicht akzeptabel:
  • [V46:201] Die ungebrochene Fortsetzung der geisteswissenschaft lichen Pädagogik, die die pädagogische Praxis nur interpretierte, und zwar ohne ihren gesellschaftlichen Charakter zu zeigen;
  • [V46:202] Die normative Weltanschauungspädagogik, die im Faschismus ihre brutalste Pointe gebildet hatte und sich nun unter verschiedenen Namen (konfessionellen, existenz|A 33|philosophischen, ideengeschichtlichen, ja selbst empirischen) wiederum empfahlB und letzten Endes Bkein anderes als ein dogmatisches Verständnis von Erziehung und Erziehungswissenschaft produzieren konnte.
[V46:203] Akzeptabel schien nur eine Form von Erziehungswissenschaft, die imstande war,
  • [V46:204] theoretische Konsequenzen aus der Erfahrung mit der geschichtlichen Praxis zu ziehen, also die FrageB, wohin Bdie Geschichte nach dem Willen der Menschen laufen sollte, sich zu eigen zu machen, damit wurde akzeptiert, daß das Problem pädagogischer Handlungsziele, das in der Weltanschauungspädagogik dogmatisch beantwortet wurde, nicht etwa unterschlagen werden konnte;
  • [V46:205] solche Konsequenzen mit den Mitteln der gesellschaftlichen Analyse pädagogischer Praxis zu erarbeiten, also auch die hermeneutische Erfahrung der geisteswissenschaftlichen Pädagogik nicht zu verleugnen;
  • [V46:206] sich sozialwissenschaftlich-empirischer Verfahren zu bedienen; denn nur unter dieser Voraussetzung konnte die Hoffnung bestehen, die Ursachen und vielfältigen Zwischenglieder zur Erklärung des Dilemmas der gegenwärtigen Erziehungs- und Bildungspraxis aufzudecken: nämlich daß man sich in Deutschland (Ost und West) abermals aufmachte, die Rede von einer – am Begriff eines möglichen qualitativ-demokratischen Fortschritts gemessen –
    verspäteten Nation
    (Plessner) zu bestätigen.
[V46:207] Unterdessen waren bereits zehn Bände der
Frank furter Beiträge zur Soziologie
, der Buchreihe des nach dem Kriege neu gegründeten Instituts für Sozialforschung in Frankfurt, erschienen. Hier präsentierte sich eine geschichtlich orientierte, mit philosophischen Gründen radikaldemokratisch argumentierende und zugleich empirisch verfahrende Sozialwissenschaft. Und weiter: |A 34|In der Skizze dessen, was
emanzipatorisches Erkenntnisinteresse
heißen könnte, von J. Habermas 1965 vorgelegt, zeigte sich für die erziehungswissenschaftlichen Leser eine Kontinuität nicht nur mit der politischen Philosophie der Aufklärung, sondern auch mit dem pädagogischen Denken z.B. Rousseaus’ und Schleiermacher’s; Adorno’s
Theorie der Halbbildung
(1962) und Marcuse’s
Über den affirmativen Charakter der Kultur
(1965) machten u.a. zum Thema, was in der Pädagogik einem langen Prozeß der Trivialisierung zum Opfer gefallen war: daß
Bildung
nur durch ernsthafte Teilnahme an den kulturellen Gehalten erreichbar ist, nicht aber deren Vermarktung zum politisch affirmativen
Bildungsgut
; die
Stunden über Autorität und Familie
(schon 1936 veröffentlicht) und
The Authorian Personality
(1950) erschienen für jene Erziehungswissenschaftler damals als das in Forschungsprojekte übertragene Interesse einer demokratisch-pädagogischen Perspektive der Erziehungspraxis.
[V46:208] Diese Situation fand ihren ersten, vorerst jedoch nur Btastenden literarischen Niederschlag beispielsweise in den folgenden Veröffentlichungen:
    [V46:209] H. BlankertzB Berufsbildung und Utilitarismus, Düsseldorf 1963
    [V46:210] K. MollenhauerB Pädagogik und Rationalität in: ders., Erziehung und Emanzipation, München 1968 B
    [V46:211] K. MollenhauerB Zur pädagogischen Theorie der Geselligkeit in: Erziehung und Emanzipation a.a.O. B
    |B 30|
    [V46:212] H. Blankertz/ K. Mollenhauer (zwei wissenschaftstheoretische Vorträge), in: Neue Folge der Ergänzungshefte zur Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 1966, Heft 5
    |A 35|
    [V46:213] P.M. RoederB Erziehung und Gesellschaft, Weinheim 1968
    [V46:214] H. Blankertz/ J. Dahmer/ K. MollenhauerB Aufsätze dieser Verfasser in dem Sammelband mit dem programmatischen Titel: Geisteswissenschaftliche Pädagogik am Ausgang ihrer EpocheB, Weinheim 1968
    [V46:215] K. Mollenhauer (Einleitung zu) Erziehung und Emanzipation, a.a.O.
    [V46:216] W. LempertB Bildungsforschung und Emanzipation, in: Leistungsprinzip + Emanzipation, Frankfurt 1971
[V46:217] Zugleich aber begann an den deutschen Hochschulen sich ein Stück gesellschaftlicher Praxis zu entfalten, ohne das vermutlich auch die pädagogische Rezeption der Kritischen Theorie anders verlaufen wäre: Die Studentenbewegung und der Versuch einer Hochschulreform. Pädagogik – bis dahin eher Pflichtübung zukünftiger Lehrer – wurde zu einem spannenden Thema gerade für jene Studenten, die sich für eine neue, politisch folgenreiche Form der wissenschaftlichen Arbeit engagierten. Für diejenigen Dozenten, die bereit waren, sich diesem Anspruch zu stellen, konnte deshalb – sofern sie Pädagogen |B 31|und also auch Didaktiker waren – die Form ihrer Lehre mit deren Inhalt zusammenfallen; sie konnten sich zudem als Beteiligte eines praktischen Prozesses definieren, in dem bald nicht mehr nur von Hochschulen, dem Zustand der Pädagogik, sondern vom Zustand unserer Gesellschaft im Ganzen die Rede war. Damit war ein Punkt erreicht, an dem es nun galt, das zunächst nur in Umrissen antizipierte Programm einer Kritischen Theorie der Erziehung auzuarbeiten, von dem Blankertz 1970 mit Recht sagen konnte:
[V46:218]
Von den Widerständen und Zwängen nicht zu ab strahieren, vielmehr gerade sie in den Mittel punkt des Interesses zu rücken, ist das Programm |A 36|der heute allenthalben geforderten, aber noch kaum ausgeführten Kritischen Theorie der Erziehung. Dabei handelt es sich ebenso um eine Wendung zur politisch-gesellschaftlichen Funktion der Erziehungswissenschaft, wie zu einer erfahrungswissenschaftlichen Orientierung, und zwar so, daß bestimmte Elemente aller zuvor genannten Ansätze (hermeneutische, prinzipienwissenschaftliche, erfahrungswissenschaftliche, d.V.) konvergieren, wenn auch in einem neu gesetzten Bezugsrahmen.

(H. Blankertz: Pädagogik unter wissenschaftstheoretischer Kritik. In: Erziehungswissenschaft 1971 zwischen Herkunft und Zukunft der Gesellschaft . S. Oppolzer (Hrsg.), Wuppertal/ Ratingen 1971, S. 30)
[V46:219] Um die Triftigkeit dieses Programms näher zu prüfen, wenden wir uns im folgenden zunächst dem zu, was
Kritische Theorie
ist bzw. zu sein beansprucht.
|A 37|

1.2. Zur Geschichte der
Kritischen Theorie

1.2.1 Vorbemerkung

[V46:279] Die unter dem Namen
Kritische Theorie
oder auch nach dem Sitz ihres Instituts als
Frankfurter Schule
bekanntgewordene Theorie, ursprünglich insbesondere verbunden mit den Namen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, ist keine einzelwissenschaftliche Disziplin wie Erziehungswissenschaft, sondern in herkömmlicher Terminologie ausgedrückt, Sozialphilosophie. Sie versteht sich als kritische Theorie der Gesellschaft und des Menschen als eines gesellschaftlichen Wesens. Der Ausdruck
kritisch
meint in diesem Zusammenhang
  • [V46:280] Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft als Herrschaftszusammenhang unter dem Gesichtspunkt ihrer möglichen Aufhebung, d.h. Begreifen der Gesellschaft in ihrer geschichtlichen Gewordenheit und Veränderlichkeit;
  • [V46:281] Reflexion der eigenen Theorie als Moment eben jenes gesellschaftlichen Zusammenhanges, den sie selbst analysiert, d.h. Begreifen der geschichtlichen Bedingtheit und Relativität von Theorie;
  • [V46:282] Anleitung zu und kritische Reflexion von gesellschaftsverändernder Praxis, in deren Verlauf sich erst Wahrheits- und Geltungsanspruch der theoretisch erarbeiteten Perspektiven einlösen kann, d.h. begreifendes Denken als Moment kritischer Praxis.
[V46:283] Das theoretisch reflektierte praktische Interesse an vernünftigen, menschenwürdigen Zuständen ist also verbunden mit dem Erkenntnisziel Gesellschaft als Ganzes in ihrer je konkreten historischen Ausgeprägtheit zu begreifen. Geleitet von diesem Interesse soll die Struktur der gegenwärtigen Gesellschaft als die eines Zwangszusammen|A 38|hanges analysiert werden, in dem sich ökonomisch Macht zunehmend gegenüber dem einzelnen wie dem Kollektiv verselbständigt und die Menschen beherrscht. Im Mittelpunkt ihrer Theorie steht daher die marxistische Kritik der politischen Ökonomie. Das heißt nicht, daß sie sich auf eine nur ökonomische Betrachtung von Gesellschaft und Geschichte beschränkt. Vielmehr beabsichtigt sie eine Theoriebildung, die an der ständigen Auseinandersetzung mit praktischen, zeitgeschichtlichen Lebens- und Erfahrungszusammenhängen eine theoretische Struktur entfaltet, die Gesellschaft in der Gesamtheit ihrer ökonomischen, kulturellen und psychischen Faktoren erfaßt.
|A 39|

1.2.2 Geschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung

[V46:285] Die Kritische Theorie wurde in den 30er Jahren, schon unter dem Eindruck der massiven Bedrohung durch den Nationalsozialismus, von einem kleinen Kreis engagierter linker Intellektueller begründet, die sich in Frankfurt um Max Hofrkheimer sammelten. Die Entwicklung der Kritischen Theorie fällt, zumal in ihren Anfängen, auf weiten Strekken nicht nur zusammen mit der geistigen Biographie Max Horkheimer’s, sondern auch mit der Geschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, dem Horkheimer ab 1931 als leitender Direktor Vorstand.
[V46:286] Das Institut wurde schon 1923 gegen den zunächst heftigen WiderBstand der Frankfurter Universität gegründet. Trotz einer losen Angliederung an die Universität, die durch ein Ordinariat des Institutsdirektors gewährleistet werden sollte, war die Institutsarbeit in der Bestimmung ihrer Forschungsinhalte und -methoden frei, da sie aus Mitteln einer privaten Stiftung finanziert wurde.
[V46:287] Motiv für die Gründung und auch später beibehaltenene Zielsetzung des Instituts war, unabhängig von universitärer bzw. staatlicher Reglementierung und ohne Rücksichten, die sich aus der Bindung an eine der sozialistischen deutschen Parteien ergeben hätte, eine Analyse der bürgerlichen Gesellschaft zu leisten, die die Möglichkeiten interdisziplinärer Forschung und marxistischer Theoriebildung ausschöpfte.
[V46:288] Mit diesem Anspruch an eine Gesellschaftswissenschaft widersetzte sich das Institut auch schon unter seinem ersten Leiter, dem Wiener Historiker und Nationalökonomen Carl Grünberg, der aus|A 40|sparung marxistischer Theoreme aus der damaligen akademischen wissenschaftlichen Diskussion. Allerdings wandte sich das Institut erst mit Horkheimer, der zwar schon vorher Mitarbeiter war, aber erst ab 1931 wirklich Einfluß auf die Institutsarbeit gewann, als er die Nachfolge Grünberg’s am Institut und den Lehrstuhl für Sozia1phi1osophie an der Universität übernahm, den Fragestellungen zu, die Programm und Konzept der Kritischen Theorie ausmachen sollten. (Zu den Mitarbeitern Horkheimer’s gehörten u.a. Friedrich Pollock, Leo Löwenthal, Theodor W. Adorno, der zwar erst 1938 offizieller Mitarbeiter wurde, aber über eine Freundschaft mit Horkheimer schon seit 1923 an der Arbeit des Instituts teilnahme, ab 1931 Erich Fromm, Mitglied der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft, ab 1932 Herbert Marcuse, Schüler von Heidegger und Walter Benjamin).
[V46:289] Im Gegensatz zu Grünberg, der zwar auch die Kritik der politischen Ökonomie in das Zentrum seiner Theorie stellte, aber ein stark verkürztes, tatsachengläubiges Verständnis der Marx’schen Theorie hatte und sich fast ausschließlich empirisch-historischen Untersuchungen widmete, ging es Horkheimer, von Haus aus Philosoph, gerade darum, den philosophischen Gehalt der marxistischen Theorie zu erarbeiten, um die dogmatische Verhärtung der materialistischen Theorie, wie sie sowohl für die sowjetmarxistische wie die sozialdemokratische Partei der zwanziger Jahre kennzeichnend war, zu überwinden. Allerdings hielt er an der Notwendigkeit empirischer Untersuchungen fest. In seiner Antrittsvorlesung vom 24. 1. 1931 (
Zur gegenwärtigen Lage der Sozialphilosophie und den Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung
) entwickelte er als Leitfaden für die weitere |A 41|Arbeit des Instituts das Programm einer wechselseitigen Durchdringung und Vermittlung von philosophischer Sinnreflexion und materialer empirischer Forschung als notwendige Voraussetzung einer umfassenden kritischen Theorie der Gesellschaft.
|B 36|
[V46:303] Die
Zeitschrift für Sozialforschung
, die von 1932 bis 1941 von Horkheimer im Auftrag des Instituts herausgegeben wurde, sollte neben ihrer Funktion als Publikationsorgan des Instituts der Verwirklichung dieses Programms dienen. Angesichts der sich zuspitzenden politischen Ereignisse in Deutschland und der Schließung des Instituts wegen
staatsfeindlicher Tendenzen
emigrierte 1933 der größte Teil der Institutsangehörigen über Zweigniederlassungen in Genf und Paris nach New York, wo das Institut 1934 in enger Angliederung an die Columbia Universität neu errichtet wurde.
B B |B 38|
[V46:308] Während der Emigration wurden zunächst in einer Pariser AusgabeB das Fragment der empirischen Untersuchung zu
Autorität und Familie
veröffentlicht und umfangreiche Untersuchungen zu
autoritärer Charakter
durchgeführt (vgl. den 2. Studienbrief).
[V46:309] Die
Zeitschrift für Sozialforschung
konnte, nachdem 1933 die letzte Ausgabe in Deutschland erschienen war, noch bis 1940 in deutscher Sprache von der Libraire Fêlix Alcan in Paris herausgegeben werden (vgl. A. Schmidt 1974, S. 36 ff). Nach dem Einmarsch der Hitler-Truppen in Paris mußte auch hier der Druck eingestellt werden; vier weitere Hefte der Zeitschrift wurden noch in New York, nun hauptsächlich in englischer Sprache, verlegt.
|A 42|
[V46:311] Erst 1950 wurde das Frankfurter Institut, wieder- wiederum unter Leitung Horkheimer’s, Bneu eingerichtet.
|A 43|

1.2.3. Auseinandersetzung mit dem Faschismus

[V46:312] Die sich bald nach dem ersten Weltkrieg anbahnende politisch-soziale Katastrophe und die sich am Ende ergebende unmittelbare Bedrohung der Allgemeinheit wie jedes Einzelnen durch die
Barbarei
des Faschismus war so offensichtlich, daß die Forderung der Kritischen Theorie nach umfassender theoretischer Klärung und Reflexion als notwendiges Moment im Kampf gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft auf den ersten Blick entbehrlich erscheint. Insofern scheint auch Adorno’s Forderung,
daß Auschwitz nicht noch einmal sei
, in ihrer gesellschaftspolitischen Brisanz schon als solche einsichtig.
[V46:316] Die Tatsache jedoch, daß Adornodiese Forderung 1966 als Gegenwartsprogramm formulierte, daß er sie als
allererste an Erziehung
ansah (wenngleich er die Verhinderung eines zweiten Auschwitz keineswegs für ein bloßes Erziehungsproblem hielt; Adorno, Erziehung zur Mündigkeit, S. 88 ff.), verdeutlicht,
daß die Kritische Theorie
den Faschismus nicht als historische Entgleisung begreift, die mit der Zerschlagung des Hitler-Staates und der Restauration bürgerlich-demokratischer Verhältnisse überwunden wäre, sondern als in der Struktur bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaft latent angelegt.
[V46:317]
Die Nationalsozialisten fallen aus der Ent wicklung nicht heraus, wie die Rede, sie seien Gangster, es unterstellt. ... Nicht einbrechende Gangster haben in Deutschland die Herrschaft über die Gesellschaft sich angemaßt, sondern die gesellschaftliche Herrschaft geht aus ihrem eigenen ökonomischen Prinzip heraus in die Gangsterherrschaft über
.
(Horkheimer, Vernunft und Selbsterhaltung, S. 27/28).
|A 44|
[V46:318] Die Ursachen für den Umschlag des liberalistischen in den faschistischen Staat sind also nach der Kritischen Theorie nicht in der offensichtlichen Verletzung bürgerlich demokratischer Prinzipien in rassistischen Ideologien und Führertum zu suchen, sondern in Entwicklungstendenzen, die in dem liberalistischen Wirtschaftssystem angelegt waren und die mit der autoritären faschistischen Staatsherrschaft sich auch auf politischer Ebene Bahn brachen.
[V46:319] Die ökonomischen Grundlagen für die Entwicklung des autoritären Staates
[V46:320] "liegen im wesentlichen alle auf der Linie der Wandlung der kapitalistischen Gesellschaft von dem auf der freien Konkurrenz der selbständigen Einzelunternehmer aufgebauten Handels- und Industriekapitalismus zum modernen Monopolkapitalismus, in dem die veränderten Produktionsverhältnisse (und besonders die großen
Einheiten
der Kartelle, Trusts etc.) eine alle Machtmittel mobilisierende starke Staatsgewalt forderten ... Im Hinblick auf die Einheit der ökonomischen Basis läßt sich sagen: es ist der Liberalismus selbst, der den total-autoritären Staat aus sich heraus
erzeugt
hat: als seine eigene Vollendung auf einer höheren Stufe der Entwicklung. Der total-autoritäre Staat bringt die dem monopolistischen Stadium des Kapitalismus entsprechende Organisation und Theorie der Gesellschaft.

(Marcuse, Kultur und Gesellschaft , Bd. I, S. 32)
[V46:321] So gesehen muß der Faschismus ohne eine ökonomische Theorie der Gesellschaft und der Geschichte, deren wesentliche Elemente im folgenden kurz dargestellt werden sollen, weitgehend unbegriffen bleiben.
  1. 1.
    [V46:322] Der Liberalismus beruhte auf der Idee der freien Konkurrenz der Individuen. Im Zusammenspiel der viel fältigen Einzeltätigkeiten sollte sich aus dem Widerstreit der verschiedenen Bedürfnisse und Interessen |A 45|das Gleichgewicht der Wirtschaft als harmonisches Ganzes naturwüchsig herstellen und erhalten. Diese Konzeption widersprach jedoch der gesellschaftlichen Realität: Die Unversöhnlichkeit der sozialen Gegensätze zwischen einer herrschenden und einer beherrschten Klasse und die krisenhafte Entwicklung des Kapitalismus, die die behauptete Harmonie immer wieder zu stören drohten, veranlaßten den liberalistischen Staat entgegen seinem Postulat der Selbstregulation des Marktes zu gewaltsamen Eingriffen im Interesse des Privateigentums – und das hieß im Interesse der ohnehin ökonomisch Mächtigen, in deren Hand die Masse des Privateigentums (nämlich an Produktionsmitteln) versammelt war –, um Stabilität und Wachstum des Wirtschaftssystems zu sichern.
  2. 2.
    [V46:323] Die fortschreitende Zusammenballung des Kapitals, der damit verbundene latente oder offene Mißbrauch von Marktmacht durch Monopolgruppen auf der einen Seite, die Deklassierung weiter Teile des Bürger- und Kleinbürgertums und die gleichzeitige Organisierung einer revolutionären Gegenmacht innerhalb der Arbeiterklasse auf der anderen Seite, führten zu einer Verschärfung der sozialen Gegensätze, die die faschistische Bewegung zu bannen versprach. Gleichzeitig erforderte der Kapitalverwertungsprozeß angesichts der immer wiederkehrenden ökonomischen Krisen, die schließlich in der Weltwirtschaftskrise von 1929 einen Höhepunkt erreichten, der die Gesellschaft in ihrer Gesamtstruktur zu erschüttern drohte, eine zentralistische Staatsherrschaft, die mit den Mitteln weitausgreifender Planung und militärischer Organisation die Interessen des organisierten Monopolkapitalismus politisch absichern konnte.
  3. 3.
    [V46:324] Der Begriff der Vernunft, zunächst Mittel der Selbst behauptung des bürgerlichen Individuums gegenüber den geistlichen und weltlichen Autoritäten des absolutistischen Staats, wurde in der realhistorischen Entwicklung um seine ursprünglich gesellschaftskritische Dimension |A 46|verkürzt. Als das aufsteigende Bürgertum an die Macht kam und die privatwirtschaftliche Organisation der Gesellschaft politisch durchsetzen konnte, wurde zwar die Idee eines vernünftigen Interessenausgleichs im Diskurs freier Bürger, mit deren Hilfe sich das Bürgertum gegenüber dem Feudalismus emanzipiert hatte, als allgemeingültiges Prinzip behauptet und formalrechtlich institutionalisiert, real jedoch nicht eingelöst.
[V46:325] In der Rechtfertigung der tatsächlichen Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit der Gesellschaft verformte sich der bürgerliche Vernunftbegriff auf der einen Seite in den metaphysischen Glauben an eine sich über die soziale Ungleichheit und den Widerstreit der Interessen letztlich durchsetzende
natürliche Vernunft
des Ganzen. Auf der anderen Seite verkümmerte er zu besitzindividualistisch motivierter Zweckrationalität, die sich an ökonomischem Nutzen und privatem Vorteil orientierte. Mit anderen Worten, das bürgerlich-liberale Denken baute zwar auf die
Realität
individueller Praxis, vertraute aber blind auf eine sich im freien Spiel der Kräfte eigentätig herstellende
Vernünftigkeit
gesamtgesellschaftlicher Praxis, ohne diese selbst der rationalen Kontrolle zu unterwerfen. Damit blieben Struktur und Ordnung des gesellschaftlichen Ganzen der vernünftigen und bewußten Zielgebung entzogen.
[V46:326]
Gegenwärtig sehen sie (die Menschen) sich auf das Unheil zusteuern oder bereits in es verstrickt; sie sind in vielen Ländern dermaßen paralysiert von der herannahenden Barbarei, daß sie nahezu völlig außerstande sind, zu reagieren und sich in Sicherheit zu bringen. Sie sind Kaninchen vor dem hungrigen Marder. Vielleicht gibt es Zeiten, in denen man ohne Theorie auskommen kann; im Augenblick erniedrigt dieser Mangel die Menschen und macht sie hilflos gegenüber der Gewalt
.
(Horkheimer, Kritische Theorie, Bd. II, S. 308)
|A 47|
[V46:327]
Heute geht es nicht mehr darum, ein Glaubensbekenntnis zu eliminieren; denn in den totalitären Staaten, wo am lautesten an Heroismus und eine erhabene Weltanschauung appelliert wird, regieren weder Glaube noch Weltanschauung, sondern eine fade Mittelmäßigkeit und die Apathie des Individuums gegenüber dem, was von oben kommt. Unsere gegenwärtige Aufgabe ist es viel eher, die Gewähr dafür zu schaffen, daß in Zukunft die Fähigkeit zur Theorie und zum Handeln, das aus der Theorie erwächst, nie wieder verlorengeht ...

(Horkheimer, Kritische Theorie, Bd. II, S. 312)
|A 48|

Übungsaufgabe

  1. 1.
    [V46:337] Stellen Sie sich vor, Sie hätten Ihre Eltern oder andere Angehörige der älteren Generation zu befragen über die gegenwärtige Praxis der Berufsverbote aus politischen Gründen!
  2. 2.
    [V46:338] Formulieren Sie bis zu zehn Fragen, die Sie ihnen stellen würden!
    (Sollten Sie keine Einfälle für die Formulierung von Fragen haben, dann könnten Sie sich Anregungen holen in dem Buch von Max Frisch: Tagebücher 1966 – 71. Suhrkamp Verlag und Büchergilde Gutenberg).
  3. 3.
    [V46:339] Stellen Sie den unter 1. genannten Personen diese Fragen!
[V46:340] Anmerkung:
[V46:341] Der zweite Teil der Aufgabe (Formulierung der Fragen) ist zugleich eine Einsendeaufgabe.
|A 49| |B 42|

1.3.
Traditionelle
und
Kritische Theorie

(Horkheimer)

[V46:342] In Ansehung der praktisch-geschichtlichen Bedeutung bürgerlicher Denktraditionen entfaltet Horkheimer in seinen frühen Essays die Idee einer kritischen Theorie der Gesellschaft in der ständigen Auseinandersetzung mit fachsoziologischen, wissenschaftstheoretischen und sozialphilosophischen Gegenpositionen, die er unter dem Titel
traditionelle Theorie
zusammenfaßt.
[V46:343] Mit
traditioneller Theorie
ist zum einen jenes klassisch-philosphische Wissenschaftsverständnis gemeint, das in der Introspektion bzw. der autonomen, eigentätigen Reflexion des erkennenden Subjekts die Frage nach dem Sinn der Welt zu beantworten sucht und insofern der philosophischen Reflexion Vorrang vor jeder konkreten Analyse und empirisch gewonnenen Aussage einräumt.
[V46:344] Zum anderen – und dem gilt die weitaus schärfere Kritik Horkheimer’s – ist damit jener, im Zusammenhang mit der bürgerlichen Geschichte entstandene Begriff einer
modernen Wissenschaft
gemeint, die ihre Aufgabe nur noch in der Auffindung vorgegebener Erfahrungstatsachen und deren Einordnung in ein geschlossenes theoretisches System sieht und die der philosophischen Reflexion umfassender sozialer und kultureller Fragen Wissenschaftlichkeit abspricht.
[V46:345] Beide theoretischen Ausrichtungen erweisen sich als vereinseitigende Standpunkte, die entweder das autonome Bewußtsein bzw. den Geist oder aber die Vorgefundene, positiv konstatierbare Wirk lichkeit als einzig wahre Realität behaupten. Die Kritische Theorie sieht sich gleichsam in der Mitte zwischen diesen beiden Extremen. In |A 50|deren kritischer Vermittlung liegt nach ihrem Begreifen die Möglichkeit zur Überwindung und Aufhebung vereinseitigender Welt- und Wissenschaftsverständnisse. Ihre Kritik wendet sich jedoch nicht nur dagegen, sondern auch gegen die den beiden Betrachtungsweisen innewohnende Tendenz zur Verabsolutierung bestehender Verhältnisse, angelegt in ihrer Suche nach einer universal und ewig gültigen Wahrheit, die sich von der konkreten historischen Situation unberührt wähnt.
[V46:346] An der heute vorherrschenden
modernen
empirisch-analytischen Wissenschaft kritisiert Horkheimer
  • [V46:347] die theoretische Vernachlässigung von Genesis und Wirkung (Entstehungs- und Verwertungszusammenhang) wissenschaftlicher Erkenntnis. Dagegen will die Kritische Theorie die sich blind durchsetzende wechselseitige Abhängigkeit von Therapieproduktion und gesellschaftlicher Entwicklung, von unerkannter Parteilichkeit der Theorie und theoretisch nicht reflektierter BAnwendung ihrer Ergebnisse durchbrechen;
  • [V46:348] die fachspezifische Bornierung der Forschungstätigkeit und die damit verbundene Herauslösung der Untersuchungsgegenstände aus ihrem Realzusammenhang. Ohne die Berechtigung fachwissenschaftlichen Vorgehens grundsätzlich zu bestreiten, will die Kritische Theorie die Partikularisierung der Erkenntnis und die Isolierung der Erkenntnisgegenstände in der Reflexion des beiden gemeinsamen geschichtlich-gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs aufheben;
  • [V46:349] die Verselbständigung der wissenschaftlichen Methode von ihrem Gegenstand und deren Vereinheitlichung nach dem Muster naturwissenschaftlichen Vorgehens. |B 47|Demgegenüber fordert die Kritische Theorie, |A 51|daß die Methoden der Gesellschaftswissenschaften dem praktisch-geschichtlichen Charakter ihrer Erkenntnisgegenstände entsprechen.
  • [V46:350] das Postulat der Wertfreiheit von Wissenschaft. Aus der Einsicht in die unausweichliche Interessengebundenheit von menschlicher Erkenntnis erhebt die Kritische Theorie Bdie Begründung gesellschaftlicher Parteinahme Bzum Gegenstand ihrer theoretischen Reflexion.
|A 52|

1.3.1 Interesse und Vernunft

[V46:351] Wenn es für die Kritische Theorie der Gesellschaft etwas Elementares gibt, dann ist es die Sehnsucht der Menschen nach Glück und Freiheit. Die Sehnsucht nach einem glücklichen Dasein geht hervor aus der universalen Erfahrung von Leid und Unterdrückung und bedarf nach der Überzeugung der Kritischen Theorie keiner weiteren theoretischen Legitimation. Das Bild, das sich die Menschen vom Glück machen, die konkrete Erfüllungsvorstellung, verwandelt sich allerdings im Laufe der Geschichte. In der Kritischen Theorie wird es deshalb
[V46:352]
nicht als
Urbild
hingestellt, sondern von seinen Trägern selbst als durch die gegenwärtigen Verhältnisse bedingte, mit ihnen selbst vergängliche Zielvorstellung aufgefaßt.

(Horkheimer: Kritische Theorie, Bd. 1, S. 210 – im folgenden abgekürzt: KT I/II)
.
[V46:353] Die konkrete Vorstellung von einem glücklicheren Dasein entsteht und vergeht mit der historischen Konstellation, zu der sie gehört.
[V46:354] Die christliche Religion z.B. hat lange Zeit das Glück als menschliche Möglichkeit aus der geschichtlichen Welt verbannt und in die unbewegte Ewigkeit jenseitiger Paradiese projiziert. Die bürgerliche Emanzipation dagegen hat Glück zum herstellbaren Resultat diesseitiger gesellschaftlicher Organisation und Praxis erhoben. Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Genuß für alle – das ist das Glücksversprechen der bürgerlichen Epoche und an diesem bilden sich dann in erster Linie die Vorstellungen der Menschen von einem er füllten Leben.
|A 53|
[V46:355] Aber ihr Glücksversprechen hat die bürgerliche Gesellschaft nicht eingelöst. Ihr Ideal einer Gemeinschaft freier und gleicher Bürger trat in Widerspruch zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die Kritische Theorie hat in der Nachfolge von Karl Marx diesen Widerspruch aufgegriffen und zum Gegenstand ihres Nachdenkens gemacht. Unversöhnlich weist sie in der historischen Analyse nach, daß zwischen dem realen Zustand der bürgerlichen Gesellschaft und dem glückverheißenden Begriff, den diese von sich selber hat, ein Gegensatz besteht, der im Rahmen ihrer kapitalistischen Organisationsform nicht aufgehoben werden kann. Die Aufhebung dieses Gegensatzes aber ist das Interesse, wie schon der Marx’schen so auch der Kritischen Theorie. Sie hält deshalb der bürgerlichen
Idee einer vernünftigen, der Allgemeinheit entsprechenden gesellschaftlichen Organisation
(KT I, 162)
gerade dann die Treue, wenn sie die umwälzende Realität fordert. In dem, was sie überwinden will, ist die Kritische Theorie konkret, in dem, was sie erreichen will, notwendig abstrakt, weil es den Erfahrungshorizont der Vergangenheit und Gegenwart überschreitet. Wie das Glück aussehen soll, an dem sie sich orientiert, kann die Theorie nur ex negativo sagen: in der Kritik der bestehenden Verhältnisse.
[V46:356]
Das Ziel, das sie erreichen will, der vernünftige Zustand, gründet zwar in der Not der Gegenwart. Mit dieser Norm ist jedoch das Bild ihrer Beseitigung nicht schon gegeben. Die Theorie, die es entwirft, arbeitet nicht im Dienst einer vorhandenen Realität, sie spricht nur ihr Geheimnis aus.

(KT II, 165)
.
[V46:357] Erst in dem praktisch-geschichtlichen Kampf um die Veränderung bestehender Lebensbedingungen konkretisiert sich die Idee einer zukünftigen besseren Gesellschaft.
|A 54|

1.3.2. Theorie und Praxis

[V46:358] Die
traditionelle
, d.h. die moderne, bürgerliche Wissenschaft neigt dahin, das Theorie-Praxis-Problem als das der Anwendbarkeit und Nützlichkeit der Theorie für die Praxis zu sehen – besonders da, wo es sich um eine
praxisorientierte
Wissenschaft wie die von der Erziehung handelt. Sie entwirft ihre Theorien als gedankliche Instrumente zur Beherrschung natürlicher, ökonomischer, sozialer und psychischer Vorgänge. Im (Labor-)Experiment – orientiert an dem Zweck der Vorhersagbarkeit von Ereignissen – findet dieses
instrumentelle Interesse
seinen idealen wissenschaftspraktischen Ausdruck.
Praxis
ist dieser Auffassung nach eins mit der technischen Manipulation von Wirklichkeitsfaktoren zur Erreichung vorgegebener Zwecke.
[V46:359] So wird auch in der universitären erziehungswissenschaftlichen Ausbildung der Wert von Theorien häufig danach bemessen, ob sie als intellektuelles Handwerkszeug bei der Meisterung
praktischer
Probleme dienlich sind oder nicht, ob sie sich, mit anderen Worten, als Technik verwenden lassen.
[V46:360] Von einer Beschränkung des Erkenntnisinteresses auf derart unmittelbare
Praxisrelevanz
als Gütezeichen der Theorie setzt sich die Kritische Theorie entschieden ab. Ihrem eigenen Begriff von Kritik widerspräche es, wollte sie Rezepte fürs tägliche Geschäft, und sei es das scheinbar unschuldige der Erziehung, formulieren und der praktischen Erprobung zuführen. (
Kritische
Experimente – wie z.B. das Happening – dienen darum nicht der Ermittlung und Beherrschung invarianter sachlicher Abhängigheitsverhältnisse, sondern sie folgen dem Interesse an der Stimulierung spontanen, selbstbestimmten Verhaltens. Kritisches Denken läuft nicht
auf irgendeinen |A 55|deutlich zu umreißenden Konsum hinaus
(KT II, S. 166 bzw. Horkheimer, Traditionelle und Kritische Theorie, S. 36)
. Im folgenden wird nach der letzteren Ausgabe – abgekürzt: TKT – zitiert
[V46:361] Denn es
... ist nicht nur darauf gerichtet, irgendwelche Mißstände abzustellen, diese erscheinen ihm vielmehr als notwendig mit der ganzen Einrichtung des Geselslchaftsbaus verknüpft. Wenngleich es aus der gesellschaftlichen Struktur hervorgeht, so ist es doch weder seiner bewußten Absicht noch seiner objektiven Bedeutung nach darauf bezogen, daß irgendetwas in dieser Struktur besser funktionierte. Die Kategorien des Besseren, Nützlichen, Zweckmäßigen, Produktiven, Wertvollen, wie sie in dieser Ordnung gelten, sind ihm vielmehr selbst verdächtig und keineswegs außerwissenschaftliche Voraussetzungen, mit denen es nichts zu schaffen hat.

(TKT, S. 27)
[V46:362] Insofern die Kritische Theorie auch in partikularen Erscheinungen noch das gesellschaftliche Ganze, daß diese bestimmt, zum Gegenstand hat, kann sie die herkömmlichen Forderungen an praktisch verwertbare Theorie nicht erfüllen. Sie gibt nicht an, welche Mittel zur Erreichung gegebener, wohl definierter Ziele zu verwenden seien, weil jede partikulare Zwecksetzung und Mittelwahl innerhalb der unverändert belassenen gesellschaftlichen Struktur an deren Reproduktion notwendig teilhat. Die Ziele, die die Kritische Theorie im Auge hat, entziehen sich darum dem Postulat vorgängiger Operationalisierung – sie lassen sich allein negativ, durch Kritik des durch Ausbeutung, Unterdrückung, Entfremdung be stimmten Lebens der Gesellschaft formulieren. Ein gesellschaftlicher Zustand, in dem aus der kritischen – d.h. an Vernunft, Freiheit und Glückinteressierten – Theorie der Gesellschaft Anweisungen für das richtige Alltagshandeln sich |A 56|bündig ableiten ließen, hätte – mit Marx zu reden – die Philosophie bereits verwirklicht; der Widerspruch zwischen aktuellem Zustand und menschheitlicher Möglichkeit wäre schon überwunden und die als Kritik konzipierte Theorie wäre in ihrem veränderten Objekt, der dann befreiten Gesellschaft, praktisch aufgehoben. Das damit aufgeworfene Problem wird in der frühen Kritischen Theorie unter den drei folgenden Aspekten diskutiert:
  1. 1.
    [V46:363] dem Aspekt der Erkenntnistheorie
  2. 2.
    [V46:364] dem Aspekt der Gesellschaftskritik
  3. 3.
    [V46:365] dem Aspekt revolutionärer Praxis.
|A 57|

1.3.2.1. Erkenntnistheoretischer Aspekt

[V46:366]
Dieselbe Welt, die für den einzelnen etwas an sich Vorhandenes ist, das er aufnehmen muß und berücksichtigt, ist in der Gestalt, wie sie da ist und fortbesteht, ebensosehr Produkt der allgemein gesellschaftlichen Praxis ... Die Tatsachen, welche die Sinne uns zuführen, sind in doppelter Weise gesellschaftlich präformiert: durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstandes und den geschichtlichen Charakter des wahrnehmenden Organs
.
(TKT, S. 21 f.)
[V46:367] Horkheimer’s Sätze formulieren in gedrängter Form eine fundamentale Kritik unseres alltäglichen Denkens und unserer alltäglichen Erfahrung. Machen wir sie uns zu eigen, setzt sie uns, zunächst intellektuell, in ein verändertes Verhältnis zur gesellschaftlichen Praxis. Dies wird im folgenden ersichtlich werden.
[V46:368] Die Wahrnehmungen und das Denken der Menschen richten sich auf einen in geschichtlicher Praxis gebildeten, d.h. von Menschen produzierten Gegen stand. Die Welt, wie sie uns erscheint, ist bearbeitete Welt: Nichts von dem, was wir sehen, fühlen, hören, riechen und schmecken, ist frei von Spuren menschlicher Arbeit, und wo dies doch so scheint, etwa bei der Wahrnehmung entfernter Gestirne, gehört die Differenz zwischen bearbeiteter und unbearbeiteter Natur untilgbar zur Wahrnehmung des
Natürlichen
selber hinzu.
[V46:369] Aber nicht nur der Gegenstand, das Erkenntnis objekt, sondern gleichermaßen die
Instrumente
unseres Denkens und Wahrnehmens sind Resultate menschlicher Aktivität. Die spezifische Zurichtung unserer Sinnesorgane, die unterschiedliche Gerichtetheit, schließlich die Begriffe und Regeln, nach denen wir die Welt denkend ordnen und nachzukonstruieren suchen, spiegeln die im kollektiven Kampf um das Überleben |A 58|akkumulierten und veränderten geschichtlichen Erfahrungen. Die Auseinandersetzung mit der Natur und deren zunehmende Beherrschung durch die Steigerung der produktiven menschlichen Kräfte, die Formen der Arbeitsteilung und Kooperation, Elend und Hoffnung auf heraufkommende Möglichkeiten, Klassenherrschaft und Klassenkämpfe schlagen sich in dieser Erfahrung und damit in der das Denken und die Wahrnehmung strukturierenden Ordnung nieder, in der wir die Welt begreifen.
[V46:370] Für unser alltägliches Denken ist eine Wandtafel eine Wandtafel , ein Brief ein Brief, eine Universität eine Universität, ein Verbrechen ein Verbrechen. Solange wir uns daran halten, d.h. solange wir die
Tatsachen
durch unser Verhalten fraglos als
Gegebenes
bestätigen, können wir als Subjekte mit diesen Dingen (Objekten) umgehen, wir können uns – wie wir vielleicht sagen –
ihnen gemäß
verhalten. Darin liegt der pragmatische Vorteil dieser Sichtweise. Daß wir diesen alltagspragmatischen Vorteil aber aus der spezifischen Blindheit gegenüber der doppelten gesellschaftlichen Präformierung der Tatsachen ziehen, das ist die These der Kritischen Theorie.
|A 59|

Übungsaufgabe

  1. 1.
    [V46:371] Versuchen Sie an den genannten oder beliebigen anderen Tatsachen Ihrer Erfahrung, sich deren gesellschaftliche Produziertheit bewußt zu machen!
  2. 2.
    [V46:372] Folgen Sie dabei der von Horkheimer vorgenommenen analytischen Trennung zwischen wahrgenommenem Gegenstand und wahrnehmendem Organ: Notieren Sie Ihre Einfälle nachfolgend entsprechend dieser Aufteilung!
  3. |A 60|
  4. 3.
    [V46:373] Versuchen Sie sich aber schließlich bewußt zu machen, daß die beiden Seiten der Tatsachenproduktion in Wirklichkeit nicht voneinander zu trennen sind; denn wir können vom wahrgenommenen Gegenstand uns eben auf Grund von Wahrnehmungen eine Vorstellung zu machen.
|A 61|
[V46:374] Dem Alltagsdenken ist dies alles nicht gegenwärtig – die Reflexion auf die geschichtspraktische Konstitution seiner selbst wie seiner Objekte gehört ihm nicht zu. Die Dinge sind ihm vielmehr, was sie scheinen: nämlich objektiv gegeben. In diesem
Objektivismus
folgt ihm die
traditionelle Theorie
und Empirie. Jener Schein verhüllt jedoch, daß die Tatsachen, indem sie aus der gesellschaftlichen Praxis hervorgehen, immer schon subjektiv bestimmt sind: Sie sind zum einen Resultate gegenständlicher Tätigkeit – und sie sind zum anderen dem Denken und der Wahrnehmung allein kraft gesellschaftlich formierter (sozialisierter) Sinnesorgane und in Begriffen zugänglich, die sich in der Praxis gesellschaftlicher Reproduktion immer aufs Neue bewähren und entwickeln müssen.
[V46:375] Für die Kritische Theorie steht die geschichtlich-gesellschaftliche Welt als das Erkenntnisobjekt der Wissenschaft dieser nicht bloß gegenüber – hier der Begriff, die Theorie, das wahrnehmende Organ; dort der Gegenstand, die Realität. Weder läßt sie eine Auffassung gelten, nach der die Wirklichkeit ihre Ordnung nur nach Maßgabe der Kategorien des denkenden Subjekts erhalte, noch akzeptiert sie die entgegengesetzte, daß daß sich in der Erkenntnis die sinnlich wahrnehmbare Welt unabhängig von der konstruktiven Aktivität des erkennenden Subjekts einfach abbilde.
[V46:376] Vielmehr haben Subjekt und Objekt darin ihren Zusammenhang, daß sie beide Momente des geschichtlichen Prozesses sind, in dem die Menschen ihr Leben und damit die Verhältnisse, in denen sie zueinander und zur Natur stehen, produzieren und reproduzieren.
|A 62|
[V46:377] Daß diese Einheit von Subjekt und Objekt sich dem Alltagsbewußtsein entzieht, das wird bestärkt und befestigt durch die Teilung der Ar beit. Die Arbeitsteilung – innerhalb der Familie, nach Produktionszweigen, nach Stadt und Land, nach Hand- und Kopfarbeit, schließlich in ihrer äußersten kapitalistischen Form, in der Abtrennung des individuellen Arbeitsvermögens von den Produduktionsmitteln – läßt dem denkenden Subjekt in der bürgerlichen Gesellschaft (und damit auch in seiner Theorie) die Welt als übermächtig erscheinen, als eine Welt, deren Strukturen und Gesetzen es passiv unterliegt.
[V46:378]
Die gesamte wahrnehmbare Welt, wie sie für das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft vorhanden ist und in der damit in Wechselwirkung stehenden traditionellen Weltauffassung interpretiert wird, gilt ihrem Subjekt als Inbegriff von Faktizitäten, sie ist da und muß hingenommen werden. Das ordnende Denken jedes einzelnen gehört mit zu den gesellschaftlichen Reaktionen, die dahin tendieren, sich in einer den Bedürfnissen möglichst entsprechenden Weise anzupassen.
(TKT, S. 21)
[V46:379] Das einzelne Subjekt kann, sofern es die in den gegebenen Verhältnissen herrschenden Gesetzmäßigkeiten erkennt und anerkennt, einzelne Elemente dieser Welt zu seinem Vorteil manipulieren; die Gesetzmäßigkeiten selber entziehen sich seiner verändernden Aktivität.
|A 63|

1.3.2.2. Gesellschaftskritischer Aspekt

[V46:380] Aus der Sichtweise der Kritischen Theorie folgt, daß Subjekt, Theorie und Objekt nicht in einem überzeitlich konstanten Verhältnis zueinander stehen können, sondern daß ihre jeweilige Konstellation wie ihre je eigene Qualität veränderliche Momente eines sich verändernden geschichtlich-gesellschaftlichen Ganzen sind. Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsorganisation ist von dem Widerspruch durchherrscht, daß sie mehr als jede vorangegangene Gesellschaftformation sich von dem unmittelbaren Naturzwang befreit hat, also Produkt menschlicher Arbeit ist und dennoch auf ihre Produzenten als eine äußerliche, fremde Macht einwirkt, der sich zu fügen bei Strafe des sozialen Untergangs geboten ist. Angesichts dieses Widerspruchs wäre eine nur
verstehende
Erkenntniskonzeption ebenso unangemessen wie eine nur
erklärende
: Eine
verstehende
Konzeption des Sozialen müßte die Ein heit des gesellschaftlichen Subjekts und seiner Objektivationen prinzipiell als gegeben voraussetzen; Aufgabe der Theorie wäre die Auslegung des
Geistes
, des
Sinns
oder des
seelischen Zusammenhangs
, welcher die Subjekte in ihren ökonomischen und kulturellen Hervorbringungen bestimmte.
[V46:381] Eine
erklärende
Konzeption hingegen würde die verabsolutierende Trennung des Subjekts von einem Objekt, des Denkens von der Gegenstandswelt (s.o.) als universale Notwendigkeit unter stellen; Aufgabe der Wissenschaft wäre es, diejenigen invarianten Gesetzmäßigkeiten aufzudecken, nach denen die individuellen und gesellschaftlichen Lebensprozesse ablaufen und sich erklären lassen sollen.
|A 64|
[V46:382] Daß beide Konzeptionen, jede auf ihre Weise, der
Verklärung
(Hegel) des Bestehenden dienen, hat Horkheimer in den frühen Schriften immer wieder herausgearbeitet.
Verklärung
heißt: die Verhältnisse können bleiben, wie sie sind; es besteht keine Notwendigkeit, sie zu ändern. Ob nun die Theorie, wie in der Hegel’schen Philosophie, Vernunft und Wirklichkeit als versöhnte vorstellt anstatt diese Versöhnung als Aufgabe revolutionärer Praxis zu begreifen; oder ob mit den Geisteswissenschaften der Anspruch praktischer Vernunft aufgegeben und in den historisch sich wandelnden kulturellen Gestaltungen lediglich wechselnde Ausdrucksformen ein und derselben Menschennatur gesehen werden – solch verstehende Betrachtungsweise gibt keine Grundlage für Kritik, die eine fundamentale Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse als legitim und notwendig erscheinen lassen könnte. Denken dieser Art ist darum ebenso
affirmativ
, wie die an der modernen Naturwissenschaft orientierte, auf
Erklärung
abzielende objektivistische Konzeption. Denn mit ihrer scheinbar sachlichen Nüchternheit und Gleichgültigkeit, in der sie alle Erscheinungen, auch der Gesellschaft als Wirkungen objektiver Gesetzmäßigkeiten zu erklären sucht, reproduziert sie in der Theorie unbewußt die Mechanismen einer bewußtlosen, entfremdeten Praxis. Schon die Form traditioneller Theorie – ein hypothetisch-deduktives System raumzeitlich unabhängiger allgemeiner Aussagen – setzt darauf, daß an dieser Verfassung der Wirklichkeit sich auch künftig nichts ändere. In dieser implizierten Erwartung liegt die Parteinahme traditioneller Theorie.
[V46:383] Trotz dieser Parteilichkeit ist die traditionelle, objektivistisch erklärende Theorie nicht schlechterdings falsch. Denn daß
die bisherige |A 65|Geschichte ... nicht eigentlich verstanden werden
(TKT, S. 28)
(kann) – weil sie weniger dem bewußten kollektiven Willen ihrer Produzenten als objektiven Gesetzmäßigkeiten ökonomischer Prozesse gehorcht – ist eine Grundannahme jeder marxistischen und damit auch der Kritischen Theorie. Lapidar formuliert Horkheimer:
Die gegenwärtige Gesellschaftsform ist in der Kritik der politischen Ökonomie erfaßt.
(TKT, I. 263)
. Doch deren geschlossene Gestalt eines sich logisch entwickelnden Sachzusammenhanges bezieht ihre Rechtfertigung nicht – wie die traditionelle Theorie – aus einer allgemeinen Wissenschaftstheorie, sondern aus der geschichtlichen Beschaffenheit ihres konkreten Gegenstandes:
[V46:384]
In der theoretischen Notwendigkeit spiegelt sich die reale Zwangsläufigkeit, mit der in dieser Epoche die Produktion und Reproduktion des menschlichen Lebens vor sich geht, die Selbständigkeit, welche die ökonomischen Mächte den Menschen gegenüber gewonnen haben, die Abhängigkeit aller gesellschaftlichen Gruppen von der Eigengesetzlichkeit des wirtschaftlichen Apparates.

(TKT I, 263)
[V46:385] Doch gerade darin, daß die Geschichte nicht aus den gemeinsamen Intentionen der Menschen verstanden, sondern daß sie – gleich einem Naturgeschehen – aus Gesetzmäßigkeiten erklärt werden muß, die den Subjekten als bestimmende Mächte übergeordnet sind, liegt der Skandal:
[V46:386]
Wenn von Vernunft bestimmtes Handeln zum Menschen gehört, ist die gegebene gesellschaftliche Praxis, welche das Dasein bis in die Einzelheiten formt, unmenschlich, und diese Unmenschlichkeit wirkt auf alles zurück, was sich in der Gesellschaft vollzieht. Der intellektuellen und materiellen Aktivität der Menschen wird immer etwas äußerlich bleiben, nämlich die Natur als Inbegriff der jeweils noch unbeherrschten Faktoren, mit denen die Gesellschaft |A 66|es zu tun hat. Soweit aber dazu als weiteres Stück Natur die einzig von den Menschen selbst abhängenden Verhältnisse, ihre Beziehung bei der Arbeit, der Gang ihrer eigenen Geschichte gehören, ist diese Äußerlichkeit nicht nur keine überhistorische, ewige Kategorie – das ist auch bloße Natur im angegebenen Sinn nicht –, sondern das Zeichen einer erbärmlichen Ohnmacht, in die sich zu schicken widermenschlich und widervernünftig ist.

(TKT, S. 30)
[V46:387] Die Kritische Theorie beschränkt sich also nicht auf die Kritik herrschender Erkenntniskonzeptionen durch den Aufweis, daß Erkenntnisgegenstände wie Erkenntnismittel Produkte geschichtlicher Praxis und damit in geschichtlicher Praxis veränderbar sind. Die Kritik greift über auf die Gesellschaft selber.
[V46:388] Wiewohl die Menschheit ihre materiellen und intel lektuellen Kräfte soweit hat steigern und ein solches Maß an Reichtum hat anhäufen können, daß die weitgehende Emanzipation des gesellschaftlichen Lebens aus unwiderstehlichen Naturzwängen als reale Möglichkeit in Erscheinung tritt, reproduziert sich die Gesellschaft nach wie vor unter dem Bann von
Naturgewalten
durch Krisen, Elend und Katastrophen hindurch. In der Konkretisierung dieses Widerspruchs als eines Wesenszuges kapitalistischer Produktionsweise wird die Kritische Theorie zur Kritik der herrschenden Praxis, in der Subjekt und Objekt, Individuum und Gesellschaft, Denken und Handeln auseinanderfallen. Das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Theorie und Praxis (ihre
Einheit
, wie es bisweilen mißverständlich heißt) ist deshalb keine Frage der Wissenschaftsauffassung und Wissenschaftspraxis allein; es verweist viel mehr auf einen revolutionären Gesellschaftszustand:
|A 67|
[V46:389]
Das Zusammenwirken der Menschen in der Gesellschaft ist die Existenzweise ihrer Vernunft ...
(TKT, S. 25)
.
[V46:390] Aber:
Die Vernunft kann sich selbst nicht durchsichtig werden, solange die Menschen als Glieder eines vernunftlosen Organismus handeln.
(TKT, S. 28)
[V46:391] Daß die Vernunft sich selber durchsichtig werden, heißt nichts anderes, als daß die Menschen, die ihr Leben schon immer produzierten, das Leben mit Willen und Bewußtsein im Interesse aller pro duzieren. Das wäre
Einheit
von Theorie und Praxis. Subjekt und Objekt veränderten darin aber ihre Konstellation wie ihre Qualität, denn Theorie wird wesentlich zum Selbstbewußtsein einer befreiten Gesellschaft, in der Subjekt und Objekt – soweit dieses gesellschaftlich ist – zusammenfallen. In diesem zugleich utopischen und kritischen Sinn ist Horkheimer’s Satz zu verstehen:
[V46:392]
Im Denken über den Menschen klaffen Subjekt und Objekt auseinander; ihre Identität liegt in der Zukunft und nicht in der Gegenwart.

(TKT, S. 31)
|A 68|

1.3.2.3 Praktisch-Revolutionärer Aspekt

[V46:393]
Das dialektische Denken ... neigt dazu, das Ergebnis seines eigenen Tuns jeweils mehr im Sinn einer gesellschaftlichen Triebkraft als eines ewigen Besitzes zu begreifen. Das Bewußtsein von der eigenen Wahrheit wird dadurch nicht geschmälert; denn das Verhältnis zwischen Dauer, Sicherheit und Wahrheit ist nicht so starr und uniform, wie es dem Dogmatismus auf der einen Seite und der Skepsis auf der anderen scheinen mag.

(KT I, S. 219)
[V46:394] Die frühe Kritische Theorie wurde in der Isolation des New Yorker Exils formuliert. Der Anspruch, zum vorwärtstreibenden Faktor im Prozeß der Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu werden, war durch die Vertreibung aus Deutschland an der praktischen Einlösung weitgehend verhindert und vertagt. So abstrakt die Überlegungen zum Verhältnis zwischen der Kritischen Theorie und der politischen Praxis darum auch sind, sind sie doch integraler Bestandteil des kritisch-revolutionären Denkens von Max Horkheimer, wie es sich in seinen frühen Aufsätzen dokumentiert.
[V46:395] Kritische Theorie und revolutionäre Praxis sind weder unmittelbar eins, noch sind sie derart getrennt, daß theorieimmanent deduziert werden könnte, was praktisch zu tun sei. Die Theorie kann den gesellschaftlichen Veränderungsprozeß nicht als Abfolge und Summe wohldefinierter Einzelschritte – gleichsam als operationales Programm – vorgeben. Denn im Unterschied zur
traditionellen Theorie
, die auf Reproduktion und Variation des Bestehenden abzielt, auf empirische Prozesse also, die ja nur sinnvoll sind, wenn konstante Bedingungen angenommen werden, erweist sich die Wahrheit der Kritischen Theorie erst in der Herstellung vernünftiger Zustände; für diese allerdings wird prognostisch angenommen, |A 69|daß die Überwindung der Klassenherrschaft eine ihrer Bedingungen ist.
[V46:396]
Mit dem Siegel aller logischen Kriterien versehen, entbehrt sie bis ans Ende der Epoche doch der Bestätigung durch den Sieg. Bis dahin währt auch der Kampf um ihre richtige Fassung und Anwendung.

(KT II, 189)
[V46:397] Überhaupt deduziert die Kritische Theorie die Ziele der emanzipierenden Praxis nicht aus einer allgemein und überzeitlich gültigen Theorie. Eine revolutionäre Praxis, die ihr Handeln von der Kenntnis der notwendigen und hinreichenden Bedingung ihres Erfolges abhängig machte, wäre keine.
[V46:398] (Die nicht verstummende Forderung nach einem Bild der künftigen Gesellschaft und der Aufgabe der zu ihr hinführenden Schritte ist so töricht, wie die, zu einer Endeckungsreise nicht eher aufzubrechen, als man das Ziel in Agfacolor sich hat vor Augen führen lassen.)
[V46:399] Insofern die Kritische Theorie mit dem geschichtlichen Charakter aller Erscheinungen ernst macht, bezieht sie sich selber in den Geschichtsprozeß ein, dessen Einfluß auf ihre Struktur
zu ihrem eigenen Lehrbestand
gehört (
TKT, S. 53
).
[V46:400]
Die Theorie ist nur ein Element im geschichtlichen Prozeß, ihre Bedeutung läßt sich jeweils nur im Zusammenhang mit einer umschriebenen geschichtlichen Situation bestimmen.

(KT I, 136)
[V46:401] Entsprechend der 2. Feuerbachthese von Marx wird darum Theorie nicht
über
der Praxis, sondern als deren Moment begriffen:
[V46:402]
Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die |A 70|Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie muß daher
– und das wird kritisiert –
die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist – sondieren. Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rational verstanden werden.
[V46:403] In organisierter revolutionärer Praxis verschmilzt
der Wille zu einer freieren Menschheit mit der expliziten und höchst entwickelten Theorie der Gesellschaft
(KT I , 217)
. Der Wille zur Veränderung aber kann sich in der Theorie zwar klären und aus ihr Bestätigung ziehen – motiviert werden kann er aus ihr allein nicht.
In die Zielvorstellungen der Menschen gehen vielmehr ihre jeweiligen Bedürfnisse ein, die keine Schau zum Grunde, sondern eher die Not zur Ursache haben.
(KT I, 206)
[V46:404] Mit anderen Worten: Die Theorie kann nach Horkheimer’s Überzeugung ihre
Triebkraft
nur auf der Grundlage der gesellschaftlichen Elendserfahrung und Hoffnung derjenigen freisetzen, die die Träger sowohl der bestehenden Gesellschaft wie ihrer Transformation sind. Das bedeutet, daß der aus gesellschaftlicher Erfahrung und Hoffnung auf eine bessere Zukunft gespeiste Wille das kritische Denken etwa nicht überflüssig, sondern erst sinnvoll macht.
[V46:405] Diese
bessere Zukunft
, die Herstellung einer befreiten Gesellschaft, sei – so Auffassung der Kritischen Theorie – weder allein vom Willen der Menschen abhängig, noch sei ein teleologisches Vertrauen darauf gerechtfertigt, daß der Sozialismus mit
objektiver Notwendigkeit
aus dem ebenso objektiv notwendigen Zusammenbruch des Kapitalismus hervorgehen werde. Notwendig ist der |A 71|Sozialismus nur "im Sinne von Ereignissen, die man erzwingen kann, insoweit die bestehende Gesellschaftsordnung die dafür notwendigen Bedingungen und Tendenzen aus sich selbst hervortreibt.
[V46:406] Zwar ist Horkheimer mit Marx und Engels der Überzeugung, daß noch am ehesten das Proletariat auf grund seiner Situation das Interesse an der Überwindung kapitalistischer Verhältnisse ausbilde. Doch garantiert dies nicht die richtige Erkenntnis. Soll Kritische Theorie ihrem Anspruch gerecht werden,
die intellektuelle Seite des historischen Prozesses seiner (des Proletariats) Emanzipation
zu sein
(TKT. S. 34)
, so muß sie sich verbieten, bloß die Gefühle und Vorstellungen dieser Klasse – oder auch einer Partei – zu formulieren. Das bittere eigene Erleben,
daß gerade das aktuellste, die geschichtliche Situation am tiefsten erfassende, zukunftsreichste Denken in bestimmten Perioden es mit sich bringt, seinen Träger zu isolieren und auf sich selbst zu stellen
(TKT, S. 34)
, hat die frühe Kritische Theorie sicher ebenso dazu bestimmt, an der Differenz zwischen Theorie und Praxis unnachgiebig festzuhalten, wie die Erfahrung der intellektuellen Korrumpierung weiter Teile der sozialistischen Bewegung durch Reformismus auf der einen, Dogmatismus auf der anderen Seite.
[V46:407]
Wird ... der Theoretiker und seine ihm spezi fische Aktivität mit der beherrschten Klasse als dynamische Einheit gesehen, so daß seine Darstellung der gesellschaftlichen Widersprüche nicht allein als ein Ausdruck der konkreten historischen Situation, sondern ebensosehr als stimulierender verändernder Faktor in ihr erscheint, dann tritt seine Funktion hervor. Der Gang der Auseinandersetzung zwischen den fortgeschrittenen Teilen der Klasse und den Individuen, welche die Wahrheit über sie aus|A 72|sprechen, ferner die Auseinandersetzung zwischen diesen fortgeschrittensten Teilen mitsamt ihren Theoretikern und der übrigen Klasse ist als ein Prozeß von Wechselwirkungen zu verstehen, bei dem das Bewußtsein mit seinen befreienden zu gleich seine antreibenden, disziplinierenden, aggressiven Kräfte entfaltet. Seine Schärfe zeigt sich in der stets gegebenen Möglichkeit der Spannung zwischen dem Theoretiker und der Klasse, der sein Denken gilt.

(TKT, S. 34)
[V46:408] Seine Kritik hätte schließlich darüber zu wachen, daß die antizipatorischen Momente der kritischen Praxis, die der leitenden Idee einer freien Gesellschaft entspringen, nicht liquidiert werden (darin zeigt sich, daß die Kritische Theorie eine Form praktischer Philosophie, als ethische Reflexion, sein will). Sofern sie ihrer Intention treu bleibt, kann nämlich
in der Organisation und Gemeinschaft der Kämpfenden ... trotz aller Disziplin, die Notwendigkeit, sich durchzusetzen, begründet ist, etwas von der Freiheit und Spontaneität der Zukunft
(TKT, S. 36)
erscheinen.

Lektüreaufgabe 1

[V46:409] Lesen Sie zum vorstehenden Studientext den Aufsatz von Max Horkheimer: Traditionelle und Kritische Theorie, im gleichnamigen Taschenbuch (Fischer-Verlag) oder in: Kritische Theorie, Bd. II. (vgl. Literaturverzeichnis). Lektüre-Minimum sind die Seiten 27 – 42 (im Taschenbuch) bzw. 155 – 173 (Kritische Theorie II).
|A 73|

4.1. Ästhetische Theorie

[V46:467] In einem frühen Aufsatz von 1932 vergleicht Adorno die Aufgabe der Musik und mit ihr die der Kunst insgesamt mit der Kritischen Theorie:
[V46:468]
Heute und hier vermag Musik nichts anderes als in ihrer eigenen Struktur die gesellschaftlichen Antinomien darzustelllen, die auch an ihrer Isolation Schuld tragen. Sie wird um so besser sein, je tiefer sie in ihrer Gestalt die Macht jener Widersprüche und die Notwendigkeit ihrer gesellschaftlichen Überwindung auszuformen vermag; je reiner sie, in den Antinomien ihrer eigenen Formensprache, die Not des gesellschaftlichen Zustandes ausspricht und in der Chiffrenschrift des Leidens zur Veränderung aufruft. Ihr frommt es nicht, in ratlosem Entsetzen auf die Gesellschaft hinzustarren: sie erfüllt ihre gesellschaftliche Funktion genauer, wenn sie in ihrem eigenen Material und nach ihren eigenen Formgesetzen die gesellschaftlichen Probleme zur Darstellung bringt, welche sie bis in die innersten Zellen ihrer Technik in sich enthält. Die Aufgabe der Musik als Kunst tritt damit in gewisse Analogie zu der der gesellschaftlichen Theorie.

(Th. W. Adorno, Zur gesellschaftlichen Lage der Musik, in: Zeitschrift für Sozialforschung 1 (1932), S. 105)
[V46:469] Diese Stelle war Adorno so wichtig, daß er sie 30 Jahre später in seiner
Einleitung zur Musiksoziologie
wieder zitiert. Die vorsichtig ange deutete
gewisse Analogie
zwischen der künstlerischen und der theoretischen Tätigkeit ist ein durchgehendes Motiv in Adorno’s Denken, In seinen ästhetischen Schriften darf deshalb zumindest indirekt noch einmal Aufschluß darüber erwartet werden, was das ist: Kritische Theorie der Gesellschaft. Aber noch aus einem anderen Grund scheint es uns sinnvoll, im Rahmen dieser Studieneinheit die ästhetische Theorie zur Kenntnis zu nehmen: Seit mit dem Begriff
Bildung
ein Kernbestand derjenigen Problematik, mit der die Pädagogik sich befaßt, benannt wird, wurde immer wieder, jedenfalls versuchsweise, die Tätigkeit |A 74|des praktischen Pädagogen mit der des Künstlers (zumal des
bildenden
) verglichen. Es ist mindestens interessant zu fragen, ob die
Kritische Theorie der Ästhetik
einen solchen Vergleich zuläßt und in welchem Sinne er vorgenommen werden könnte.
[V46:470] Die künstlerische Tätigkeit ist für Adorno sowenig wie die theoretische ein bloß sich selbst genügendes Geschehen.
Reine Kunst
, wie sie Kandinsky gefordert hat, ohne jeden Zusammenhang mit der Gesellschaft , ist schon deshalb nicht denkbar, weil der Künstler als empirisches Subjekt Mitglied derselben, weil das Material, dessen er sich in seiner ästhetischen Produktion bedient, seinerseits ein gesellschaftlich produziertes ist .
[V46:471] "Die historisch konkreten, vom Inbegriff der Gesellschaft ihrer Zeit wiederum geformten Subjekte, von deren Fähigkeiten die materielle Gestalt der Produktion jeweils abhängt, sind nicht absolut andere als die, welche Kunstwerke verfertigen ... [V46:472] Ihre Arbeit, selbst die dem eigenen Bewußtsein nach individuellste des Künstlers ist stets
gesellschaftliche Arbeit

(Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, Frankfurt a.M. 1975, S. 249).
[V46:473] Aber wie wenig die ästhetische von der gesellschaftlichen Produktionsweise getrennt werden darf, sie ist dennoch nicht mit ihr identisch. Wer etwa unter der Parole
Kunst = Leben
die Differenz zwischen ästhetischer und gesellschaftlicher Produktion leugnet, vernichtet die Besonderheit der Kunst und subsummiert sie dem herrschenden Entfremdungszusammenhang.
[V46:474] Kunst ist also sowenig bloß Bestandteil des Be stehenden wie autonom. Ihre Besonderheit gegenüber der gesellschaflichen Wirklichkeit ist aber |A 75|auch nicht die eines Spiegels.
[V46:475]
Die Gesellschaft setzt sich nicht, wie die verhärtete Doktrin des Diamat ihren Untertanen einbläut, direkt handfest, nach dem Jargon jener Doktrin: realistisch in den Kunstwerken sich fort, wird nicht geradewegs sichtbar in ihnen.

(Einleitung in die Musiksoziologie, S. 214)
.
[V46:476] Kunst läßt sich weder linear aus etwas anderem herleiten, das ihr vorausgeht und das sie nur
wiederspiegelt
oder
transportiert
, noch ruht sie genügsam in sich selbst. Sie wird vielmehr als Kritik realisiert. Sie geht weder restlos auf in den ihr heteronomen Funktionszusammenhängen noch kann sie sich davon befreien. Sie bedarf des ihr Fremden, sonst hat sie keinen Angriffspunkt und läuft in sich leer. Sie ist abhängig von dem, was sie verneint. Maß der gesellschaftlichen Wahrheit der Kunst heute ist, daß sie
in Gegensatz tritt zu der Gesellschaft, in der sie entspringt, und in der sie steht: daß sie selber in einem wie immer auch vermittelten Sinn
kritisch
wird
. (Th. W. Adorno, Klangfiguren, Frankf. 1959, S. 29).
[V46:477] Als Kritik bricht die ästhetische Praxis die Zeichen unseres Alltags aus ihrem konventionellen Zusammenhang, ihren eingeschliffenen codes, und arrangiert sie uno actu auf eine neue und völlig ungewohnte Weise. Nichts ist in der Kunst, auch nicht in der sublimiertesten, was nicht aus der Welt stammte, aber nichts davon ist unverwandelt. Alles, womit der Künstler umgeht, ist schon da. Nur wird es von ihm wie mit einem Magneten abgelenkt von seiner gewohnten Bahn,
verfremdet
, und in eine neue Konstellation gebracht. So macht die Destruktion des Bekannten den Blick frei für bisher Ungesehenes.
|A 76|
[V46:478] Der neue Zusammenhang entsteht weder durch geduldige und kumulative Aneinanderreihung der verschiedenen Elemente noch durch ihre wechselseitige Nivellierung. Um die verschiedenen Elemente des tradierten Zusammenhanges an einer neuen Einheit zu verschmelzen, ist ihre Reduktion aufeinander so untauglich wie ihre Summierung. Im letzten Falle entsteht ein Potpourri mit willkürlichen und schematischen Verknüpfungen, im ersten ein trüber differenzloser Brei mit unausgeführten und flachen Details. Der neue Zusammenhang als ein entfaltetes System durchsichtiger und notwendiger Beziehungen entsteht vielmehr durch eine Prozedur, die Adorno, wie vor ihm Eisenstein, die Dadaisten und und Surrealisten (z.B. Max Ernst) als
Montage
beschrieben hat. Durch Montage werden die einzelnen Elemente nicht addiert oder reduziert, sondern viel mehr einander entgegengesetzt und durch die festgehaltene Differenz hindurch ihr verborgener Zusammenhang sichtbar gemacht. Montage ist eine Technik der Kontrapunktion. Durch sie versucht der Künstler die Einzelelemente syntaktisch zusammenzufügen, und eben dadurch werden sie bedeutungsvoll (Die moderne Musik, z.B. Berio und Cage, gibt dafür viele Beispiele).
[V46:479] Im Wie der Komponier- oder Malweise können unvergleichlich viel mehr Erfahrungen sich niederschlagen als in treuen Portraits von Generalen oder Revolutionshelden. Nach einem Wort von Karl Kraus taugt ein gut gemalter Rinnstein mehr als ein schlecht gemalter Palast. Was ein Kunstwerk sagen kann, sagt es durch seine Gestalt, die Konfiguration seiner unterschiedenen Momente. Bei einer gelungenen Montage überläßt sich der
Macher
(= Poeta) nicht seiner Spontaneität.
[V46:480] Was dabei herauskäme, wäre bestenfalls ein marktgängiges Produkt, das sich zwar vom übrigen Ange|A 77|bot unterscheidet und durch seine bizarre Form vielleicht sogar auffällt, aber keinerlei Gewohnheit wirklich verletzt. Ein Gebilde, das spontan montiert wird, hat nicht die Radikalität und innere Stringenz, die es braucht, um die beherrschenden Konventionen und rituellen codes auch im Ernst zu durchbrechen.
[V46:481] Die Montage bloß durch Spontaneität wie die Montage nach einem determinierenden Plan erzeugen keinen wirklich neuen Sinnzusammenhang. In beiden Fällen wird das ohnehin Bekannte reproduziert. Zu einem neuen Sinnzusammenhang gelangt die ästhetische Praxis erst dort, wo sie, nicht anders als die wissenschaftliche Praxis, im Umgang mit vor handenen Materialien, den Zeichen und codes, experimentell verfährt. Indem ein Kunstwerk, das wirklich eines ist, die konventionelle Umklammerung des Daseins sprengt, befreit es die unterdrückten und historisch liegengebliebenen Erfahrungen und holt sie gegen Ritual und Willkür ins Bewußtsein der Menschen zurück. Ästhetische Praxis ist mithin ein Prozeß der Erkenntnis. Je rücksichtsloser sie gegen die Selbstverständlichkeiten der herrschenden Kultur das Verdrängte, das Widerwärtige und Unscheinbare zur Sprache bringt, desto besser ist sie. Die
Avanciertheit
eines Kunstwerkes ist deshalb das einzige Kriterium seiner Güte. Immer wieder zitiert Adorno Rimbaud:
Il faut etrê absolument moderne
.
[V46:482] Für alle, die wie der Künstler selbst aus Ungenügen am Bestehenden das Neue gesucht haben, bedeutet der Augenblick, in dem die disparaten Elemente vor ihren Augen zur Einheit zusammenschießen, einen
Augenblick der Freiheit
(Adorno) und zugleich eine Provokation. Als Skandal (z.B. im Happening) bricht das Kunstwerk in den Alltag |A 78|ein. Durch jede avancierte ästhetische Praxis wird die bisherige Wahrnehmungs- und Handlungsweise der Subjekte und mit ihnen das Vertrauen in die etablierte Art intersubjektiver Verständigung angegriffen. Je radikaler ein ästhetisches Produkt die codes in Frage stellt, je weniger es den zur Gewohnheit gewordenen subjektiven Reaktionsweisen sich anpaßt, desto eher trifft es auf das, was in der Psychoanalyse Widerstand heißt. Adorno, wie die Theoretiker der Frankfurter Schule insgesamt, hat im Widerstand gegen das Neue einen neurotischen Mechanismus bemerkt: den Zwang zur Wiederholung:
[V46:483]
Die Sehnsucht wird ins Vergangene zurückgestaut. Die regredierenden Subjekte benehmen sich wie Kinder. Sie verlangen immer wieder nach der einen Speise, die man ihnen einmal vorgesetzt hat
.
[V46:484]
(Th. W. Adorno, Über den Fetischcharakter in der Mimik und Regression des Hörens, in: Th. W. Adorno: Dissonanzen, Göttigen 1963, S. 34)
[V46:485] Weil Ihnen die Hoffnung auf etwas Besseres ausgetrieben wurde, wehren sie sich voller Angst gegen jede Veränderung, die ihnen auch das Wenige, das sie haben, noch nehmen könnte. Ihr Widerstand ist konservativ. Er sichert ihre eingeschliffenen Produktions- und Kommunikationsweisen. Offen und naiv wird der Widerstand gegen das Neue nur von den Reaktionären ausgesprochen, weil sie real von dem abgeschnitten sind, was sie sein könnten, ergreift sie die Wut, wenn Kunst sie daran erinnert.
[V46:486]
Sie offenbaren, wann immer es ihnen erlaubt wird, den verkniffenen Haß dessen, der eigentlich das andere ahnt, aber es fortschiebt, um ungeschoren leben zu können, und der darum auch am liebsten die mahnende Möglichkeit ausrotten möchte
.
(Dissonanzen S. 29)
|A 79|
[V46:487] Bedeutende Kunstwerke bringen tendenziell alles aus ihrer Zeit zur Bedeutungslosigkeit, was ihren Standard nicht erreicht. Sie, die einmal die Invarianz von Seh- und Hörgewohnheiten, von Stilen aufgebrochen haben, wirken nun selber stilbildend. Sie bewerkstelligen in der Kunst, was in der Wissenschaft
Paradigmenwechsel
genannt wurde. Ein solcher
Wechsel
ist kein unvermittelter Gegenschlag gegen das Vorausgegangene, aber auch nicht bloß dessen stetige Erweiterung, sondern ein umwälzender Prozeß. Er bewahrt und vergegenwärtigt das überlieferte Material, die alten Codes und Zeichen, indem er sie verwandelt, auseinandernimmt und neu arrangiert. Ob ein ästhetisches Ereignis jedoch als
Fortschritt
bezeichnet werden kann, ist prinzipiell riskant. Ob angesichts eines konkreten Kunstwerkes es sinnvoll ist, von Fortschritt zu reden oder ob es nicht eine Veränderung ist, deren Richtung beliebig bleibt, ist mit theoretischer Gewißheit für den Zeitgenossen nicht auszumachen. Ähnlich in der Erziehung: Ob ein Erziehungsprozeß gelungen oder ob die erreichte Selbstbestimmung, Mündigkeit, Emanzipation (oder wie immer der angezielte Zustand des Subjektes bestimmt sein mag) nichts als willkürliche Freisetzung von Beschränkung ist, deren praktische Richtung und Bedeut samkeit nicht gültig beurteilt werden kann, ist vom Erzieher selbst kaum mit Gewißheit entscheidbar. Insofern sind ästhetische Produktionen wie Erziehungsprozesse notwendig
riskante
Unternehmungen.

Lektüreaufgabe 2

[V46:488] Lesen Sie zum vorstehenden Abschnitt des Studientextes die
Thesen gegen die musikpädagogische Musik
von Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 14, Frankfurt 1973, S. 437 – 447)
|A 80|

Übungsaufgabe

  1. 1.
    [V46:489] Haben Sie schon einmal – natürlich außerhalb des Karnevals – Ihr Gesicht stark geschminkt, wie z.B. Clowns, Pantomimen oder Schauspieler es häufig machen? Warum haben Sie Hemmungen, dies zu tun?
  2. 2.
    [V46:490] Versuchen Sie einmal, Ihr Gesicht vor dem Spiegel anzumalen, so daß es Ihnen wenig vertraut erscheint. Versuchen Sie, sich über die Empfindungen, die Sie dabei haben, und über die Widerstände, die in Ihnen auftauchen, klar zu werden! Welche besondere Art von Lust bereitet Ihnen das?
  3. 3.
    [V46:491] Stellen Sie sich nun noch vor, daß Sie so geschminkt anderen Personen beliebigen Alters gegenüber treten würden: z.B. Gäste empfangen, Nachbarn besuchen, einkaufen, auf einen Spielplatz gehen, an einem Gottesdienst teilnehmen. Wie, glauben Sie, verändern sich Ihre Lust- und Unlustgefühle, Ihre Widerstände, Ihre Ängste und Erwartungen?
  4. 4.
    [V46:492] Tun Sie es!
|A 81| |B 55|

BResumée: Fragen an die Pädagogik

[V46:493] In knappen Umrissen haben wir versucht, Grundthesen und -Annahmen der Kritischen Theorie darzustellen, zunächst allerdings noch unter Absehung von der weiteren Entwicklung, die diese Theorie im letzten Jahrzehnt genommen hat. Zum Abschluß dieser Studieneinheit aber soll doch schon die Frage aufgeworfen werden, welche Theoreme der Kritischen Theorie für eine pädagogische Theorie bzw. Erziehungswissenschaft von Bedeutung sein könnten. Wir wollen diese Fragen in der Form von Interpretationshypothesen formulieren, d.h. in der Form von Annahmen darüber, welche Theoreme Bder Kritischen Theorie in welcher Hinsicht für die Pädagogik von grundsätzlicher Bedeutung sein könnten.
  1. 1.
    [V46:494] Kinder kommen mit einer biologisch beschreibbaren Ausstattung ihres Organismus zur Welt. Andererseits ist ihr Bildungsprozeß sowohl als eine Ausformung dieser Ausstattung wie auch als Lern- und Umlernprozeß bestimmbar. Die Pädagogik drückt diesen Sachverhalt mit dem Begriff
    Bildsamkeit
    aus. Der Kritischen Theorie können wir nun in dieser Sache die Aufforderung entnehmen, die Bildsamkeit, den Weg, den sie durch den Bildungsprozeß des Einzelnen nimmt, als ein Produkt gesellschaftlich-menschlicher Tätigkeit, ja selbst als solche Tätigkeit zu sehen und nicht als Entfaltung einborener Anlagen.
  2. 2.
    [V46:495] Wo die bürgerliche Pädagogik das Erziehungs- und Bildungsziel in seiner allgemeinsten Form zu beschreiben versuchte, sprach sie von der
    Mündigkeit
    . Die Kritische Theorie verlangt hier eine Präzisierung, und zwar in zwei Richtungen: einerseits muß ermittelt werden, was aus der Tatsache folgt, daß
    Mündigkeit
    eine normative Kategorie ist, die historisch der bürgerlichen Gesellschaft zugehört und in dieser |A 82| Historizität ideologiekritisch bedacht werden muß. Andererseits steckt auch in dieser Kategorie, freilich in historisch besonderer Form, eine geschichtspraktische Antizipation, die Idee der Selbstbestimmung des Menschen nämlich, die über die bürgerliche Gesellschaft hinausweist; wo aber liegt der Geltungsgrund für eine Norm, in der Selbstbestimmung und Freiheit von Leid für alle gefordert ist und wie hätte Bdie Pädagogik mit dieser Frage umzugehenB?
  3. 3.
    [V46:496] Die Kritische Theorie verlangt vom Wissenschaftler wie vom Bürger überhaupt, daß sie sich zu dem gegebenen historischen Bestand an Institutionen, Werten, Vorstellungen, Gewohnheiten in eine kritische Distanz setzen, d.h. diese nicht als unveränderbare Fakten akzeptieren, sondern sie unter dem Gesichtspunkt ihrer Änderbarkeit betrachten. Für den Erziehungsvorgang nun ist wesentlich, daß das Kind, um sich bilden zu können, mit dem historisch gegebenen kulturellen Bestand vertraut gemacht wird. Wie der Künstler auf das historisch produzierte Material der von ihm verwendeten Medien angewiesen ist, um Neues zu
    montieren
    , so ist das Kind auf die Aneignung jener Kompetenzen angewiesen, die die Beteiligung als Gesellschaftsmitglied überhaupt erst möglich machen. Zugleich aber müßte es – nach den Postulaten der Kritischen Theorie – lernen, sich jenem kulturellen Material gegenüber distanziert zu verhalten, um ihm nicht ideologisch zu verfallen. Ist dieses Problem innerhalb einer pädagogischen Theorie lösbar?
  4. 4.
    [V46:497] Und schließlich: Folgt man den Grundannahmen der Kritischen Theorie, dann muß jede Lebensäußerung als Moment des ganzen gesellschaftlichen Zusammenhanges in einer besonderen geschichtlichen Situation betrachtet werden, im Falle der gegenwärtigen Form der bürgerlichen Gesellschaft besonders als Moment der kapitalistischen Ökonomie. Für die Erziehungswissenschaft sind damit mindestens zwei Fragen aufgeworfen, die sich aus der |A 83|erkenntnistheoretischen Position der Kritischen Theorie ergeben: Was folgt aus der Annahme, daß auch der, der über Erziehung (wissenschaftlich) nachdenkt, durch die Begriffe, Verfahren und
    wahrnehmenden Organe
    an den geschichtlichen Zusammenhang gebunden ist, den er erkennen will und was folgt aus der Annahme, daß auch der Gegenstand des Erkennens – die Erziehung nämlich in allen ihren Ausprägungen – Moment des gleichen Zusammenhanges ist? Was folgt daraus für die Wahl, die der Erziehungswissenschaftler für seine Themen und die Wahl, die er hinsichtlich seiner Methoden zu treffen hätte?
B
B
Kurs
B
.
B
»Einführung in die pädagogische Theoriebildung«
B
ø
B
»Einführung in die Anthropologie der Erziehung«
ebenfalls in der zweiten Einheit
B
ø
B
eigenen
B
Kurseinheit 1: Was ist
Kritische Theorie
?
B
ø
B
Kurseinheit 2: Zur pädagogischen Relevanz der Kritischen Theorie
B
Kurseinheit 3: Die Rezeption der Kritischen Theorie durch die Erziehungswissenschaft
B
Kurseinheit 4: Perspektiven einer kritischen Erziehungswissenschaft
B
zum Gesamtkurs
B
ø
B
zum Gesamtkurs
B
Horkheimer, M.: Traditionelle und kritische Theorie, Frankfurt/M. 1970 (Fischer-Taschenbuch 6015)
B
ø
B
Apel
B
.
B
Habermas, J./Luhmann, N.
B
.
B
.
B
.
B
Ders.: Traditionelle und Kritische Theorie. Frankfurt/M. 1970
B
K. Marx/F. Engels
B
.
B
.
B
.
B
moralia
B
.
B
.
B
.
B
.
B
.
B
.
B
.
B
.
B
.
B
.
B
. (Unter
B
.
B
ø
B
. In
B
Offe (Hrsg.):
B
.
B
ø
B
. In
B
.
B
. In
B
.
B
[V46:79] Claussen, B./Scarbath, H. (Hrsg.): Konzepte einer Kritischen Theorie der Erziehungswissenschaften. Einführende Texte. München/Basel 1979
B
.
B
.
B
.
B
. In
B
.
B
[V46:85] Herrmann, B.: Th. W. Adorno. Seine Gesellschaftstheorie als ungeschriebene Erziehungslehre. Bonn 1978
[V46:86] Hoffmann, D.: Kritische Erziehungswissenschaften. Stuttgart 1978
B
.
B
.
B
.
B
.
B
.
B
.
B
.
B
. In:
B
Blankertz
B
.
B
[V46:96] Schmied-Kowarzik, W.: Dialektische Pädagogik. Vom Bezug der Erziehungswissenschaften zur Praxis. München 1974
B
zur Einheit I
B
Adorno, Th. W.:
B
1975 (suhrkamp taschenbuch II)
B
Horkheimer, M.:
B
Kritische
B
1974 (Fischer Taschenbuch 6015)
B
Marcuse, H.:
B
1965 (edition suhrkamp 101)
B
Originaltexte
B
Adorno, Th. W.:
B
1974 (suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 2)
B
Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 8, Frankfurt 1972
B
Habermas, J.:
B
1975 (suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 1)
B
Horkheimer, M.:
B
:
B
1956
B
Marx, K.:
B
Ders.:
B
.
B
Gumnior, H./Ringguth, R.:
B
Jay, M.:
B
Schmidt, A.:
B
1974 (Reihe Hanser 149)
B
Weiterführende,
B
Adorno, Th. W.:
B
1969 (Bibliothek Suhrkamp 236)
B
Ders. (Hrsg.): Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Neuwied/Berlin 1969
B
Benjamin, W.:
B
(Frankfurt1975/ Bibliothek Suhrkamp 2)
B
Ders.:
B
1963
B
[V46:116] Dubiel, H.: Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung. Studien zur frühen Kritischen Theorie. Frankfurt 1978
[V46:117] Habermas, J.: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. Frankfurt 1976, StW 154
B
Marcuse, H.:
B
1973 (Bibliothek Suhrkamp 158)
B
Negt, O./Kluge, A.: Öffentlichkeit und Erfahrung. Frankfurt 1974
B
Hoffmeister, J.:
B
Klaus G./Buhr, M. (Hrsg.):
B
Vorhandene
B
.
B
und Vorstellungen.
B
Bildungsprozeß
[V46:125] Das Insgesamt von Erfahrungen und Lernschritten, durch welche das Subjekt eine für es selbst und andere verstehbare Gestalt erwirbt.
B
Chancen-Struktur
[V46:126] Das ist der Zusammenhang von gesellschaftlich vorgeformten Lebensmöglichkeiten, der einem Individuum aufgrund seiner sozialen Situation seines Bildungsstandes, seiner Lernfähigkeit offensteht. Dem korrespondiert eine subjektive Komponente: das, was das Individuum, seine Chancen einschätzend, für sich selbst tatsächlich erwartet oder aus seiner Erwartung ausschließt.
B
Die
B
.
B
Desymbolisierung
[V46:128] Der Vorgang, durch den ein Symbol (z.B. ein Wort) seine allgemein geteilte Bedeutung verliert, sei es, daß es zum Bestandteil einer (z.B. neurotisch verformten)
»Privatsprache«
wird, sei es, weil der Benutzer des Symbols (der Sprecher) die Bedeutung nicht mehr durch seine Erfahrung auffüllen kann (Klischee).
B
Devianz
[V46:129] In den Sozialwissenschaften gebrauchter Terminus, der alle Formen sozialer Abweichung zusammenfaßt. Darunter fallen auch biologisch, psychiatrisch und psychologisch definierte Abweichungen (Anormalitäten) insofern, als ihre Definition und Behandlung auf gesellschaftlich vermittelte, historisch veränderliche Klassifikationen und Weltbilder zurückgehen.
B
Dimension
[V46:130] Gegenstände empirischer Forschung sind in der Regel (in der Sozialwissenschaft) derart komplex, daß sie, um genau erforscht werden zu können, zergliedert werden müssen, auch wenn sie der alltäglichen Erfahrung als ein unteilbares Ganzes erscheinen. Solche Dimensionen müssen so konstruiert sein, daß sie getrennt voneinander beobachtbar (oder in einem Fragebogen durch verschiedene Fragen abfragbar) sind. Beispiel: Das Verhalten eines Kindes beim Spiel – obwohl ein ganzheitlicher Handlungsverlauf – läßt sich gliedern in die Dimension Spielabsicht, Motorik, sprachliche Äußerungen, nichtsprachliche Signale usw.
B
Disposition (psychische)
[V46:131] Ein Zusammenhang von erworbenen und/oder angeborenen Merkmalen des Organismus und seiner psychischen Ausstattung, die eine Vorhersage des Verhaltens in bestimmten Wahrscheinlichkeitsgrenzen gestatten (dazu kann z.B. das Intelligenzniveau, die affektive Grundstimmung, die Folgebereitschaft für Autoritäten, die Kenntnis verhaltensrelevanter Sachverhalte, Art und Ausmaß sprachlicher Fähigkeiten gehören).
B
Die Form der Verständigung, in der die im kommunikativen Handeln naiv unterstellte Legitimität von Geltungsan­ sprüchen, vor allem die des Anspruchs auf Wahrheit von Aussagen und die der Richtigkeit von Handlungsnormen problematisiert, begründet und argumentativ überprüft werden. Das Ziel eines Diskurses ist die Herbeiführung eines Einverständnisses.
B
Ein
B
.
B
Ego/Alter
[V46:134] Ego = Ich, Alter = der Andere. Diese Bezeichnungen für die Partner einer Interaktion werden gewählt, um deutlich zu machen, daß es sich in interpersonellen Situationen immer um die Verschränkung von Perspektiven handelt: jeder sieht gleichsam
»die anderen«
(Alter) von seinem
»Ich«
(Ego) her und sieht auch sein
»Ich«
von diesem
»anderen«
her.
B
.
B
Die
B
.
B
Eine
B
.
B
Generative Grammatik
[V46:138] Wer eine natürliche Sprache spricht, ist in der Lage, beliebige neue Sätze zu erzeugen (generieren) und nie zuvor gehörte Äußerungen zu verstehen. Wie ist dies möglich? Die Antwort auf diese Frage versucht die generative Grammatik. Nach Chomsky, der sie entwickelt hat, verdankt sich der produktive Sprachgebrauch am Ende einer allgemeinen, universalen Sprachkompetenz, über die jeder verfügt. Sie ist nicht erworben, sondern angeboren. Die universale angeborene Kompetenz enthält das Reservoir möglicher grammatischer Regelsysteme und zugleich die Prinzipien, nach denen jeder einzelne daraus im Verlauf des Spracherwerbs auf der Basis defekter und beschränkter Daten seine spezielle Grammatik erwählt. Die angeborene Kompetenz sichert und bestimmt unter den Sprachspielbedingungen des jeweiligen Sozialisationsprozesses den sukzessiven Aufbau einer empirisch geeigneten Grammatik,die dann ihrerseits als festes System generativer Regeln (Erzeugungsregeln) Produktion und Verständnis einer potentiell unendlichen Anzahl nie gehörter und gleichwohl wohlgeformter Sätze ermöglicht.
B
Hermeneutik
[V46:139] Im Gegensatz zum Erklären gesetzmäßiger Zusammenhänge,wie sie den Naturwissenschaften zugrundeliegen, ist Hermeneutik das nachvollziehende Erfassen fremder Sinnformen durch Auslegung von Texten, Dokumenten, Äußerungen etc. Erfahrungsgrundlage der Hermeneutik sind also sprachlich vermittelte Interaktionen zwischen handelnden Subjekten und die darin zur Anwendung und zum Ausdruck kommenden Sinnorientierungen. Die klassische Hermeneutik strebte an, durch das Hineinversetzen in die historische Situation des Sprechers, Autors etc. diesen besser zu verstehen als er sich selbst verstehen kann.
B
Einer
B
.
B
Historisches Bewußtsein
[V46:141] Eine Form des Bewußtseins, zu der es gehört, daß die eigene Erfahrung, das eigene Handeln und Denken als etwas begriffen wird, das in der geschichtlich besonderen Lage wurzelt, in der das Subjekt dieses Bewußtseins sich befindet. Dazu gehört die Fähigkeit, diese Lage als das Ergebnis eines geschichtlichen Prozesses zu begreifen.
B
Die
B
ist,
B
.
B
Ich-Identität
[V46:143] Die besondere Art und Weise, in der es einem Individuum gelingt, eine Balance herzustellen zwischen den verschiedenen und bisweilen sogar widersprüchlichen Erwartungen, denen es sich gegenübersieht auf der einen Seite und seinen eigenen Wünschen und Plänen auf der anderen Seite. Das Besondere an dieser Balance ist ihr reflexiver Charakter. Auf dem Niveau der Ich-Identität ist das Subjekt in der Lage, die Erwartungen der anderen genauso wie seine eigenen Pläne und Wünsche zu reflektieren und im Akt der Reflexion ihre Berechtigung argumentativ zu überprüfen.
B
Von Marx wird dieser Begriff gebraucht, um die Abhängigkeit des Denkens von der Lebenssituation zu beschreiben. Das Bewußtsein kann im Hinblick auf das analytische Durchdringen der gesellschaftlichen Situation
falsch
'ein, wobei sich das spezifisch
Falsche
als Folge historisch-gesellschaftlicher Vorgänge oder Zustände erweist und das Problem der Wahrnehmung gesellschaftlicher Komplexität betrifft. Im übrigen wird der Begriff auf unterschiedliche Weise von den verschiedenen Autoren benutzt.
Bisweilen auch wird I. ein Zusammenhang von Behauptungen genannt, deren Überprüfung zwar prinzipiell kein Widerstand entgegengesetzt wird, deren Gültigkeit jedoch zum Zeitpunkt der Äußerung keiner Prüfung unterworfen werden kann, ihre mögliche Wahrheit offen bleiben muß (z.B.
»Gott wird uns dermaleinst für unsere Sünden strafen«
, oder
»Wenn alle Menschen dem Postulat der Selbstbestimmung folgen werden, wird sich das Leiden der Menschen verringern«
).
B
Identität
[V46:145] Die vom Individuum für die Beteiligung an gemeinsamem Handeln und Kommunikation zu erbringende Leistung der Selbstinterpretation und Selbstdarstellung. Identität ist kein starres Selbstbild, sondern eine Interpretation, in der unter Berücksichtigung der eigenen Biographie und der gegenwärtigen Handlungssituation ein sinnhafter Zusammenhang zwischen den Ereignissen und Erfahrungen im Leben eines Individuums hergestellt wird. In seiner Identität stellt sich das Individuum durch allen Wandel hindurch als
»identisch«
mit sich selbst dar.
B
|B 63|
Implementation
[V46:146] Alle Maßnahmen, die zur Einführung eines ausgearbeiteten Curriculums in das bestehende Schul- und Unterrichtssystem dienen.
B
Interaktionskompetenz
[V46:147] Die Fähigkeit des Subjekts, an Interaktionen teilzunehmen. Weil diese Fähigkeit bei keinem Individuum von Anfang an in vollem Umfang schon vorhanden ist, kann man von einer Entwicklung der Interaktionskompetenz sprechen. Auf der fortgeschrittensten Stufe in der Entwicklung der Interaktionskompetenz sind die Interaktionsregeln, denen das Subjekt folgt, das Ergebnis einer rationalen und gewaltfreien Übereinkunft mit seinen Interaktionspartnern. Die Interaktionskompetenz besteht dann in der Beherrschung von gemeinsamen Regeln, die in einer gleichberechtigten Diskussion mit anderen gefunden und begründet worden sind.
B
Verschiedenen
B
.
B
Jugendhilfe
[V46:149] So wird der Zusammenhang pädagogischer Einrichtungen und Maßnahmen genannt, der sich auf Bildungsprozesse und Erziehungsprobleme außerhalb der Institutionen des Bildungswesens bezieht, also vor allem: Jugendarbeit, Familienbildung, Heimerziehung, die Tätigkeit von Jugendämtern usw. . Die gesetzliche Grundlage für diesen Bereich des Erziehungssystems ist das Jugendhilferecht (gegenwärtig geltend das "Jugendwohlfahrtsgesetz)
B
Kognitive Psychologie
[V46:150] Gegenstand der kognitiven Psychologie sind die Erkenntnistätigkeiten (kognitive Operationen) des Subjekts und ihre Entwicklung. Piaget, der bedeutendste Vertreter der kognitiven Psychologie, beschreibt die Erkenntnistätigkeit als einen Vorgang der Assimilation und Akkomodation. Assimilation heißt die Anpassung der Wirklichkeit an die eigenen Operationspläne (kognitive Schemata) und Akkomodation die Anpassung der Pläne an die Wirklichkeit. Die kognitiven Schemata sind genauso Bedingung der Erkenntnis, wie der Gegenstand, auf den sie sich richten. In sehr detaillierten Untersuchungen versucht Piaget zu zeigen, wie im Verlauf der Entwicklung aus den einfachsten kognitiven Schemata der senomotorisehen Phase (z.B. dem Greifschema des Säuglings) über eine irreversible Stufenfolge immer umfassendere Systemstrukturen entstehen (z.B. der Begriff der Perspektive). Je umfassender generalisierter eine kognitive Struktur ist, desto stabiler ist sie auch. Mit jeder Entwicklungsstufe wird für das Subjekt die Bewältigung kognitiver Konflikte wahrscheinlicher. Die Untersuchungen der Genfer Gruppe um Piaget galten u.a. der |B 64|Entwicklung der Raumvorstellung, des Zeit-, Zahl- und Mengenbegriffs und der Entstehung der Symbolfunktion. Diese Untersuchungen sind in Amerika vor allem von Bruner aufgegriffen und weitergerührt worden.
B
Kontext
[V46:151] Der Zusammenhang von Ereignissen oder Erfahrungsinhalten, der zum Verständnis der Bedeutung eines Einzelereignisses herangezogen werden muß: der Satz ist der Kontext des einzelnen Wortes; die ganze Äußerung der Kontext des einzelnen Satzes; die pädagogische Situation (Mutter-Kind) der Kontext dieser Äußerung; die Familienstruktur der Kontext dieser Situation usw.
B
Konstrukt
[V46:152] Eine in theoretischer Arbeit entwickelte Vorstellung von einem Wirklichkeitsausschnitt (z.B.
»Interaktion«
,
»Intelligenz«
), das Ergebnis also der konstituierenden Tätigkeit des Verstandes, mit deren Hilfe wir versuchen, uns die
»Wirklichkeit«
verständlich zu machen. Der Ausdruck
»Konstrukt«
soll deutlich machen, daß wissenschaftliche Begriffe die Wirklichkeit nicht abbilden, sondern nur Versuche darstellen, auf kontrollierte Weise überhaupt etwas über sie aussagen zu können.
B
Liberalismus
[V46:153] Eine im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Entstehung des kapitalistischen Wirtschaftssystems entwickelte sozialtheoretische Position, deren wesentlichste Annahme darin bestand, daß der Gesellschaftsprozeß dann am vernünftigsten verlaufen werde, wenn die Bürger in ihrem Handeln (vor allem im Wirtschaftshandeln) unbeschränkt bleiben, der Staat auf Eingriffe verzichte und lediglich Schutzfunktionen gegen äußere (z.B. Krieg) und innere (z.B. Kriminalität) Bedrohungen ausübe.
B
Ein
B
.
B
Die
B
kulturellen
B
.
B
Eine
B
.
B
Offene Curricula
[V46:157] Im Unterschied zu den
»geschlossenen Curricula«
ist in den
»offenen«
weder der individuelle Lernverlauf samt seinem Ergebnis, noch die Tätigkeit des Lehrers durch Vorgabe detaillierter Lernsequenzen determiniert. Das Interesse der offenen Curricula ist die Entfaltung von Kreativität. Dieses Interesse verbietet eine rigide Vorausplanung und damit Normierung und Kanalisierung des Unterrichtsprozesses. Dennoch wird auf Planung nicht verzichtet. Aber Planung und Durchführung sind nicht mehr institutionell scharf voneinander geschieden. Beim offenen Curriculum sind Lehrer wie Schüler an der Planung des Unterrichts genauso beteiligt wie an seiner Durchführung.
B
Die Angabe von Verfahren, mit dem theoretische Begriffe (Konzepte) eines empirisch zu untersuchenden Gegenstandes mit den zu beobachtenden Merkmalen dieses Gegenstandes verknüpft werden.
B
Der
B
/Theorie
B
.
B
Das
B
.
B
Ein
B
.
B
Psychoanalytische Begriffe
[V46:162] (Die folgenden Erläuterungen lehnen sich an das
»Vokabular der Psychoanalyse«
von J. Laplanche und J.P. Pontalis, Frankfurt/M. 1973 an).
B
Es – Ich – Über-Ich
[V46:163] Zentrale Termini der sogenannten
»Strukturhypothese«
Freuds über die Organisation des seelischen Apparates. In diesen drei Instanzen sind Gruppen von psychischen Inhalten und Prozessen zusammengefaßt, die jeweils unterschiedliche Funktionen der Persönlichkeit wahrnehmen.
B
|B 66|
Es
[V46:164] Psychische Repräsentanz von (organisch fundierten) Primärbetrieben, Bereich des Unbewußten. Es ist frei von Formen und Prinzipien,.die das bewußte soziale Individuum ausmachen, vor allem frei von Wertungen und Moral, der Unterscheidung von Gut und Böse. Es hat nur das Bestreben, den Triebbedürfnissen lustvolle Befriedigung zu verschaffen. Man muß annehmen, daß zum Zeitpunkt der Geburt das Es den gesamten psychischen Apparat umfaßt, aus dem sich erst im Verlauf der Entwicklung das Ich und das über-Ich ausdifferenzieren.
B
Ich
[V46:165]
»Vermittler«
zwischen Es, Über-Ich und Außenwelt, das sich allmählich im Konflikt mit der Umwelt herausbildet. Seine Hauptfunktion besteht in der Koordinierung, Abwandlung, Organisierung und Steuerung der Triebimpulse des Es, um Konflikte mit der Realität zu mildern. Damit übernimmt es zugleich die Funktion der Selbsterhaltung gegenüber dem Es, das in seinem blinden Streben nach Triebbefriedigung zur Daseinsvernichtung führen würde.
B
Über-Ich
[V46:166] Psychische Repräsentanz der geltenden Moralgesetze, sozialen Normen und Ideale. Seine Rolle ist vergleichbar mit der eines Richters oder Zensors. Seine Funktionen liegen in der Selbstkontrolle, dem Gewissen und der Idealbildung. Der Ursprung des Über-Ichs liegt in der langen Abhängigkeit des Kindes von seinen Eltern. Die Einschränkungen, Gebote und Verbote, die dem Kind anfänglich von den Eltern und weiterhin von anderen Vertretern der Gesellschaft von
»außen«
auferlegt werden, werden vom Kind verinnerlicht und zum eigenen
»Gewissen«
.
B
Abwehr
Abwehrmechanismen
[V46:167] Funktionen des Ich, mittels derer die Integrität und die Konstanz der psychischen Organisation gegen Bedrohungen von innen und außen geschützt wird. Die Abwehr kann sich gegen unerwünschte (tabuisierte und/oder mit Realitätsforderungen unvereinbare) Triebregungen, gegen das Über-Ich, sofern von ihm unerträgliche Schuldgefühle oder Bestrafungsängste ausgehen, schließlich auch gegen identitätsbedrohende Aspekte der Außenwelt richten. Die Psychoanalyse unterscheidet zwischen verschiedenen psychischen Operationen, die der Abwehr dienen, z.B. Verdrängung, Projektion, Identifikation mit dem Angreifer, Rationalisierung usw.
B
Identifikation
Identifizierung
[V46:168] Psychischer Vorgang, bei dem das Individuum sich Eigenschaften, Qualitäten, Erwartungen (auch Gebote und Verbote) eines anderen zu eigen macht und dadurch unbewußt dessen Stelle einnimmt,
»wird wie der andere«
. In der Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil sieht die Psychoanalyse die
»normale«
Auflösung des Ödipuskompleyes.
B
|B 67|
Libido
[V46:169] Psychische Energie, die mit dem Sexualtrieb verbunden ist.
B
Masochismus
[V46:170]
  1. a)
    Sexuelle Perversion, bei der die sexuelle Befriedigung an das Leiden oder die Demütigung, die das Subjekt erduldet, geknüpft ist.
  2. b)
    allgemeiner: eine – nicht manifest sexuelle – Befriedigungsform, die auf dem Beherrschtwerden durch Stärkere basiert. Dazu gehört auch der
    »moralische Masochismus«
    , in dem das Subjekt aufgrund unbewußter Schuldgefühle sich in die Position des Opfers begibt. (In unserem Text wird der Begriff in diesem allgemeineren Sinn verwendet).
B
Narzißmus
[V46:171]
Die Liebe, die man dem Bild von sich selbst entgegenbringt.
  1. a)
    primärer Narzißmus: ein früher Zustand, in dem das Kleinkind sich selbst mit seiner ganzen Libido besetzt.
  2. b)
    sekundärer Narzißmus: in späteren Entwicklungsstadien ein psychischer Vorgang, in dem die inzwischen auf fremde Objekte gerichtete Libido auf das Selbst zurückgewandt wird.
B
Projektion
[V46:172] Psychische Abwehroperation, durch die das Subjekt Qualitäten, Gefühle, Wünsche usw., die es verkennt oder in sich ablehnt, aus sich ausschließt und in dem anderen (Person oder Sache) lokalisiert.
B
Sadismus
[V46:173] Befriedigungsform, die an das dem anderen zugefügte Leiden, an dessen Demütigung oder Unterwerfung gebunden ist.
B
Relativismus, relativistisch
[V46:175] Eine geschichtsphilosophische Position, die von der prinzipiellen Gleichwertigkeit aller gesellschaftlichen Erscheinungen ausgeht. Die Wissenssoziologie untersucht in dieser Einstellung die gesellschaftlich vorfindlichen Wissensformen und Ideologien; wobei die Wissenschaft selber als eine Form gesellschaftlichen Wissens unter anderen behandelt wird.
B
|B 68|
Sprechakte
[V46:176] Sprechakte sind sprachliche Äußerungen in Redesituationen. Als sprachliche Äußerungen haben sie die Form von Sätzen und bringen als solche etwas zum Ausdruck. Durch ihre Verwendung in Redesituationen aber werden diese Sätze zugleich Handlungen und stellen als solche etwas her. Indem ich in einer aktuellen Gesprächssituation einem Kommunikationspartner gegenüber den Satz äußere:
»Ich verspreche dir morgen zu kommen«
, bringe ich nicht nur ein Versprechen zum Ausdruck, sondern ich gebe ein Versprechen. Die Äußerung ist das Versprechen, das sie auch darstellt. Durch ein solches Versprechen wird die Redesituation und mit ihr die Beziehung zwischen den Kommunikationspartnern verändert. Man kann sagen, das Versprechen hat für die Gesprächspartner eine neue Situation geschaffen. Was für das Versprechen gilt, gilt auch für alle anderen Sprechakte wie z.B. Behauptungen, Fragen, Befehle, Warnungen, Enthüllungen usw.: Sie erzeugen die Redesituation mit, in der sie geäußert werden.
B
Das
B
.
B
Typus
[V46:178] Ein theoretisches Konstrukt, das in reiner und eindeutiger Form nicht in der
»Wirklichkeit«
beobachtet werden kann. Es existiert nur in unseren Deutungen und Handlungen; mit seiner Hilfe suchen wir uns die Vielfalt der Erscheinungen verständlich und zugänglich zu machen. Interpretieren wir verschiedene Wahrnehmungen als ähnlich und finden wir, daß solche Ähnlichkeiten für unser Handeln bedeutungsvoller sind als andere, dann fassen wir sie zu einem Typus zusammen. Das geschieht im Alltagshandeln ununterbrochen (ein
»typischer Italiener«
, ein
»typisches Landkind«
usw.); der Unterschied zum wissenschaftlichen Gebrauch dieser Kategorie besteht darin, daß der Wissenschaftler bei der Konstruktion eines Typus methodisch nach kontrollierbaren Regeln verfährt und dem Anspruch zu genügen sucht, den objektiven Sinn der Wirklichkeit zu treffen.
B
Unter
B
.
B
Eine
B
.
B
Verdinglichung
[V46:181] Alles was wir wissen ist präformiert durch unser wahrnehmendes Organ. Die Wirklichkeit, der wir uns gegenübersehen, ist Produkt unserer Erkenntnis und als solches historisch und revidierbar. Dort, wo der historische Charakter unserer Erkenntnis geleugnet und die Begriffe und Vorstellungen einer möglichen Korrektur entzogen werden, sprechen wir von ihrer Verdinglichung.
B
Ein
B
.
B
Der
B
ø
B
[V46:184] Wenn Sie den folgenden Kurs durchgearbeitet haben, dann sollten Sie
B
[V46:185] etwas über die historische Situation, in der die Rezeption der Kritischen Theorie für die Erziehungs­wissenschaften relevant wurde, sagen können,
B
B
den Zusammenhang zentraler Begriffe der Kritischen Theorie verstehen können,
B
B
den Unterschied von Kritischer und Traditioneller Theorie bezeichnen können,
B
B
die gesellschaftliche Funktion von Theorie als relevante Fragestellung begründen können,
B
B
die historische Determination Ihres eigenen Denkens zum Gegenstand Ihrer Reflexion machen können,
B
B
versuchen, die pädagogischen Handlungsziele als geschichtliche Erscheinungen zu begründen.
B
1.
B
Mit dem
B
B
gemeint
B
sollen
B
drei Fragen
B
ø
B
.
B
Wir
B
Kritische Theorie
B
ø
B
.
B
Wir
B
Kritische Theorie
B
[V46:191a] Mit dem Thema
»Pädagogik der Kritischen Theorie«
ist nicht Bedeutung der Kritischen Theorie für die Pädagogikein Sachverhalt gemeint, den es völlig zweifelsfrei schon gibt. Mit ihm sollen vielmehr drei Fragen aufgeworfen werden:
  1. 1.
    [V46:191b] Wir wollen prüfen, ob der Typus von Gesellschaftstheorie, der in der Zeit des herannahenden Faschismus im Frankfurter Institut für Sozialforschung unter dem Namen
    »Kritische Theorie«
    entwickelt wurde, geeignet ist, auch der Wissenschaft von der Erziehung als theoretischer Ausgangspunkt zu dienen.
  2. 2.
    [V46:191c] Wir wollen ferner prüfen, inwieweit Erziehungswissenschaftler bisher jene
    Kritische Theorie
    in ihrem Denken verwendet haben.
  3. 3.
    [V46:191d] Wir wollen schließlich diskutieren, mit welchem Recht solche Erziehungswissenschaftler sich auf die
    Kritische Theorie
    berufen.
B
ø
B
B
. Ihnen war folgendes gemeinsam:
B
B
1930
B
ihre Eltern und Freunde
B
B
B
Litt,
B
B
B
B
die Probleme der pädagogischen Praxis zu erfahren und ihre Vorstellungen in der pädagogischen Praxis zu gestalten
B
Nach
B
waren sie selbst in der Situation, eine eigene Lehre vertreten zu müssen. Erneut und nicht mehr nur rezeptiv wie in ihrer Studienzeit mußten sie sich mit der Frage auseinandersetzen, was denn eine zu verantwortende Erziehungswissenschaft sei.
B
Aber an welchen Theorien und Fragestellungen konnten sie sich orientieren?
B
In der
B
bot sich für sie
B
: mit
B
1)
1)1969 wurde von einer Autorengruppe (Schäfer/Nedelmann) eine politische Analyse der Bundesrepublik mit dem Titel
Der CDU-Staat
, Analysen zur Verfassungswirklickeit der BRD herausgegeben. Die Autoren untersuchten dort wesentliche Resultate von 20 Jahren
sozialer Marktwirtschaft
und
freiheitlicher rechtsstaatlicher Demokratie
auf dem Hintergrund historischer Kontinuität und Diskontinuität der besonderen Tradition poli­tischer und ökonomischer Herrschaft in Deutschland. Der
CDU-Staat
gilt dort als politikwissenschaftlicher Begriff der Restauration des organisierten Kapitalismus mit technokratischer Legitimation. Er ist die Bezeichnung für die Zeit, in der in der Bundesrepublik die CDU die Regierung bildete.
B
ø
B
festgeschrieben
B
ergreifen
B
ø
B
blieb im Zuge dieser Restauration anscheinend ohne Konsequenzen. Nach einer Phase der Auseinandersetzung und der Öffnung für weitergehende demokratische Veränderungen kurz nach Kriegsende verengte sich die Aufarbeitung der Vergangenheit in einen pauschalen
Anti-Totalitarismus
. Diskussionen über radikal demokratische und sozialere Formen der Eigentumsverteilung und der Machtkontrolle wurden auf dem Hintergrund des Ost-West-Konfliktes als eine dem
freiheitlichen Rechtsstaat
ungemäße Form abgewehrt.
B
Die undifferenzierte Auseinandersetzung mit autoritären Staatsformen führte zu einem pauschalen Bekenntnis zu Demokratie und Freiheit, wobei der restaurative Staat als Inbegriff dieser Ordnung gesehen wurde. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in der Haltung des Anti-Totalitarismus wurde wesentlich als
»Anti-Kommunismus«
wirksam, denn in der
DDR
war ja im unmittelbaren Gesichtsfeld ein Staat entstanden, der die Züge eines autoritären Staates trug.
B
harmlosen
B
B
ø
B
gesellschaftliche
B
B
. In ihrem Apell, an die ausländische Tradition der Erziehung anzuknüpfen, versuchte sie, zum
sittlich Guten
in der Erziehung auffordern, ohne die Bedingungen herauszufinden, unter denen diese
sittliche Verpflichtung
eingehalten werden konnte.
B
Letzten
B
konnte sie
B
ø
B
Angesichts solcher Anregungen schien nur eine Form von Erziehungswissenschaft akzeptabel
B
B
;
B
zu beantworten
B
denn
B
ø
B
sollte und wie vor dieser Geschichte Handlungsziele zu verantworten sind;
B
B
B
B
ø
B
:
B
ø
B
:
B
. In: ders.:
B
(Vortrag, gehalten 1964)
B
ø
B
:
B
. In
B
(Antrittsvorlesung, gehalten 1965)
B
ø
B
: Zwei
B
. In
B
ø
B
:
B
.
B
ø
B
:
B
. Hrsg. von I. Dahmer/W. Klafki
B
ø
B
:
B
:
B
ø
B
:
B
. In: ders.
B
und
B
.
B
An den deutschen Universitäten begann, ungefähr zur gleichen Zeit,
B
mit den gesellschaftspolitischen Ansprüchen an die Wissenschaft auseinandersetzten, und der Wissenschaft den
Elfenbeinturm
, in den sie sich zurückgezogen hatte, nicht mehr zugestanden, die sich selbst als Wissenschaftler auch politisch verantwortungbewußt definierten und wissenschaftliche Erkenntnisse in ihre Praxis integrieren wollten. Die Kritik wandte sich gegen die
technologische
Verkürzung von Wissenschaft.
B
das Motiv entstand
B
auszuarbeiten
B
.
B

1.1 Einige geschichtliche Motive

[V46:220] Wie ist es dazu gekommen, daß die
Kritische Theorie
, die ja keine genuin erziehungswissenschaftliche Fragestellung verfolgt, sondern eher als ein wissenschaftliches Verfahren zu bezeichnen ist, für die Diskussion in den Erziehungs­wissenschaften bedeutsam wurde?
[V46:195] Gegen Ende der 50er Jahre hatten an einigen deutschen Universitäten, beispielsweise in Göttingen und Marburg, mehrere junge Erziehungswissenschaftler ihre Dissertation abgeschlossen. Ihnen war folgendes gemeinsam:
  • [V46:196] Sie hatten (ungefähr zwischen 1926 und 1930 geboren) den Faschismus noch in seiner letzten Phase bewußt erlebt, in der Zwangsjacke der
    »Hitlerjugend«
    , als Luftwaffenhelfer, als Soldaten faschistische Gewalt am eigenen Leibe erlebt oder über ihre Eltern und Freunde kennengelernt.
  • [V46:197] Sie hatten, als sie genötigt waren, die Ausbildung zur Hochschulreife nach Beendigung des Krieges zu Ende zu führen, die politische Hilflosigkeit ihrer Lehrer erfahren. Diese Pädagogen verleugneten plötzlich, was sie gestern noch gelehrt hatten, oder sie versuchten, wo sie ehrlich mit sich und ihren Schülern waren – das moralische, politische und argumentative Dilemma ihrer gesellschaftlichen Existenz offenzulegen.
  • [V46:198] Sie hatten teils bei Hochschullehrern studiert (Abendroth, Blochmann, Heydorn, Litt, Plessner u.a.), die selbst Antifaschisten waren und die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in der Emigration, in Konzentrationslagern oder im Widerstand verbracht haben.
  • [V46:199] Sie hatten schließlich diesen Erfahrungen folgend |A 32|ein zunächst vorwiegend praktisches Berufsinteresse: Sie wurden, ehe sie an der Universität wiederum ihre wissenschaftlichen Studien fortsetzten, Lehrer an Volks- und Berufsschulen (z.B. Blankertz, Klafki, Lempert, Mollenhauer, Roeder), um die Probleme der pädagogischen Praxis zu erfahren und ihre Vorstellungen in der pädagogischen Praxis zu gestalten.
[V46:200a] Nach Abschluß ihrer akademischen
»Lehrjahre«
um 1960 waren sie selbst in der Situation, eine eigene Lehre vertreten zu müssen. Erneut und nicht mehr nur rezeptiv wie in ihrer Studienzeit mußten sie sich mit der Frage auseinandersetzen, was denn eine zu verantwortende Erziehungswissenschaft sei.
[V46:221] Aber an welchen Theorien und Fragestellungen konnten sie sich orientieren?
[V46:200b] In der Wissenschaft wie in der gesellschaftlichen Praxis bot sich für sie ein verwirrendes Bild: mit der gesellschaftlichen Restauration im
»CDU-Staat«
1)
1)1969 wurde von einer Autorengruppe (Schäfer/Nedelmann) eine politische Analyse der Bundesrepublik mit dem Titel
Der CDU-Staat
, Analysen zur Verfassungswirklickeit der BRD herausgegeben. Die Autoren untersuchten dort wesentliche Resultate von 20 Jahren
sozialer Marktwirtschaft
und
freiheitlicher rechtsstaatlicher Demokratie
auf dem Hintergrund historischer Kontinuität und Diskontinuität der besonderen Tradition poli­tischer und ökonomischer Herrschaft in Deutschland. Der
CDU-Staat
gilt dort als politikwissenschaftlicher Begriff der Restauration des organisierten Kapitalismus mit technokratischer Legitimation. Er ist die Bezeichnung für die Zeit, in der in der Bundesrepublik die CDU die Regierung bildete.
wurden auch die sozialen Ungleichheiten wieder festgeschrieben, konnten autoritäre Ideologien unangefochten wieder Platz ergreifen; die deutsche Erfahrung mit dem Faschismus blieb im Zuge dieser Restauration anscheinend ohne Konsequenzen. Nach einer Phase der Auseinandersetzung und der Öffnung für weitergehende demokratische Veränderungen kurz nach Kriegsende verengte sich die Aufarbeitung der Vergangenheit in einen pauschalen
Anti-Totalitarismus
. Diskussionen über radikal demokratische und sozialere Formen der Eigentumsverteilung und der Machtkontrolle wurden auf dem Hintergrund des Ost-West-Konfliktes als eine dem
freiheitlichen Rechtsstaat
ungemäße Form abgewehrt.
[V46:222] Die undifferenzierte Auseinandersetzung mit autoritären Staatsformen führte zu einem pauschalen Bekenntnis zu Demokratie und Freiheit, wobei der restaurative Staat als Inbegriff dieser Ordnung gesehen wurde. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in der Haltung des Anti-Totalitarismus wurde wesentlich als
»Anti-Kommunismus«
wirksam, denn in der
DDR
war ja im unmittelbaren Gesichtsfeld ein Staat entstanden, der die Züge eines autoritären Staates trug.
[V46:200d] Eine
»pädagogische Bewegung«
, wie sie in den 20er Jahren als praktischer Bezug für erziehungstheoretische Arbeiten existierte, gab es nicht.
[V46:200e] Für theoretische Orientierung waren deshalb – wollte man seine, wenn auch im Vergleich zu Anderen und Älteren harmlosen Faschismus-Erfahrungen nicht verleugnen – zwei Wege nicht akzeptabel:
|B 20|
  • [V46:201] Die ungebrochene Fortsetzung der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, die die gesellschaftliche Praxis nur interpretierte, und zwar ohne ihren gesellschaftlichen Charakter zu zeigen;
  • [V46:202] Die normative Weltanschauungspädagogik, die im Faschismus ihre brutalste Pointe gebildet hatte und sich nun unter verschiedenen Namen (konfessionellen, existenz|A 33|philosophischen, ideengeschichtlichen, ja selbst empirischen) wiederum empfahl. In ihrem Apell, an die ausländische Tradition der Erziehung anzuknüpfen, versuchte sie, zum
    sittlich Guten
    in der Erziehung auffordern, ohne die Bedingungen herauszufinden, unter denen diese
    sittliche Verpflichtung
    eingehalten werden konnte. Letzten Endes konnte sie kein anderes als ein dogmatisches Verständnis von Erziehung und Erziehungswissenschaft produzieren.
[V46:223] In der engeren pädagogischen Diskussion gab es für diese Neuorientierung keinerlei Hilfen. Aber sobald man den Horizont über die Pädagogik hinaus erweiterte, ergaben sich neue Sichtweisen.
|B 21|

1.2 Eine theoretische Anregung

[V46:224] 1956 waren im Institut für Sozialforschung in Frankfurt die
Soziologischen Exkurse
erschienen. Darin wurde eine Form wissenschaftlicher Tätigkeit präsentiert, die auch Erziehungswissenschaftler zur Auseinandersetzung anregte.
[V46:225] Zur
»Familie«
heißt es dort:
[V46:226]
»Die Familie tritt in der Geschichte zunächst als naturwüchsiges Verhältnis auf, das sich dann bis zur modernen Einehe differenziert und kraft solcher Differenzierung einen Sonderbereich, den des Privaten, stiftet. Dem naiven Bewußtsein erscheint das Private als Insel inmitten der gesellschaftlichen Dynamik, als Residuum des Naturzustandes, den man verklärt. In Wirklichkeit hängt die Familie nicht nur von der geschichtlich konkreten gesellschaftlichen Realität ab, sondern ist bis in ihre innerste Struktur hinein gesellschaftlich vermittelt. [V46:227] Daher unterliegt sie einer gesellschaftlichen Dynamik von doppeltem Charakter. Einerseits tendiert die steigende Vergesellschaftung –
Rationalisierung
,
Integration
aller menschlichen Beziehungen in der späten, voll entfalteten Tauschgesellschaft – dazu, das gesellschaftlich gesehen irrational-naturwüchsige Element der familialen Ordnung soweit wie möglich zurückzudrängen. Andererseits steigert sich das Mißverständnis zwischen den totalen gesellschaftlichen Mächten und dem Individuum derart, daß es oft gleichsam zu seinem Schutz in eben jene kleinste Verbände vom Typus der Familie zurückkriechen möchte, deren Bestand unvereinbar scheint mit der großen Entwicklung. Die Tendenz, welche die Familie bedroht, scheint sie zugleich, wenigstens temporär, zu fördern. Zugleich ist die Familie jedoch auch von innen her angegriffen. Fortschreitende Vergesellschaftung heißt immer lückenlose Erfassung und Kontrolle der Triebe. Die Verzichte aber können nicht reibungslos gelingen. Die verdrängten Triebe mögen ihrerseits wieder destruktiv gegen die Familie sich wenden. So findet sie sich heute gleichermaßen attackiert vom zivilisatorischen Fortschritt und von den irrationalen Gegenbewegungen, die er auslöst. [V46:228] Die Familie kann ihrem Begriff nach sich ihres naturalen Elementes, des biologischen Zusammenhangs der Mitglieder, nicht entäußern. Aber von der Gesellschaft her erscheint jenes Element als heteronom, gewissermaßen als Ärgernis, weil es in der Tauschbeziehung nicht ganz aufgeht, obwohl heute auch der Sexus dem Tauschverhältnis, der Vernunft des give and take, sich anähnelt. Indessen läßt weniger denn je das naturale Element sich unabhängig vom gesellschaftlich-institutionellen behaupten.«
(Institut für Sozialforschung (Hrsg.): Soziologische Exkurse. Frankfurt/M. o. J., S. 117)
|B 22|
[V46:229] Wie sind diese Gedanken zu verstehen? Im ersten Absatz wird angesprochen, daß die Menschen zum Erhalt ihrer Gattung untereinander Verbindungen eingehen. Ein solches
naturwüchsiges
Verhältnis ist das zwischen den Geschlechtern, zwischen Mann und Frau, das auf den biologischen Geschlechtsunterschieden beruht. Konstitutiv ist für dieses Verhältnis der Sexualtrieb.
[V46:230] Für das Fortbestehen der Gattung Mensch muß die Aufzucht des Nachwuchses garantiert sein. Dieser Prozeß erfordert eine relativ konstante Gruppe über einen längeren Zeitraum. Die Familie ist eine solche Gruppe, die auf der Basis von Verwandtschaft organisiert ist und in der die Beziehungen durch ein Gefälle gekennzeichnet sind: kompetente Mitglieder schützen die Bedürftigen. Das naturale Element, was sich in der Familie realisiert, ist eben diese Zuwendung auf die Schutzbedürftigen, auf Kinder oder Schwache, wobei die Beziehungen auf einer emotional spontanen Basis ruhen und ungleichgewichtig verteilt sind.
[V46:231] Wie diese Gruppenkonstellation aussieht, hat sich im Laufe der Geschichte verändert: Die Familie hat sich zur modernen Einehe differenziert. Die Existenz der Lebensweise anderer Ethnien gibt eine Ahnung davon, wie variabel die Familienformen sind.
[V46:232] Aber auch, wenn die Familie zunächst ein naturwüchsiges Verhältnis ist, so scheint es nur für das
naive Bewußtsein
als einzig mögliche Form des Zusammenlebens, als Ort der Geborgenheit und des Glücks.
[V46:233] Denn diese Wahrnehmung der Familie entwickelt sich auf dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Dynamik, die für das Individuum ständigen Wechsel von Beziehungen, Situationen, Räumen und Orientierungen bedeutet.
[V46:234] Angesichts dieser gesellschaftlich bedingten Instabilität und der Ausgrenzung emotionaler ud irrationaler Momente aus bestimmten gesellschaftlichen Bereichen (z.B. Arbeit) wird die Familie leicht ein Objekt für Idealisierungen.
|B 23|
[V46:235] Die Stichworte dafür sind
»Vergesellschaftung«
und
»Tauschgesellschaft«
. Beide Begriffe sind aus dem Marxschen Theoriezusammenhang entlehnt. Am Beispiel der Zeiterfahrung sollen diese beiden Problemzusammenhänge erläutert werden:
[V46:236] Wir operieren täglich mit zwei Zeitbegriffen, einmal mit unserer
inneren Uhr
, d.h. wir empfinden die Zeit nach unserem Gefühl von Lust und Unlust als angenehm lang oder zu kurz, wir haben eine eigene Bedürfniseinteilung, die abhängig ist von körperlichen Empfindungen etc. Diese Zeiteinteilung nach dem subjektiven Bedürfnis und Empfinden in bestimmten, individuell wiederkehrenden Rhythmen wird
zyklische
Zeit genannt.
[V46:237] Zum anderen haben wir die allgemeine Zeiteinteilung, die in gleichmäßigen Intervallen mit der Uhr gemessen wird. Unser Leben als gesellschaftliches Individuum ist in großem Maße durch diese
lineare Zeit
bestimmt: der Tagesrhythmus, Schulstunden, Arbeitsstunden, die Verteilung des Tages in Arbeit und Freizeit, der Platz, der für individuelle Bedürfnisse eingeräumt wird. Wenn man die Tagesabläufe der Individuen vergleicht, stellt man eine große Übereinstimmung fest: durch die Zeit werden die Lebensrhythmen synchronisiert, das individuelle Leben ist Teil des gesellschaftlichen, es ist vergesellschaftet. Dieser Prozeß greift weit in das Leben des Menschen, auch weit in die Erziehungsvorgänge ein.
[V46:238] Zyklische Zeit ist nicht meßbar, weil der Bezugspunkt einzig das Individuum selbst ist. Wenn man aber etwas tauschen will, muß es auch vergleichbar sein: Zeit als
lineare Zeit
ist meßbar, sie kann ausgetauscht und verglichen werden, z.B. kann man ein bestimmtes Quantum Arbeitszeit gegen ein bestimmtes Quantum Lohn tauschen.
[V46:239] Die Tätigkeit des
Messens
und des
Vergleichs
sind grundlegende Operationen, die für den Tausch nützlich und in der Tauschgesellschaft üblich sind. Sie ergreifen auch Sphären, die von ihrer Natur her mit diesen Verfahren nicht zu begreifen sind.
[V46:240] Je mehr nun dem Menschen in einer Gesellschaft die Sphäre der Irrationalität genommen wird, sei es z.B. durch die Rationalität der Arbeitsabläufe oder durch die Formen des Umgangs mit anderen Menschen, die durch gesellschaftlichen Status und kontrollierte Affekte bestimmt werden, andererseits aber die sozialen Beziehungen durch eine ständig wechselnde und sich vergrößernde Anzahl von Kontakten gekennzeichnet sind, wächst das Bedürfnis nach einem Raum, in dem diese spontanen emotionalen Äußerungen akzeptiert sind.
|B 24|
[V46:241] Die Familie ist ein gesellschaftlich definierter Raum, in dem diese Bedürfnisse noch am ehesten zugelassen sind. Sie steht im Spannungsfeld, diese
naturalen
Elemente zu organisieren, jedes Mitglied in seiner Individualität zu akzeptieren, Gruppenkonstanz zu gewährleisten, aber trotzdem durch ihre institutionell organisatorische Form, die spezifische Art der Arbeitsteilung, die Deutung und Bewertung von Verhalten einzelner Familienmitglieder gesellschaftliche Normen der Tauschgesellschaft zu transponieren, die sich bis in die Charakterstruktur der einzelnen Mitglieder fortsetzt (vgl. 2. Studienbrief).
[V46:242] Zusammenfassend läßt sich sagen, daß in den
Soziologischen Exkursen
eine Denkweise vorgestellt wurde, die
  • [V46:243] analytisch ist,
  • [V46:244] historisch argumentiert,
  • [V46:245] die gesellschaftliche Geformtheit jedes Gegenstandes betont,
  • [V46:246] die vielfältigen widersprüchlichen Verknüpfungen hervorhebt.

1.3 Einige historische Zusammenhänge

[V46:247] Der Versuch, über die Grenzen der Fachwissenschaft hinauszugehen und sich mit Theorien auseinanderzusetzen, die nicht unmittelbar dem pädagogischen Zusammenhang angehörten, wurde damals (um 1960) vor allem von Soziologen nahegelegt, die sich an der bildungspolitischen Diskussion beteiligten (z.B. Adorno, Habermas, Schelsky). Für den erziehungswissenschaftlichen Leser zeigte sich überdies eine Kontinuität nicht nur mit der politischen Philosophie der Aufklärung, sondern auch mit dem pädagogischen Denken z.B. Rousseaus und Schleiermachers.
[V46:248] Sowohl Rousseau als auch Schleiermacher entwickelten ihre Erziehungsvorstellungen bewußt in Auseinandersetzung mit dem Problem gesellschaftlicher Veränderungen.
[V46:249]
»Wenn nun solche Mißverhältnisse stattfinden, was ist dann die Aufgabe der Pädagogik? Sagen wir, die Erziehung soll die heranwachsende Jugend so ausbilden, daß sie tüchtig ist und geeignet für den Staat, wie er eben ist, so würde dadurch nichts anderes geleistet werden als dieses, die Un|B 25|vollkommenheit würde verewigt und durchaus keine Verbesserung herbeigeführt werden. Die ganze jüngere Generation würde mit ihrem ganzen Wesen und vollkommener Zustimmung in diese Unvollkommenheit eingehen, und wir wären wiederum in einem neuen Widerspruch. Unsere Theorie erscheint dann als ein Ausfluß der Theorie, nach der die freie menschliche Tätigkeit gehemmt wird; und es würde unserer Theorie diese Formel aufgeprägt sein: Damit die jüngere Generation zur Zufriedenheit mit dem Bestehenden hingeleitet werde, soll sie nie den Wunsch empfinden, die Unvollkommenheit zu verlassen.«

Weniger, E. (Hrsg.): Schleiermachers pädagogische Schriften. Bd. I: Vorlesungen aus dem Jahre 1826. Düsseldorf 1957, S. 30)
[V46:250] Die Rezeption der
Kritischen Theorie
– inzwischen waren bereits zehn Bände der
Frankfurter Beiträge zur Soziologie
erschienen, von denen die
Soziologischen Exkurse
der erste Band in der Buchreihe des nach dem Kriege neu gegründeten Instituts für Sozialforschung in Frankfurt waren – bedeutete deshalb eine Wiederentdeckung der Gesellschaftstheorie für die Erziehungswissenschaft. Die Lektüre regte Offenheit der Pädagogik gegenüber der gesellschaftlichen Formierung von Erziehungsprozessen an.
[V46:251] Hier fanden sich auch Hinweise für eine Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit:
[V46:252]
»Jede Debatte über Erziehungsideale ist nichtig und gleichgültig diesem gegenüber, daß Auschwitz sich nicht wiederhole. Es war die Barbarei, gegen die alle Erziehung geht. Man spricht vom drohenden Rückfall in die Barbarei. Aber er droht nicht, sondern Auschwitz war er; Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die ihren Rückfall zeitigen, wesentlich fortdauern. Das ist das ganze Grauen. Der gesellschaftliche Druck lastet weiter, trotz aller Unsichtbarkeit der Not heute. Er treibt die Menschen zu dem Unsäglichen, das in Auschwitz nach dem weltgeschichtlichen Maße kulminierte. Unter den Einsichten von Freud, die wahrhaft auch in Kultur und Soziologie hineinreichen, scheint mir eine der tiefsten die, daß die Zivilisation ihrerseits das Antizivilisatorische hervorbringt und es zunehmend verstärkt.«
Adorno, Th. W.: Erziehung nach Auschwitz, ders.: in: Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt 1975, S. 88)
|B 26|
[V46:253] Die Anknüpfungspunkte für die Erziehungswissenschaftler der Nachkriegszeit an die Gedankengänge der
»Frankfurter Schule«
lagen nicht allein in dem praktischen Versuch der
»Frankfurter Schule«
, die unmittelbare Vergangenheit nicht zu verdrängen, sondern auch darin, daß sich Gemeinsamkeiten entdecken ließen: eine ähnlich strukturierte Erfahrung der Situation von wissenschaftlicher Tätigkeit und Erkenntnis.
[V46:254] Die Erziehungswissenschaftler der Nachkriegszeit und die Theoretiker der
»Frankfurter Schule«
kamen in unterschiedlichen historischen Situationen zu dem Schluß, daß gesellschaftliche Wirklichkeit einerseits in der vorherrschenden soziologischen, andererseits in der pädagogischen Theorie nicht adäquat formuliert wurde.
[V46:255] Die historische Situation in den 20er Jahren unseres Jahr hunderts, mit der sich die Theoretiker der Frankfurter Schule auseinandersetzten und innerhalb derer sie ihre wissenschaftliche Position entwickelten, war gekennzeichnet durch
  • [V46:256] die Krise des politischen Systems, der demokratitischen Legitimation von Macht und Herrschaft,
  • [V46:257] die Krise des ökonomischen Systems, das nicht mehr als liberale
    Konkurrenzwirtschaft
    sondern als zunehmende
    Monopolwirtschaft
    zu beschreiben war,
  • [V46:258] die Polarisierung der sozialen Kräfte, die sich als verstärkte Klassenauseinandersetzung bemerkbar machte,
  • [V46:259] die theoretische und praktische Handlungsunfähigkeit der Arbeiterklasse, die innerhalb des bürgerlichen Staates die Ideen von Freiheit und Gleichheit erkämpfen sollten
  • [V46:260] und später das Aufkommen irrationaler Ideologien, wie sie durch die NSDAP vertreten wurden und die sich als massenwirksam erwiesen.
[V46:261] Theorie müsse, angesichts dieser Realität, gesellschaft liche Zusammenhänge so formulieren, daß einmal die sinnfällige Irrationalität gesellschaftlicher Wirklichkeit als geschichtlicher und nicht gleichsam als naturwüchsiger Prozeß begreifbar werde und gleichzeitig Vorstellungen von Veränderungen mitdenken, nämlich die Ideen von Freiheit und |B 27|Vernunft als Grundlage menschlichen Zusammenlebens mit in die Reflexion miteinbeziehen – so kann in zunächst noch groben Umrissen die Zielsetzung des Kreises von Intellektuellen beschrieben werden, die das Institut für Sozialforschung damals gründeten.
[V46:262] Die theoretische Tradition, an die die
Frankfurter Schule
anknüpfte, war dem von Karl Marx entwickelten
Dialektischen Materialismus
verpflichtet. In der
Kritik der poli tischen Ökonomie
, einem Modell des Reproduktionsprozesses der
Bürgerlichen Gesellschaft
, geht Marx davon aus, daß die Formen des Zusammenlebens der Menschen in einer Gesellschaft dadurch entstehen, wie diese auf einer historisch konkreten Stufe die Art und Weise ihrer Reproduktion regeln. Die Arbeit als Aneignung der
äußeren Natur
des Menschen ist für Marx eine zentrale Kategorie. Sie ist seine praktische Kritik an der Philosophie des Deutschen Idealismus und, wie Habermas später anmerkt:
[V46:263]
»Das Modell für den naturwüchsigen Reproduktionsprozeß der Gesellschaft sind die Produktionen eher als die Natur des Geistes. Deshalb tritt bei Marx die
Kritik der politischen Ökonomie
an die Stelle, die im Idealismus die
Kritik der formalen Logik
einnimmt.«
(Habermas, J.: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt 1968, S. 44).
[V46:264] Ökonomie berührt auch für Marx nur zum kleinen Teil den fachwissenschaftlichen Aspekt im engeren Sinne; in dem Begriff der
Politischen Ökonomie
ist für Marx kritische Gesellschaftstheorie aufgehoben, denn die Formen des Zusammenlebens, des Denkens und der Vorstellungen, die sich die Menschen von ihrem Leben machen, entstehen aus und beziehen sich auf die Formen, die sie zur materiellen Organisation ihres Lebenszusammenhangs herausbilden.
Kritik der Politischen Ökonomie
ist zuallererst Analyse histo rischer Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die in einem historischen Prozeß aus den gesellschaftlichen Produktionsbedingungen entstehen. Das historisch Besondere der Herrschaftsverhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft liegt nun darin, daß sie nicht wie in der Feudalgesellschaft personale Herrschaftsverhältnisse sind, daß ihr Ursprung nicht persönliche Freiheit oder Unfreiheit ist, sondern daß ihr Ursprung ein Tauschverhältnis ist, das zwar von der Form her
gerecht
ist, aber seine Ungleichheit durch den Unterschied des Gebrauchswerts der Ware Arbeitskraft und des Geldes bekommt. Die Ware ist deshalb für Marx ein
sinnlich-übersinnliches
Ding: sinnlich deshalb, weil sie in unmittelbar alltäglichem Sinne konsumierbar ist, übersinnlich, weil sie Träger sozialer Produktionsverhältnisse, Beziehungen von Menschen zueinander ist. Das übersinnliche Moment kann nicht wahrgenommen, sondern nur durch Analyse erschlossen werden. An diesem Punkt schließt Marx auch das Problem der Ideologie an. Die Vorstellungen, die sich die Gesellschaftsmitglieder von ihrer Realität machen, sind |B 28|falsche Vorstellungen, denn sie berühren nicht den Ursprung der Ungleichheit. Die Aufgabe der theoretischen Analyse besteht darin, den
Schein
zu enthüllen.
[V46:265] Adorno greift dies auf, wenn er seinen Anspruch an Theorie folgendermaßen formuliert:
[V46:266]
»Theorie will benennen, was insgeheim das Getriebe zusammenhält. Die Sehnsucht des Gedankens, dem einmal die Sinnlosigkeit dessen, was bloß ist, unerträglich war, hat sich säkularisiert zum Drang der Entzauberung. Sie möchte den Schein heben, unter dem das Unwissen brütet. In seiner Erkenntnis allein ist ihr Sinn bewahrt...«
(Adorno, Th. W.: Soziologie und empirische Forschung, in: Ziegler (Hrsg.): Wesen und Wirklichkeit des Menschen, Festschrift für H. Plessner, Göttingen 1957)
[V46:267] Diese Aufforderung zu
kritischem Denken
appellierte daran, dieses
Vakuum
an Theorie und Tradition, was die Erziehungswissenschaftler nach dem Kriege vorfanden, auszufüllen.
[V46:268] Die
»Studien über Autorität und Familie«
(schon 1936 veröffentlicht) oder Marcuses
»Über den affirmativen Charakter der Kultur«
(1935), Adornos
»Theorie der Halbbildung«
erschienen für jene Erziehungswissenschaftler damals als das in Forschungsprojekte übertragene Interesse einer demokratisch-pädagogischen Perspektive der Erziehungspraxis.
[V46:269] Die interessanten Momente, die sich bei der Rezeption der
Kritischen Theorie
herauskristallisierten, lagen darin, daß diese Theorie versuchte,
  • [V46:270] sich selbst und ihre Methoden als gesellschaftlich produzierte zu begreifen,
  • [V46:271] geschlossenen Theorien mit universalem Wahrheitsanspruch kritisch gegenüberzustehen,
  • [V46:272] empirische Sachverhalte innerhalb eines Begriffs von gesellschaftlicher Totalität zu formulieren,
  • [V46:273]
    »parteilich«
    zu sein, in dem Sinne, daß sie sich konsequent mit den fundamentalen und
    »vernünftigen«
    Bedürfnissen der Menschen auseinandersetzte.
|B 29|

1.4 Überlegungen zu einem kritischen Konzept von Erziehungswissenschaft

[V46:203] Angesichts solcher Anregungen schien nur eine Form von Erziehungswissenschaft akzeptabel, die imstande war,
  • [V46:204] theoretische Konsequenzen aus der Erfahrung mit der geschichtlichen Praxis zu ziehen; die Fragezu beantworten, wohin denndie Geschichte laufen sollte und wie vor dieser Geschichte Handlungsziele zu verantworten sind;;
  • [V46:205] solche Konsequenzen mit den Mitteln der gesellschaftlichen Analyse pädagogischer Praxis zu erarbeiten, also auch die hermeneutische Erfahrung der geisteswissenschaftlichen Pädagogik nicht zu verleugnen;
  • [V46:206] sich sozialwissenschaftlich-empirischer Verfahren zu bedienen; denn nur unter dieser Voraussetzung konnte die Hoffnung bestehen, die Ursachen und vielfältigen Zwischenglieder zur Erklärung des Dilemmas der gegenwärtigen Erziehungs- und Bildungspraxis aufzudecken: nämlich daß man sich in Deutschland (Ost und West) abermals aufmachte, die Rede von einer – am Begriff eines möglichen qualitativ-demokratischen Fortschritts gemessen –
    »verspäteten Nation«
    (Plessner) zu bestätigen.
[V46:208] Diese Situation fand ihren ersten, vorerst jedoch nur tastenden literarischen Niederschlag beispielsweise in den folgenden Veröffentlichungen:
    [V46:209] H. Blankertz: Berufsbildung und Utilitarismus, Düsseldorf 1963
    [V46:210] K. Mollenhauer: Pädagogik und Rationalität. In: ders.: Erziehung und Emanzipation, München 1968 (Vortrag, gehalten 1964)
    [V46:211] K. Mollenhauer: Zur pädagogischen Theorie der Geselligkeit. In: Erziehung und Emanzipation a.a.O. (Antrittsvorlesung, gehalten 1965)
    |B 30|
    [V46:212] H. Blankertz/ K. Mollenhauer: Zwei wissenschaftstheoretische Vorträge. In: Neue Folge der Ergänzungshefte zur Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 1966, Heft 5
    |A 35|
    [V46:213] P.M. Roeder: Erziehung und Gesellschaft. Weinheim 1968
    [V46:214] H. Blankertz/ J. Dahmer/ K. Mollenhauer: Aufsätze dieser Verfasser in dem Sammelband mit dem programmatischen Titel: Geisteswissenschaftliche Pädagogik am Ausgang ihrer Epoche. Hrsg. von I. Dahmer/W. Klafki, Weinheim 1968
    [V46:215] K. Mollenhauer: Einleitung zu: Erziehung und Emanzipation, a.a.O.
    [V46:216] W. Lempert: Bildungsforschung und Emanzipation. In: ders.: Leistungsprinzip und Emanzipation. Frankfurt 1971
[V46:274] Welche Wirkung hatten diese Veröffentlichungen?
[V46:217a] An den deutschen Universitäten begann, ungefähr zur gleichen Zeit, sich ein Stück gesellschaftlicher Praxis zu entfalten, ohne das vermutlich auch die pädagogische Rezeption der Kritischen Theorie anders verlaufen wäre: Die Studentenbewegung und der Versuch einer Hochschulreform.
[V46:217b] Pädagogik – bis dahin eher Pflichtübung zukünftiger Lehrer – wurde zu einem spannenden Thema gerade für jene Studenten, die sich mit den gesellschaftspolitischen Ansprüchen an die Wissenschaft auseinandersetzten, und der Wissenschaft den
Elfenbeinturm
, in den sie sich zurückgezogen hatte, nicht mehr zugestanden, die sich selbst als Wissenschaftler auch politisch verantwortungbewußt definierten und wissenschaftliche Erkenntnisse in ihre Praxis integrieren wollten. Die Kritik wandte sich gegen die
technologische
Verkürzung von Wissenschaft.
[V46:217c] Für diejenigen Dozenten, die bereit waren, sich diesem Anspruch zu stellen, konnte deshalb – sofern sie Pädagogen |B 31|und also auch Didaktiker waren – die Form ihrer Lehre mit deren Inhalt zusammenfallen; sie konnten sich zudem als Beteiligte eines praktischen Prozesses definieren, in dem bald nicht mehr nur von Hochschulen, dem Zustand der Pädagogik, sondern vom Zustand unserer Gesellschaft im Ganzen die Rede war. Damit war ein Punkt erreicht, an dem das Motiv entstand, das zunächst nur in Umrissen antizipierte Programm einer Kritischen Theorie der Erziehung auszuarbeiten.
[V46:218]
»Von den Widerständen und Zwängen nicht zu ab strahieren, vielmehr gerade sie in den Mittel punkt des Interesses zu rücken, ist das Programm |A 36|der heute allenthalben geforderten, aber noch kaum ausgeführten Kritischen Theorie der Erziehung. Dabei handelt es sich ebenso um eine Wendung zur politisch-gesellschaftlichen Funktion der Erziehungswissenschaft, wie zu einer erfahrungswissenschaftlichen Orientierung, und zwar so, daß bestimmte Elemente aller zuvor genannten Ansätze (hermeneutische, prinzipienwissenschaftliche, erfahrungswissenschaftliche, d.V.) konvergieren, wenn auch in einem neu gesetzten Bezugsrahmen.«

(H. Blankertz: Pädagogik unter wissenschaftstheoretischer Kritik. In: Erziehungswissenschaft 1971 zwischen Herkunft und Zukunft der Gesellschaft . S. Oppolzer (Hrsg.), Wuppertal/ Ratingen 1971, S. 30)
[V46:275] Die Wendung
  • [V46:276] zur politisch-gesellschaftlichen Orientierung der Erziehungswissenschaft und eine
  • [V46:277] erfahrungswissenschaftliche Orientierung
[V46:278] waren für Blankertz die Punkte, an denen eine Kritische Theorie der Erziehungswissenschaft anzusetzen hätte.
[V46:219] Um die Triftigkeit dieses Programms näher zu prüfen, wenden wir uns im folgenden zunächst dem zu, was
»Kritische Theorie«
ist bzw. zu sein beansprucht.
B
2
B
Kritischen Theorie
B
2.1
B
»Kritische Theorie«
B
ø
B
ø
B
bekannt gewordene
B
ist
B
Max Horkheimer
B
Theodor W. Adorno
B
. Diese beiden Wissenschaftler nahmen nach dem Kriege ihr wissenschaftliches Denken an dem ursprünglichen Gründungsort wieder auf, während andere Institutsmitglieder aus der Gründungszeit in der Emigration blieben (so z. B. Marcuse, Fromm).
B
ø
B
[V46:284] Ihre wissenschaftliche Tätigkeit bekam einen großen Stellenwert für die Entwicklung der Studentenbewegung 1968 – viele Aktive der Studentenbewegung hatten in Frankfurt studiert –, denn sie sorgten durch ihr
praktisches Tun
, ihre Lehre, dafür, daß die auf die Marxsche Theorie zurückgehenden methodischen Verfahren und gesellschaftsanalytischen Begriffe angewandt wurden.
B
2.2
B
ø
B
ø
B
B
der
B
nicht in den Rahmen der Universität eingespannt, sie war von den Mitgliedern des Instituts frei bestimmt
B
, was sich auch in der organisatorischen Form eines eigenen Instituts ausdrückte, war das Interesse, Wissenschaft
B
und
B
Regelung
B
auf die
B
zu betrei|B 33|ben. Wissenschaftliches Interesse war für die Gründungsmitglieder – dieses Interesse wurde auch später beibehalten –,
B
versuchen
B
Marxistischer
B
Horkheimers
B
[V46:290] Das Gründungsmitglied Felix H. Weil hatte durch seinen Vater ein Privatvermögen zur Verfügung, aus dem der wesentliche Teil der Institutsfinanzierung gedeckt wurde. Das Institut bekam die rechtliche Form einer privaten Stiftung. So wurde die Unabhängigkeit ermöglicht. Unter Einbezug der historischen Situation ging es den Gründungsmitgliedern zunächst einmal darum, die
Marxsche Theorie
, die von den Theoretikern der Arbeiterbewegung dogmatisch behandelt wurde und im Interesse der politischen Auseinandersetzung
verkürzt
war, erneut aufzuarbeiten. Dieses Interesse konnte sich nur unabhängig von den Arbeiterorganisationen verwirklichen, und auch unabhängig von den damaligen wissenschaftlichen Institutionen, die durch eine Aussparung marxistischer Theoreme aus der akademischen Diskussion gekennzeichnet waren.
[V46:291] Die von Felix H. Weil ausgehende Initiative, einen Diskussionsrahmen für
linke Intellektuelle
zu schaffen, stieß auf Interesse, da gerade diese Linken mit ihren Positionen durch die Spaltung der Arbeiterbewegung in eine
revolutionäre
KPD und eine
nicht-revolutionäre
SPD innerhalb dieser parteipolitischen Aktivitäten zu Zugeständnissen gezwungen waren, die sie nicht bereit waren zu geben. Zu diesen interessierten Intellektuellen gehörten Theoretiker wie Lucas, Korsch, Pollock, Wittfogel, die teilweise selbst in der KPD organisiert waren. Zu den Gründungsmitgliedern im engeren Sinn gehörten dann Weil, Pollock, Horkheimer, einige Intellektuelle aus dem obigen Kreis wurden als Assistenten tätig.
[V46:292] Erster Direktor des Instituts war Karl Grünberg, ein Wiener Historiker und Nationalökonom, der mit Weil freundschaftlich verbunden war.
|B 34|
[V46:293] In der ersten Phase der Geschichte des Instituts unter der Leitung Grünbergs knüpften die Forschungen an die Probleme der Arbeiterbewegung an.
[V46:294] Die Thematik war an einer Überprüfung der von Marx aufge stellten Erkenntnisse der immanenten Entwicklung der kapitalistischen Akkumulation geprägt. Unter kapitalistischer Akkumulation verstand Marx, daß das Kapital ein
sich selbst verwertender Wert
sei, d.h. Ziel der Produktion ist es, den Wert zu vermehren, wobei der Befriedigung der Lebensbedürfnisse nur ein mittelbarer Zweck zukommt, die Folgen dieses Prozesses sind Konzentration und Zentralisation des Kapitals.
[V46:295] Die geschichtlichen Verhältnisse hatten sich gegenüber der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, die Marx vorgefunden hatte, in der Tat verändert:
[V46:296] Behaupteten seine Analysen der bürgerlichen Gesellschaft in dem Stadium der
freien Konkurrenzwirtschaft
, die
Anatomie
der bürgerlichen Gesellschaft als kapitalistische Produktionsweise erkannt zu haben, so war die kapitalistische Entwicklung nun in ihr
monopolistisches Stadium
eingetreten. Nicht mehr die freie Konkurrenz der Einzelunternehmer, sondern die Konzentration des Kapitals in wertigen Großunternehmen bestimmten als Machtfaktor das gesellschaftliche Geschehen. Diese Entwicklung entsprach nach den von Marx aufgestellten Analysen den
Bewegungsgesetzen des Kapitals
.
[V46:297] Er verstand darunter, daß quasi in der Entfaltung einer immanenten Logik die Entwicklung der Gesellschaft darauf hinauslaufen würde, daß die Diskrepanz zwischen dem Anspruch – Freiheit und Gleichheit aller Bürger – und der Wirklichkeit – Trennung der Gesellschaft in Produktionsmittelbesitzer und Besitzer der Ware Arbeitskraft – immer größer würde, die Folge dieser faktischen Ungleichheit seien vermehrte Klassenauseinandersetzungen.
[V46:298] Tatsächlich hatte es auch eine Revolution gegeben, allerdings in einem Land, das nicht kapitalistisch entwickelt war, in Rußland. Die deutschen revolutionären Bewegungen nach dem ersten Weltkrieg waren mit der Gründung der Weimarer Republik gescheitert. Der Verlauf der Geschichte und die verschiedenen Versuche, diese theoretisch zu erfassen, gaben für die Wissenschaftler Anlaß genug,
  • [V46:299] sich damit zu befassen, inwieweit sich denn diese Verhältnisse noch adäquat mit der Marxschen Theorie erfassen ließen,
  • |B 35|
  • [V46:300] wie denn nun das Verhältnis von Bewußtsein und revolutionärer Praxis zu beschreiben sei. Nach den Erfahrungen konnte es kaum als mechanisches Verhältnis, wie es teilweise von den sozialistischen Parteien aufgefaßt wurde, begriffen werden.
[V46:301] 1931 übernahm Horkheimer als Nachfolger von Grünberg den Vorsitz des Instituts und den Lehrstuhl für Sozialphilosophie an der Universität. In seiner Antrittsvorlesung vom 24.1.1931 (Zur gegenwärtigen Lage der Sozialphilosophie und den Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung ) entwickelte er als Leitfaden für die weitere Arbeit des Instiuts das Programm einer wechselseitigen Durchdringung und Vermittlung von philosophischer Sinnreflexion und materialer empirischer Forschung als notwendige Voraussetzung einer umfassenden Kritischen Theorie der Gesellschaft.
[V46:288] (Zu den Mitarbeitern Horkheimers gehörten u.a. Friedrich Pollock, Leo Löwenthal, Theodor W. Adorno, der zwar erst 1938 offizieller Mitarbeiter wurde, aber über eine Freundschaft mit Horkheimer schon seit 1923 an der Arbeit des Instituts teilnahme, ab 1931 Erich Fromm, Mitglied der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft, ab 1932 Herbert Marcuse, Schüler von Heidegger und Walter Benjamin).
[V46:302] Waren in der Gründungszeit des Instituts die Diskussionen stark auf die im engeren Sinne ökonomischen Aussagen der Marxschen Theorie focussiert, verschob sich unter Horkheimers Leitung der Schwerpunkt auf den sozialphilosophischen Gehalt der Marxschen Theorie. Man wollte im Anschluß an die Rezeption der Marxschen
Frühschriften
die Marxsche Theorie aus der
»ökonomischen Borniertheit«
herausheben. Das Bewußtsein des gesellschaftlichen Individuums als Produzent der Geschichte rückte in den Mittelpunkt. Horkheimer, Marcuse und Fromm versuchten, das Verhältnis Individuum – Gesellschaft unter Einbezug der psychoanalytischen Theorie stärker auf die subjektiven Bedingungen zu konzentrieren: welches waren die gesellschaftlichen Gründe, die eine Emanzipation des Subjekts als
Motor der Geschichte
verhinderten?
B
»Zeitschrift für Sozialforschung«
B
für Sozialforschung
B
1942
B
in ihrer Eigenschaft
B
des gesellschaftspolitischen
B
bekamen auch die Institutsmitglieder hautnah die politische Situation zu spüren: Das Institut wurde 1933 nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten
B
geschlossen, einem Vorwurf, der für die Nationalsozialisten nicht weiter problematisch war, denn erstens waren hier
marxistische Intellektuelle
versammelt, zweitens waren sie größtenteils jüdischer Abstammung
B
: Denn das Institut verstand sich als marxistische Organisation, die mit ihren empirischen Analysen und theoretischen Reflexionen seinen Beitrag zur Praxis der Arbeiterbewegung geben wollte.
B
[V46:304] Daß es sich hier um ein im Vergleich zu sonstigen gesellschaftspolitischen Vorstellungen sehr breit angelegtes Vorhaben handelte, sollen die folgenden Auszüge aus dem Inhaltsverzeichnis der
»Zeitrschrift für Sozialforschung«
verdeutlichen: intellektuelles Interesse und der soziale Hintergrund der Wisseschaft waren unübersehbar.
|B 36-37|
[V46:305]
Inhalt
I Aufsätze Seite
Vorwort I
Max Horkheimer
Bemerkungen über Wissenschaft und Krise
1
Friedrich Pollock
Die gegenwärtige Lage des Kapitalismus und die Aussichten einer planwirtschaftlichen Neuordnung
8
Henryk Grossmann
Die Wert-Preis-Transformation bei Marx und das Krisenproblem
55
Leo Löwenthal
Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur
85
Theodor Wiesengrund-Adorno
Zur gesellschaftlichen Lage der Musik (Teil 1)
103
Max Horkheimer
Geschichte der Psychologie
125
Erich Fromm
Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung fpr die Sozialpsychologie
253
Julian Gumperz
Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems
278
Franz Borkenau
Zur Soziologie des mechanistischen Weltbildes
311
Andries Sternheim
Zum Problem der Freizeitgestaltung
336
Theodor Wiesengrund-Adorno
Zur gesellschaftlichen Lage der Musik (Teil 2)
356
(Zeitschrift für Sozialforschung, Hrsg.: M. Horkheimer, 1. Jg. 1032, DTW Repront 1980)
B
[V46:303] Angesichts der sich zuspitzenden politischenEmigration Ereignisse in Deutschland bekamen auch die Institutsmitglieder hautnah die politische Situation zu spüren: Das Institut wurde 1933 nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wegen
staatsfeindlicher Tendenzen
geschlossen, einem Vorwurf, der für die Nationalsozialisten nicht weiter problematisch war, denn erstens waren hier
marxistische Intellektuelle
versammelt, zweitens waren sie größtenteils jüdischer Abstammung.
[V46:306] Der größte Teil der Institutsangehörigen emigrierte zunächst nach Genf und Paris, da die dortigen Unviersitäten dem Institut vorübergehend die Voraussetzungen zur Reorganisation schafften. 1934 wurde das Institut dann in enger Angliederung an die Columbia Universität neu in New York errichtet.
[V46:307] Allerdings blieben viele Mitarbeiter solange wie möglich in den verschiedenen europäischen Büros des Instituts, wie überhaupt Europa auch bis in die 40er Jahre hinein der intellektuelle Bezugsrahmen war. Noch bis 1940 wurde die Zeitschrift dür Sozialforschung in deutscher Sprache herausgegeben, ein Ausdruck des Selbstverständnisses der Mitarbeiter, die sich die Formen des amerikanischen Wissenschaftsbetriebes nicht aufdrücken lassen wollten.
B
B
. Djese Untersuchung war noch die Fortsetzung einer Untersuchung über das Bewußtsein der Arbeiter in der Weimarer Republik, die von Horkheimer schon 1930 initiiert wurde. Um die Begriffe
Autorität
und
Charakter
, die in der Auseinandersetzung mit dem empirischen Material entstanden, entwickelte sich in den weiteren Jahren der gesellschaftsanalytische Schwerpunkt des Instituts ( Vgl. auch die 2. Einheit).
B
[V46:310] In Amerika wurden die Studien zum
Autoritären Charakter
mit den
Studien über das Vorurteil
(Studies in Prejudice) fortgesetzt. In Zusammenhang mit dem American Jewish Commitee sollten mit einem breiten methodologischen Ansatz soziale Vorurteile, insbesondere Antisemitismus innerhalb der amerikanischen Arbeiterschaft, untersucht werden.
B
ø
B
ø
B
wiederum
B
Horkheimers
B
in Frankfurt
B
2.3
B
[V46:313] Die Geschichte des Instituts für Sozialforschung verdeutlicht, daß die Mitarbeiter selbst von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft betroffen waren. Ihre wissenschaftliche Arbeit – die Freiheit von Forschung und Lehre – wurde unterbunden, sie selbst mußten, wenn sie nicht wie viele andere Oppositionelle auch ihre Tätigkeit mit dem Leben
bezahlen
wollten, flüchten.
[V46:314] Im Mittelpunkt der intellektuellen Arbeit stand die Fragestellung, wie denn der Umschlag von einer demokratischen Staatsform in eine faschistische Diktatur aus der historisch gesellschaftlichen Entwicklung heraus zu begreifen sei.
[V46:315] Diese Fragestellung wurde von Mitarbeitern des Instituts je nach eigenen Schwerpunkten von unterschiedlichen gesellschaftsanalytischen Ebenen her verfolgt. Während Horkheimer, Fromm, Adorno, Marcuse eher an ihrem sozialphilosophischen Ansatz orientiert waren, den Typus von Sozialcharakter zu beschreiben, der autoritäre Verhaltensstrukturen hervorbrachte und damit Voraussetzungen für den totalitären Staat schuf, waren z.B. Friedrich Pollock und Neumann mit staatsanalytischen und wirtschaftsorganisatorischen Fragestellungen befaßt.
B
ø
B
Gemeinsam ist den Vertretern der
Kritischen Theorie
, daß sie
B
ø
B
betrachten
B
27
B
den
B
Wirtschaftssystemen
B
. In einer bestimmten historischen Situation konnte eine politische Integration der Gesellschaft nur noch in einer Verbindung von wirtschaftlicher Macht und autoritärer Staatsform gewährleistet werden.
B
Einheiten
B
erzeugt
B
Einheiten
B
erzeugt
B
»liegen im wesentlichen alle auf der Linie der Wandlung der kapitalistischen Gesellschaft von dem auf der freien Konkurrenz der selbständigen Einzelunternehmer aufgebauten Handels- und Industriekapitalismus zum modernen Monopolkapitalismus, in dem die veränderten Produktionsverhältnisse (und besonders die großen
Einheiten
der Kartelle, Trusts etc.) eine alle Machtmittel mobilisierende starke Staatsgewalt forderten ... Im Hinblick auf die Einheit der ökonomischen Basis läßt sich sagen: es ist der Liberalismus selbst, der den total-autoritären Staat aus sich heraus
erzeugt
hat: als seine eigene Vollendung auf einer höheren Stufe der Entwicklung. Der total-autoritäre Staat bringt die dem monopolistischen Stadium des Kapitalismus entsprechende Organisation und Theorie der Gesellschaft.«
B
[V46:328] Marcuse spricht hier einmal die Veränderung der Organisationsform der kapitalistischen Gesellschaft an, ihre Entwicklung zum Monopolkapitalismus, die Marx mit den Begriffen
Konzentration und Zentralisation
bezeichnet (vgl. Kapitel 2.2).
[V46:329] Die Machtkonzentration auf wenige große Unternehmen bildet die ökonomische Grundlage der Herrschaft. Nach den Erfordernissen dieser Großunternehmen werden die marktpolitischen Entscheidungen getroffen. Weniger kapitalkräftige Gruppen können ihre Interessen kaum geltend machen. Diese Einflußnahme bedeutet auch eine Vereinnahmung der Prozesse, die die gesamtgesellschaftliche Verteilung der Produktion von Gütern und die gesellschaftlichen Bedürfnisse bestimmen. D.h. das partikulare Interesse der Großunternehmen steht einerseits im Widerspruch zu gesamtgesellschaftlichen Reproduktionserfordernissen, auf der anderen Seite ist die wirtschaftliche Existenz von Großunternehmen auch die Voraussetzung dafür, einen allgemeinen wirtschaftlichen Zusammenbruch zu verhindern.
[V46:330] Zum anderen bringt dieser interessengebundene Machtfaktor als
»Einheit«
das Muster hervor, in dem Herrschaft politisch ausgeübt wird. Die gesellschaftlichen Prozesse an der ökonomischen Basis finden ihre Entsprechung in dem Organisation des Staates, der selbst wiederum zentral und autoritär eingreifen muß, um alle gesellschaftlichen Widersprüche, Interessenkonflikte zwischen Kapitalfunktionen, politische und wirtschaftliche Entscheidungen, brüchige Legitimationsformen von Herrschaft, Interessengegensätze sozialer Gruppen und Klassen zu integrieren.
[V46:331] Diese autoritäre Staatsform bedeutete das Ende von historisch entwickelten liberalen Vermittlungsinstanzen, innerhalb derer sich bislang die wirtschaftlichen und politischen Interessen bewegt hatten (ein parlamentarisch demokratisches System z.B. ist eine solche liberale Vermittlungsinstanz).
|B 41|
[V46:332] Horkheimer betonte in diesem Zusammenhang, daß diese liberalen Vermittlungsinstanzen bislang eine dem Kapitalismus immanente Herrschaft verhindert hätten. (Vgl. dazu: Horkheimer, M.: Gesellschaft im Übergang. Frankfurt/M. 1972).
[V46:333] Insgesamt können diese hier vorgestellten Probleme nur ein Hinweis dafür sien, wie vielschichtig die Auseinandersetzung mit dem Faschismus geführt wurde, wenn man bedenkt, daß jeder dieser oben aufgeführten Zusammenhänge wieder neue empirische und historische Forschungen beinhaltete.
[V46:334] Wie läßt sich zusammenfassend der gemeinsame Anspruch be schreiben? Er lag sicherlich in dem Versuch, gesellschaftliche Entwicklung als historische Totalität zu erfassen und nicht ein geschlossenes System von Erklärungen zu präsentieren:
[V46:335] Die Dialektik zwischen Verhalten und Verhältnissen, zwischen Subjekt und Objekt im Hinblick auf die historischen Verhältnisse immer wieder neu zu formulieren und in ihrer historischen Kontinuität zu sehen.
[V46:336] Die Tatsache jedoch, daß Adornodiese Forderung 1966 als Gegenwartsprogramm formulierte, daß er sie als
»allererste an Erziehung«
ansah, verdeutlicht,
daß auch nach der Zerschlagung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft die
»Kritische Theorie«
keinesfalls annahm, daß die strukturellen Bedingungen aufgehoben waren, die den Faschismus möglich machten. Auf dem Untergrund der bisherigen Kenntnisse ist auch zu verstehen, daß er die Verhinderung eines zweiten Auschwitz keineswegs für ein bloßes Erziehungsproblem hielt (Adorno, Erziehung zur Mündigkeit, a.a.O., S. 88 ff.), sondern daß er auch hier einen Vorgang meinte, der die Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Totalität einschließlich der unmittelbaren Vergangenheit beinhaltete.
B
ø
B
Genesis und Wirkung (Entstehungs- und Verwertungszusammenhang) wissenschaftlicher Erkenntnis werden vernachlässigt
B
ø
B
gesellschaftlicher Folgen der
B
.
B
Die Forschungstätigkeit bleibt fachspezifisch beschränkt; damit werden die Untersuchungsgegenstände aus ihrem Realzusammenhang herausgelöst
B
.
B
Die wissenschaftlichen Methoden verselbständigen sich gegenüber ihrem Gegenstand und vereinheitlichen sich
B
.
B
Es wird von der Wissenschaft Wertfreiheit gefordert
B
demgegenüber
B
und damit die Begründung von Wertentscheidungen
B

3. Traditionelle und Kritische Theorie

3.1 Vorbemerkung

[V46:410] Wir haben uns in den vorherigen Abschnitten mit der Geschichte des Instituts für Sozialforschung beschäftigt und versucht, die historischen Verhältnisse nachzuzeichnen, in denen die
Kritische Theorie
entstanden ist. Wir haben außerdem versucht darzustellen, aufgrund welcher Problemstellungen und geschichtlichen Erfahrungen theoretische Positionen und Denkansätze entwickelt wurden. Wir wollen nun die allgemeinere und historische Darstellungsweise aufgeben und uns näher mit einem Text beschäftigen: nämlich mit dem Aufsatz von Max Horkheimer
»Traditionelle und Kritische Theorie«
, der 1937 veröffentlicht wurde.
[V46:411] Die Auswahl dieses Aufsatzes erfolgt aus zwei Gründen: Einmal ist unter der Leitung von Horkheimer im wesentlichen das entstanden, was später zusammenfassend als
Kritische Theorie
bezeichnet wurde, zum anderen gibt dieser Aufsatz eine Selbstdeutung der Kritischen Theorie: Er formuliert eine Position.
[V46:412] Wesentliche Momente dieses Selsbtverständnisses sind, daß
  • [V46:413] Wissenschaft als gesellschaftliche Tätigkeit begriffen wird,
  • [V46:414] diese gesellschaftliche Tätigkeit durch die Form ihrer Theorie, nämlich als traditionelle, von Wissenschaftlern nicht mehr als gesellschaftliche, sondern nur als individuelle Tätigkeit verstanden wird,
  • [V46:415] deswegen eine
    Kritische Theorie
    gerade die Produktionsbedingungen von Theorie und Wissenschaft reflektieren muß.
[V46:416] Im folgenden zitieren wir nach der Taschenbuchausgabe im Fischer-Verlag M. Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie. Vier Aufsätze, Frankfurt/M. 1970.

3.2 Wissenschaft in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung

[V46:417] In den Vorstellungen und Formulierungen von Theorie, sei es in den Naturwissenschaften, den einzelnen Fachwissenschaften oder der Philosophie, drückt sich – so Horkheimer – ein Selbstbewußtsein des bürgerlichen Gelehrten aus, das
»total aus dem wissenschaftlichen Betrieb abstrahiert«
ist.
[V46:418] Dem subjektiven Bewußtsein des Wissenschaftlers scheint es, daß seine Tätigkeit sich nur nach den Regeln und Verfahren der Wissenschaft richtet und mit gesellschaftlichen Strukturen nicht viel zu tun hat. Seine Tätigkeit der immanenten weiterentwicklung von Theorien und des logischen Schließens entspricht - wie Horkheimer es nennt –
[V46:419]
»der Tätigkeit des Gelehrten, wie sie neben allen übrigen Tätigkeiten in der Gesellschaft verrichtet wird, ohne daß ein Zusammenhang zwischen den einzelnen Tätigkeiten unmittelbar durchsichtig wird. In dieser Vorstellung erscheint daher nicht die reale gesellschaftliche Funktion der Wissenschaft, nicht was Theorie in der menschlichen Existenz, sondern nur, was sie in der abgelösten Sphäre bedeutet, worin sie unter historischen Bedingungen erzeugt wird. In Wahrheit resultiert jedoch das Leben der Gesellschaft aus der Gesamtheit der verschiedenen Produktionszweige, und wenn die Arbeitsteilung unter der kapitalistischen Produktionsweise auch nur schlecht funktioniert, so sind ihre Zweige, auch die Wissenschaft, doch nicht als selbständig und unabhängig anzusehen. Sie sind Besonderungen der Art und Weise, wie sich die Gesellschaft mit der Natur auseinandersetzt und in ihrer gegebenen Form erhält. Sie sind Momente des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, mögen sie selbst auch wenig oder gar nicht produktiv sein.«
Horkheimer, M.: Traditionelle ..., a.a.O., S. 19)
[V46:420] Was ist damit gemeint?
[V46:421] Uns allen ist das Bild des Gelehrten geläufig, der allein in seiner Studierstube hockt, während sich draußen das Leben abspielt. Dieses Bild ist sicherlich karrikaturhaft und übertrieben, bringt aber vielleicht gerade deshalb die objektive Seite des von Horkheimer angesprochenen Sachverhalts symbolisch zum Ausdruck: Die wissenschaftliche Tätigkeit erscheint als das Ergebnis der Denkanstrengung|B 44|einer Person. In dieser Form trifft sie auf einen historischen Typus des Gelehrten zu, der z.B. ein klassisch-philosophisches Wissenschaftsverständnis repräsentiert: In der autonomen eigentätigen Reflexion des erkennenden Subjekts, durch Introspektion, versucht der Wissenschaftler, die Frage nach dem Sinn der Welt zu beantworten.
[V46:422] Wie dem auch sei, wir wollen uns zunächst mit dem gesellschaftlichen Zusammenhang von Wissenschaft befassen, der im zweiten Teil des Zitats angesprochen wird: Wissenschaft ist ein Moment des gesellschaftlichen Produktionsprozesses einer arbeitsteilig produzierenden Gesellschaft, sie ist eine der Arten und Weisen, wie sich die Gesellschaft mit der Natur auseinandersetzt. Die Grundlage für die historische Entwicklung der Wissenschaft als einer
abgelösten Sphäre
ist die gesellschaftliche Teilung der Arbeit in geistige und körperliche Arbeit.
[V46:423] In manchen
primitiven Kulturen
, in der bäuerlichen Großfamilie z.B., wird das gesamte Kulturwissen innerhalb der Gruppe tradiert. Den Ältesten kommt dabei zwar eine besondere Rolle zu, aber sie sind von der Sphäre körperlicher Arbeit nicht völlig getrennt. Von der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit spricht man erst dann, wenn eine gesellschaftliche Gruppe, z.B. die Sklaven in der Antike, für die materielle Reproduktion sorgen, während sich die Formen der geistigen Durchdringung des gesellschaftlichen Lebens wie die Philosophie oder die Künste auf gesellschaftliche Gruppen beschränken, die selbst nicht mehr durch eigene körperliche Arbeit für ihren Lebensunterhalt sorgen müssen. Insofern ist in dem Begriff der Arbeitsteilung auch immer der Hinweis auf eine veränderte Gesellschaftsstruktur enthalten. Die kapitalistische Gesellschaft ist durch einen hohen Grad an Differenzierung gekennzeichnet: Die Arbeitsteilung zwischen Kopf und Hand gibt nur eine allgemeine Form der Differenzierung an, genauso wie die Form der Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land. Charakteristischer für die Reproduktion des Gesamtsystems sind z.B. die Formen der Arbeitsteilung zwischen den einzelnen Industriezweigen,|B 45|zwischen den Betrieben und innerhalb der Betriebe. Die Wissenschaft als ein vom alltäglichen Wissen unterschiedenes System mit eigenen Organisationsregeln hat ihren Platz im Rahmen dieses Gesamtsystems.
[V46:424] Besonders für den Bereich der Naturwissenschaften und deren praktischem Anwendungsgebiet, der Technik, ist unmittelbar der industrielle Anwendungszusammenhang ersichtlich. Bei den Gesellschaftswissenschaften ist dieser Verwertungszusammenhang nicht unbedingt evident. Nun bedeutet aber Horkheimers Aussage, daß Wissenschaft eine Besonderung der Art und Weise ist, in der sich die Gesellschaft mit der Natur auseinandersetzt, nicht allein, daß sie sich mit ihrer
äußeren Natur
auseinandersetzt, d.h. im weitesten Sinne die Natur dem Menschen als Lebensgrundlage verfügbar macht, sondern daß sie sich auch mit der
inneren Natur
auseinandersetzt, d.h. der Frage nachgeht, wie die Menschen ihre emotionalen und sozialen Bedürfnisse organisieren und realisieren können, der Frage nach ihrer Lebenspraxis also, aber wie geschieht das? Horkheimer gibt eine knappe Skizze:
[V46:425]
»In der gesellschaftlichen Arbeitsteilung hat der Gelehrte Tatsachen in begriffliche Ordnungen einzugliedern und diese so instand zu halten, daß er selbst und alle, die sich ihrer bedienen müssen, ein möglichst weites Tatsachengebiet beherrschen können. Das Experiment hat innerhalb der Wissenschaft den Sinn, die Tatsachen in einer Weise festzustellen, die der jeweiligen Situaton der Theorie besonders angemessen sind ... Für den Gelehrten ist das Aufnehmen, Umformen, Durchrationalisieren des Tatsachenwissens, gleichviel, ob es sich um ein möglichst eingehendes Darliegen des Stoffes wie in der Historie und den beschreibenden Zweigen anderer Einzelwissenschaften oder um Zusammenfassen von Datenmassen und das Gewinnen allgemeiner Regeln wie in der Physik handelt, seine besondere Art der Spontaneität die theoretische Betätigung.«
Horkheimer, M.: Traditionelle ..., a.a.O., S. 19)
[V46:426] An diesem Punkt setzt nun Horkheimers Kritik ein. Gerade dieses Verfahren der theoretischen Produktion erscheint als
objektiv
, bringt den Schein der
objektiven Sphäre
hervor und läßt den Zusammenhang mit Praxis ganz zurücktreten, denn:
[V46:427] was
»zur Änderung alter Klassifikationen oder zum Entstehen neuer den Anlaß bildet, läßt sich keineswegs nur aus der logischen Situation ableiten ... Ob und wie neue Definitionen zweckmäßig aufgestellt werden, hängt in Wahrheit nicht bloß von der Einfachheit und Folgerichtigkeit des Systems, sondern unter anderem auch von der Richtung und Zielen der Forschung ab, die aus ihr selbst weder zu erklären oder gar letztlich einsichtig zu machen sind.«
Horkheimer, M.: Traditionelle ..., a.a.O., S. 18)
[V46:428] Nicht nur die Instrumente, die z.B. für die
»experimentelle Prozedur«
verwendet werden, sind eng an die technischen Bedingungen geknüpft, sondern gerade die Art, wie das Beobachtbare geschieden und zusammengefaßt wird,
»wie einzelnes nicht bemerkt, anderes hervorgehoben wircL, ist ebensosehr Resultat der modernen Produktionsweise, wie die Wahrnehmung eines Mannes aus irgendeinem Stamm primitiver Jäger und Fischer Resultat seiner Existenzbedingungen und freilich auch des Gegenstandes ist.«
Horkheimer, M.: Traditionelle ..., a.a.O., S. 23)
[V46:429] Horkheimers Kritik an der
»Traditionellen«
Theorie bzw. Wissenschaft umfaßt also im wesentlichen die folgenden vier Thesen:
  1. 1.
    [V46:347] Genesis und Wirkung (Entstehungs- und Verwertungszusammenhang) wissenschaftlicher Erkenntnis werden vernachlässigt. Dagegen will die Kritische Theorie die sich durchsetzende wechselseitige Abhängigkeit von Therapieproduktion und gesellschaftlicher Entwicklung, von unerkannter Parteilichkeit der Theorie und theoretisch nicht reflektierter gesellschaftlicher Folgen der Anwendung ihrer Ergebnisse durchbrechen.
  2. 2.
    [V46:348] Die Forschungstätigkeit bleibt fachspezifisch beschränkt; damit werden die Untersuchungsgegenstände aus ihrem Realzusammenhang herausgelöst. Ohne die Berechtigung fachwissenschaftlichen Vorgehens grundsätzlich zu bestreiten, will die Kritische Theorie die Partikularisierung der Erkenntnis und die Isolierung der Erkenntnisgegenstände in der Reflexion des beiden gemeinsamen geschichtlich-gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs aufheben.
  3. 3.
    [V46:349] Die wissenschaftlichen Methoden verselbständigen sich gegenüber ihrem Gegenstand und vereinheitlichen sich nach dem Muster naturwissenschaftlichen Vorgehens. |B 47|Demgegenüber fordert die Kritische Theorie, |A 51|daß die Methoden der Gesellschaftswissenschaften dem praktisch-geschichtlichen Charakter ihrer Erkenntnisgegenstände entsprechen.
  4. 4.
    [V46:350] Es wird von der Wissenschaft Wertfreiheit gefordert. Aus der Einsicht in die unausweichliche Interessengebundenheit von menschlicher Erkenntnis erhebt die Kritische Theorie demgegenüberdie Begründung gesellschaftlicher Parteinahme und damit die Begründung von Wertentscheidungenzum Gegenstand ihrer theoretischen Reflexion.

3.3 Erkenntniskritischer Aspekt

[V46:430] Man kann die genannten vier Thesen so auffassen, als enthielten sie nichts weiter als eine wissenssoziologische Aufforderung. Die Grundannahme, die wissenssoziologische Fragestellungen leitet, läßt sich so formulieren:
[V46:431] Die Wissensbestände, über die eine Gesellschaft bzw. Kultur verfügt, sind keine
»reine Wahrheit«
, Ergebnis einer nur auf Erkenntnis gerichteten Tätigkeit, sondern vom Gesamtzustand der Gesellschaft/Kultur abhängige Wissensbestände (was in der einen Kultur als
»wahres«
Wissen erscheint, kann in einer anderen als
»falsch«
gelten); wenn dies für die Wissensbestände gilt, kann es auch für die Formen gelten, in denen das Wissen gewonnen (Formen der Erfahrung, Denkmethoden) und aufbewahrt wird. Anders gesagt: Was die Menschen einer Gesellschaft/Kultur wissen, wie sie dieses Wissen erwerben und in welcher Form sie es für das Handeln bereitstellen, ist von der Praxis der Gesellschaft/Kultur abhängig.
[V46:432] Von dieser Annahme ausgehend läßt sich Horkheimers Meinung so verstehen,
  1. 1.
    [V46:433] daß z.B. dem Erzeihungswissenschaftler diese Abhängigkeit vom Gesamtzustand der Gesellschaft, in der er lebt, und von dem sozialen Ort, an dem er arbeitet, bewußt sein sollte. – Für die Pädagogik könnte dies beispielsweise bedeuten, daß der Erziehungswissenschaftler, der |B 48|einen Leistungstest konstruiert, wissen sollte, wie überhaupt geschichtlich das Interesse an so etwas wie
    »Leistungstests«
    entstanden ist (Genesis) und welche sowohl individuellen als auch gesellschaftlichen Folgeerscheinungen mit der Verwendung solcher Tests verbunden sind (Wirkung);
  2. 2.
    [V46:434] daß er die wissenschaftliche Arbeitsteilung in eine Vielzahl von Fachwissenschaftren als eine historisch erzeugte Sektionierung (
    »Klassifikation«
    ) daes Wissens zu begreifen sucht und sich klar macht, welche gesellschaftliche Bedeutung das hat; also z.B. die Frage, wie und warum überhaupt so etwas wie
    »Pädagogik«
    als eine Einzelwissenschaft entstanden ist und welche Bedeutung darin liegt, daß häufig
    »Pädagogik«
    nur noch eine lockere Addition von Erziehungssoziologie und pädagogischer Psychologie ist;
  3. 3.
    [V46:435] daß der Erziehungswissenschaftler sich fragt, inwiefern er mit der Wahl seiner Forschungsmethoden auch seinen Forsehungsgegenstand
    »konstituiert«
    und inwiefern (mit welchen Gründen) eine solche
    »Konstitution«
    dem entspricht, was Erziehung als eine gesellschaftliche Praxis ist;
  4. 4.
    [V46:436] daß er sich zum Bewußtsein bringt, welche Art von Erziehungs- bzw. Unterrichtspraxis durch seine wissenschaftliche Tätigkeit gefördert, welche gesellschaftlichen Gruppen und Kräfte dadurch unterstützt werden und mit welchen Gründen er solche Parteinahme will.
[V46:437] Horkheimer will jedoch mehr, als eine derartige wissenssoziologische Aufklärung der Wissenschaftler erreichen. Es geht ihm nicht nur um einige – freilich wichtige – Rahmenbedingungen der gelehrten Tätigkeit; es geht ihm um diese Tätigkeit selbst. Diesen Unterschied wollen wir noch mit einigen Zitaten erläutern.
[V46:438] Wir zitieren noch einmal:
[V46:439]
»Die traditionelle Vorstellung der Theorie ist aus dem wissenschaftlichen Betrieb abstrahiert, wie er sich innerhalb der Arbeitsteilung auf einer gegebenen Stufe vollzieht ... In dieser Vorstellung erscheint daher nicht die reale gesellschaftliche Funktion der Wissenschaft, nicht was Theorie in der menschlichen Existenz, sondern nur, was sie in der abgelösten Sphäre bedeutet, worin sie unter den historischen Bedingungen erzeugt wird. In Wahrheit resultiert jedoch das Leben der Gesellschaft aus der Gesamtarbeit der verschiedenen Produktionszweige«
; also sei
»auch die Wissenschaft ... nicht als selbständig und unabhängig anzusehen«
; auch sie gehört zu den
»Besonderungen der Art und Weise, wie sich die Gesellschaft mit der Natur auseinandersetzt und in ihrer gegebenen Form erhält.«
Horkheimer, M.: Traditionelle ..., a.a.O., S. 19)
|B 49|
[V46:440] Dieses Zitat enthält drei Thesen, die sich auf
»Wissenschaft«
als institutionalisierte Form von Erkenntnis beziehen:
  1. 1.
    [V46:441] Die neuzeitliche Wissenschaft, insbesondere aber der naturwissenschaftliche Typus des Denkens, habe eine Neigung, sich als von der gesellschaftlichen Praxis (besonders der materiellen Produktion)
    »abgelöste Sphäre«
    zu betrachten.
  2. 2.
    [V46:442] Dieses Selbstverständnis führe dazu, daß über
    »die reale gesellschaftliche Funktion«
    der Wissenschaft, darüber
    »was Theorie in der menschlichen Existenz«
    bedeutet, nicht gründlich nachgedacht werde.
  3. 3.
    [V46:443] Das wiederum habe zur Folge, daß sie, ohne es zu merken, den historischen Stand
    »der Art und Weise, wie sich die Gesellschaft mit der Natur auseinandersetzt«
    (mit äußerer und innerer Natur),
    »in ihrer gegebenen Form erhält«
    . D.h.: die Wissenschaft, versteht sie sich in dieser Weise, wirkt nicht als Kraft zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Richtung auf immer bessere, gerechtere, sondern bekräftigt den Zustand, den sie vorfindet (ist
    »affirmativ«
    ).
[V46:444] Das sind empirische Behauptungen, die man in Zweifel ziehen mag. Aber unabhängig von der empirischen Geltung dieser Behauptungen kann man doch zunächst einmal die prinzipielle Forderung diskutieren, die darin an die wissenschaftliche Tätigkeit gestellt ist: selbst wenn sich zeigen ließe, daß beispielsweise die dritte These falsch ist, wäre es dennoch nicht abwegig, vom Wissenschaftler zu erwarten, er solle sich die Frage stellen, ob und wie weit nicht nur seine Tätigkeit mit anderen gesellschaftlichen Tätigkeiten und Institutionen zusammenhängt, sondern auch, ob und wieweit die Art seiner Tätigkeit mit dem historischen Stand (der
»Stufe«
) der Gesellschaft, in der er tätig ist, sich ändert. Zur Bekräftigung, daß diese Forderung begründet sei, nimmt Horkheimer zunächst noch eine begriffliche Erläuterung vor:
[V46:445] Es sei
»der Begriff von Theorie weiterzuentwickeln«
, und zwar deshalb, weil die Welt, so wie jeder einzelne sie vorfindet, einerseits etwas von ihm unabhängig Gegebenes sei, andererseits aber eben auch etwas prinzipiell von Menschen Gemachtes,
»Produkt der allgemeinen gesellschaftlichen Praxis«
. Wenn nun die wissenschaftliche Tätigkeit ein Teil dieser Praxis ist, dann beteiligt sich auch der Wissenschaftler am Machen dieser Welt, dann entscheidet auch er mit über deren Zukunft. Daraus folge, daß eine Theorie, die diesen Sachverhalt berücksichtige, besser sei (der Wahrheit näher komme) als eine, die solche Problemstellungen vernachlässige.
»Die isolierende Betrachtung einzelner Tätigkeiten und Tätigkeitszweige mitsamt ihren Inhalten und Gegenständen bedarf, um wahr zu sein (Hervorhebung von den Autoren) , des konkreten Bewußtseins ihrer eigenen Beschänktheit«
.
Horkheimer, M.: Traditionelle ..., a.a.O., S. 21)
[V46:446] Diese begriffliche Erläuterung enthält gewiß noch eine Reihe offener Fragen, z.B.:
  • [V46:447] Wieso erfordert das Bewußtsein von der Beschränktheit der eigenen wissenschaflichen Tätigkeit eine andere Art von Theorie?
  • [V46:448] Wie kann man wissen, daß ein Wissenschaftler, der das Verhältnis seiner wissenschaftlichen Tätigkeit zur gesellschaftlichen Praxis bedenkt, eher in der Lage ist, wahre Sätze zu formulieren als jener andere?
  • [V46:449] Inwiefern hat solches Bedenken zur Folge, daß die Theorie, deren sich der Wissenschaftler bedient, nicht nur neue Gegenstände aufnimmt, sondern ihren
    »Begriff«
    weiterentwickelt, also doch wohl andersartig wird?
[V46:450] Wir stellen dieserart Fragen hier, wenngleich zögernd, beiseite und vernächlässigen die Güte-Urteile, die Horkheimer fällt; sie sind für den Grundgedanken vielleicht entbehrlich. Dieser Grundgedanke indessen besagt, in trivialer Rede formuliert, etwa folgendes: Der Mensch täte gut daran, wenn er die Art seines Denkens und Erkennens nicht als übergeschichtlich gültige Methode, die Produkte solcher Tätigkeit nicht als allgemein gültige Wahrheiten ansehen würde, sondern als durch und durch geschichtlichen Sachverhalt; und er täte überdies gut daran, dabei nicht nur an Geistes- oder Ideengeschichte zu denken, sondern sich |B 51|auch zu fragen, ob und wie diese seine Tätigkeit von der Art der materiellen Produktion abhängig sei, die je gesellschaftlich vorherrscht.
[V46:451] Dafür, daß diese Empfehlung nicht nur sinnvoll, sondern sogar naheliegend sei – jedenfalls für den, der solche Gedanken nicht von vornherein abweist – führt Horkheimer auch ein empirisches Argument ins Feld:
[V46:452] Überlegungen dieser Art betreffen nicht nur die Wissen schaftler,
»sondern die erkennenden Individuen überhaupt«
, d.h. der Möglichkeit nach jedermann. Denn:
»Was wir in der Umgebung wahrnehmen, die Städte, Dörfer, Felder und Wälder, tragen den Stempel der Bearbeitung an sich. Die Menschen sind nicht nur in der Kleidung und im Auftreten, in ihrer Gestalt und Gefühlsweise ein Resultat der Geschichte, sondern auch die Art, wie sie sehen und hören, ist von dem gesellschaftlichen Lebensprozeß ... nicht abzulösen.«
Horkheimer, M.: Traditionelle ..., a.a.O., S. 21 f.)
[V46:453] Dieses Argument ist heute kaum mehr strittig; die sozialpsychologische, kulturanthropologische und vergleichende sprachwissenschaftliche Forschung hat im Laufe der letzten mindestens 50 Jahre eine große Materialfülle beigebracht, die es unterstützt.
[V46:454] Horkheimer faßt derartige Sachverhalte in einer empirischen These zusammen, die für den weiteren Argumentationsgang folgenreich ist:
[V46:455]
»Die Tatsachen, welche die Sinne uns zuführen, sind in doppelter Weise gesellschaftlich präformiert: durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstandes und den geschichtlichen Charakter des wahrnehmenden Organs«
(S. 22)
; es ließe sich deshalb der Satz,
»die Werkzeuge seien Verlängerungen der menschlichen Organe, so umdrehen, daß die Organe auch Verlängerungen der Instrumente sind.«
Horkheimer, M.: Traditionelle ..., a.a.O., S. 23)
[V46:456] Aber was macht nun der wissenschaftlich tätige Gelehrte mit solchen Einsichten oder – wenn er skeptischer ist – mit derartigen Fragestellungen? Untersuchungen in dieser Richtung sind ja durchaus vorgenommen worden; auch
»Ideologieforschung«
oder
»Wissenssoziologie«
gab es und gibt es und zwar ohne daß deren Autoren weder sich selbst der Kritischen Theorie zurechneten noch von Horkheimer dazugerechnet |B 52|wurden. Der springende Punkt nämlich ist der Gebrauch, der von solchen Einsichten gemacht wird, die existentielle Bedeutung – wenn wir im Zusammenhang mit der Kritischen Theorie so reden dürfen –, die sie für das erkennende Subjekt haben: Die Differenz (Horkheimer sagt
»der Gegensatz«
) der Kritischen Theorie
»zum traditionellen Begriff von Theorie entspringt überhaupt nicht so sehr aus einer Verschiedenheit der Gegenstände als der Subjekte«
(S. 29)
. Und diese Verschiedenheit betrifft das Engagement, die eigene theoretische und praktische Betroffenheit durch die Ergebnisse der wissenschaftlichen Tätigkeit.
[V46:457] Es ist bedauerlich, daß Horkheimer sich hier nicht zur Eindeutigkeit entschlossen hat und nur unbestimmt
»...nicht so sehr...«
sagt. Dadurch verliert die Behauptung an argumentativem Gehalt. Das ist besonders deshalb zu beklagen, weil hier eine Problemstellung berührt ist, die in der Geschichte des pädagogischen Denkens gelegentlich wichtig wurde. So wie Horkheimer für das
»kritische Verhalten«
fordert, daß
»die Tatsachen, wie sie aus der Arbeit in der Gesellschaft hervorgehen«
(S. 29)
, aber eben auch Problemstellungen, Gegenstände und Resultate der wissenschaftlichen Tätigkeit den Gelehrten nicht
»äußerlich«
bleiben sollten, so wurde beispielsweise vor allem von Vertretern der geisteswissenschafltichen Pädagogik immer wieder behauptet, daß die wissenschaftlich-pädagogische Tätigkeit nicht nur den Gütekriterien wissenschaflticher Forschung zu genügen haben, sondern
»Engagement«
, interessierte Beteiligung an den Problemen der Praxis erforderlich mache (z. B. W. Flitner, E. Weniger, M. Buber).
[V46:458] Ähnlich wie die Autoren der Kritischen Theorie, als Gesellschaftstheoretiker, die Impulse der Arbeiterbewegung aufnahmen und sie sich teils zu eigen machten, nahmen jene Pädagogen ausdrücklich und mit Gründen die Impulse der pädagogischen Reformbewegung des ersten Jahrhundertdrittels auf und verstanden sich teils ausdrücklich als Theoretiker dieser Bewegung (H. Nohl). – Mit diesen Hinweisen soll der ideologische Graben nicht verdeckt werden, der diese
»bürgerliche«
Pädagogik von der Kritischen Theorie trennt; es sollte nur deutlich sein, daß in beiden Fällen ein ähnlich geartetes Begründungsproblem aufgeworfen wird, nämlich: Welches Verhältnis zur Praxis darf vom Theoretiker einer Handlungswissenschaft erwartet werden?
[V46:459] Was aber bedeutet, über derartige allgemeine Hinweise hinaus, die Rede, es handele sich um eine
»Verschiedenheit der Subjekte«
? Horkheimer erläutert das nach verschiedenen Seiten hin: |B 52|
  • [V46:460] Die Sachverhalte, denen der
    »kritische«
    Wissenschaftler sich zuwendet, verlieren für ihn den
    »Charakter bloßer Tatsächlichkeit«
    (S. 30)
    ; d.h. sie sind für ihn nicht nur Objekte seiner wissenschaftlichen Tätigkeit, sondern er fühlt sich zugleich für ihre Veränderung verantwortlich.
  • [V46:461] Da die Sachverhalte, so wie sie durch die herrschende Form der materiellen Produktion hervorgebracht werden,
    »Objektivität«
    suggerieren, d.h. da in der Gesellschaft eine Neigung besteht, derartige Sachverhalte als nicht änderbar anzusehen,
    »ist das kritische Denken durch den Versuch motiviert, über (diese) Spannung real hinauszugelangen«
    (S. 30)
    , und zwar nicht so, daß der Wissenschaftler sich einerseits als verantwortlicher
    »Staatsbürger«
    betätigt, andererseits als uninteressierter Wissenschaftler, sondern so, daß diese politische Verantwortlichkeit Teil auch seiner wissenschaftlichen Tätigkeit ist.
  • [V46:462] Das Ziel des
    »kritischen«
    Denkens ist
    »vor allem die Idee einer vernünftigen, der Allgemeinheit entsprechenden gesellschaftlichen Organisation«
    (S. 32)
    , d.h. vor allem der Überwindung von Klassengegensätzen und Ungerechtigkeit. Dieses Ziel aber könne der Gelehrte, dem die Gegenstände seiner Tätigkeit
    »äußerlich«
    bleiben, gar nicht recht ins Auge fassen, weil er ja immer nur mit isolierten Forschungsobjekten sich auseinandersetze, nicht aber mit dem widerspruchsvollen gesellschaftlichen Ganzen; es gehöre deshalb
    »ein bestimmtes Interesse dazu, diese Tendenzen zu erfahren und wahrzunehmen«
    (S. 32)
    .
  • [V46:463] Dieses Interesse wird nur dort
    »notwendig erzeugt«
    , wo der Widerspruch zwischen den bürgerlichen Idealen und der materiellen Situation täglich erfahren wird. Das sei vor allem im Proletariat der Fall. Der Wissenschaftler muß zwar das dort täglich erzeugte Interesse in sein Denken aufnehmen; da er nur kraft der Teilung der Arbeit in Hand- und Kopfarbeit als Wissenschaftler existiert, ergibt sich für ihn dieses Interesse nicht |B 53|mit Notwendigkeit; er muß es erst für sich bilden und zwar in der Auseinandersetzung mit dem widerspruchsvollen gesellschaftlichen Ganzen und seinem Ort darin.
  • [V46:464] Dieses Interesse kann nur in Auseinandersetzung mit dem zukünftig Möglichen gebildet werden; jedenfalls aber nicht dadurch, daß der
    »kritische«
    Gelehrte einfach Partei nimmt für diejenigen, bei denen in aktueller Gestalt das Interesse an gerechteren Zuständen
    »notwendig erzeugt wird«
    :
    »Auch die Situation des Proletariats bildet in dieser Gesellschaft keine Garantie der richtigen Erkenntnis«
    , und: der Gelehrte, der das in die gesellschaftliche Zukunft gerichtete Interesse, die
    »Idee einer vernünftigen ... gesellschaftlichen Organisation«
    also, nicht auch gegen aktuelle geschichtliche Bewegungen geltend machen würde, sondern seine
    »Richtschnur von Gedanken und Stimmungen der Masse bezöge, geriete selbst in sklavische Abhängigkeit vom Bestehenden«
    (S. 33)
    .
[V46:465] Auch dieser Gedankengang Horkheimers ist eher eine Skizze als eine befriedigende Argumentation. Aber: daß dieser Versuch, die wissenschaftliche Tätigkeit an gesellschaftlich-praktische Interessen zu binden, den Wissenschaftler aufzufordern, sich über die praktische und auf Zukünftiges bezogene Relevanz seiner Tätigkeit Rechenschaft zu geben und derart teilzunehmen an den aktuellen Problemen der Praxis – daß dieser Versuch für Erziehungswissenschaftler wichtig wurde, ist vielleicht leicht einzusehen. Denn mehr noch als die Gesellschaftstheorie muß die Erziehungswissenschaft sich um Theorien des Handelns bemühen, um Bedingungen also, die das Handeln
»besser«
machen und um Gründe dafür, was
»besseres Erziehungshandeln«
sein könne.
[V46:466] Die theoretischen Probleme, die in dieser Skizze Horkheimers enthalten sind, hat 30 Jahre später Jürgen Habermas ausführlicher entfaltet in seinem Buch
»Erkenntnis und Interesse«
(Frankfurt/M. 1968).
B
ø
B
4.
B
Resümee
B
nur am Beispiel eines Aufsatzes von Horkheimer und
B
ø
B
Frage
B
in
B
ø
B
den Sachverhalt der
»Bildsamkeit«
nicht nur als naturwüchsigen Zusammenhang betrachten, als Entfaltung eingeborener Anlagen zu begreifen, sondern als ein Produkt gesellschaftlich-menschlicher Tätigkeit, die den Bildungsprozeß des Einzelnen formt. Der Bildungsprozeß in seiner aktiven Dimension ist zugleich selbst wieder gesellschaftlich-menschliche Tätigkeit, und insofern enthält er die Aufforderung zur Selbstbestimmung.
B
Erziehungs- und Bildungsziel
B
Mündigkeit
B
. Einerseits
B
. Die Anforderung an eine Kritische Theorie der Erziehung |B 56|läge darin, dieses Bildungsziel in seiner Historizität ideologiekritisch zu bedenken, andererseits den Wunsch nach
B
als geschichtspraktische Antizipation eines zu erreichenden Zustands, der
B
, aufzunehmen. Wie
B
aber
B
Forderung
B
, da sie selbst auch immer nur einen Teilbereich gesellschaftlicher Praxis repräsentiert
B
wom
B
sich produktiv, auf das zukünftig Neue hin, mit seiner Gegenwart auseinandersetzen zu können
B
;
B
|B 59|

Glossar zum Gesamtkurs

  • affirmativ
    [V46:123] Vorhandene Einstellungen, Vorstellungen, Handlungsmuster, u.a. verstärkend, bekräftigend.
  • Antizipation (antizipatorisch)
    [V46:124] die Vorwegnahme von für die Zukunft erwarteten oder gewünschten Ereignissen und Vorstellungen.
  • Bildungsprozeß
    [V46:125] Das Insgesamt von Erfahrungen und Lernschritten, durch welche das Subjekt eine für es selbst und andere verstehbare Gestalt erwirbt.
  • Chancen-Struktur
    [V46:126] Das ist der Zusammenhang von gesellschaftlich vorgeformten Lebensmöglichkeiten, der einem Individuum aufgrund seiner sozialen Situation seines Bildungsstandes, seiner Lernfähigkeit offensteht. Dem korrespondiert eine subjektive Komponente: das, was das Individuum, seine Chancen einschätzend, für sich selbst tatsächlich erwartet oder aus seiner Erwartung ausschließt.
  • Deduktion (deduziert)
    [V46:127] Die Ableitung von Begriffen, Sätzen, Hypothesen aus einer vorgegebenen Theorie.
  • Desymbolisierung
    [V46:128] Der Vorgang, durch den ein Symbol (z.B. ein Wort) seine allgemein geteilte Bedeutung verliert, sei es, daß es zum Bestandteil einer (z.B. neurotisch verformten)
    »Privatsprache«
    wird, sei es, weil der Benutzer des Symbols (der Sprecher) die Bedeutung nicht mehr durch seine Erfahrung auffüllen kann (Klischee).
  • Devianz
    [V46:129] In den Sozialwissenschaften gebrauchter Terminus, der alle Formen sozialer Abweichung zusammenfaßt. Darunter fallen auch biologisch, psychiatrisch und psychologisch definierte Abweichungen (Anormalitäten) insofern, als ihre Definition und Behandlung auf gesellschaftlich vermittelte, historisch veränderliche Klassifikationen und Weltbilder zurückgehen.
  • |B 60|
  • Dimension
    [V46:130] Gegenstände empirischer Forschung sind in der Regel (in der Sozialwissenschaft) derart komplex, daß sie, um genau erforscht werden zu können, zergliedert werden müssen, auch wenn sie der alltäglichen Erfahrung als ein unteilbares Ganzes erscheinen. Solche Dimensionen müssen so konstruiert sein, daß sie getrennt voneinander beobachtbar (oder in einem Fragebogen durch verschiedene Fragen abfragbar) sind. Beispiel: Das Verhalten eines Kindes beim Spiel – obwohl ein ganzheitlicher Handlungsverlauf – läßt sich gliedern in die Dimension Spielabsicht, Motorik, sprachliche Äußerungen, nichtsprachliche Signale usw.
  • Disposition (psychische)
    [V46:131] Ein Zusammenhang von erworbenen und/oder angeborenen Merkmalen des Organismus und seiner psychischen Ausstattung, die eine Vorhersage des Verhaltens in bestimmten Wahrscheinlichkeitsgrenzen gestatten (dazu kann z.B. das Intelligenzniveau, die affektive Grundstimmung, die Folgebereitschaft für Autoritäten, die Kenntnis verhaltensrelevanter Sachverhalte, Art und Ausmaß sprachlicher Fähigkeiten gehören).
  • Diskurs
    [V46:132] Die Form der Verständigung, in der die im kommunikativen Handeln naiv unterstellte Legitimität von Geltungsan­ sprüchen, vor allem die des Anspruchs auf Wahrheit von Aussagen und die der Richtigkeit von Handlungsnormen problematisiert, begründet und argumentativ überprüft werden. Das Ziel eines Diskurses ist die Herbeiführung eines Einverständnisses.
  • dogmatisch
    [V46:133] Ein Standpunkt, der davon ausgeht, daß für wesentlich gehaltene Behauptungen (Theorien) nicht in Frage gestellt werden können oder dürfen, d.h. der den grundsätzlich hypothetischen Status theoretischer Sätze leugnet.
  • Ego/Alter
    [V46:134] Ego = Ich, Alter = der Andere. Diese Bezeichnungen für die Partner einer Interaktion werden gewählt, um deutlich zu machen, daß es sich in interpersonellen Situationen immer um die Verschränkung von Perspektiven handelt: jeder sieht gleichsam
    »die anderen«
    (Alter) von seinem
    »Ich«
    (Ego) her und sieht auch sein
    »Ich«
    von diesem
    »anderen«
    her.
  • Emanzipation (emanzipiert)
    [V46:135] Befreiung von Zwängen (Herrschaftsverhältnissen, Vorurteilen, Ideologien), die geschichtlich entstanden sind und infolgedessen auch durch weitere geschichtliche Prozesse wiederum abgeschafft werden können.
  • |B 61|
  • Erkenntnisinteresse
    [V46:136] Die Richtung, die die theoretische Aufmerksamkeit nimmt (auf bestimmte Gegenstände, Probleme, praktische Fragen), die die Bevorzugung bestimmter Modelle und wissenschaftlicher Verfahren der Erkenntnisgewinnung zur Folge hat.
  • |A [22]|
  • |A 23|
  • Geisteswissenschaftliche Pädagogik
    [V46:137] Eine Richtung der Erziehungswissenschaft, die im Anschluß an Wilhelm Dilthey das Verstehen der historischen Zusammenhänge, innerhalb deren Erziehung geschieht, und der Ausdrucksformen, deren sich die pädagogische Praxis bedient, zur Aufgabe macht; das wesentliche Erkenntnisinstrument war dabei das Interpretieren von Texten (Hermeneutik). Wichtigste Vertreter: W. Dilthey, H. Nohl, W. Flitner, E. Weniger.
  • Generative Grammatik
    [V46:138] Wer eine natürliche Sprache spricht, ist in der Lage, beliebige neue Sätze zu erzeugen (generieren) und nie zuvor gehörte Äußerungen zu verstehen. Wie ist dies möglich? Die Antwort auf diese Frage versucht die generative Grammatik. Nach Chomsky, der sie entwickelt hat, verdankt sich der produktive Sprachgebrauch am Ende einer allgemeinen, universalen Sprachkompetenz, über die jeder verfügt. Sie ist nicht erworben, sondern angeboren. Die universale angeborene Kompetenz enthält das Reservoir möglicher grammatischer Regelsysteme und zugleich die Prinzipien, nach denen jeder einzelne daraus im Verlauf des Spracherwerbs auf der Basis defekter und beschränkter Daten seine spezielle Grammatik erwählt. Die angeborene Kompetenz sichert und bestimmt unter den Sprachspielbedingungen des jeweiligen Sozialisationsprozesses den sukzessiven Aufbau einer empirisch geeigneten Grammatik,die dann ihrerseits als festes System generativer Regeln (Erzeugungsregeln) Produktion und Verständnis einer potentiell unendlichen Anzahl nie gehörter und gleichwohl wohlgeformter Sätze ermöglicht.
  • Hermeneutik
    [V46:139] Im Gegensatz zum Erklären gesetzmäßiger Zusammenhänge,wie sie den Naturwissenschaften zugrundeliegen, ist Hermeneutik das nachvollziehende Erfassen fremder Sinnformen durch Auslegung von Texten, Dokumenten, Äußerungen etc. Erfahrungsgrundlage der Hermeneutik sind also sprachlich vermittelte Interaktionen zwischen handelnden Subjekten und die darin zur Anwendung und zum Ausdruck kommenden Sinnorientierungen. Die klassische Hermeneutik strebte an, durch das Hineinversetzen in die historische Situation des Sprechers, Autors etc. diesen besser zu verstehen als er sich selbst verstehen kann.
  • heteronom
    [V46:140] Einer Sache, um die es geht, fremder Bestimmung bzw. fremdem Gesetz folgend.
  • |B 62|
  • Historisches Bewußtsein
    [V46:141] Eine Form des Bewußtseins, zu der es gehört, daß die eigene Erfahrung, das eigene Handeln und Denken als etwas begriffen wird, das in der geschichtlich besonderen Lage wurzelt, in der das Subjekt dieses Bewußtseins sich befindet. Dazu gehört die Fähigkeit, diese Lage als das Ergebnis eines geschichtlichen Prozesses zu begreifen.
  • Historizität
    [V46:142] Die Geschichtlichkeit eines Gegenstandes, d.h. daß er sowohl geschichtlich entstanden ist, wie auch in der weiteren Geschichte verändert werden kann.
  • Ich-Identität
    [V46:143] Die besondere Art und Weise, in der es einem Individuum gelingt, eine Balance herzustellen zwischen den verschiedenen und bisweilen sogar widersprüchlichen Erwartungen, denen es sich gegenübersieht auf der einen Seite und seinen eigenen Wünschen und Plänen auf der anderen Seite. Das Besondere an dieser Balance ist ihr reflexiver Charakter. Auf dem Niveau der Ich-Identität ist das Subjekt in der Lage, die Erwartungen der anderen genauso wie seine eigenen Pläne und Wünsche zu reflektieren und im Akt der Reflexion ihre Berechtigung argumentativ zu überprüfen.
  • Ideologie
    [V46:144]
    Von Marx wird dieser Begriff gebraucht, um die Abhängigkeit des Denkens von der Lebenssituation zu beschreiben. Das Bewußtsein kann im Hinblick auf das analytische Durchdringen der gesellschaftlichen Situation
    falsch
    'ein, wobei sich das spezifisch
    Falsche
    als Folge historisch-gesellschaftlicher Vorgänge oder Zustände erweist und das Problem der Wahrnehmung gesellschaftlicher Komplexität betrifft. Im übrigen wird der Begriff auf unterschiedliche Weise von den verschiedenen Autoren benutzt.
    Bisweilen auch wird I. ein Zusammenhang von Behauptungen genannt, deren Überprüfung zwar prinzipiell kein Widerstand entgegengesetzt wird, deren Gültigkeit jedoch zum Zeitpunkt der Äußerung keiner Prüfung unterworfen werden kann, ihre mögliche Wahrheit offen bleiben muß (z.B.
    »Gott wird uns dermaleinst für unsere Sünden strafen«
    , oder
    »Wenn alle Menschen dem Postulat der Selbstbestimmung folgen werden, wird sich das Leiden der Menschen verringern«
    ).
  • Identität
    [V46:145] Die vom Individuum für die Beteiligung an gemeinsamem Handeln und Kommunikation zu erbringende Leistung der Selbstinterpretation und Selbstdarstellung. Identität ist kein starres Selbstbild, sondern eine Interpretation, in der unter Berücksichtigung der eigenen Biographie und der gegenwärtigen Handlungssituation ein sinnhafter Zusammenhang zwischen den Ereignissen und Erfahrungen im Leben eines Individuums hergestellt wird. In seiner Identität stellt sich das Individuum durch allen Wandel hindurch als
    »identisch«
    mit sich selbst dar.
  • |B 63|
    Implementation
    [V46:146] Alle Maßnahmen, die zur Einführung eines ausgearbeiteten Curriculums in das bestehende Schul- und Unterrichtssystem dienen.
  • Interaktionskompetenz
    [V46:147] Die Fähigkeit des Subjekts, an Interaktionen teilzunehmen. Weil diese Fähigkeit bei keinem Individuum von Anfang an in vollem Umfang schon vorhanden ist, kann man von einer Entwicklung der Interaktionskompetenz sprechen. Auf der fortgeschrittensten Stufe in der Entwicklung der Interaktionskompetenz sind die Interaktionsregeln, denen das Subjekt folgt, das Ergebnis einer rationalen und gewaltfreien Übereinkunft mit seinen Interaktionspartnern. Die Interaktionskompetenz besteht dann in der Beherrschung von gemeinsamen Regeln, die in einer gleichberechtigten Diskussion mit anderen gefunden und begründet worden sind.
  • intersubjektiv
    [V46:148] Verschiedenen Subjekten gemeinsam (z.B. Zeichen, deren Bedeutung von verschiedenen an einer Interaktion beteiligten Personen geteilt wird; Behauptungen, deren Geltung von verschiedenen Personen akzeptiert wird, usw.).
  • Jugendhilfe
    [V46:149] So wird der Zusammenhang pädagogischer Einrichtungen und Maßnahmen genannt, der sich auf Bildungsprozesse und Erziehungsprobleme außerhalb der Institutionen des Bildungswesens bezieht, also vor allem: Jugendarbeit, Familienbildung, Heimerziehung, die Tätigkeit von Jugendämtern usw. . Die gesetzliche Grundlage für diesen Bereich des Erziehungssystems ist das Jugendhilferecht (gegenwärtig geltend das "Jugendwohlfahrtsgesetz)
  • Kognitive Psychologie
    [V46:150] Gegenstand der kognitiven Psychologie sind die Erkenntnistätigkeiten (kognitive Operationen) des Subjekts und ihre Entwicklung. Piaget, der bedeutendste Vertreter der kognitiven Psychologie, beschreibt die Erkenntnistätigkeit als einen Vorgang der Assimilation und Akkomodation. Assimilation heißt die Anpassung der Wirklichkeit an die eigenen Operationspläne (kognitive Schemata) und Akkomodation die Anpassung der Pläne an die Wirklichkeit. Die kognitiven Schemata sind genauso Bedingung der Erkenntnis, wie der Gegenstand, auf den sie sich richten. In sehr detaillierten Untersuchungen versucht Piaget zu zeigen, wie im Verlauf der Entwicklung aus den einfachsten kognitiven Schemata der senomotorisehen Phase (z.B. dem Greifschema des Säuglings) über eine irreversible Stufenfolge immer umfassendere Systemstrukturen entstehen (z.B. der Begriff der Perspektive). Je umfassender generalisierter eine kognitive Struktur ist, desto stabiler ist sie auch. Mit jeder Entwicklungsstufe wird für das Subjekt die Bewältigung kognitiver Konflikte wahrscheinlicher. Die Untersuchungen der Genfer Gruppe um Piaget galten u.a. der |B 64|Entwicklung der Raumvorstellung, des Zeit-, Zahl- und Mengenbegriffs und der Entstehung der Symbolfunktion. Diese Untersuchungen sind in Amerika vor allem von Bruner aufgegriffen und weitergerührt worden.
  • Kontext
    [V46:151] Der Zusammenhang von Ereignissen oder Erfahrungsinhalten, der zum Verständnis der Bedeutung eines Einzelereignisses herangezogen werden muß: der Satz ist der Kontext des einzelnen Wortes; die ganze Äußerung der Kontext des einzelnen Satzes; die pädagogische Situation (Mutter-Kind) der Kontext dieser Äußerung; die Familienstruktur der Kontext dieser Situation usw.
  • Konstrukt
    [V46:152] Eine in theoretischer Arbeit entwickelte Vorstellung von einem Wirklichkeitsausschnitt (z.B.
    »Interaktion«
    ,
    »Intelligenz«
    ), das Ergebnis also der konstituierenden Tätigkeit des Verstandes, mit deren Hilfe wir versuchen, uns die
    »Wirklichkeit«
    verständlich zu machen. Der Ausdruck
    »Konstrukt«
    soll deutlich machen, daß wissenschaftliche Begriffe die Wirklichkeit nicht abbilden, sondern nur Versuche darstellen, auf kontrollierte Weise überhaupt etwas über sie aussagen zu können.
  • Liberalismus
    [V46:153] Eine im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Entstehung des kapitalistischen Wirtschaftssystems entwickelte sozialtheoretische Position, deren wesentlichste Annahme darin bestand, daß der Gesellschaftsprozeß dann am vernünftigsten verlaufen werde, wenn die Bürger in ihrem Handeln (vor allem im Wirtschaftshandeln) unbeschränkt bleiben, der Staat auf Eingriffe verzichte und lediglich Schutzfunktionen gegen äußere (z.B. Krieg) und innere (z.B. Kriminalität) Bedrohungen ausübe.
  • materialistisch
    [V46:154]
    Ein theoretischer Standpunkt, in dem davon ausgegangen wird, daß alle sozialen Ereignisse nur zureichend erklärt werden können, wenn sie letzten Endes auf die der menschlichen Gattung eigentümliche Notwendigkeit zurückgeführt werden, daß der Mensch darauf angewiesen ist, seine materielle Existenz durch Arbeit zu sichern (historischer Materialismus).
  • |A [24]|
  • |A 25|
  • Objektivationen
    [V46:155]
    Die vom Menschen produzierten, aber dann relativ unabhängig vom einzelnen bestehenden Gestalten, Institutionen, kulturellen Erscheinungen (z.B. Formen der Arbeit und Arbeitsteilung, soziale Einrichtungen, Texte, usw.).
  • objektivistisch
    [V46:156]
    Eine Betrachtungsweise sozialer Phänomene, nach der die Spontaneität des einzelnen Individuums keine wesentliche Rolle spielt und statt dessen menschliches Verhalten nur aus den sogenannten objektiv gegebenen Verhältnissen erklärt werden soll.
  • |B 65|
  • Offene Curricula
    [V46:157] Im Unterschied zu den
    »geschlossenen Curricula«
    ist in den
    »offenen«
    weder der individuelle Lernverlauf samt seinem Ergebnis, noch die Tätigkeit des Lehrers durch Vorgabe detaillierter Lernsequenzen determiniert. Das Interesse der offenen Curricula ist die Entfaltung von Kreativität. Dieses Interesse verbietet eine rigide Vorausplanung und damit Normierung und Kanalisierung des Unterrichtsprozesses. Dennoch wird auf Planung nicht verzichtet. Aber Planung und Durchführung sind nicht mehr institutionell scharf voneinander geschieden. Beim offenen Curriculum sind Lehrer wie Schüler an der Planung des Unterrichts genauso beteiligt wie an seiner Durchführung.
  • Operationalisierung
    [V46:158]
    Die Angabe von Verfahren, mit dem theoretische Begriffe (Konzepte) eines empirisch zu untersuchenden Gegenstandes mit den zu beobachtenden Merkmalen dieses Gegenstandes verknüpft werden.
  • Paradigma
    [V46:159]
    Der charakteristische Zusammenhang von Begriffen/Theorie und Methoden, in dem zugleich festgesetzt wird, was als sinnvoller Gegenstand der Erkenntnis gelten soll und auf welche Weise Behauptungen über denselben überprüft werden können (z.B. das Paradigma einer mythologischen Erklärung des Kosmos, das Paradigma einer erfahrungswissenschaftlichen Erklärung des Kosmos).
  • Praxis
    [V46:160]
    Das zielorientierte Handeln des Menschen (im Unterschied zu Akten des Erkennens) einschließlich der Verständigung über diejenigen Ziele (Normen, Werte), die für das Handeln Geltung beanspruchen sollen.
  • Prognose
    [V46:161]
    Ein Typus theoretischer Sätze, in denen Behauptungen über die Zukunft formuliert werden, auf der Grundlage gemachter Erfahrungen.
  • Psychoanalytische Begriffe
    [V46:162] (Die folgenden Erläuterungen lehnen sich an das
    »Vokabular der Psychoanalyse«
    von J. Laplanche und J.P. Pontalis, Frankfurt/M. 1973 an).
  • Es – Ich – Über-Ich
    [V46:163] Zentrale Termini der sogenannten
    »Strukturhypothese«
    Freuds über die Organisation des seelischen Apparates. In diesen drei Instanzen sind Gruppen von psychischen Inhalten und Prozessen zusammengefaßt, die jeweils unterschiedliche Funktionen der Persönlichkeit wahrnehmen.
  • |B 66|
    Es
    [V46:164] Psychische Repräsentanz von (organisch fundierten) Primärbetrieben, Bereich des Unbewußten. Es ist frei von Formen und Prinzipien,.die das bewußte soziale Individuum ausmachen, vor allem frei von Wertungen und Moral, der Unterscheidung von Gut und Böse. Es hat nur das Bestreben, den Triebbedürfnissen lustvolle Befriedigung zu verschaffen. Man muß annehmen, daß zum Zeitpunkt der Geburt das Es den gesamten psychischen Apparat umfaßt, aus dem sich erst im Verlauf der Entwicklung das Ich und das über-Ich ausdifferenzieren.
  • Ich
    [V46:165]
    »Vermittler«
    zwischen Es, Über-Ich und Außenwelt, das sich allmählich im Konflikt mit der Umwelt herausbildet. Seine Hauptfunktion besteht in der Koordinierung, Abwandlung, Organisierung und Steuerung der Triebimpulse des Es, um Konflikte mit der Realität zu mildern. Damit übernimmt es zugleich die Funktion der Selbsterhaltung gegenüber dem Es, das in seinem blinden Streben nach Triebbefriedigung zur Daseinsvernichtung führen würde.
  • Über-Ich
    [V46:166] Psychische Repräsentanz der geltenden Moralgesetze, sozialen Normen und Ideale. Seine Rolle ist vergleichbar mit der eines Richters oder Zensors. Seine Funktionen liegen in der Selbstkontrolle, dem Gewissen und der Idealbildung. Der Ursprung des Über-Ichs liegt in der langen Abhängigkeit des Kindes von seinen Eltern. Die Einschränkungen, Gebote und Verbote, die dem Kind anfänglich von den Eltern und weiterhin von anderen Vertretern der Gesellschaft von
    »außen«
    auferlegt werden, werden vom Kind verinnerlicht und zum eigenen
    »Gewissen«
    .
  • Abwehr
    Abwehrmechanismen
    [V46:167] Funktionen des Ich, mittels derer die Integrität und die Konstanz der psychischen Organisation gegen Bedrohungen von innen und außen geschützt wird. Die Abwehr kann sich gegen unerwünschte (tabuisierte und/oder mit Realitätsforderungen unvereinbare) Triebregungen, gegen das Über-Ich, sofern von ihm unerträgliche Schuldgefühle oder Bestrafungsängste ausgehen, schließlich auch gegen identitätsbedrohende Aspekte der Außenwelt richten. Die Psychoanalyse unterscheidet zwischen verschiedenen psychischen Operationen, die der Abwehr dienen, z.B. Verdrängung, Projektion, Identifikation mit dem Angreifer, Rationalisierung usw.
  • Identifikation
    Identifizierung
    [V46:168] Psychischer Vorgang, bei dem das Individuum sich Eigenschaften, Qualitäten, Erwartungen (auch Gebote und Verbote) eines anderen zu eigen macht und dadurch unbewußt dessen Stelle einnimmt,
    »wird wie der andere«
    . In der Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil sieht die Psychoanalyse die
    »normale«
    Auflösung des Ödipuskompleyes.
  • |B 67|
    Libido
    [V46:169] Psychische Energie, die mit dem Sexualtrieb verbunden ist.
  • Masochismus
    [V46:170]
    1. a)
      Sexuelle Perversion, bei der die sexuelle Befriedigung an das Leiden oder die Demütigung, die das Subjekt erduldet, geknüpft ist.
    2. b)
      allgemeiner: eine – nicht manifest sexuelle – Befriedigungsform, die auf dem Beherrschtwerden durch Stärkere basiert. Dazu gehört auch der
      »moralische Masochismus«
      , in dem das Subjekt aufgrund unbewußter Schuldgefühle sich in die Position des Opfers begibt. (In unserem Text wird der Begriff in diesem allgemeineren Sinn verwendet).
  • Narzißmus
    [V46:171]
    Die Liebe, die man dem Bild von sich selbst entgegenbringt.
    1. a)
      primärer Narzißmus: ein früher Zustand, in dem das Kleinkind sich selbst mit seiner ganzen Libido besetzt.
    2. b)
      sekundärer Narzißmus: in späteren Entwicklungsstadien ein psychischer Vorgang, in dem die inzwischen auf fremde Objekte gerichtete Libido auf das Selbst zurückgewandt wird.
  • Projektion
    [V46:172] Psychische Abwehroperation, durch die das Subjekt Qualitäten, Gefühle, Wünsche usw., die es verkennt oder in sich ablehnt, aus sich ausschließt und in dem anderen (Person oder Sache) lokalisiert.
  • Sadismus
    [V46:173] Befriedigungsform, die an das dem anderen zugefügte Leiden, an dessen Demütigung oder Unterwerfung gebunden ist.
  • Reflexion
    [V46:174]
    eine Art des Denkens, in der das Denken sich selbst und seine Bedingungen zum Gegenstand macht (Nachdenken über die Regeln des eigenen Denkens)
  • Relativismus, relativistisch
    [V46:175] Eine geschichtsphilosophische Position, die von der prinzipiellen Gleichwertigkeit aller gesellschaftlichen Erscheinungen ausgeht. Die Wissenssoziologie untersucht in dieser Einstellung die gesellschaftlich vorfindlichen Wissensformen und Ideologien; wobei die Wissenschaft selber als eine Form gesellschaftlichen Wissens unter anderen behandelt wird.
  • |B 68|
    Sprechakte
    [V46:176] Sprechakte sind sprachliche Äußerungen in Redesituationen. Als sprachliche Äußerungen haben sie die Form von Sätzen und bringen als solche etwas zum Ausdruck. Durch ihre Verwendung in Redesituationen aber werden diese Sätze zugleich Handlungen und stellen als solche etwas her. Indem ich in einer aktuellen Gesprächssituation einem Kommunikationspartner gegenüber den Satz äußere:
    »Ich verspreche dir morgen zu kommen«
    , bringe ich nicht nur ein Versprechen zum Ausdruck, sondern ich gebe ein Versprechen. Die Äußerung ist das Versprechen, das sie auch darstellt. Durch ein solches Versprechen wird die Redesituation und mit ihr die Beziehung zwischen den Kommunikationspartnern verändert. Man kann sagen, das Versprechen hat für die Gesprächspartner eine neue Situation geschaffen. Was für das Versprechen gilt, gilt auch für alle anderen Sprechakte wie z.B. Behauptungen, Fragen, Befehle, Warnungen, Enthüllungen usw.: Sie erzeugen die Redesituation mit, in der sie geäußert werden.
  • |A [26]|
  • |A 27|
  • Telos
    [V46:177]
    Das Ziel eines Denk- oder Handlungsvorganges; eine teleologische Betrachtung ist eine solche, die ein Ereignis von seinem Ziel her zu erklären versucht (Beispiel:
    »Warum hat X so gehandelt?«
    »Er hat so gehandelt, um das Ziel Z zu erreichen.«
    ).
  • Typus
    [V46:178] Ein theoretisches Konstrukt, das in reiner und eindeutiger Form nicht in der
    »Wirklichkeit«
    beobachtet werden kann. Es existiert nur in unseren Deutungen und Handlungen; mit seiner Hilfe suchen wir uns die Vielfalt der Erscheinungen verständlich und zugänglich zu machen. Interpretieren wir verschiedene Wahrnehmungen als ähnlich und finden wir, daß solche Ähnlichkeiten für unser Handeln bedeutungsvoller sind als andere, dann fassen wir sie zu einem Typus zusammen. Das geschieht im Alltagshandeln ununterbrochen (ein
    »typischer Italiener«
    , ein
    »typisches Landkind«
    usw.); der Unterschied zum wissenschaftlichen Gebrauch dieser Kategorie besteht darin, daß der Wissenschaftler bei der Konstruktion eines Typus methodisch nach kontrollierbaren Regeln verfährt und dem Anspruch zu genügen sucht, den objektiven Sinn der Wirklichkeit zu treffen.
  • universal
    [V46:179]
    Unter allen der Erfahrung prinzipiell zugänglichen Bedingungen geltend.
  • Verabsolutierung
    [V46:180]
    Eine Operation des Denkens, in der eine Behauptung, die nur relative bzw. beschränkte Geltung beanspruchen kann, so vorgetragen wird, als gelte für sie jene Einschränkung des Geltungsanspruches nicht.
  • Verdinglichung
    [V46:181] Alles was wir wissen ist präformiert durch unser wahrnehmendes Organ. Die Wirklichkeit, der wir uns gegenübersehen, ist Produkt unserer Erkenntnis und als solches historisch und revidierbar. Dort, wo der historische Charakter unserer Erkenntnis geleugnet und die Begriffe und Vorstellungen einer möglichen Korrektur entzogen werden, sprechen wir von ihrer Verdinglichung.
  • Weltanschauungspädagogik
    [V46:182]
    Ein Typus pädagogischen Denkens, in dem die Sätze über Erziehung (z.B. Sätze über das
    »richtige«
    pädagogische Verhalten) aus Werten und Normen abgeleitet werden, die sich selbst wissenschaftlicher Kontrolle entziehen, durch eine weltanschauliche Entscheidung gesetzt sind.
  • Wissenschaftstheorie
    [V46:183]
    Der Zusammenhang von theoretischen Aussagen und wissenschaftlichen Verfahren, in denen die (methodologischen, geschichtlichen, gesellschaftlichen) Grundlagen der Wissenschaften einer kritischen Analyse unterzogen werden.