Pädagogik der “kritischen Theorie” [Teil 3] [Textkritische interaktive Ansicht mit A als Leittext]
Hier ist das Cover der Erstausgabe des Studienbriefs Pädagogik der Kritischen Theorie zu sehen.
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B

1 Literatur zur Einführung

    [V48:1] Apel, K.O.: Artikel
    Hermeneutik
    , in: Chr. Wulf (Hrsg.): Wörterbuch der Erziehung, München 1974
    [V48:2] Klafki, W.: Artikel
    Handlungsforschung
    ; in: Chr. Wulf (Hrsg.): Wörterbuch der Erziehung, München 1974
    [V48:3] Krappmann, L.: Neuere Rollenkonzepte als Erklärungsmöglichkeit für Sozialisationsprozesse, in: Familienerziehung, Sozialstatus und Schulerfolg, hrsg. von der b:e-Redaktion, Weinheim 1971
    [V48:4] Lenzen, D.: Didaktik und Kommunikation, Frankfurt 1973
    [V48:5] Mollenhauer, K.: Theorien zum Erziehungsprozeß, München 1972 (darin: 2. Kapitel, S. 84–167)
    [V48:6] Mollenhauer, K./Rittelmeyer, Chr.: Methoden der Erziehungswissenschaft, München 1977
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2 Weiterführende Literatur

    [V48:7] Adorno, Th.W.: Marginalien zu Theorie und Praxis, in: Stichworte, Frankfurt 1969
    [V48:8] Benner, D.: Pädagogisches Experiment zwischen Technologie und Praxeologie, in: Pädagogische Rundschau, Jg. 26, 1972 S. 25–53
    [V48:9] Blankertz, H.: Theorien und Modelle der Didaktik, München 1971
    [V48:10] Blankertz, H.: Strategien zur Entwicklung des Lehrplans für das Fach Arbeitslehre, in: Blankertz (Hrsg.): Curriculumforschung – Strategien, Strukturierungen, Konstruktion, 2. Aufl., Essen 1971
    [V48:11] Blankertz, H.: Fachdidaktische Curriculumforschung – Strukturansätze für Geschichte, Deutsch, Biologie, Essen 1973
    |B 4|
    [V48:12] Brumlik, M. : Pädagogische Probleme des symbolischen Interaktionismus, Frankfurt/M. 1973
    [V48:13] Feuerstein, Th.: Emanzipation und Rationalität: München 1973
    [V48:14] Habermas, J.: Erkenntnis und Interesse, in: Technik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt/M. B
    [V48:15] Habermas, J.: Theorie und Praxis, Neuwied 1963
    [V48:16] Habermas, J.: Thesen zur Theorie der Sozialisation, Frankfurt 1968
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    [V48:17] Heinze, Th. Bu.a.: Handlungsforschung, München 1975
    [V48:18] Klafki, W.: Aspekte kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft, Weinheim 1976
    [V48:19] Krappmann, L.: Soziologische Dimension der Identität, Stuttgart 1975
    [V48:20] Lempert, W.: Leistungsprinzip und Emanzipation, Frankfurt 1971
    [V48:21] Lorenzer, A.: Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie, Frankfurt 1972
    [V48:22] Mollenhauer, K.: Interaktion und Organisation in pädagogischen Feldern, in: Z.f.Päd. 13. Beiheft, hersg. von H. Blankertz
    [V48:23] Mollenhauer, K./Brumlik, M./Wudtke, H.: Die Familienerziehung, München 1975
    [V48:24] Moser, H.: Aktionsforschung als kritische Theorie der Sozialwissenschaften, München 1975
    [V48:25] Oevermann, U. u.a.: Beobachtungen zur Struktur der sozialisatorischen Interaktion. Theoretische und methodologische Fragen der Sozialisationsforschung, in: Auwärter (Hrsg.): Seminar: Kommunikation, Interaktion, Identität, Frankfurt 1976
    [V48:26] Oevermann, U.: Programmatische Überlegungen zu einer Theorie der Bildungsprozesse und zur Strategie der Sozialisationsforschung, in: Hurrelmann (Hrsg.): Sozialisation und Lebenslauf, Reinbek 1976
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    [V48:27] Ottomeyer, K.: Soziales Verhalten und Ökonomie im Kapitalismus, Gaiganz 1974
    [V48:28] Rittelmeyer, Chr./Wartenberg, G.: Verständigung und Interaktion. Zur politischen Dimensionder Gruppendynamik, München 1975
    [V48:29] Schäfer, K.-H./Schaller, K. : Kritische Erziehungswissenschaft und kommunikative Didaktik, Heidelberg 1976
    [V48:30] Wulf , Chr.: Aspekte kitisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft, München 1977
    [V48:31] Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 1975 , Heft 5; Jg. 1976:, Heft 3
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Glossar

  • Bildungsprozeß
    [V48:32] Das Insgesamt von Erfahrungen und Lernschritten, durch welche das Subjekt eine für es selbst und andere verstehbare Gestalt erwirbt
  • Desymbolisierung
    [V48:33] Der Vorgang, durch den ein Symbol (z.B. ein Wort) seine allgemein geteilte Bedeutung verliert, sei es, daß es zum Bestandteil einer (z.B. neurotisch verformten)
    Privatsprache
    wird, sei es, weil der Benutzer des Symbols (der Sprecher) die Bedeutung nicht mehr durch seine Erfahrung auffüllen kann (Klischee)
  • Ego/Alter
    [V48:34] Ego = Ich, Alter = der Andere. Diese Bezeichnungen für die Partner einer Interaktion werden gewählt, um deutlich zu machen, daß es sich in interpersonellen Situationen immer um die Verschränkung von Perspektiven handelt: jeder sieht gleichsam
    die anderen
    (Alter) von seinem
    Ich
    (Ego) her und sieht auch sein
    Ich
    von diesem
    anderen
    her
  • Generative Grammatik
    [V48:35] Wer eine natürliche Sprache spricht, ist in der Lage, beliebige neue Sätze zu erzeugen (generieren) und nie zuvor gehörte Äußerungen zu verstehen. Wie ist dies möglich? Die Antwort auf diese Frage versucht die generative Grammatik. Nach Chomsky, der sie entwickelt hat, verdankt sich der produktive Sprachgebrauch am Ende einer allgemeinen, universalen Sprachkompetenz, über die jeder verfügt. Sie ist nicht erworben, sondern angeboren. Die universale angeborene Kompetenz enthält das Reservoir möglicher grammatischer Regelsysteme und zugleich die Prinzipien, nach denen jeder einzelne daraus im Verlauf des Spracherwerbs auf der Basis defekter und beschränkter Daten seine spezielle Grammatik erwählt. Die angeborene Kompetenz sichert und bestimmt unter den Sprachspielbedingungen des jeweiligen Sozialisationsprozesses den sukzessiven Aufbau einer empirisch geeigneten Grammatik, die dann ihrerseits als festes System generativer Regeln (Erzeugungsregeln) Produktion und Verständnis einer potentiell unendlichen Anzahl nie gehörter und gleichwohl wohlgeformter Sätze ermöglicht.
  • Hermeneutik
    [V48:36] Im Gegensatz zum Erklären gesetzmäßiger Zusammenhänge, wie sie den Naturwissenschaften zugrundeliegen, ist Hermeneutik das nachvollziehende Erfassen fremder Sinnformen durch Auslegung von Texten, Dokumenten, Äußerungen etc. Erfahrungsgrundlage der Hermeneutik sind also sprachlich vermittelte |A 9|Interaktionen zwischen handelnden Subjekten und die darin zur Anwendung und zum Ausdruck kommenden Sinnorientierungen. Die klassische Hermeneutik strebte an, durch das Hineinversetzen in die historische Situation des Sprechers, Autors etc. diesen besser zu verstehen als er sich selbst verstehen kann.
  • Implementation
    [V48:37] Alle Maßnahmen, die zur Einführung eines ausgearbeiteten Curriculums in das bestehende Schul- und Unterrichtssystem dienen.
  • Kognitive Psychologie
    [V48:38] Gegenstand der kognitiven Psychologie sind die Erkenntnistätigkeiten (kognitive Operationen) des Subjekts und ihre Entwicklung. Piaget, der bedeutendste Vertreter der kognitiven Psychologie, beschreibt die Erkenntnistätigkeit als einen Vorgang der Assimilation und Akkomodation. Assimilation heißt die Anpassung der Wirklichkeit an die eigenen Operationspläne (kognitive Schemata) und Akkomodation die Anpassung der Pläne an die Wirklichkeit. Die kognitiven Schemata sind genauso Bedingung der Erkenntnis, wie der Gegenstand, auf den sie sich richten. In sehr detaillierten Untersuchungen versucht Piaget zu zeigen, wie im Verlauf der Entwicklung aus den einfachsten kognitiven Schemata der senomotorischen Phase (z.B. dem Greifschema des Säuglings) über eine irreversible Stufenfolge immer umfassendere Systemstrukturen entstehen (z.B. der Begriff der Perspektive). Je umfassender generalisierter eine kognitive Struktur ist, desto stabiler ist sie auch. Mit jeder Entwicklungsstufe wird für das Subjekt die Bewältigung kognitiver Konflikte wahrscheinlicher. Die Untersuchungen der Genfer Gruppe um Piaget galten u.a. der Entwicklung der Raumvorstellung, des Zeit-, Zahl- und Mengenbegriffs und der Entstehung der Symbolfunktion. Diese Untersuchungen sind in Amerika vor allem von Bruner auf gegriffen und weitergeführt worden.
  • Konstrukt
    [V48:39] Eine in theoretischer Arbeit entwickelte Vorstellung von einem Wirklichkeitsausschnitt (z.B.
    Interaktion
    ,
    Intelligenz
    ), das Ergebnis also der konstituierenden Tätigkeit des Verstandes, mit deren Hilfe wir versuchen, uns die
    Wirklichkeit
    verständlich zu machen. Der Ausdruck
    Konstrukt
    soll deutlich machen, daß wissenschaftliche Begriffe die Wirklichkeit nicht abbilden, sondern nur Versuche darstellen, auf kontrollierte Weise überhaupt etwas über sie aussagen zu können.
  • |A 11|
  • Offene Curricula
    [V48:40] Im Unterschied zu den
    geschlossenen Curricula
    ist in den
    offenen
    weder der individuelle Lernverlauf samt seinem Ergebnis, noch die Tätigkeit des Lehrers durch Vorgabe detaillierter Lernsequenzen determiniert. Das Interesse der offenen Curricula ist die Entfaltung von Kreativität. Dieses Interesse verbietet eine rigide Vorausplanung und damit Normierung und Kanalisierung des Unterrichtsprozesses. Dennoch wird auf Planung nicht verzichtet. Aber Planung und Durchführung sind nicht mehr institutionell scharf voneinander geschieden. Beim offenen Curriculum sind Lehrer wie Schüler an der Planung des Unterrichts genauso beteiligt wie an seiner Durchführung.
  • Verdinglichung
    [V48:41] Alles was wir wissen ist präformiert durch unser wahrnehmendes Organ. Die Wirklichkeit, der wir uns gegenübersehen, ist Produkt unserer Erkenntnis und als solches historisch und revidierbar. Dort, wo der historische Charakter unserer Erkenntnis geleugnet und die Begriffe und Vorstellungen einer möglichen Korrektur entzogen werden, sprechen wir von ihrer Verdinglichung.
|A 13| |B 6|

Lernziele

[V48:42] Wenn Sie diese Studieneinheit durchgearbeitet haben, dann sollten Sie
  • [V48:43] wissen, wie einige Erziehungswissenschaftler der Gegenwart versucht haben, die Anregungen der Kritischen Theorie für die Bearbeitung pädagogischer Probleme (Interaktionsanalyse, Didaktik, Methoden der Forschung fruchtbar zu machen;
  • [V48:44] verstanden haben, wie innerhalb der Erziehungswissenschaft, im Anschluß an die Kritische Theorie, der Zusammenhang zwischen theoretischer Arbeit und praktischer Bedeutsamkeit hergestellt werden kann;
  • [V48:45] imstande sein, ein pädagogisches Thema ihrer Wahl analog zu skizzieren.
|A 14| |B 7|

3.0 Einleitung

[V48:46] Als in der 2. Studieneinheit von der Thematik der Kritischen Theorie die Rede war – beispielsweise vom
autoritären
und
narzißtischen
Charaktertypus – da wurden die charaktereologischen und die Sozialisationsprobleme schon immer mit Bezug auf das soziale Verhalten von Individuen dargestellt. Es ging letzten Endes um die Art von Beziehungen, die die Individuen eingehen und um die gesellschaftlichen Bedingungen, die auf Form und Inhalt dieser Beziehungen Einfluß nehmen.
[V48:47] Übungsaufgabe
[V48:48] Lesen Sie sich noch einmal das 1. Kapitel der 2. Studieneinheit durch und versuchen Sie zu ermitteln,
  • [V48:49] wo Beziehungsprobleme angesprochen werden,
  • [V48:50] wie solche Probleme beschrieben wurden,
  • [V48:51] wie die Art dieser Probleme erklärt wird.
[V48:52] Die Kritische Theorie – und das wurde im 3. Kapitel über die Normen-Problematik in der 2. Studieneinheit dargestellt – beschränkt sich aber nicht auf die Beschreibung und Erklärung dessen, was ist, sie versucht auch zu praktischen Urteilen zu gelangen, also zu entscheiden, ob eine Handlung moralisch richtig ist, welche Normen für das Handeln mit Gründen Geltung beanspruchen können.
[V48:53] (Lesen Sie auch zu dieser Frage noch einmal im 3. Kapitel der 2. Studieneinheit nach).
|A 15|
[V48:54] Beide Probleme nun sind offensichtlich von unabweisbarer pädagogischer Bedeutung: Wie auch immer ein Erziehungsvorgang beschaffen sein mag, immer wird durch ihn eine bestimmte Gestalt interpersoneller Beziehung (Interaktion) etabliert, immer steht auch der Erzieher vor der Frage, welche die pädagogisch richtige Form dieser Beziehung ist. W. Klafki spricht deshalb auch von
kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft
. Die normative Frage, an welchen Prinzipien sich letzten Endes die Gestaltung einer pädago|B 8|gischen Beziehung orientieren solle, werden wir jedoch in dieser Studieneinheit nicht mehr ausführlich erläutern. Stattdessen wollen wir erläutern, wie von den Vertretern der kritischen Pädagogik Erziehung als kommunikatives Handeln bestimmt wird und welche erziehungswissenschaftlichen Aufgaben sich aufgrund solcher Bestimmung stellen.
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3.1 Erziehung als Interaktion

3.1.1 Die Struktur interpersonellen Handelns

[V48:55] In sehr freier Abwandlung eines Satzes aus der
Deutschen Ideologie
von Karl Marx
[V48:56]
Man kann die Menschen durch das Bewußtsein, durch Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren
[V48:57] wollen wir für den Bildungsprozeß des heranwachsenden Menschen sagen:
[V48:58] Man kann den Bildungsprozeß eines Menschen als Entfaltung Bseiner Anlagen, als Anpassung an gesellschaftliche Normen, als zwangsläufiges Produkt seiner materiellen Situation, als Entwicklung seiner Vernunft oder was immer man sonst will bestimmen; das Kind selbst jedenfalls fängt an sich zu bilden, wenn es sich in Auseinandersetzung Bmit den Personen, die mit ihm leben, begibt.
[V48:59] Das heißt: der Bildungsprozeß des Menschen, die Bildung zu einem Wesen,
  • [V48:60] das
    Ich
    sagen und meinen, und also auch
    Du
    sagen und meinen kann,
  • [V48:61] das sich selbst als vom
    Du
    getrenntes, aber auch mit dem
    Du
    verbundenes
    Ich
    bestimmen kann,
  • [V48:62] das so zu einer bestimmten Gestalt sowohl seines
    Ich
    als auch seiner
    Ich-Du
    -Beziehung einerseits sich bildet, andererseits in jenem Prozeß gebildet wird –
|A 17|
[V48:63] dieser Bildungsprozeß also kann sinnvoll gar nicht anders beschrieben werden, als daß zunächst die interpersonellen Beziehungen (Interaktionen) zur Darstellung kommen, in denen es sich selbst darstellt. Diese Feststellungen sind, trotz ihres vielleicht trivial anmutenden Charakters, für das pädagogische Nachdenken folgenreich; in ihr nämlich ist als Orientierungspunkt für das pädagogische Denken dreierlei gesetzt:
[V48:64] B
  1. 1.
    [V48:65] Der sich bildende heranwachsende Mensch ist das Subjekt (Ego) seines Bildungsprozesses; er bildet sich zu einem empfindenden, urteilenden und verantwortlich handelnden MenschenB.
  2. |B 9|
  3. 2.
    [V48:66] Er ist aber auch – in diesem Bildungsprozeß – abhängig von anderen (Alter), mit denen er interagiert; er kann sich nur bilden im Hinblick auf diese anderen; er verdankt also seine Subjektivität der Interaktion mit diesen, bildet deshalb nicht nur sich selbst, sondern wird auch von diesen Beziehungen gebildet.
  4. 3.
    [V48:67] Beide – Ego und Alter, bzw. das Insgesamt der interpersonellen Beziehungen der sich bildenden Subjekte – leben in einem Kontext, in Lebenszusammenhängen, den vorwiegend nicht sie bestimmen, sondern der bereits historisch bestimmt ist. Ihre Interaktionen also sind höchstens nur zum Teil ihr eigenes Werk. Zum anderen Teil sind sie
    Ausdruck
    oder
    Resultat
    oder
    Spiegelung
    dessen, was historisch geworden ist: der kulturellen Traditionen, der Formen gesellschaftlichen Verkehrs, der Machtverhältnisse, der Weisen der gesellschaftlichen Produktionen usw. – und zwar deshalb, weil
    Alter
    , d.h. die Beziehungspersonen für das sich bildende Subjekt, immer schon in diese historischen Verhältnisse eingebunden sind.
|A 18|
[V48:68] Die erste Frage, deren Beantwortung wir versuchen wollen, soll deshalb lauten: Durch welche Merkmale läßt sich die Struktur einer interpersonellen Beziehung kennzeichnen? Das
Konstrukt
(oder auch
Modell
oder
Strukturbild
), das sich auf diese Weise ergibt, wollen wir schrittweise aufzeichnen:
[V48:69] 1. Schritt: Der Einfachheit halber demonstrieren wir die Probleme an der Dyade, d.h. der Zweier-Beziehung. Beteiligt sind die Personen A und B. Beide interagieren miteinander mittels eines Systems von Symbolen (sprachlichen und nichtsprachlichen), die für beide gleiche Bedeutung haben:
Hier ist eine Abbildung zu symbolischer Interaktion zu sehen.
[V48:76] 2. Schritt: Sowohl A als auch B vollziehen dabei mindestens Bzwei Operationen:
  • [V48:77] sie machen eine Erfahrung mit dem anderen, nehmen sein Verhalten, sein Handeln wahr und
  • |B 11|
  • [V48:78] sie verarbeiten diese Erfahrung zu einer Darstellung dem anderen gegenüber, zu eigenem Handeln.
Hier ist eine Abbildung zu symbolischer Interaktion zu sehen.
|A 19| B
[V48:83] 3. Schritt: Im Wechselspiel von Erfahrung und Darstellung bilden sich
Subjektivität
.
A und B sind allerdings keine
unbeschriebenen Blätter
;
sie sind – schon unabhängig von jeder Interaktion – menschliche Organismen mit einer festgelegten Organ-Ausstattung. In die Subjektivität von A und B gehen also ihre aus dem Organismus stammenden Impulse, z.B. ihre Triebwünsche, ein. Diese formen auch an der Darstellung mit; ebenso aber beeinflussen sie auch die Erfahrung von anderen: das Kind erfährt die Mutter als liebevoll, weil ihre Zuwendung Triebbefriedigung zu versprechen scheint; diese erwartungsvolle Selbstdarstellung des Kindes antizipiert also einerseits die befriedigende Reaktion der Mutter, andererseits enthält sie den Triebimpuls, der aus dem eigenen Organismus stammt. Aber auch dieser Triebimpuls ist bereits
geformt
oder
gebildet
: seinem Auftreten gehen ja Erfahrungen mit der Mutter voraus. Ein bestimmtes Bild vom anderen (z.B. der Mutter) hat sich bereits in der Vorstellungswelt des Kindes festgesetzt – wie natürlich auch umgekehrt sich in der Vorstellung der Mutter ein bestimmtes Bild des Kindes festgesetzt hat. Das heißt: A hat sich von B und B hat sich von A, von dessen Erfahrungs- und Darstellungsweisen, von seinen Erwartungen und seinen Reaktionen auf Erwartungen, ein Bild gemacht. Dieses Bild Ego’s von Alter Ego (A) wird so zur handlungsleitenden Vorstellung, zum Teil des Ich: Ego antizipiert im eigenen Handeln bereits die vermutbaren Handlungen Alters, orientiert sich an ihnen: |A 20|
Hier ist eine Abbildung zu symbolischer Interaktion zu sehen.
B |B 12| |A 21|
[V48:86] Die
Subjektivität
der Interaktionspartner enthält also auf zweierlei Art etwas Allgemeines, Intersubjektives:
  • [V48:87] beide leben in einer gemeinsamen symbolisch organisierten
    Welt
    , können sich also prinzipiell verständigen, sind damit aber auch zugleich an Geschichte und die je besondere Gesellschaftsformation gebunden.
  • [V48:88] Durch die Gebundenheit an viele andere
    enthält
    gleichsam das Subjekt selbst diese anderen, das was an ihnen wiederkehrt, dauerhaft ist und was ihnen allen gemeinsam ist: die Regeln, nach denen Interaktionen typischerweise ablaufen.
|A 22|

Übungsaufgabe

[V48:97] Notieren Sie eine kurze pädagogische Interaktion (Mutter-Kind, Lehrer-Schüler oder ähnliches) möglichst genau (wörtliches Protokoll bzw. genaue Beschreibung des nichtsprachlichen Austauschs von Informationen/Symbolen).
[V48:98] Versuchen Sie dann, möglichst viele der in unserem Schema enthaltenen Begriffe auf das Protokoll anzuwenden. Also:
    [V48:99] Wie stellt sich A für B dar?
    [V48:100] Welche Erfahrung macht B von A?
    [V48:101] Welches Bild hat (oder macht sich) A von B? usw.
|A 23|

3.1.2
Gestörte
Interaktion

[V48:102] Das bisher skizzierte Modell der Interaktion könnte suggerieren, daß zwischen A und B immer eine symmetrische Beziehung besteht. Das aber ist, besonders in pädagogischen Interaktionen, nicht der Regelfall. B Das Modell gestattet uns indessen zu ermitteln, wo BProbleme in der Interaktion auftreten könnenB. Wir wollen die wichtigsten solcher
Problem-Dimensionen
anführen:
|B 14|
  1. 1.
    [V48:103] Die Verständigung zwischen A und B kann mißlingen; d.h. die Symbole, die beide verwenden, werden nicht in hinreichendem Ausmaß von beiden geteilt, sind nicht hinreichend verständlich, sei es, weil sie noch unbekannt sind, sei es, weil sie vieldeutig geworden sind; (für den letzten Fall z.B.: die Mutter sagt zu ihrem Kind:
    Komm mein Schatz
    ; dem Kinde aber bleibt undeutlich, ob diese soziale Geste Zuwendung, Kontrolle oder etwas anderes bedeutet). Alfred Lorenzer (
    Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie
    , Frankfurt 1972) nennt solche Verzerrung von Interaktion, wenn durch psychische oder situative Zwänge Bedeutungsteile der sprachlichen Verständigung entzogen bleiben,
    Desymbolisierung
    oder
    Klischee
    (S. 128 ff.)
  2. 2.
    [V48:104] Die
    wahrhaftige
    Darstellung
    A’s für B kann mißlingen. A kann Schwierigkeiten haben, auszudrücken, was er meint, z.B. dadurch, daß die Situation ihm einen angemessenen Ausdruck nicht gestattet (er möchte weinen, aber
    ein Junge weint doch nicht
    )B
  3. |A 24|
  4. 3.
    [V48:105] Die
    richtige
    Erfahrung
    der Interaktionspartner Bkann verfehlt werden; d.h. die Wahrnehmung des anderen, das Bild, das A sich von B macht, kann z.B. diffus oder stereotyp sein, was wiederum die Selbstdarstellung A’s gegenüber B beeinträchtigen kann.
  5. |B 15|
  6. 4.
    [V48:106] Schließlich kann – im Zusammenhang mit solchen Interaktionsstörungen – auch das Verhältnis jedes der Interaktionspartner zu sich selbst problematisch sein: B wenn ein farbiges Kind in den USA beim Spiel mit Puppen zu erkennen gibt, daß die farbigen Puppen immer die
    bösen
    , die weißen dagegen immer die
    guten
    sind; es hat sich in diesem Fall das Bild, das sich andere von ihm machen, derart zu eigen gemacht, daß es sich selbst ebenso sieht, wie andere (die Weißen) es sehen; sein
    Selbst
    ist
    entfremdet
    und dergestalt werden auch die Interaktionen sein, in die es eintritt
[V48:107] Bei Habermas heißt es
(vgl. Kurs
Einführung in die Anthropologie der Erziehung
, Kurseinheit 2, S. 49)
, die Anthropologie – und wir ergänzen: die Pädagogik – müsse sich
grundsätzlich ihren Begriff vom Menschen erläutern lassen durch den Begriff der Gesellschaft, in dem er entstehtB
. Welche Konsequenzen ergeben sich durch diese Aufforderung für das erziehungswissenschaftliche Nachdenken? Einen
Begriff der Gesellschaft
können wir hier natürlich nicht entfalten. Aber wir können versuchen, einige seiner möglichen Komponenten hervorzuheben, um den gesellschaftlichen Gehalt des Ausdrucks
Interaktionsstörung
zu akzentuieren und auf pädagogische Sachverhalte zu beziehen.
|A 25|
[V48:108] In der ersten Kurseinheit haben wir versucht zu verdeutlichen, daß nicht nur der Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis geschichtlich ist, sondern auch das erkennende Organ. Der Begriff
Interaktionsstörung
ist Teil eines solchen erkennenden Organs; inwiefern ist er
geschichtlich
? Stellen wir uns das Hauswesen eines Handwerkers im 17. Jahrhundert in einer protestantischen Stadt vor. Sowohl der Begriff
Interaktion
wie der der
Interaktionsstörung
in unserem Sinne wäre dort unverständlich geblieben. Es gab vielleicht
Störungen
im Gewerbe, Zunftstreitigkeiten, Zoll-Belastungen, Furcht vor kriegerischen Unruhen, auch erschien dem Hausvater (Meister) wohl bisweilen die Jugend als
ungebärdig
, vielleicht gar als
zuchtlos
, besonders im Hinblick auf seine Gesellen. Er wäre aber wohl kaum auf die Idee gekommen, Konflikte zwischen Erwachsenen und Unerwachsenen als eine Funktion von Beziehungsproblemen zu deuten. Diese Beziehungsprobleme werden für die Erziehungsaufgabe erst wichtig, wenn soziale Institutionen entstehen, in denen auf der Basis von Interaktionen Lernprozesse für die Heranwachsenden organisiert werden: die von der Produktion getrennte Kleinfamilie, die allgemeinbildende Schule. In diesen Einrichtungen hängt nun nämlich tatsächlich Wesentliches von der Gestalt der interpersonellen Beziehungen ab; und also erscheint die Kategorie
Interaktionsstörung
auch sinnvoll und bedeutsam. Man kann sagen: diese Kategorie wird in dem Maße bedeutsam, in dem in einer Gesellschaft zunehmend Probleme der
psychischen Verelendung
an die Stelle der
materiellen Verelendung
treten.
Daß heute Begriffe wie
Interaktion
,
Interaktionsstörung
,
Kommunikation
,
interpersonelles |B 16|Handeln
usw. mehr und mehr in das Zentrum pädagogisch-praktischer Probleme |A 26|(Familieninteraktion, Lehrer-Schüler-Beziehung, Beratung, Therapie für einzelne und Gruppen, Gruppendynamik usw.) und erziehungswissenschaftlicher Fragestellungen rücken, hängt also offenbar mit der Struktur unseres Erziehungssystems und seiner Lokalisierung im Gesellschaftssystem zusammen. Wenn wir uns die Aufgabe stellen, über
Interaktionsstörung
nachzudenken und diesen Begriff näher zu bestimmen, dann erläutern wir damit zugleich den Stand unserer
historischen Vernunft
, unseren historischen Standort, unser historisch erzeugtes Bewußtsein von der Eigenart unseres Erkenntnisgegenstandes.
[V48:111] Zurück nun also zum Begriff
Interaktionsstörung
[V48:112] Auch eine
Pädagogik der Kritischen Theorie
bzw. eine
Kritische Erziehungswissenschaft
kann des bereits erfahrungswissenschaftlich angesammelten Wissens über ihre Gegenstände nicht entraten. So wissen wir beispielsweise
  • [V48:113] aus der Kommunikationsforschung, daß Mittel und Inhalte der Interaktion diese bestimmen, also auch für Störungen als ursächlich angenommen werden können;
  • [V48:114] aus der therapeutisch orientierten Familien- und Interaktionsforschung, daß die Beziehungsdefinitionen in interpersonellen Situationen nicht nur die wechselseitigen Erfahrungen der Interaktionspartner, sondern auch deren Selbstbild bestimmen;
  • [V48:115] aus der kognitivistischen Psychologie, daß Form und Verlauf von pädagogischen Interaktionen eine kognitive Struktur haben, gleichsam ein intellektuelles Reservoir mobilisieren, das die Interaktion beeinflußtB.
|A 27|
[V48:116] Wir verfügen also über einige Kenntnisse, die uns gestatten,
Störung
zu beschreiben und ihre Quellen ausfindig zu machen. Dabei soll von
Störung
immer dann die Rede sein, wenn Verständlichkeit nicht hergestellt, Wahrhaftigkeit erschwert, ein negatives Selbstbild erzeugt, die Frage nach der
richtigen
(d.h. der moralisch zulässigen) Interaktion B verwehrt wird und zwar im Sinne |B 17|dessen, was wir in der zweiten Studieneinheit (3. Kapitel) als
Diskurs
beschrieben haben; denn: der Begriff des Diskurses stellt einerseits die oberste Instanz für Lernzielbegründungen dar, andererseits liefert er uns auch die Kriterien dafür, wann wir berechtigt sind, von
Störungen
zu sprechen
.
[V48:117] In seinem Buch
Theorien zum Erziehungsprozeß
hat 1972 Klaus Mollenhauer einen ersten Versuch unternommen, daraus für die Erziehungswissenschaft eine Konsequenz zu ziehen:
[V48:118]
Unternehmen wir nun den vielleicht etwas riskanten Versuch, die referierten Ansätze zur Bestimmung gestörter Kommunikation zu integrieren. Wir hatten den Diskurs als die letzte Legitimationsbasis für Lernzielentscheidungen und -Begründungen bestimmt. Die Rechtfertigung dafür hatten wir daran gesehen, daß in jedem Erziehungsakt der Erzieher seinen Status des Erwachsenen als eines auf der Basis begründeter Handlungsorientierung agierenden Subjektes unterstellt. Diese Unterstellung ist zwar als eine Triebkraft pädagogischer Kommunikation anzusehen, aber eben nur als eine. Der historische Regelfall nämlich erfüllt in seiner faktischen Gestalt nicht den in der Unterstellung postulierten Begriff von Kommunikation, sondern bleibt hinter ihm zurück, wofür empirische Bedingungen als ursächlich angenommen werden müssen, die ihren Inbegriff im historisch sozialen Kontext der Erziehungssituation haben. Lernzielprobleme haben es also mit dieser Differenz zu tun. Die referierten Ansätze machen Vorschläge, in welchen Dimensionen |A 28|Störung ermittelt werden muß und also jene Differenz aufgeklärt werden kann. Es sind dies die folgenden Dimensionen:
  • [V48:119]
    die kognitive Struktur,
  • [V48:120]
    die Beziehungsdefinitionen,
  • [V48:121]
    die Inhalte von Kommunikationen,
  • [V48:122]
    die symbolischen Kommunikationsmittel.
[V48:123]
Jeder Erziehungsakt kann nach diesen Dimensionen analysiert werden. Es sind Dimensionen, d.h., sie können zwar unabhängig voneinander betrachtet wer den, sie treten aber nicht unabhängig voneinander auf: Jede Beziehung, jede Thematisierung eines Inhaltes, jeder Komplex von Symbolen hat eine kognitive Struktur; jede kognitive Struktur konkretisiert sich innerhalb von Beziehungen, angesichts von Inhalten; Inhalte werden bedeutsam im Rahmen von Beziehungsdefinitionen und identifiziert in symbolischen Mitteln usw. Damit haben wir zugleich einen Vorschlag für die Bestimmung des Gegenstandes der Erziehungswissenschaft, d.h. der Bestimmung des pädagogischen Feldes in denjenigen Dimensionen gemacht, die der pädagogischen Intervention zugänglich sind. Das gilt freilich nur, wenn kein Zweifel daran besteht, daß die Natur der pädagogischen Intervention ein kommunikatives Handeln ist, dessen Gegenstand auch nur in dem liegen kann, was den Kommunikationspartnern verfügbar ist. Daß darüber hinaus in jeder pädagogischen Situation Faktoren wirksam sind, die die faktische Gestalt der Kommunikation in unterschiedlicher Stärke bestimmen, unterliegt keinem Zweifel. Diese Faktoren können jedoch für das |B 18|pädagogische Handeln nur mittelbar zum Gegenstand werden, und zwar über die Änderung von kognitiven Strukturen, Beziehungsdefinitionen, Kommunikationsinhalten und Kommunikationsmitteln – d.h. über die zu bildende Handlungsfähigkeit der von jenen Faktoren betroffenen Subjekte. Erziehung kann deshalb nicht mehr sein als organisierte Aufklärung; darin liegt ihre Macht wie ihre Ohnmacht.
(S. 80/81)
.
|A 29|
[V48:124] In diesem Text bleibt jedoch noch wenig präzisiert, was mit
Handlungsfähigkeit
einerseits und
Aufklärung
andererseits gemeint ist. Kinder kommen ja nicht mit der Fähigkeit und Bereitschaft zum
Diskurs
zur Welt; damit sie sich am
Diskurs
beteiligen, damit sie – mit anderen Worten – sich zu sich selbst wie zu anderen und den Bedingungen ihrer Existenz
aufgeklärt
verhalten können, müssen sie
gelernt
haben: auf diesen Sachverhalt verweist der Ausdruck
Handlungsfähigkeit
. Störungen der Interaktion also können auf zwei Ebenen auftreten:
  • [V48:125] sie können sich darin zeigen, daß es einem oder mehreren Interaktionspartnern an
    Handlungsfähigkeit
    mangelt;
  • [V48:126] sie können sich darin zeigen, daß sie, obschon sie über die erforderliche Handlungsfähigkeit verfügen, daran gebunden sind, ihre Handlungsfähigkeit zur Darstellung zu bringen, also auch für Problematisierungen,
    metakommunikativ
    einzusetzen
    .
[V48:127] In diesem Sinne heißt es in dem oben zitierten Text weiter:
|B 19|
[V48:128]
Die Möglichkeit, eingespielte Definitionen, Normen, Kommunikationsregeln, die Bedingungen ihrer Stabilität oder Veränderbarkeit problematisieren und also metakommunikativ zum Inhalt machen, über Frage und neue Begründung neuen Konsensus erzielen und das Handeln daran umorientieren zu können, ist zwar die gleichsam letzte Probe aufs Exempel, die höchste mögliche Stufe der Anwendung kommunikativer Schemata und ihrer kognitiven Implikationen? aber weder ist dies der historische Regelfall, noch auch ist es dem Typus nach das, was quantitativ den Erziehungs- und Bildungsalltag ausmacht. Dieser Alltag strukturiert sich viel eher auf einer Ebene kommunikativer Prozesse, in denen es um |A 30|einfachen und nicht um metakommunikativen Umgang geht; und das prinzipiell immer für alle Partner der pädagogischen Kommunikation: Erwartungen wahrnehmen und interpretieren, Regeln erlernen und einhalten, Probleme identifizieren und lösen, Beziehungen definieren, Sprache verstehen, Situationen strukturieren, Handlungen planen usw. Kurz: Eine relative Sicherheit in der Kommunikation muß voraus gesetzt werden, wenn Diskurs als reales Ereignis wahrscheinlich sein soll. Diese Ebene der Kommunikation nennen wir Interaktion.
(S. 81/82)
.
[V48:129] Das bedeutet u.a., daß uns sehr daran gelegen sein muß, diejenigen Bedingungen ausfindig zu machen, die – im Sinne des gesellschaftlichen Kontextes – auf die pädagogischen Interaktionen einwirken und ihre Form (also auch ihre
Störungen
) bestimmen.
|A 31| |B 20|

3.1.3 Die sozialen Kontexte der pädagogischen Interaktion

[V48:130] Adorno hat die heuristische Hypothese geäußert, daß noch im kleinsten sozialen (und also auch pädagogischen) Detail sich die Spuren des gesellschaftlichen Ganzen finden lassen müßten. Wenn wir annehmen, daß diese Hypothese für den Erkenntnisgang auch der Erziehungswissenschaft nützlich ist, dann wäre zu überlegen, welche Konsequenzen sich aus ihr für die Analyse pädagogischer Interaktionen ziehen lassen.
[V48:131] Da
Individuum
und
Gesellschaft
sich nicht unvermittelt gegenüberstehen, da vielmehr
  • [V48:132] einerseits jedes Individuum immer schon Gesellschaft gleichsam
    in sich trägt
    , als eine Art
    Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse
    (Marx) beschrieben werden kann,
  • [V48:133] andererseits es im Laufe seiner Biographie diesen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht mit einem Schlage und im Ganzen ausgesetzt ist, sondern immer nur stückweise, in Form einzelner Erwartungen, sozialer Institutionen, vorgefundener Regeln des gesellschaftlichen Verkehrs usw. –
[V48:134] deshalb ist es naheliegend, jene Verhältnisse im Hinblick auf ihre Bedeutsamkeit für Interaktion und Bildungsprozeß zu spezifizieren. Betrachten wir dabei den Verlauf der Biographie des heranwachsenden Kindes, dann lassen sich folgende Unterscheidungen treffen:
|A 32|
  1. 1.
    [V48:135]
    Das Kind lebt
    zunächst
    im sozialen Kontext von Situationen . Es ist Erwachsenen ausgesetzt; in der Interaktion mit ihnen erwirbt es die Kenntnis der Bedeutung von Gesten, erwirbt es Sprache und Denken, Motive und Einstellungen, lernt es Wünsche zu äußern und zu unterdrücken. Innerhalb dieses Rahmens kann die Tätigkeit des Erziehers als
    Strukturieren von Situationen
    begriffen werden; alle interpersonellen Situationen haben eine
    Intentionalität
    , d.h.B die Interaktionspartner verfolgen Absichten, die nicht notwendig übereinstimmen. |B 21|Die pädagogische Situation unterscheidet sich indessen dadurch von anderen, daß der Erzieher (wegen seiner Verpflichtung, sein Handeln im Sinne der idealen Interaktionssituation, die wir
    Diskurs
    nennen, zu legitimieren) gehalten ist, sich kritisch nicht nur mit den Intentionen des Kindes, sondern auch mit seiner eigenen auseinanderzusetzen.
    Sie hat es nämlich in einer besonderen, von anderen Situationen zu unterscheidenden Weise mit der intentionalen Komponente zu tun. Wir wollen diese Komponente die Meta-Intentionalität der pädagogischen Situation nennen. Für jede menschliche Kommunikation – also auch für die pädagogische – muß unterstellt werden, daß die Partner der Situation eigene Intentionen haben und diese in ihren kommunikativen Akten zum Ausdruck bringen. Ferner muß unterstellt werden, daß das Postulat gilt, daß die Intentionen des anderen in der jeweils eigenen Interaktionsstrategie reflektiert, also nicht nur berücksichtigt, sondern als ernsthaft akzeptiert werden. Das gilt auf der naiven Ebene, ohne Berücksichtigung eines etwa kalkuliert geplanten Situations-Arrangements durch einen der Partner. Aber gerade dies ist für pädagogische Situationen charakteristisch: daß einer der Partner, derjenige nämlich, der sich in der Rolle des Pädagogen definiert, für sich in Anspruch nimmt, Situationen zu strukturieren, und zwar so, daß seine Chance der Einflußnahme in der Situation größer ist als die der anderen Partner. Er nimmt sogar – noch weitergehend – für sich in |A 33|Anspruch, daß ihm selbst, wenn nicht ein Monopol, so doch ein entschiedenes Übergewicht institutionell gesichert wird, um Situationen überhaupt vorweg und nicht erst in der Situation selbst zu strukturieren. Das macht das spezifische Herrschaftsgefälle aus, das wir in der Erziehungswirklichkeit antreffen.
    (Mollenhauer 1972, S. 120/121)
    .
  2. 2.
    [V48:136]
    Nun sind aber die verschiedenen Komponenten der pädagogischen Situation, die subjektive Lebenswelt, nicht in gleicher Weise für die Interaktionspartner verfügbar. Einen sprachlichen Ausdruck können sie bei Nicht-Verstehen vielleicht noch ändern, eine bestimmte Handlung willentlich unterlassen. Andere Teile der Situation dagegen sind
    resistenter
    und zudem häufig unbewußt: ein bestimmter Sprachstil, Phantasien und Ängste, Einstellungen, Erwartungen, für selbstverständlich gehaltene Normen des Handelns usw. Diese Teile der Situation sind gleichsam abgespalten von dem, was dem reflektierenden Bewußtsein der Interaktionspartner jederzeit zur Verfügung steht; sie verweisen damit auf einen die Situation übergreifenden sozialen Kon|B 22|text: den Kontext lebensgeschichtlich wirksamer sozio-ökonomischer und institutioneller Bedingungen. Durch ihn werden subjektive Erfahrungen nicht nur präformiert, sondern auch gestützt und auf Dauer gestellt. Sie erzeugen gleichsam die im Alltagshandeln in der Regel unreflektierte
    Startmasse
    , mit der die Interaktionspartner sich in die pädagogische Situation hineinbegeben. Sie geben der pädagogischen Situation gesellschaftlich Form und Inhalt, ihre Analyse hilft deshalb aufzuklären, wo die Bedingungen gestörter pädagogischer Interaktionen zu suchen sind. Aus diesem Grunde überlassen auch die Vertreter |A 34|der
    Kritischen Erziehungswissenschaft
    solche Aufklärung nicht dem Soziologen, sondern verstehen sie als einen Kernbestand ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit:
    • die Analyse pädagogischer Institution und der von diesen abhängigen Berufsrollen,
    • die Analyse der Instanzen sozialer Kontrolle (Jugendamt, Erziehungsheim)
    • die Ermittlung der Wirkungen des sozialen Status (Schichtspezifische Sozialisation) auf den Umgang zwischen Erwachsenen und Kindern, usw.
    Dieser dritte soziale Kontext – oder auch: diese dritte Stufe der Organisiertheit pädagogischer Interaktionen ist Bnoch kaum wissenschaftlich ausgearbeitet. Das Programm solcher Ausarbeitung hat Mollenhauer zu skizzieren versucht B:
    Bourdieu hat die analytische Hypothese geäußert, daß der Begriff des
    Habitus
    geeignet sei, Regelmäßigkeiten des pädagogisch-interpersonalen Handelns zu studieren, die weder sich aus den fundamentalen Bedingungen von Interaktionen überhaupt, noch aus den historisch besonderen Bedingungen dieser oder jener Einrichtungen erklären lassen, sondern nur noch aus den Reproduktionsinteressen der je historisch besonderen Gesellschaft. Er hat damit eine dritte Ebene der Organisiertheit von Interaktionen angesprochen, auf der so etwas wie der Algorithmus eines Erziehungssystems formulierbar sein müßte (Bourdieu 1970, S. 125 ff.) Der Ausdruck
    Habitus
    symbolisiert für Bourdieu den Versuch,
    im Zentrum des Individuellen selber Kollektives zu entdecken
    (Bourdieu 1970, S. 132), er verbindet den Einzelnen – wir können sagen: jede einzelne pädagogische Interaktion –
    mit der Kollektivität seines Zeitalters
    , weist den
    anscheinend noch so einzigartigen Projekten Richtung und Ziel
    (ebd.). Dieses anspruchsvolle wissenschaftliche Programm hat Bourdieu zunächst am Beispiel der Gotik illustriert und generalisierend behauptet: |A 35|'In einer Gesellschaft, in der eine Schule das Monopol der Vermittlung von Bildung innehat, finden die geheimen Verwandtschaften, das einigende Band der menschlichen Werke ... ihren prinzipiellen Nexus in der Institution Schule, fällt dieser doch die Funktion zu ... Individuen hervorzubringen, die mit diesem System der unbewußten (oder tief vergrabenen) Schemata ausgerüstet sind, in dem ihre Bildung bzw. ihr Habitus wurzelt (a.a.O., S. 139), ein System von Mustern,
    die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Kultur zu erzeugen
    (a.a.O., S. 143), eine Art generativer Grammatik der Kultur also (vgl. auch Bourdieu 1973, besonders S. 44 ff.). Obwohl sich Bourdieu an keiner Stelle auf den marxistischen Begriff der
    Verkehrsformen
    bezieht, scheint mir die Ähnlichkeit in mindestens einer Hinsicht doch unverkennbar. Auf unseren Gegenstand bezogen, möchte ich so formulieren: in beiden Fällen – wie übrigens auch in der strukturalistischen Ethnologie – richtet sich das Interesse darauf, zu ermitteln, ob es einen für Gesellschaftsformationen je spezifischen Satz von Regeln des interpersonalen Handelns gibt, die sowohl die Muster scheinbar individuell besonderer Interaktion, wie auch die auf der zweiten Stufe von Organisiertheit angesiedelten Muster institutioneller Interaktion generieren.
    (Mollenhauer 1977, S. 51f).
    Es gehört zu den wesentlichen heuristischen Ausnahmen der
    Kritischen Erziehungswissenschaft
    , daß zwar das Erziehungssystem gegenüber den Bereichen von Produktion und Ökonomie als relativ selbständig betrachtet werden muß; anders wäre ein Großteil des Erziehungsgeschehens gar nicht erklärbar. Andererseits aber muß das System gesellschaftlicher Arbeit mindestens berücksichtigt werden als entscheidender Stützfaktor für die Aufrechterhaltung der eingespielten
    Regelmäßigkeiten
    des pädagogisch-interpersonalen Handelns, der Medien oder Instrumente der Interaktion und der Deutungsmuster für interpersonales Handeln, auch im pädagogischen Feld. Verweisen |A 36|die Deutungsmuster innerhalb von Interaktionen auf Sprache, so die Instrumente des interpersonellen Handelns auf Arbeit, die
    Regelmäßigkeiten
    oder
    Verkehrsformen
    auf Herrschaft. Davon u.a. wird im letzten Abschnitt dieser Studieneinheit noch die Rede sein.
  3. B
|A 37|

3.2 Der Versuch einer
kritischen Didaktik

3.2.0 Zum Terminus
Didaktik

[V48:138] Didaktik ist ein nicht sehr scharf umgrenzter Begriff. Seine Reichweite variiert. In der Regel umfaßt er Fragen im Bereich der Ziele und Inhalte, der Methoden und Medien des Lehrens und Lernens. Beinahe synonym mit dem Begriff Didaktik ist der des Curriculums. Er hat heute z.T. den der Didaktik verdrängt. Der Begriff Curriculum ist in seiner heutigen Verwendung aus dem angloamerikanischen Sprachgebrauch übernommen und seit 1967 durch Robinsohn in der BRD in die Diskussion eingeführt worden. Wenn es einen Unterschied gibt zwischen dem Begriff Didaktik und dem Begriff Curriculum, dann ist es einer des Akzentes. Vielleicht kann man sagen, daß mit der Einführung des Curriculumbegriffs ein bestimmter Aspekt betont wird, unter dem die bisher unter dem Stichwort Didaktik behandelten Fragen gesehen werden, der Aspekt der mit wissenschaftlichen Instrumenten durchgeführten oder unterstützten Planung und Kontrolle von Lehr- und Lernprozessen. (S. W. Klafki: Curriculum – Didaktik, in: Wörterbuch der Erziehung, hrsg. von Chr. Wulf, München 1974, S. 117 ff).
|B 25|
[V48:139] Beide Termini verweisen auf die konstruktive Dimension der pädagogischen Tätigkeit. Insofern Erziehung einen Vorgriff auf die ZukunftB enthält, verlangt sie Planung und Konstruktion. Im folgenden soll die besondere Position der
Kritischen Didaktik
wie sie vor allem von Blankertz und Lenzen vertreten wird, dargestellt werden, und zwar durch eine Reihe von Abgrenzungen.
|A 38|

3.2.1 Kritische Didaktik – 1. Abgrenzung

[V48:140] Die Aufgabe der Planung und Konstruktion pädagogischer Angebote und Maßnahmen wäre einfach zu lösen, wenn man sich dabei verlassen könnte auf die überlieferten Regeln und Anweisungen für die Gestaltung des Unterrichts. Die kritische Didaktik hat das Vertrauen in diese tradierten und
bewährten
Regeln und Anweisungen verloren. Sie setzt sich ausdrücklich ab von jenen Erfahrungen, die erst zu einem
Schatz
verklärt und dann zur verbindlichen Norm erhoben werden. Dazu zählt BlankertzB
[V48:141]
alle isolierten, ihrer Voraussetzungen und Begründungen beraubten Vorschriften über Unterrichtsinhalte, Lernschritte und methodische Mittel. Die Kompendien-Literatur zur Unterrichtsvorbereitung, aber auch viele
Handreichungen
für den Unterricht in einzelnen Schulfächern, zumeist mit dem Titel
Fachmethodik
, mitunter auch als
Fachdidaktik
angeboten, sind voller solcher Sätze. Innerhalb der Situation, aus der sie einmal gewonnen wurden, mochten sie wenigstens teilweise berechtigt sein, aber von ihrem Erfahrungsfeld abgelöst als normative Handlungsanweisung vorgetragen, sind sie sinnlos. So lesen wir hinsichtlich der Unterrichtsinhalte beispielsweise, daß das Thema
Feuerwehr
nicht vor dem 4. Schuljahr behandelt werden dürfe, daß lebende Autoren im Deutschunterricht nicht oder nur sparsam zu benutzen seien; auf der gleichen Ebene liegt auch, wenn aus der empirisch experimentellen Tatsachenfeststellung, daß mit Hilfe des programmierten Unterrichts zweijährige Kinder erfolgreich im Lesen und Schreibmaschine schreiben unterwiesen werden können, normativ gefolgert wird, nun müsse auch so verfahren werden. Ähnliche Beispiele finden wir für Lernschritte, wenn etwa dem fremdsprachlichen Unterricht die Folge vorgeschrieben wird: Vokabel abfragen – Übersetzen – Extemporieren. Der verbreiteste Tummelplatz normativer Sätze aber ist das Feld der Unterrichtsmethoden, ... Hier |B 26|wollen wir nur auf jene trivialen Forderungen verweisen, die als Ausläufer der normativen Methodenlehre sich zwar nur selten in die Literatur verirren, dafür umso mehr die jungen Lehrer während der praktisch pädagogischen |A 39|Ausbildung plagen, so etwa, wenn verlangt wird, daß das Unterrichtsthema immer von einem Schüler genannt werden müsse (durch geschicktes Arrangement während des
Einstiegs
) oder daß der Lehrer immer schräg zur Klasse zu stehen – habe (weil er dann alles sehe). Der Dogmatismus solcher Normen ist leicht durchschaubar.
(Blankertz, Theorien und Modelle der Didaktik, München 1969 2. Aufl., S. 18 f.)
[V48:142] Aber nicht nur die kritische, alle Positionen der gegenwärtigen Didaktik und Curriculumtheorie, soweit sie Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben, haben das Vertrauen in die überlieferten pädagogischen
Erfahrungsschätze
verloren. Deshalb ist es nötig, noch eine weitere Abgrenzung vorzunehmen.
|A 40|

3.2.2 Kritische Didaktik – 2. Abgrenzung

[V48:143] Die
kritische Didaktik
grenzt sich auch ab von einer Variante der gegenwärtigen Curriculumentwicklung, die man als technologisch charakterisieren könnte. Diese Variante der Curriculumentwicklung ist daran interessiert, die Effektivität der bisherigen Lernmethoden zu erhöhen. Sie konzentriert sich auf die Technik der Steuerung von Lernprozessen. Die Lerngegenstände sollen durch Zerlegung in einzelne aufeinanderfolgende Lernschritte so präsentiert werden, daß das Lernziel sicher und auf dem energiesparendsten Weg erreicht wird. Diese Form der wissenschaftlichen Didaktik begnügt sich damit, die Mittel und Methoden bereitzustellen, damit ein vorgegebenes Lernziel optimal realisiert werden kann. Die Entscheidung aber über die Lehr- und Lernziele selbst und über die Auswahl der Lerngegenstände wird als unwissenschaftlich ausgeklammert und in den Bereich der Weltanschauung verwiesen.
|B 27|
[V48:144] Diese Ausklammerung der Entscheidung über die Lernziele aus dem wissenschaftlichen Diskurs hat die Kritische Didaktik nicht mitgemacht. Die wissenschaftliche Begründung nicht nur durch Methoden und Verfahren, sondern auch der Zielvorstellungen, war aber auch die erklärte Absicht des gesamten übrigen Teils der curricularen Erneuerungsbewegung in den Jahren der Bildungsreform 67 – 73. Deshalb ist es nötig, um die Position der
kritischen Didaktik
zu profilieren, noch eine weitere Abgrenzung vorzunehmen.
|A 41|

3.2.2 Kritische Didaktik – 3. Abgrenzung

[V48:145] Gegenüber jenem Teil der Curriculumrevision, der sich im Anschluß an das Modell von Robinsohn sowohl der Verfahren und Methoden als auch der Inhalte und Ziele des Lernens und Lehrens annahm, gewinnt die
kritische Didaktik
allmählich über mehrere Stufen ihr eigenes Profil. Die
kritische Didaktik
zeichnet sich aus:
  1. 1.
    [V48:146]
    Durch die Reflexion der gesellschaftlichen und historischen Bedingungen, in denen es zur Curriculumrevision und dem sie bestimmenden Begriff der Chancengleichheit kommt.
    Nach ihrer Analyse taucht der Begriff der Chancengleichheit auf in einem historischen Augenblick, in dem es im volkswirtschaftlichen Interesse notwendig werden könnte, die durch Bildungsbarrieren bisher an ihrer Entfaltung gehinderten
    Begabungsreserven
    auszuschöpfen.
    Da Lernprozesse in hohem Maße beeinflußbar sind, legte die Theorie des technischen Fortschritts die Möglichkeit nahe, Investitionen im Bildungssektor könnten entscheidend sein, um das volkswirtschaftliche Wachstum zu optimieren. In dem Maße, in dem dahingehende Fragestellungen von der öffentlichen Diskussion aufgegriffen wurden, konzentrierte sich auch das Interesse der Erziehungswissenschaft auf Bildungsplanung und Curriculum-Forschung.
    (Blankertz (Hrsg.) : Curriculumforschung – strategien, strukturierung, konstruktion, Essen 1971, S. 7)
  2. |B 28|
  3. 2.
    [V48:147]
    Durch die Kritik an der Praxisferne der Curriculumentwicklung.
    Die
    Kritische Didaktik
    grenzt sich ab von einem Modell, das Curriculumentwicklung und -implementation zwei zeitlich klar voneinander geschiedenen Phasen und Instanzen zuwies und die Mehrzahl der Lehrer in der Implementationsphase nur als Empfänger und Ausführende betrachtet.
    |A 42|
    Eine Auffassung, derzufolge Theoretiker, in unserem Falle also Erziehungswissenschaftler, forschen und dann ihre gesicherten Ergebnisse dem Praktiker, in unserem Falle dem Lehrer, zur Anwendung, allenfalls zur Erprobung zu übergeben hätten, wird von uns abgelehnt. Eine solche Arbeitsteilung müßte den Lehrer zum Vollzugsorgan degradieren, ihn politisch und fachlich entmündigen, während sie den Erziehungswissenschaftler zum bloßen Theoretiker ohne Verantwortung für die praktischen Folgen seines Tuns machte. Demgegenüber gehen wir davon aus, daß nur eine wechselseitige Kommunikation von Erziehungswissenschaftlern und Lehrern eine gemeinsame theoretische Sprache zu erzeugen vermag, in der kritisch auf Unterricht, die ihn leitenden Prinzipien, Normen und Mittel, sowie auf die jeweils getroffenen unterrichtlichen Entscheidungen und den erforderlichen Konsens mit den Lernenden reflektiert werden kann.
    (Blankertz, Die fachdidaktisch orientierte Curriculumforschung und die Entwicklung von Strukturgittern, in: dgl., fachdidaktische Curriculumforschung, Essen 1971, S. 16)
    Die Kritik an der Dichotomie von Theoretikern und Praktikern in der Curriculumentwicklung hat zum Gegenkonzept der
    schulnahen Curriculumentwicklung
    und der
    offenen Curricula
    geführt.
  4. 3.
    [V48:148]
    Durch Kritik an der Deduktion von Lerninhalten aus obersten Lernzielen.
    Das Robinsohnsche Modell der Curriculumentwicklung ging aus von der Möglichkeit einer direkten und eindeutigen Zuordnung von gewünschten Qualifikationen und Lerninhalten. Aus obersten allgemeinen Lernzielen sollen Teillernziele und Lerninhalte bis hinunter zu einzelnen Erziehungsmaßnahmen abgeleitet werden, so daß eine geschlossene Deduktionskette entsteht, die angibt, wie |B 29|die Wirklichkeit des Unterrichts aussehen soll. Aber die lückenlose Deduktion erwies sich als Schein. Es zeigte sich bei jedem konkreten Versuch, daß die Deduktion nicht funktioniert. Gleichgültig |A 43|wie die obersten Lernziele formuliert oder zustande gekommen waren, die Ableitung didaktischer Arrangements daraus ist nie restlos gelungen,
    • innerhalb eines obersten Lernzieles konnten verschiedene, ja geradezu gegensätzlich didaktische Konzeptionen realisiert werden,
    • einander entgegengesetzte und konkurrierende Lernziele allgemeinster Art konnten sich in ähnlichen, vielleicht gleichen didaktischen Konzepten realisieren.
[V48:149] Den direkten Ableitungszusammenhang von Allgemeinen Lernzielen und Lernarrangement hat die Münsteraner Gruppe um Blankertz vielleicht zuerst in Zweifel gezogen. Sie problematisierte die
Deduktionshypothese
. Statt durch Ableitung aus obersten Lernzielen sollten die inhaltliche Konkretisierung eines Lerngeschehens durch ein
Strukturgitter
ermöglicht werden. Darunter verstanden sie
regulative Kriterien
(Blankertz, Fachdidaktische Curriculumforschung, S. 12)
, durch die nach Maßgabe der pädagogischen Absicht die gesellschaftliche Realität in didaktische Elemente übersetzt werden konnte.
[V48:150]
Es handelt sich um Kriterienkomplexe, mit deren Hilfe vorgegebene inhaltlich bestimmte Zumutungen zu Lerngegenständen, zu Unterrichtsinhalten strukturiert und qualifiziert werden, weithin auch vorliegende komplexe Unterrichtsinhalte (Unterricht, Lehrbücher, Richtlinien usw.) beurteilt und mit Bestimmtheit kritisiert werden können. Strukturgitter leisten also das, was früher ein einziges, in seinen Aspekten schwer durchschaubares Auswahl- und Konstitutionskriterium, nämlich
Bildung
leisten sollte. Ihm gegenüber haben Strukturgitter jedoch Vorzüge: Einerseits sind sie auf den jeweiligen Unterrichtsbereich hin differenziert und implizieren die jeweilige wissenschaftsdidaktische Fachstruktur, andererseits legen sie |A 44|ihre normativen Voraussetzungen ausdrücklich offen, während sich im Bildungsbegriff bis in die heutige Zeit unausgewiesene Ideologien konservieren konnten. Didaktische Strukturgitter sind also weder Lerninhalte noch Lernziele, sondern Kriterien für deren Beurteilung in analytischer und konstruktiver Absicht.
(Blankertz a.a.O., S. 20)
|A 45| |B 30|

3.2.4 Kritische Didaktik – 4. Abgrenzung

[V48:151] In BlankertzB Modell der Curriculumkonstruktion durch
Strukturgitter
bleibt das lernende Subjekt in auffälliger Weise unberücksichtigt. In seinem Arbeitslehrecurriculum kommen die Lernenden nicht vor als Beteiligte an der Planung ihres eigenen Lernprozesses. Erst Lenzen hat mit seiner Fassung einer kritischen Didaktik auch noch diesen unkritischen Rest in Blankertz’ Theorie beseitigt. Lenzen stellt dann auch an den Anfang seiner Erörterungen die Reflexion auf den kindlichen Lernvorgang. Lenzen geht aus von einer Unterscheidung, die sich schon in anderen theoretischen Zusammenhängen, in den verschiedenen Richtungen des Strukturalismus und in ihrem Gefolge in den Theorien von Chomsky und Habermas als sehr nützlich erwiesen hat, die Unterscheidung von Oberflächen- und Tiefenstrukturen. Oberflächenstrukturen nennt Lenzen die gegenständlichen und sozialen Gegebenheiten der menschlichen Umwelt. Tiefenstruktur nennt er die im weitesten Sinne kognitive Organisation des Menschen. Das Verhältnis zwischen Oberflächen- und Tiefenstruktur ist für ihn kein eindimensionales Verhältnis, sondern ein Verhältnis wechselseitiger Determination. Lenzen beschreibt es als einen Transformationsprozeß in beide Richtungen, von Tiefenstrukturen in Oberflächenstrukturen und umgekehrt. Die Annahme einer universalen Tiefenstruktur, die selber nicht mehr determiniert ist, also a priori existiert, muß ihm deshalb als eine
Verkürzung
erscheinen. Er sieht in ihr das Ergebnis einer ahistorischen Verfahrensweise.
|A 46|
[V48:152]
Dem historischen Charakter der sozialen Verhältnisse wird man nur gerecht, wenn man nicht allein davon ausgeht, daß die Oberflächenstrukturen subjektive Hervorbringungen auf der Basis (universaler) Tiefenstrukturen, sondern, daß diese Tiefenstrukturen selbst noch Resultate der objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse und ihrer Entwicklung sind.
(Dieter Lenzen, Didaktik und Kommunikation, Frankfurt/M. 1973, S. 21 und 22)
|B 31|
[V48:153] Die Transformation von Tiefenstrukturen in Oberflächenstrukturen nennt Lenzen
Handeln
. Das menschliche Individuum handelt, indem es Tiefenstrukturen in Oberflächenstrukturen transformiert. Dadurch wird Realität erzeugt und verändert. Handeln ist der Name für einen Prozeß der Konstruktion und Rekonstruktion äußerer Wirklichkeit. Die umgekehrte Transformation von Oberflächenstrukturen in Tiefenstrukturen nennt Lenzen
Lernen
. Das menschliche Individuum lernt, indem es Oberflächenstrukturen in Tiefenstrukturen transformiert. Dadurch werden kognitive Strukturen erzeugt und verändert. Lernen ist dann der Name für einen Prozeß der Konstruktion und Rekonstruktion innerer Wirklichkeit.
[V48:154] Es ist nicht schwerB in diesen Formulierungen den Erkenntnisbegriff wiederzufinden, den wir schon in der ersten Studieneinheit als ein Charakteristikum der Kritischen Theorie dargestellt haben. Schon für die Vertreter der frühen Kritischen Theorie, also vor allem Horkheimer, bestand Erkenntnis nicht nur in einem Vorgang der Konstruktion von Wirklichkeit nach
Maßgabe der Kategorien des denkenden Subjekts
(vgl. 1. Studieneinheit S. 61), seiner Tiefenstruktur, und auch nicht bloß in der Abbildung der Vorgefundenen, sinnlich wahrnehmbaren Welt, seiner Oberflächenstruktur, sondern in ihrer wechselseitigen Vermittlung. Die Veränderung der Oberflächenstruktur und die Veränderung der Tiefen|A 47|struktur waren für Horkheimer Momente eines einzigen Geschehens. Im Erkenntnisprozeß verändert das Subjekt die Wirklichkeit genauso wie sich selbst. Es konstituiert sich, indem es sich die soziale und gegenständliche Realität, die es vorfindet, produktiv aneignet. An diesem Erkenntnisbegriff der Kritischen Theorie knüpft Lenzen an, auch wenn er sich nicht ausdrücklich darauf beruft. Seine Überlegungen zum Verhältnis von Oberflächenstrukturen und Tiefenstrukturen bringen eigentlich nur eine andere sprachliche Fassung dessen, was man auch bei Horkheimer über den Erkenntnisvorgang schon lesen konnte.
|B 32|
[V48:155] Die Übereinstimmungen der Konzeption von Lenzen mit der Kritischen Theorie gehen aber noch weiter. Die Oberflächenstruktur, also die soziale und gegenständliche Wirklichkeit, der sich das Subjekt gegenübersieht, ist nämlich nicht nur determiniert durch seine
transformative Aktivität
, sondern auch durch den gesamten historischen und gesellschaftlichen Prozeß. Die Oberflächenstrukturen sind nicht nur das Ergebnis der generierenden Tätigkeit eines Subjekts, sondern der aller Gesellschaftsmitglieder, samt deren Verfahren. Diese Erkenntnis, die Lenzen eher beiläufig ausspricht, hatte schon Horkheimer in eine sprachliche Fassung gebracht, deren Prägnanz uns veranlaßte, sie in der ersten Studieneinheit gleich zweimal zu zitieren:
[V48:156]
Die Tatsachen, welche uns die Sinne zuführen, sind in doppelter Weise gesellschaftlich präformiert. Durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstandes und den geschichtlichen Charakter des wahrnehmenden Organs.
(vgl. 1. Studieneinheit, S. 30 und 57)
.
|A 48|
[V48:157] Geschichtlich ist der Charakter des wahrnehmenden Organs, der kognitiven Organisation, oder in der Terminologie von Lenzen, der Tiefenstruktur, weil sie selber das Ergebnis einer Transformation aus der Oberflächenstruktur ist. Geschichtlich ist der Charakter des wahrgenommenen Gegenstandes, der Oberflächenstruktur, weil er zusätzlich zu der wahrnehmenden Aktivität des einzelnen Subjekts, durch die er konstituiert wird, schon konstituiert ist durch die Aktivität aller anderen. Die Umwelt, der das lernende Subjekt sich gegenübersieht und die es als handelndes hervorbringt, ist unabhängig von ihm immer schon, wie Lenzen es ausdrückt,
fremdstrukturiert
(Dieter Lenzen, a.a.O. S. 76)
. Das gilt in besonderem Maße für die Umwelt, die man Unterricht nennt und der Lenzen vor allem seine Aufmerksamkeit widmet. Der Unterricht ist
fremdkonstituiert
sowohl durch die gesellschaftlichen Bedingungen überhaupt, unter denen er stattfindet, als auch auf
mikrodidaktischer Ebene
durch die besondere Tätigkeit des Lehrers. Der Lehrer schafft erst, wenn auch nicht allein, sondern nur als letzter in einer langen Kette, die Umwelt, die das lernende Subjekt dann in seine Tiefenstruktur übersetzt. Bei der Einrichtung eines Lernfeldes |B 33|nimmt der Lehrer zweierlei Transformationen vor: Er transformiert:
  • [V48:158] die Oberflächenstrukturen der gesellschaftlichen Realität und
  • [V48:159] die von den Schülern selbst hervorgebrachten Oberflächenstrukturen, ihre Unterrichtsbeiträge,
[V48:160] in Unterrichtsstrukturen, und zwar auf dem Umweg über seine eigene kognitive Struktur. Der Lehrer analysiert die gesellschaftliche WirklichkeitB und er versteht die Äußerungen der Schüler und |A 49|zieht daraus bestimmte Konsequenzen für seine weiteren Unterrichtshandlungen. Indem Lenzen den Lehrer betrachtet als einen, der nicht nur die Oberflächenstruktur der gesellschaftlichen Realität in Unterrichtsstrukturen transformiert, sondern auch noch die Schüleräußerungen, lenkt er den Blick über den die Lernprozesse steuernden Lehrer hinweg auf den Schüler, der im Unterrichtsgeschehen
selber handelt und – handelnd – lernt.
(Dieter Lenzen, a.a.O. S. 131)
. Lenzen hat vielleicht unter allen Vertretern einer
kritischen Didaktik
am konsequentesten und nachdrücklichsten die konstitutive Rolle der Schüleraktivität für das Unterrichtsgeschehen herausgestellt. Unmißverständlich, wenn auch ein bißchen widersprüchlich, formuliert er:
[V48:161]
Unterricht ist nicht ... ein Generat eindimensionaler Lehrertransformation, sondern zum gleichen Teil auch das Resultat von Schülerhandlungen (und das u.U. sogar in erheblich höherem Maße).
(Dieter Lenzen, a.a.O. S. 132)
[V48:162] Wenn an der Entstehung des Unterrichts der Lehrer wie auch der Schüler zu wie auch immer mehr oder weniger gleichen Teilen beteiligt sind, dann liegt es nahe, das unterrichtliche Geschehen als ein kommunikatives Geschehen zu begreifen.
[V48:163] Der aktive Beitrag der Schüler an diesem kommunikativen Gesehen kann bisweilen Formen annehmen, die es schwer machen, ihn überhaupt zu erkennen. Ein alltägliches Bei|B 34|spiel, das aus nur drei kommunikativen Einheiten besteht, soll das veranschaulichen.
[V48:164] Der Lehrer steht vor der Klasse. Sie ist im 4. Schuljahr. Vorausgegangen ist eine Exkursion zum Güterbahnhof.
|A 50|
[V48:165] Lehrer:
Als wir in der vergangenen Woche am Güterbahnhof waren, haben wir allerlei gesehen. Wir wollen nun darüber nachdenken, was wir gesehen haben.

Klasse: schweigt
Lehrer:
Frank, erzähl du einmal!
[V48:166] Der Verlauf dieser kurzen Unterrichtssequenz scheint auf den ersten Blick ganz und gar ausschließlich durch den Lehrer bestimmt. Seine Aufforderung an die Klasse über die gemeinsame Exkursion nachzudenken, ist das Ergebnis seiner Transformation aus der Oberflächenstruktur
Besuch im Güterbahnhof
zu einem Bestandteil des Unterrichts. Die Lehreraufforderung wird von den Schülern wörtlich verstanden, d.h. in ihre Tiefenstruktur übersetzt und befolgt. Die Schüler schweigen und denken nach, wie es der Lehrer will. Sie nehmen keinen Einfluß auf das Geschehen. Selbst der Zeitpunkt, an dem sie mit dem Nachdenken aufhören sollen, wird vom Lehrer festgelegt. Er entscheidet darüber, wer von ihnen mit dem Erzählen beginnt.
Auf den zweiten, vielleicht etwas genaueren Blick, nimmt man aber auch noch etwas anderes wahr. Der Ablauf der Szene bestimmt jetzt nicht mehr nur der Lehrer, sondern ihn bestimmen auch die Schüler, und zwar zu einem nicht unbeträchtlichen Teil. Sie verstehen die Äußerung:
Wir wollen nun darüber nachdenken ...
nicht wörtlich, sondern so wie sie gemeint war, als Aufforderung nämlich zum Erzählen. In ihrer Reaktion geben die Schüler dem Lehrer zu erkennen, daß sie mit seiner indirekten Ausdrucksweise nicht zufrieden sind. Durch ihr beharrliches Schweigen zwingen sie ihn das Wort
nachdenken
durch
erzählen
zu ersetzen, die Unterstellung
Wir wollen ...
zu vermeiden und eine bestimmte Person anzusprechen.
|A 51| Die Schüler belehren den Lehrer darüber, wie man das, was man meint, auch adäquat zum Ausdruck bringt, (vgl. zu dieser Szene Dieter Lenzen, a.a.O. S. 135 f)
[V48:167] Mit der Erkenntnis, daß der Unterricht konstituiert wird durch die aufeinanderbezogenen Aktivitäten der Lehrer und Schüler, ist freilich noch nicht viel gewonnen. Die Frage, nach welchen Kriterien der Lehrer seine Transformationen vornehmen soll, damit eine pädagogisch gerechtfertigte und nicht irgend eine beliebige Kommunikation zustande kommt, bleibt offen. Ein solches Kriterium hätte prinzipiell alle Transformationen von Oberflächenstrukturen in solche der Lernumwelt auf allen Niveaus von der Curriculumplanung bis zur konkreten Lehreraktivität anzuleiten. Es müßte die Auswahl der Inhalte sowohl wie die Art und Weise ihrer Präsentation als Lernumwelt festlegen. Lenzen bezeichnet ein solches Kriterium im Anschluß an den Sprachgebrauch der Münsteraner Gruppe um Blankertz als
didaktisches Strukturgitter
. Bei seinem Versuch, ein solches
didaktisches Strukturgitter
zu konstruieren und die Konstruktion zu begründen, wird erneut die Nähe seiner Überlegungen zur
Kritischen Theorie
deutlich. Das von ihm konstruierte didaktische Kriterium erhebt nämlich den Anspruch,
[V48:168]
für die zu erziehende Generation und damit für die Zukunft einer Gesellschaft Partei zu nehmen im Sinne der Realisierung des guten Lebens.
(Dieter Lenzen, a.a.O. S. 124)
[V48:169] Das
didaktische Strukturgitter
ist orientiert am
emanzipatorischen Interesse des Lerners
(Dieter Lenzen, a.a.O. S. 78)
. Es soll eine Lernumwelt schaffen helfen, die es dem Lernenden erlaubt, jene kognitiven Strukturen aufzubauen, |A 52|die er braucht, um als mündiges Subjekt handeln und sich äußern zu können. Man kann auch sagen: das
didaktische Strukturgitter
soll nach Maßgabe der antizipierten kognitiven Struktur eines mündigen Subjekts die Transformation von Oberflächenstrukturen in Unterrichtsstrukturen ermöglichen. An der antizipierten kognitiven Struktur eines mündigen Subjekts unterscheidet Lenzen im Anschluß u. a. an |B 36|Habermas die moralische, operative und kommunikative Kompetenz. Alle drei idealen Kompetenzen können nur erworben werden in Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität. An dieser muß sich die Konstruktion eines
didaktischen Strukturgitters
genauso orientieren wie an den antizipierten Kompetenzen eines mündigen Subjekts. Lenzen gliedert dann auch die soziale Realität, wiederum im Anschluß an Habermas, nach den drei Medien, durch die sich diesem zufolge das gesellschaftliche Leben konstituiert: Arbeit, Sprache, Herrschaft. Diese drei Medien und die drei antizipierten idealen Kompetenzen bilden die Eckpfeiler des
didaktischen Strukturgitters
. Lenzen differenziert diese Kategorien noch weiter bis hinunter zum konkreten Vorschlag eines
didaktischen Strukturgitters
für den Unterricht in der Primärsprache. Ob ihm dies wirklich gelungen ist, wollen wir jetzt nicht weiter verfolgen. Es genügt uns, die Verbindung seiner Überlegungen zur Kritischen Theorie angedeutet zu haben.
|A 53| |B 37|

3.3 Methodologie einer kritischen Erziehungswissenschaft

[V48:170] Bereits in den ersten beiden Studienbriefen haben wir uns mit Fragen befaßt, die im weitesten Sinn der Methodologie zuzurechnen sind: Waren es zunächst erkenntnistheoretische Postulate, die wir im Anschluß an Max Horkheimers sozialphilosophische Studien dargestellt haben (1.3.2), so waren es dann die Komponenten konkreter Forschungsarbeit, die wir am Beispiel der von Jürgen Habermas u.a. durchgeführten Untersuchung
Student und Politik
zu erarbeiten suchten. Dabei stellten wir fest, daß entsprechend den erkenntnistheoretischen Postulaten der Kritischen Theorie die philosophische Reflexion der Begriffe, die geschichtliche Bestimmung des Gegenstandes und die empirische Kontrolle als Momente kritischer sozialwissenschaftlicher Forschung ineinandergreifen.
[V48:171] In dieser Studieneinheit stellen wir die Frage von der Pädagogik her: Gibt es eine spezifisch erziehungswissenschaftliche Methodologie, die in der Wahl und Begründung ihrer methodologischen Regeln dem emanzipatorischen Anspruch der Kritischen Theorie nachkommt? Oder, anders ausgedrückt, gibt es eine Methodologie, die es erlaubt, Erziehungswissenschaft als kritische Sozialwissenschaft zu konzipieren und zugleich der Besonderheit von Erziehungsprozessen und -verhältnissen als dem Mittelpunkt ihrer Forschung Rechnung zu tragen?
[V48:172] Da die Erziehungswissenschaftler, die der Pädagogik der Kritischen Theorie zugerechnet werden, sich vor allem auf die neueren erkenntnistheoretischen und methodologischen Überlegungen von Habermas stützen, seien diese kurz skizziert, bevor wir auf Konzeptionen eingehen, die direkt aus der Erziehungswissenschaft kommen.
|A 54| |B 38|

3.3.1 Die gesellschaftliche Interessengebundenheit von Erkenntnis

[V48:173] Zunächst, was ist und was soll Methodologie? – Jede Wissenschaft bildet bestimmte routinierte Vorgehensweisen im Umgang mit ihrem Gegenstandsbereich aus, um sich gegen die Subjektivität bloßen Meinens, gegen Verfälschungen durch die Bindung an partikulare, erkenntnisfremde Interessen zu schützen. Methodologie beschreibt und begründet die Prinzipien, mit deren Hilfe wir Methoden zur Gewinnung
gültiger
Erkenntnisse entwickeln. Erst eine solche methodologische Reflexion vermag theoretische Aussagen des Verdachts ideologischer Verzerrung und vordergründiger Interessengebundenheit zu entheben, indem sie den rationalen Nachvollzug und die argumentative Überprüfung von Erkenntnissen und Erkenntnisgewinnung sichert. Damit impliziert sie zugleich ihre eigene Lehrbarkeit. Sie ist die notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung der möglichen Teilnahme aller Gesellschaftsmitglieder an Erkenntnisprozessen. Dieser universale Anspruch von Methodologie enthebt – wie wir schon bei Horkheimers Untersuchungen gesehen haben – Theorie nicht der gesellschaftlichen Parteilichkeit. Erkenntnis, ob in alltäglicher Praxis oder aber in wissenschaftlicher Forschung gewonnen, ist in ihrer Entstehung und in ihrer Verwendung unlösbar in gesellschaftliche Interessenzusammenhänge eingebunden. Dies nicht nur, weil Wissenschaft sich im Rahmen gesellschaftlicher Institutionen vollzieht, deshalb in historisch je konkrete gesellschaftliche Verhältnisse eingebettet ist und – im weitesten Sinn notwendig Partei ergreift im Kampf um Beibehaltung oder Veränderung eben dieser Verhältnisse. Sondern – und dies ist vor |A 55|allem von Habermas herausgearbeitet worden – weil Wirklichkeit sich unserer Erfahrung immer nur unter bestimmten Gesichtspunkten erschließt, nämlich dem der möglichen Verwendung, die unsere Erkenntnisse im Umgang mit Wirklichkeit finden können:
  • [V48:174] Wir machen Erfahrungen mit Dingen und Ereignissen unter dem Gesichtspunkt ihrer möglichen Manipulation;
  • [V48:175] mit Personen und Äußerungen unter dem Gesichtspunkt möglicher Verständigung und gemeinsamer Handlungsorientierung;
  • [V48:176] und mit Ereignissen und Zuständen unter dem Gesichtspunkt der Befreiung von heteronomem Zwang.
[V48:177] Diese möglichen Handlungsbezüge zur Realität legen vor aller Wissenschaft die Aspekte fest, unter denen Wirklichkeit unserer Erfahrung überhaupt nur zugänglich ist. Sie greifen aber auch über auf die Bestimmung des Gegenstandsbereichs, die Methodik und die Gültigkeitskriterien von Wissenschaft.
[V48:178] In diesem Sinn ist das Interesse, unter dem wir Erkenntnis systematisch organisieren, weder nur zu begreifen als psychologische Motivation noch als politisches Engagement, (also als der Erkenntnis selbst äußerlich verbleibendes Moment), sondern als fundamentale Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis.
[V48:179] Es bestimmt sowohl Art und Weise, in der wir Erkenntnisprozesse methodisch organisieren als auch Art und Struktur des erworbenen Wissens. So unterstellen etwa empirisch-analytische Aussagen über die Regelmäßigkeit von Ereignisabläufen die Möglichkeit prognostischen Wissens und damit technischer Kontrolle. Sie verraten so ein, wie Habermas sagt,
technisches
Interesse
an erfolgskontrollierter Planung und Handlung.
|A 56|
[V48:180] Hermeneutisch-interpretative Aussagen unter stellen die Möglichkeit des Verstehens und Verständlichmachens von sprachlich vermitteltem Sinn und verraten so ein
praktisches
Interesse
an intersubjektiver Sinn- bzw. gemeinsamer Handlungsorientierung. Beides, das unter
technischem
wie unter
praktischem
Interesse ermittelte Wissen stellt somit Mittel zur Erweiterung der Verfügungs- und Handlungsmöglichkeiten des Menschen bereit, schafft also notwendige Voraussetzungen für seine Emanzipation. Gleichwohl kann das Erkenntnisstreben im bloßen Interesse an technischer Verfügbarkeit und sinnhafter Deutung des Bestehenden befangen bleiben – wie die Vertreter Kritischer Theorie gegenüber den traditionellen Natur- und Geisteswissenschaften immer wieder aufgezeigt haben –, wenn nicht ein in engerem Sinn
emanzipatorisches
Interesse an der Befreiung des Menschen aus nicht legitimierbaren Zwängen hinzukommt, das an der Idee der Mündigkeit orientiert ist. Dieses Interesse kann zwar nur dann zur Artikulation gelangen, wenn sich historisch die Erfahrung sozialer Abhängigkeit bildet. Die Idee der Mündigkeit ist nach Habermas aber insofern historisch übergreifend, als sie in der Struktur sprachlicher Verständigung bereits angelegt ist.
[V48:181] Vgl. die Diskurstheorie von Habermas (2.3), in der er aufzuweisen versucht, daß sprachliche Kommunikation die Mündigkeit aller Gesprächsteilnehmer immer schon kontrafaktisch unterstellt.
[V48:182] Das technische, das praktische und das emanzi patorische Interesse, denen HABERMAS fundamentale erkenntnisleitende Funktion zuspricht, sind rekonstruiert aus dem Interessenzusammenhang einer Gattung, die an bestimmte Medien vergesellschafteten Lebens um ihrer Selbsterhaltung willen |A 57|notwendig gebunden ist: Die Menschheit sichert ihre Existenz durch die gesellschaftliche Produktion von lebensnotwendigen Gütern, also durch Arbeit. Als zugleich organisatorischer Akt erfordert gesellschaftliche Arbeit die Koordinierung von Handlungen, also über Sprache vermittelte Interaktion – und zwar unter einer gesellschaftlich anerkannten, gemeinsamen Handlungsorientierung, nämlich einer Deutung dessen, was über die bloß defensive Sicherung des Überlebens hinaus als menschenwürdige, d.h. sinnerfüllte Existenz anzusehen und anzustreben ist. Diese Interpretation von Lebensbedürfnissen ist zugleich normative Macht: sie unterscheidet zwischen gesellschaftlich zugelassenen und gesellschaftlich ausgegrenzten Bedürfnisanteilen. Solche normativ geforderten Verzichtleistungen können entweder in einen Prozeß ständiger kommunikativer Auseinandersetzung aller Gesellschaftsmitglieder immer wieder neu bestimmt und legitimiert werden. Sie können aber auch – und das ist bisher der historische Regelfall – unter dem Druck sozial dominanter Interessen der öffentlichen Kommunikation entzogen und auf Dauer gestellt, also als Herrschaft institutionalisiert sein. Zwar muß auch soziale Gewalt, um sich als Herrschaft etablieren zu können, durch sprachlich vermittelte Rechtfertigungen gedeckt sein, die von den Betroffenen hingenommen bzw. angenommen werden. Sie stützen sich jedoch nicht auf öffentliche Willensbildungsprozesse, sondern gerade auf eine systematische Einschränkung und Verzerrung öffentlicher Kommunikation (Ideologien).
|A 58|
[V48:183]
Die Menschheit sichert ihre Existenz in Systemen gesellschaftlicher Arbeit und gewaltsamer Selbstbehauptung; durch ein traditionsvermitteltes Zusammenleben in umgangssprachlicher Kommunikation; und schließlich mithilfe von Ich-Identitäten, die das Bewußtsein des Einzelnen im Verhältnis zu den Normen der Gruppe auf jeder Stufe der Individuierung von neuem befestigen. So hatten die erkenntnisleitenden Interessen an den Funktionen eines Ich, das sich in Lernprozessen an seine externen Lebensbedingungen anpaßt; das sich durch Bildungsprozesse in den Kommunikationszusammenhang einer sozialen Lebenswelt einübt; und das im Konflikt zwischen Triebansprüchen und gesellschaftlichen Zwängen eine Identität aufbaut. Diese Leistungen gehen wiederum ein in die produktiven Kräfte, die eine Gesellschaft akkumuliert; in die kulturelle Überlieferung, aus der sich eine Gesellschaft interpretiert; und in die Legitimationen, die eine Gesellschaft annimmt oder kritisiert.
(Habermas, Erkenntnis und Interesse, in: Technik und Wissenschaft als Ideologie, S. 162/3)
[V48:184] Den im Medium von Arbeit, Sprache und Herrschaft herausgebildeten Interessen an technischer Verfügung, lebenspraktischer Verständigung und Befreiung von Zwang lassen sich drei Kategorien von Erkenntnisprozessen zuordnen
[V48:185]
In den Ansatz der empirisch-analytischen Wissenschaften geht ein technisches, in den Ansatz der historisch-hermeneutischen Wissenschaften ein praktisches und in den Ansatz kritisch orientierter Wissenschaften jenes emanzipatorische Erkenntnisinteresse ein ...
(Habermas, a.a.O., S. 155)
|A 59|

3.3.2 Erkenntnisinteresse in der Erziehungswissenschaft: Versuch der Integration von Empirie, Hermeneutik und IdeologiekritikB

[V48:200] Anknüpfend an diese Konzeption fundamentaler erkenntnisleitender Interessen entwickelt Wolfgang Klafki sein Programm einer kritisch-konstruktiven Erziehungswissenschaft.
[V48:201] Klafki steht hier exemplarisch für die Vertreter einer Theorie der kritischen Pädagogik. Vergleiche als einen ähnlichen Ansatz, der ebenfalls von der Habermas’schen Erkenntnistheorie ausgeht, Wolfgang Lempert, Bildungsforschung und Emanzipation, in: Leistungsprinzip und Emanzipation, S. 510 ffB
[V48:202] Klafki wählt bei seiner Darstellung den Weg eines Durchgangs durch die neuere Theoriegeschichte der Pädagogik, in der er diese Interessen in einseitiger Beschränktheit repräsentiert sieht. So verpflichtete sich die geisteswissenschaftliche Pädagogik dem Ziel, durch Aufklärung über die historischen Entstehungsbedingungen und Lösungsmöglichkeiten von anstehenden pädagogischen Problemen zu einer re|B 43|flektierten erzieherischen Praxis anzuleiten. Formuliert als ein an individueller Emanzipation, nämlich dem Anspruch des Kindes auf Selbstentfaltung orientiertes Interesse, verkürzte es sich im methodischen Vollzug jedoch auf ein
praktisches
Interesse. Geisteswissenschaftliche Pädagogik beschränkte sich weitgehend auf die historisch-hermeneutische Ermittlung der Selbstdeutungen von pädagogischer Theorie und Praxis und verlor dabei die Überprüfung der objektiven Bedingungen und Möglichkeiten von emanzipatorischer Erziehung aus den Augen.
|A 60|
[V48:203]
Es ist die methodische Naivität der geisteswissenschaftlichen Pädagogik im Hinblick auf die Erfassung der jeweils gegenwärtigen Erziehungswirklichkeit, also all der Vorgänge, Institutionen, Faktoren, die den tatsächlichen Ablauf von erzieherischen oder erzieherisch bedeutsamen Prozessen in der jeweiligen Gegenwart ausmachen und bestimmen...
(Klafki, Aspekte kritisch konstruktiver Erziehungswissenschaft, S. 30)
[V48:204] Im Gegensatz dazu geht es der erfahrungswissenschaftlichen Pädagogik gerade um die empirische Ermittlung von pädagogischen Sachverhalten, einschließlich der darin eingehenden soziologischen und psychologischen Faktoren, mit dem Ziel einer rationalen Planung von optimalen Lernsituationen. Soweit sie sich dabei allerdings auf den empirischen Nachweis von Gesetzmäßigkeiten beschränkt, ohne die Frage nach der prinzipiellen Veränderbarkeit von Determinationsverhältnissen des Erziehungsgeschehens zu stellen, schließt sie Selbstbestimmung als Möglichkeit wie als Ziel aus. Erkenntnisstreben mündet dann in ein
technisches
Erkenntnisinteresse.
[V48:205]
Wenn Erziehungswissenschaft bestimmte Erkenntnisse über gesetzmäßige oder mindestens gesetzartige Zusammenhänge, etwa zwischen der Anwendung bestimmter Übungsmethoden und dem Erfolg beim Behalten oder über den Zusammenhang zwischen bestimmten Organisationsformen des Unterrichts und den sozialen Beziehungen der Schüler, gewonnen hat, so scheint es möglich, in theoretischem Vorentwurf Anwendungssysteme, Technologien des Lehrens oder der Unterrichtsorganisation zu entwickeln und sie in der Praxis als pädagogische Techniken zum Einsatz zu bringen.
(Klafki, a. a. O., S. 37)
|B 44|
[V48:206] Klafki formuliert seine Kritik – in Übereinstimmung mit den Theoremen der kritischen Theorie – aus der Erkenntnis, daß soziales und also auch erzieherisches Handeln und Denken durch die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt und in gesellschaftlichen herrschafts|A 61|stabilisierender Weise ideologisch verzerrt sind,
[V48:207]
die eine aufweisbare, von Interessen bestimmte Fehleinschätzung der gesellschaftlichen Situation und der in ihr gegebenen Handlungsmöglichkeiten zur Folge haben
B
(Klafki, a.a.O., S. 51)
[V48:208] Von dieser Grundeinsicht ausgehend zeigt Klafki, daß sowohl die geisteswissenschaftliche wie die erfahrungswissenschaftliche Pädagogik nicht in der Lage sind, die Verflechtung von geschichtlich bedingten Sozialverhältnissen und Erziehungsprozessen bzw. -theoremen einerseits, ihre geschichtliche Veränderbarkeit in der Verschränkung von individueller und gesellschaftlicher Emanzipation andererseits aufzuzeigen.
[V48:209]
Die konsequente Reflexion auf die Möglichkeit, dem einzelnen wirklich zur Selbstbestimmung, zur Emanzipation, zum Recht auf individuelles Glück zu verhelfen, führt kritische Theorie zu der Einsicht, daß diese Möglichkeit nur in einer entsprechend strukturierten Gesellschaft gegeben ist. Erziehungswissenschaft im Sinn kritischer Theorie muß daher notwendigerweise zur permanenten Gesellschaftskritik werden oder sich mit Gesellschaftskritik verbünden, die an den genannten Prinzipien orientiert ist.
(Klafki, a. a. O., S. 51)
[V48:210] Die Unzulänglichkeiten der geistes- und der erfahrungswissenschaftlichen Pädagogik in der gesellschaftskritischen Dimension sieht Klafki nicht in einer prinzipiellen Unangemessenheit ihrer Methoden gegenüber ihrem Gegenstandsbereich, sondern in der Vereinseitigung ihres methodischen Vorgehens und der Verengung ihrer Fragestellungen.
[V48:211]
BPrinzipiell kann die Hermeneutik die ideologiekritische Perspektive durchaus in sich aufnehmen, und sie muß es heute tun...
(Klafki, a. a. O., S. 42)
|A 62|
[V48:212] So entwickelt er das Konzept einer kritischen Erziehungswissenschaft, in der – bestimmt von dem
emanzipatorischen
Interesse an Mündigkeit und Selbstbestimmtheit – Hermeneutik und Empirie aus ihrer Einseitigkeit herausgehoben sind und unter ideologiekritischer Fragestellung arbeitsteilig ineinandergreifen:
|B 45|
[V48:213] Die sinnverstehende Auslegung von gesellschaftlich-geschichtlichen Bedingungen und Theoremen der Erziehung mündet dann ein in empirisch zu überprüfende Fragestellungen; empirisch gewonnene Ergebnisse gewinnen ihren Stellenwert wiederum nur in der hermeneutischen Ermittlung ihrer Bedeutung im Bezugsrahmen gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse. Auf dieser Grundlage erst ist der hypothetische Entwurf und die Planung kritisch-verändernder Erziehungspraxis möglich, die wiederum der empirischen Kontrolle unterworfen sein mußB usw.
[V48:214]
Allgemein ergibt sich also: Die für die Erziehungswissenschaft relativ neuen erfahrungswissenschaftlichen Methoden und die von ihr bereits länger praktizierten historisch-hermeneutischen Methoden schließen einander nicht etwa aus, sondern sind wechselweise aufeinander bezogen. Man kann das Verhältnis als einen ständigen dynamischen Rückkoppelungsprozeß beschreiben: von hermeneutischer Entwicklung der Fragestellungen und Hypothesen zur hermeneutischen Interpretation der so gewonnenen Ergebnisse und zur Herleitung neuer Hypothesen für neue empirische Untersuchungen usf.
(Klafki, a. a. O., S. 36/7)
|A 63|

Übungsaufgabe

[V48:215] Stellen Sie sich ein Forschungsvorhaben vor, in dem die Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft von Schülern untersucht werden soll. Welche Überlegungen sind in die Untersuchung miteinzubeziehen? Wie wäre methodisch vorzugehen?
  1. 1.
    [V48:216] Ist Leistung eine reine Willenssache?
  2. 2.
    [V48:217] Welche Faktoren beeinflussen die Leistungsfähigkeit von Schülern (z.B. die soziale Ausgangssituation der Schüler, die Organisationsstruktur der Schule...)
  3. 3.
    [V48:218] Welche Bedeutung hat das Leistungsprinzip in gesamtgesellschaftlichem Zusammenhang?
  4. 4.
    [V48:219] Sind Leistungsprinzip und Emanzipationsprinzip vereinbar oder schließen sie sich aus?
  5. 5.
    [V48:220] Inwiefern finden bei der Beantwortung dieser Fragen empirische, hermeneutische und ideologiekritische Methoden Anwendung?
|A 64| |B 46|
B

3.3.3 Handlungsforschung als kritische Methode

[V48:222] Das Verhältnis von Pädagogik und Kritischer Theorie ist prinzipiell problematisch. Während die Kritische Theorie – zumindest in ihrer ursprünglichen Fassung – sich auf den
besseren Zustand
, den sie will, wesentlich in Form der Kritik am Bestehenden bezieht, gehört es bisher zum Selbstverständnis der Pädagogik als Handlungswissenschaft , daß sie entweder selbst positive Ziele und Mittel der erzieherischen Praxis formuliert oder zumindest das begriffliche und methodische Instrumentarium dafür bereitstellt.
[V48:223] Die
totalisierende Perspektive
(Habermas) des kritischen Theoretikers der Gesellschaft hält im Blick auf das Einzelne stets die gesellschaftliche Totalität fest, in die dieses Einzelne verflochten und durch die es wesentlich bestimmt ist. Der Erziehende kann dagegen anscheinend nicht umhin, sich auf den verändernden Eingriff in partielle, isolierte Vorgänge und Sachverhalte zu beschränken, will er nicht völlig die Kontrolle über die Legitimität und Wirksamkeit seines Handelns aufgeben. Daß die Kritische Theorie sich aus grundsätzlichen Bedenken weithin der Forderung verweigert hat, Handlungsanweisungen für die emanzipatorische Praxis zu geben, hat sie darum nicht nur in Gegensatz zu weiten Teilen der Studentenbewegung gebracht, sondern auch der Kritik durch viele Pädagogen, wissenschaftlich wie praktisch arbeitende, ausgesetzt. Wir wollen hier noch nicht untersuchen, ob diese Kritik und die dahinterstehenden Forderungen an eine kritische Theorie zu recht bestehen; wir wollen ausschnitthaft zeigen, wie die Pädagogik auf diesen von ihr behaupteten Mangel reagiert hat.
|A 65|
[V48:225] Anknüpfend an das behauptete Praxis-Defizit der Kritischen Theorie skizzieren wir auf forschungsmethodologischer Ebene ein Konzept, das Praxisrelevanz und kritische Intentionen zu verbinden verspricht: das Konzept der Handlungsforschung oder Aktionsforschung bzw. action research), das empirische Forschung als eingreifende Praxis entwirft.
[V48:226] Dem Handlungsforschungskonzept liegen, soweit wir sehen, Bdrei Motive zugrunde: ein im engeren Sinne methodologischesB und ein politisches, die sich wechselseitig durchdringen. Aus analytischen Gründen isolieren wir sie:
|B 47|
  1. 1.
    [V48:227] Methodologisches Motiv: Sozialforschung im allgemeinen und erziehungswissenschaftliche Forschung im besonderen hat es aufgrund der Eigenart ihres Gegenstandes zumeist mit
    Sinnhaftem
    – mit Handlungen und Haltungen, mit sozialen Erfahrungen und Beziehungen etc. – zu tun. Sie zielt daher auf Daten, die allein über das Verstehen von Sinn, und zwar von subjektiv gemeintem wie von gesellschaftlich objektiviertem Sinn, zugänglich sind. Der Modus der Erfahrung (Empirie) ist also nicht so sehr die Beobachtung (wie in den Naturwissenschaften), sondern in erster Linie Verständigung B(kommunikative Erfahrung). Deshalb muß Forschung als Kommunikationsprozeß zwischen Forschenden und ihren
    Objekten
    methodologisch konstruiert werden.
  2. 2.
    [V48:228] Ethisches Motiv: Pädagogische Forschung hat ihr Objekt Bin sprach-, lern- und reflexionsfähigen Subjekten. Darum ist das Postulat szientistischer Forschungstechnik, die Untersuchungspersonen durch den Forschungsprozeß nicht folgenreich zu beeinflussen, ungerechtfertigt. Es beruht nämlich auf der Gleichsetzung der Veränderung von Menschen mit deren Manipulation und bekommt die Mündigkeit des Untersuchungs-
    objekts
    auch nicht als Möglichkeit in den Blick.
    Dagegen wird von der Handlungsforschung |A 66|postuliert, daß alle am Forschungsprozeß Beteiligten – nicht nur die Forscher, sondern auch ihre
    Objekte
    – diesen als Lern- und Aufklärungschance wahrnehmen können.
  3. 3.
    [V48:229] Politisches Motiv: Kritische Sozialforschung orientiert an der Aufhebung von Herrschaft und Ausbeutung am Interesse von Freiheit und Glück aller. Wenn Kommunikation Unabdingbar (Motiv 1) und die Eröffnung von Lernchancen geboten ist (Motiv 2), dann liegt es zumindest nahe, den Forschungsprozeß selbst – und nicht nur die Verwendung seiner Ergebnisse – als emanzipatorische Praxis aufzufassen und theoretisch wie organisatorisch in den Kontext politischer und sozialer Veränderungsstrategien zu rücken.
[V48:230] Handlungsforschung, besonders Handlungsforschung in kritischer Absicht, hat noch keine lange Tradition. (Wie wir in den beiden ersten Studienbriefen gesehen haben, hat sie in der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule so gut wie keine Rolle gespielt). Es gibt darum noch keinen anerkannten Kanon methodologischer Regeln, der z.B. der Methodologie des Experiments äquivalent wäre. Wir müssen uns hier darauf beschränken, einige Orientierungslinien zu ziehen. |B 48|Voll verständlich wird Handlungsforschung erst, wenn sie zusammen mit der vorherrschenden empirisch-analytischen Methodologie und Forschungspraxis gesehen wird, zu deren Ergänzung oder gegen die sie entworfen wurde. Ebenso müssen wir auf die Darstellung von beispiel haften Handlungsforschungsprojekten verzichten. Im folgenden stützen wir uns zunächst auf Beiträge von Wolfgang Klafki, sodann auf die Handlungsforschungskonzeption des Wiesbadener Autorenkollektivs Heinze/Müller/ Stickelmann/Zinneker. Andere Ansätze und Darstellungen, etwa die von Haag et al . (1972) und Moser (1975), müssen unberücksichtigt bleiben.
|A 67|

3.3.3.1 Handlungsforschung als innovatorische Problemlösung

[V48:231] Auf der Grundlage eigener Erfahrung in einem Marburger Grundschulprojekt hat Klafki mehrfach zum Konzept und zu den Problemen der Handlungsforschung Stellung genommen. (Vgl. die Beiträge in Klafki 1976, S. 57-137). Er charakterisiert dort Handlungsforschung folgendermaßen:
  1. (1)
    [V48:232]
    Handlungsforschung ist in ihrem Erkenntnisinteresse und damit ihren Fragestellungen von Anfang an auf gesellschaftliche bzw. auf pädagogische Praxis bezogen, sie will der Lösung gesellschaftlicher bzw. praktisch-pädagogischer Probleme dienen.
  2. (2)
    [V48:233]
    Handlungsforschung vollzieht sich in direktem Zusammenhang mit den jeweiligen praktischen Lösungsversuchen, denen sie dienen will; sie greift als Forschung unmittelbar – und nicht erst nach vollzogenem Forschungsprozeß, als sog.
    Anwendung
    der Forschungsergebnisse – in die Praxis mit ein, und sie muß sich daher für Rückwirkungen aus dieser von ihr selbst mitbeeinflußten Praxis auf die Fragestellungen und Forschungsmethoden im Forschungsprozeß selbst – und nicht erst in der abschließenden Auswertungsphase im Hinblick auf zukünftige Forschung – offenhalten.
  3. (3)
    [V48:234]
    Handlungsforschung hebt in irgendeinem Grade bewußt und gezielt die Scheidung zwischen Forschern auf der einen und Praktikern in dem betreffenen Aktionsfeld ... auf der anderen Seite auf zugunsten eines möglichst direkten Zusammenwirkens von Forschern und Praktikern im Handlungs- und Forschungsprozeß.
    (Klafki 1976, S. 60)
[V48:235] Wie das Zitat zeigt, sucht Handlungsforschung zwei Momente, die nach Auffassung der Kritischen Theorie das Theorie-Praxis-Verhältnis in der bürgerlichen Epoche prägen, zu verändern:
|B 49|
  1. a)
    [V48:236] Zunächst war die Arbeitsteilung zwischen Wissenschaftlern und Praktikern; bzw. zwischen Theorie/Forschung einerseits und gesellschaftlicher Praxis andererseits durch die Forschungspraxis selber in Frage gestellt. Dies hat mit Sicherheit den pragmatischen Sinn größerer |A 68|
    Praxisnähe
    der Forschung (denn eher als die feldfremden Wissenschaftler können die Praktiker angeben, wie sich die pädagogischen Probleme für sie unter den besonderen Bedingungen ihrer Handlungssituation stellen). Praxisnähe allein macht die Forschung allerdings bestenfalls verwertbar, aber noch nicht kritisch. Mit dem Gedanken der Aufhebung der Arbeitsteilung als Moment kritischer Forschung muß sich deshalb eine weitere Intention verwinden: nämlich die der Emanzipation der pädagogischen Praxis aus einem autoritären Verhältnis unmündiger Hörigkeit gegenüber der
    über ihr
    stehenden Wissenschaft. Kritische Handlungsforschung soll darum als Selbstaufklärung der Praxis über ihre Ziele, Verfahren, Voraussetzungen und Möglichkeiten – organisiert werden.
  2. b)
    [V48:237]
    Implizit ist damit ein weiteres Moment des Theorie-Praxis-Verhältnisses, nämlich das zugrunde liegende Erkenntnisinteresse, problematisiert. Denn wie kritische Erziehungswissenschaft überhaupt, sucht auch die Handlungsforschung eine auf ein technisches Erkenntnisinteresse reduzierte Konzeption von Erziehung und Erziehungswissenschaft zu überwinden. B
    B
[V48:238] Gegenüber den umfassenden Ansprüchen einer kritischen Erziehungswissenschaft (vgl. 3.3.1) beschränkt sich die
technologische
auf die Analyse und Rekonstruktion des Erziehungsgeschehens und seiner Bedingungen in Form empirisch prüfbarer nomologisch formulierter Hypothesen, welche ihrerseits die pädagogische Praxis in Stand setzen, die für jeweilige Zwecke geeigneten Mittel zu wählen.
[V48:239] So formuliert beispielsweise eine Theorie der
Führungsstile
die (empirisch prüfbare) Abhängigkeit der Haltungen und Leistungen der Schüler vom Verhalten des Lehrers in bestimmten Verhaltensdimensionen. Der Lehrer, der an einem bestimmten Verhalten seiner Schüler interessiert ist – weil es institutionalisierten Lernformen entspricht/ weil es ihn psychisch entlastet/ weil es das Erreichen bestimmter Lernziele begünstigt/ weil es |A 69|Konflikte mit Kollegen , Eltern oder Aufsichtsbehörden reduziert/ etc. – wird durch die Wissenschaft darüber informiert, welche seiner Verhaltens-
Variablen
welchen
Wert
annehmen müssen , damit die gewünschte Schülerreaktion eintritt. Über die theoriegeleitete Kontrolle seines eigenen Verhaltens kann er so das seiner Schüler unter Kontrolle bringen.
[V48:240] Innerhalb dieser technokratischen Konzeption von Pädagogik hat weder die Diskussion der Ziele noch die Frage nach der Legitimität von Mitteln (sofern darunter mehr als ihre bloße Zweckmäßigkeit verstanden wird) einen systematischen Platz. Die Erziehungspraxis und die an ihr Beteiligten geraten darum innerhalb dieses Theorie-Praxis-Verhältnisses in die Gefahr einer doppelten Heteronomie:
  • [V48:241] in der Bestimmung der Ziele, die nicht nur im technokratischen Modell als
    gegeben
    gedacht, sondern in der Erziehungswirklichkeit tatsächlich gesellschaftlich vorgegeben werden: als Verhaltensnormen, als schulischer Fächerkanon, als Leistungskriterien, als Lehrplan etc.
  • [V48:242] und in der Wahl der Mittel, die der Autorität einer Wissenschaft verpflichtet ist, deren Praxisbezug sich in der Bereitstellung eines Arsenals technologischer Imperative erschöpft.
[V48:243] Nicht die Verständigung und Selbstaufklärung der Beteiligten über Sinn, Mittel und Zwecke ihrer gemeinsamen Praxis steht im Mittelpunkt dieser Konzeption von Erziehungswissenschaft, sondern die
passende
situationsadäquate Wahl und Anwendung zweckentsprechender Mittel. Dies schließt die Selbst-Instrumentalisierung des Erziehers ein: er ist Erziehungsmittel unter anderen. Handlungsforschung will dagegen die unterschlagene Dimension der Sinnverständigung, die sozialwissenschaftlicher Erkenntnis als kommunikativer Erfahrung ebenso zugrunde liegt |A 70|wie der Erziehung als einem kommunikativ vermittelten Bildungsprozeß, systematisch zur Geltung bringen dadurch, daß sie ihr eine konstitutive Rolle im Forschungsprozeß selbst einräumt.
[V48:244] Übungsaufgabe
[V48:245] Lesen Sie im vorangegangenen Kapitel über Didaktik noch einmal den Abschnitt 3.2.2 und vergleichen Sie die Intention der Handlungsforschung mit der einer kritischen Didaktik!
[V48:246] Dies führt, wie Klafki sehr wohl sieht, zu einer methodologischen Komplizierung des Forschungsprozesses. Denn die Auswirkung der im Forschungsprozeß gewonnenen Erkenntnisse auf die Beteiligten (Theoretiker wie Praktiker) sind selbst noch dessen Gegenstand!
[V48:247]
Mit dem Ansatz der Handlungsforschung wird das Verhältnis von Theorie und Praxis, das die Erziehungswissenschaft seit eh und je als eine ihrer Kernfragen beschäftigte, in einer neuartigen Weise aufgeworfen: weil nämlich einesteils der Vollzug der Forschung – die Forschungspraxis – hier, mindestens z.T., als ein Moment der zu erforschenden pädagogischen Praxis auftritt und weil zum anderen die zu erforschende Praxis von Anfang an als eine zu verändernde, und zwar eine unter dem Einfluß der Forschungspraxis zu verändernde betrachtet wird. Handlungsforschung ist also Innovationsforschung, bei der die Forschung in den Innovationsprozeß mit einbezogen wird.
(Klafki, a.a.O., S. 61)
[V48:248] Es wird, um beim letzten Beispiel zu bleiben, nicht nur untersucht, wie ein verändertes Unterrichtsverfahren von Lehrern das Verhalten von Schülern im Hinblick auf Konkurrenz und Kooperation verändert – dies ließe sich im Rahmen des herkömmlichen Feldexperiments ermitteln. Die Handlungsforschung möchte sich an der Veränderung des ganzen Hand|B 51|lungsfeldes beteiligen und bezieht deshalb zwei Reflexionsdimensionen in die Untersuchung ein: zum einen die der Problemformulierung und -bearbeitung, woran alle,
Forscher
und
Erforschte
, zu |A 71|beteiligen sind; sodann die kontinuierliche Verarbeitung der im Projektverlauf gemachten Erfahrungen durch alle Beteiligten, woraus sowohl Kritik der Projektpraxis wie innovatorische Entwürfe resultieren können, die direkt auf die Forschungs-Erziehungs-Praxis zurückwirken.
[V48:249] Methodologie hat in der Regel einen doppelten Sinn: einen
normativen
und einen
rekonstruktiven
. Zum einen sagt sie, wie geforscht werden solle, damit der Anspruch der Forschungsergebnisse auf Gültigkeit auch eingelöst wird. Als solches
Gesetzbuch
der Forschung entspringt die Methodologie eines Faches jedoch weder allein der autonomen Vernunft noch der willkürlichen Übereinkunft der
scientific community
– sie hat ihr reales Fundament vielmehr in der als erfolgreich angesehenen Forschungspraxis: Sie ist freilich nicht deren bloßes Abbild, sondern der Versuch ihrer rationalen Rekonstruktion. Auf dem Wege rationaler Rekonstruktion können nämlich Widersprüche und Unklarheiten der Forschungspraxis aufgedeckt und einer Klärung zugeführt werden; ebenso kann die gedankliche und praktische Ökonomie der Forschung rationalisiert werden.
[V48:250] Wir verstehen die Intention Klafkis so, daß er die Logik einer Forschungspraxis allererst heraus finden (rekonstruieren) möchte, die aus emanzipativ-innovatorischem Engagement traditionelle Forschungsregeln außer Kraft gesetzt hat, ohne schon über eine hinreichend begründete methodologische normative Alternative zu verfügen. Keinesfalls sieht Klafki sich veranlaßt, die empirisch-analytische Methodologie zugunsten der Handlungsforschung als alleiniger Methode erziehungswissenschaftlicher Forschung zu ver|A 72|werfen (Klafki 1976, S. 62 f.); das
gespannte
Verhältnis beider Forschungsweisen und deren Verhältnis zu einer kritischen Erziehungswissenschaft sind damit aber noch nicht geklärt.
|A 73| |B 52|

3.3.3.2 Handlungsforschung als
entdinglichender
Prozess

[V48:251] Dem eigenen Selbstverständnis nach radikaler – weil in schärferer Opposition gegenüber der Methodenlehre und Praxis
positivistischer
Forschung – fassen andere Erziehungswissenschaftler das Konzept der Handlungsforschung; so vor allem die Autorengruppe Heinze et al. vom (inzwischen aufgelösten) Bildungstechnologischen Zentrum in Wiesbaden. Deutlicher als Klafki bezieht sie sich auf den Lehrgehalt der Kritischen Theorie, von deren Kritik an der
instrumentellen Vernunft
(Horkheimer) sie ausgehen:
[V48:252]
Positivistische Sozialforschung zielt auf raum- und zeitunabhängige Gesetzesaussagen über Soziales ab und unterstellt damit eine subjektunabhängige Verfestigung sozialer Struktur. Ihr logisches Handlungskorrelat ist die Technokratie, das heißt die zweckrationale Steuerung des Handelns von Menschen aufgrund der Einsichtnahme in die ermittelten Sozialgesetzlichkeiten.
(Heinze et al., S. 21)
[V48:253] Entgegen solchem Verständnis von Gegenstand und Zeit der Forschung, das Soziales und Psychisches analog Naturdingen behandelt, ist es den Autoren um die Entbindung der Menschen aus Verhaltens- und Bewußtseinszwängen zu tun, die die Entfaltung ihrer Subjektivität verhindern und sie zu ausführenden Organen objektiver gesellschaftlicher Mechanismen machen. Zu diesem Zweck soll
aktivierende Sozialforschung
= Handlungsforschung derart in die Alltagspraxis ihrer Zielgruppen integriert werden, daß sie als
emanzipatorischer, Verdinglichung aufhebender Prozeß
(S. 40)
wirksam wird.
|A 74|
[V48:254] In der Verdinglichung des Bewußtseins und der sozialen Beziehungen wird – in Übereinstimmung mit der Kritischen Theorie – ein beherrschendes Phänomen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft gesehen. Sie manifestiert sich auch in Erziehungs- und in Forschungsinteressen:
  • [V48:255] so, wenn der Erziehungsprozeß verstanden wird als die wissenschaftlich angeleitete Zurichtung eines Organismus auf ein vorgefaßtes Resultat (Lernziel) hin;
  • [V48:256] so, wenn Ge- und Verbote, Be- und Verurteilungen nicht mehr als (unveränderbares) Resultat von Kommunikation und Herrschaftsbeziehungen zwischen Menschen begriffen, sondern als
    der Natur der Dinge entsprechend
    gerechtfertigt und hingenommen werden;
  • [V48:257] so, wenn Forschungssituationen prinzipiell so gestaltet werden, daß der Erforschte lediglich als Träger von reizbestimmten Reaktionen oder abrufbaren Informationen ins Auge gefaßt wird, nicht aber als kommunikations- und reflexionsfähiges Subjekt (das womöglich noch die Forschungssituation selbst der Kritik unterziehen könnte!).
[V48:258] Jede Methodologie impliziert eine bestimmte Definition der sozialen Beziehung zwischen Forscher und Erforschtem, ebenso wie jede Erziehungstheorie und im besonderen jede Didaktik eine bestimmte Sozialbeziehung zwischen Erziehern und Zöglingen, zwischen Lehrern und Schülern, zwischen Erwachsenen und Kindern nahelegt. Wenn nun erziehungswissenschaftlicher Forschung angesonnen wird, verdinglichte Bewußtseins- und Beziehungsformen nicht nur aufzuspüren, sondern aufzulösen, hat dies notwendigerweise Konsequenzen für die sozialen Beziehungen zwischen Wissenschaftlern und ihren
Objekten
und damit zugleich |A 75|für das gesellschaftliche Selbstverständnis der Wissenschaftler. Dieses Problem steht im Zentrum der allgemeinen Überlegungen des hier behandelten Ansatzes.
[V48:259] Die Forschungssituation selbst soll zur
reflexiven Selbstverständigung
(S. 27)
aller Beteiligten beitragen und so gestaltet sein, daß
Lernmöglichkeiten für subjektives Handeln
(S. 41)
entstehen. Solche Forschung hat, mit anderen Worten, die
Auslösung von reflexiven Lernprozessen bei den handelnden Subjekten bewußt und das heißt methodisch zu fördern
(S. 39 – Hervorhebung durch uns). Die entscheidende Bedingung für das Gelingen wird in der besonderen Art und Weise gesehen, wie die Forscher sich auf ihre Zielgruppe kommunikativ einlassen.
[V48:260] Sie erkennen zunächst an, daß
Untersuchung
keine ausschließlich wissenschaftliche Veranstaltung ist, sondern in wie immer rudimentär und methodisch ungeklärter Form Bestandteil des alltäglichen Lebens ist. (In diesem Sinne ist z.B. jeder Bildungsprozeß aus der Sicht des Heranwachsenden auch als fortgesetzte Untersuchungstätigkeit zu sehen). Diese alltäglichen Erfahrungs- und Reflexionsprozesse sollen deshalb aufgenommen und im Sinne ihrer
Entdinglichung
erweitert werden. Den unterschiedlichen Bewußtseinslagen und Kompetenzen bei Forschern und Erforschten wohnt – so wird vermutet – ein beide Seiten veränderndes, emanzipierendes Potential inne:
[V48:261] Es
gilt, die positional, situativ und personal vermittelten Differenzen in der Verdinglichung des Bewußtseins von Untersuchenden und Untersuchten durch gezielte Konfrontation zur wechselseitigen Auslösung von Lernprozessen – diese verstanden als Entdinglichung des Alltagsbewußtseins und -handelns – zu verwenden.
(S. 36)
|A 76|
[V48:262] Diese
Forschungskonzeption
– die wir hier wiederum nur fragmentarisch zur Sprache bringen – berechtigt bzw. nötigt nach Ansicht ihrer Autoren zu zwei Konsequenzen, einer sozialen und einer im engeren Sinn methodologischen:
  • [V48:263] Sie soll die Forschenden dazu veranlassen, Bsich Bvon den universalistischen Orientierungen der Wissenschaftsgemeinschaft gleichsam zu verabschieden.
    Dafür tauschen sie einiges von der lokaleren, an das Handeln im konkreten Praxisfeld gebundenen Gesinnung ihrer neuen sozialen Bezugsgruppe ein.
    B (S. 69)
  • [V48:264] Es sollen die gleitenden Gütekriterien der empirischen Forschung
    Bwie Gültigkeit, Kontrolle, Generalisierungsfähigkeit, Prognostizierbarkeit von forschungsleitenden Hypothesen und AussagesystemenB
    hinfällig bzw. reformulierungsbedürftig sein (
    S. 57
    ).
|A 77|

3.3.3.3 Wie kritisch ist die Handlungsforschung?

[V48:265] Wir haben das Konzept Handlungsforschung aufgegriffen, weil sich in der Pädagogik der letzten Jahre gerade mit diesem Forschungsansatz kritisch-emanzipatorische Intentionen verbunden haben. Die Überlegungen Klafkis und der Wiesbadener Autorengruppe haben wir für diese Intentionen exemplarisch berücksichtigt. Weit davon entfernt, die Handlungsforschung im Ganzen darstellen und beurteilen zu können, müssen wir uns doch die Frage stellen, ob sie dem selbstgesetzten Anspruch genügt, kritische Forschung zu sein. Wir riskieren einige (vorläufige) Antworten:
  • [V48:266] Handlungsforschung ist in ihren Verfahren insofern kritisch, als sie systematisch Forschungssituationen anstrebt, die sämtlichen Beteiligten maximale Kommunikations- und Reflexionschancen einräumen. Ihrer Struktur nach widersetzt sie sich technokratischer Verwertung.
  • [V48:267] Indem Handlungsforschung
    die Sinndeutung, die die Praktiker
    – z.B. Lehrer, Schüler, Sozialarbeiter –
    einer sozialen Lebenswelt geben
    (Heinze et al. S. 42)
    , als wesentliches Moment des Forschungsprozesses begreift und die Beziehung zwischen Untersuchern und Untersuchten entsprechend kooperativ gestaltet, ist sie vermutlich eher als andere Forschungsarrangements in der Lage, das im Untersuchungs- und Praxisfeld vorhandene kritische Potential zu entbinden und praktisch wirksam zu machen.
  • |A 78|
  • [V48:268]
    Problematischer erscheint uns der Innovationsanspruch der Handlungsforschung – zumindest da, wo er über kontrollierte Feldexperimente hinausgeht. Denn wenn im Forschungsprozeß selbst nicht nur der Gegenstand zur innovatorischen Disposition gestellt wird, sondern darüber hinaus gleichzeitig auch noch die Kategorien, Theorien und Forschungsinstrumente, dann sehen wir nicht, wie der Gegenstand in seiner Veränderung noch gültig beschrieben, erklärt und verstanden werden kann. Der kommunikative Charakter erziehungswissenschaftlicher Forschung rechtfertigt diese allseitige Disponibilität der Forschungselemente nicht. Jürgen Habermas weist in diesem Zusammenhang u.E. zu Recht auf die Notwendigkeit hin, den als intersubjektive Verständigung zwischen Beteiligten ( Untersuchern und Untersuchten) voranschreitenden Forschungsprozeß Disziplinierungen zu unterwerfen:
    Die modischen Forderungen nach einem Typus von action research, der Erhebung mit politischer Aufklärung verbinden soll, übersehen den auch für Sozialwissenschaften geltenden Umstand, daß eine unkontrollierte Veränderung des Feldes mit der gleichzeitigen Erhebung von Daten im Feld unvereinbar ist.
    (J. HABERMAS: Theorie und Praxis. Einleitung zur Neuausgabe 1971, S. 18)
    Hat so verstandene Handlungsforschung nicht zur unbeabsichtigten Konsequenz, daß – wie immer man von den praktischen Resultaten sich befriedigt fühlt – die Erkenntnisresultate sich methodenkritischer Kontrolle entziehen?
  • |A 79|
  • [V48:269] Einen ähnlichen Einwand provoziert die von Heinze et al. geforderte Abkehr der Wissenschaftler von den universalistischen Prinzipien der Wissenschaft zugunsten der partikularen
    Gesinnung
    der untersuchten Gruppen. Beim Wort genommen, heißt dies doch, daß unter anderem auch die Geltungsgründe für Erkenntnisse nicht mehr der wissenschaftlichen, sondern der
    Alltagsmethodologie
    der untersuchten Gruppen und Lebenswelten entnommen werden sollen. Der
    Wissenschaft
    wird damit die Legitimation bestritten, Handlungsforschung nach Maßgabe ihrer erklärtermaßen universalistischen Methodologie zu kritisieren. (Wenn dies so gemeint sein sollte, hätte: die Qualifizierung dieser Praxis als Wissenschaft ihren Sinn eingebüßt; da das Konzept aber in einem Buch vertreten wird, das nach Darstellungs- und Verbreitungsform nichts anderes ist als ein Buch von Wissenschaftlern für Wissenschaftler und so von dem Anspruch geprägt ist, der Möglichkeit nach alle Leser zu überzeugen, scheinen Zweifel am geäußerten Selbstverständnis der Autoren berechtigt.)
  • [V48:270] Die entscheidende Frage ist immer noch offen: Was bezeichnet die Handlungsforschung in den vorgestellten Varianten als kritische Forschung; im Sinne der Kritischen Theorie aus? Inwiefern kann Handlungsforschung die kritische
    Selbstaufklärung
    (Klafki) einer pädagogischen Praxis ermöglichen? Wie löst Handlungsforschung ihre Absicht der
    Entdinglichung des Alltagsbewußtseins und -handelns
    (Heinze et al.)
    bewußt und das heißt: methodisch
    (ebd.)
    ein? – Eben dies Entscheidende – die Methode der (Selbst-) Kritik – bleibt bei der Propagandisten der Handlungsforschung weiterhin unerläutert. |A 80|Dabei wollen wir nicht bestreiten, daß jedes offen und egalitär geführte Gespräch – also auch das zwischen Wissenschaftlern und
    Praktikern
    – in gewisser Weise aufklärend und praktisch innovativ wirken kann; insofern hat das Kommunikations- und Kooperationspostulat der Handlungsforschung seinen guten Sinn. Doch sollten wir der Suggestion nicht erliegen, die egalitäre Integration der Forschung in die Praxis vermöchte aus sich heraus bewirken, daß die Beteiligten sich von Bewußtseins-, Affekt- und Verhaltenszwängen befreien können, die sie an einer emanzipierten Lebenspraxis hindern. (Diese Suggestion geht u.E. nicht so sehr von Klafkis wie von der vorgeblich
    radikaleren
    Version von Heinze aus.)
[V48:271] Es gehört nämlich zu den Grundeinsichten der Kritischen Theorie, daß die Erfahrungs- und Kommunikationsprozesse der Gesellschaftsmitglieder aufgrund objektiver gesellschaftlicher Bedingungen in einer Weise
falsch
,
entfremdet
,
verzerrt
sind, daß die Subjekte nur über die theoriegeleitete Reflexion ihres individuellen und kollektiven Bildungsprozesses dieser ideologischen Verzerrung inne und ledig werden können.
[V48:272] Mit anderen Worten: Handlungsforschung wäre als kritische Methode erst dann ausgewiesen, wenn sie sich als Verfahren praktisch wirksamer Ideologiekritik methodologisch explizieren und dabei insbesondere zeigen könnte, in welcher Weise Kritische Theorie individueller und kollektiver Bildungsprozesse als leitender Interpretationsrahmen der Selbstreflexion in den Forschungsprozeß selber methodisch einzubringen ist. Davon kann bei den angeführten Konzeptionen noch keine Rede sein.
|A 81|
[V48:273] Ließen wir es bei der zuletzt vorgetragenen Kritik bewenden, täten wir den Autoren Unrecht. Denn wir haben sie, wie wir hoffen, zwar sinngemäß, aber doch auch selektiv dargestellt und zitiert. Tragen wir darum drei der
methodologischen Überlegungen
von Heinze et al. nach:
  1. (1)
    [V48:274]
    Theoretische Erkenntnisse und empirische Zwischenergebnisse müssen von seiten der Forscher den untersucht werdenden Subjekten sprachlich konkret vermittelt zur Verfügung gestellt werden.
  2. (2)
    [V48:275]
    Die auf gearbeiteten Erfahrungen der an schulischen Interaktionsprozessen Beteiligten müssen auf der Grundlage theoretischer Erklärung konkrete und praktische Handlungsstrategien zur Folge haben.
  3. (3)
    [V48:276]
    Ziel der forschenden Subjekte ist es: Handelnde Individuen über den Kontext ihrer Handlungszusammenhänge zu informieren ...

    (S. 56 – Hervorhebung durch uns)
    .
[V48:277] Offenkundig wird hier doch zweierlei: Erstens die Bedeutung theoretischer Vorgaben, die die Interpretation der Erfahrung bestimmen; zweitens die bezüglich der Erkenntnisse inegalitärer Stellung des Forschenden gegenüber dem
Handelnden
. Implizit wird damit nun doch – in Widerspruch zur Grundlinie der eigenen Konzeption – den genannten Bedingungen einer kritischen, d.h. auf Selbstreflexion zielenden Theorie und Forschung Rechnung getragen, auch wenn infolge dieses Selbstwiderspruchs die methodologische Entfaltung einer derart kritischen Forschung nicht gelingt. In Anschluß an das zuletzt Zitierte heißt es:
Mit der Methode des
kooperierenden Dialogs
ist die Kommunikation zwischen forschenden Subjekten und erforscht werdenden Subjekten beschrieben.
(S. 56)
|A 82|
[V48:278] Weil die besondere den Forschungsprozeß wie sein Resultat bestimmende Rolle der (kritischen) Theorie hier unterschlagen wird, kann eine kritische Forschungsmethode so nicht angemessen beschrieben werden.
Übungsaufgabe
  1. 1.
    [V48:284] Lesen Sie den Text von Wolfgang Klafki:
    Schulnahe Curriculumentwicklung in Form von Handlungsforschung
    (In Klafki 1976, S. 117-137)
  2. 2.
    [V48:285] Erläutern Sie die spezifische Aufgabe, die der Handlungsforschung bei der Entwicklung schulnaher Curricula zugeordnet wird!
  3. 3.
    [V48:286] Charakterisieren Sie die Rolle des Lehres unter dem Gesichtspunkt der Qualifikationen, die ihm abgefordert werden! Überlegen Sie, ob die Qualifikationen, die Sie durch Ihr gegenwärtiges Studium voraussichtlich erwerben, diesen Ansprüchen genügen!
  4. 4.
    [V48:287] Charakterisieren Sie das Konzept des
    schulnahen Curriculums
    , wie es von Klafki vorgestellt wird! Beurteilen Sie es anhand der vier Abgrenzungskriterien einer
    kritischen Didaktik
    .
B

Literaturverzeichnis

B
Einführende Literatur
B
Wulf
B
,
B
Wulf
B
Hrsg.
B
ø
B
o. J.
B
/
B
Auwärter
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Hurrelmann
B
ø
B
B
Forschung)
B
B
B
ø
B
Thematik
B
charakterologischen
B
soziale
B
Art von Beziehungen
B
gesellschaftlichen Bedingungen,
B
Aufgabe 1
B
erklärt
B
praktischen Urteilen
B
moralisch richtig
B
ø
B
ø
B
bestimmte Gestalt
B
pädagogisch richtige
B
konstruktiver
B
1
B
1.1
B
[V48:56]
»Man kann die Menschen durch das Bewußtsein, durch Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren«
B
ø
B
B
in tätige
B
mit seiner Umwelt, zumal
B
eintritt
B
ø
B
In dieser Behauptung sind mindestens drei Bestimmungen der Bildung enthalten, die als Orientierungspunkte für das pädagogische Denken folgenreich sind:
B
Subjekt
B
sich
B
; er ist
»selbsttätig«
B
in
B
gebunden an andere
B
kann
B
wird zum Subjekt in
B
wird
B
in
B
sie
B
historisch bestimmt
B
zum Teil
B
ist
B
interpersonellen Beziehung
B
!
B
[V48:70] 1. Schritt:
[V48:71] Wir hatten gesagt, daß für die Bildung des Menschen sowohl Ego wie Alter notwendig sind. Daher gehen wir in unserem Modell zunächst von der kleinsten Einheit aus: der Dyade. Eine natürliche Dyade z.B. ist die Mutter-Kind-Beziehung, die für den Bildungsprozeß jedes Kindes von wesentlicher Bedeutung ist.
[V48:72] (Störungen in dieser Dyade haben – wie z.B. die Psychoanalyse gezeigt hat – fundamentale Konsequenzen für den Bildungsprozeß.)
|B 10|
[V48:69] Beteiligt sind die Personen A und B. Beide interagieren miteinander mittels eines Systems von Symbolen (sprachlichen und nichtsprachlichen), die für beide gleiche Bedeutung haben:
Hier ist eine Abbildung zu symbolischer Interaktion zu sehen.
[V48:73] Dieses Interaktionsmodell wurde von G.H. Mead vor allem in seinem Buch
»Geist, Identität, Gesellschaft«
(Frankfurt 1968, erste Aufl. Chicago 1934) entwickelt und grundlegend beschrieben. Die sich auf diesen sozialpsychologischen Ansatz gründende Theorie wird
»Symbolischer Interaktionismus«
genannt.
[V48:74] Wie ist es zu verstehen, daß für A und B die Symbole
»die gleiche Bedeutung haben?«
[V48:75] Mead zeigt das vor allem an dem spezifischen menschlichen SpracheSymbolsystem, der Sprache. Im Unterschied zu
»Gesten«
, die sowohl dem menschlichen wie dem tierischen Verhalten eigen sind, bildet die Sprache ein übersituatives System von Laut-Gesten, in dem eine Verknüpfung von gegenständlicher Welt und sprachlichem Ausdruck besteht. A und B können sich deshalb nicht nur über das verständigen, was sie aktuell wahrnehmen, sondern auch über Situationenunabhängiges, über das z.B., was gestern war oder morgen sein wird oder an einem anderen Ort vor sich geht.
B
ø
B
B
Erfahrung
B
Darstellung
B
[V48:79] 2. Schritt:
[V48:76] Sowohl A als auch B vollziehen dabei mindestens zwei Operationen:
  • [V48:77] sie machen eine Erfahrung mit dem anderen, nehmen sein Verhalten, sein Handeln wahr und
  • |B 11|
  • [V48:78] sie verarbeiten diese Erfahrung zu einer Darstellung dem anderen gegenüber, zu eigenem Handeln.
[V48:80] Beispiel
[V48:81] Ein Kleinkind (A) sieht einen Hund, sieht die Mutter an und sagt:
»Wau-Wau«
(es bringt also eine Erfahrung/Wahrnehmung zur Darstellung). Die Mutter nun nimmt diese Darstellung des Kindes wahr und, weil sie selbst Angst vor Hunden hat, interpretiert sie die Mitteilung des Kindes nicht nur als
»dies ist ein Hund«
, sondern auch als
»ich (das Kind) bin gefährdet«
; dies ist ihre Erfahrung von der Darstellung des Kindes. Sie nimmt also das Kind bei der Hand und versucht, es ganz leicht vom Hunde wegzuziehen und sagt dazu:
»Komm! sei vorsichtig!«
(Darstellung). Das Kind wiederum macht nun eine Erfahrung mit der Darstellung der Mutter; und diese Erfahrung ist zusammengesetzt aus der wahrgenommenen  Ängstlichkeit der Mutter und (vielleicht) dem Wunsch, den Hund anzufassen. Es bringt dies zur Darstellung, indem es auf den Hund zustrebt und noch einmal sagt:
»Wau-Wau!«
Die Erfahrung, die jetzt die Mutter mit der Darstellung des Kindes macht, ist verschieden von der ersten Erfahrung; sie könnte vielleicht ihre  Ängstlichkeit überwinden und eine neue Darstellung geben usw.
B
[V48:82] 3. Schritt
B
ø
B
Aus dem Beispiel geht hervor, daß das Interaktionsgeschehen nicht nur aus den symbolischen Darstellungen hervorgeht. Die Darstellungen selbst sind gleichsam die
»Oberfläche«
, die von den Interaktionspartnern (oder dem beobachtenden Wissenschaftler) entschlüsselt werden muß im Hinblick auf das, was die Darstellungen in der
»Tiefe«
bedeuten.
B
ø
B
in der Interaktion können sie allmählich voneinander erfahren, was auf diesen Blättern steht; und dies wiederum ist die Erfahrung unzähliger vorangegangener Interaktionen mit anderen. In dieser Erfahrung sind aber nicht nur
»Bilder«
enthalten, die man von sich selbst und anderen hat und die sich gelegentlich festsetzen (A hält B für ängstlich; B glaubt von A, er sei leichtsinnig), sondern auch Impulse, die aus dem Organismus stammen. In jeder Interaktionssituation müssen sich also A und B mit zwei weiteren Komponenten auseinandersetzen:
B
  • [V48:84] mit den eigenen Impulsen oder Antrieben;
  • [V48:85] mit den Bildern, die sie von den Interaktionspartnern (Alter) sich gemacht haben.
B
[V48:89] Man kann das auch so ausdrücken:
[V48:90] A und B haben beide eine Vorstellung von sich selbst (Ego) und eine Vorstellung von den Erfahrungen und Darstellungen des anderen (Alter); beide Vorstellungen sind Teile des Individuums und beeinflussen, in jeder Situation wieder neu, das Interaktionsgeschehen, also die Erfahrungen und Darstellungen; beide Individuen, als A und B, nehmen in ihrem Handeln in gewissem Umfang vorweg, was an Interaktion möglich sein wird; sie antizipieren nicht nur die vermutbaren eigenen Handlungen (Darstellungen), sondern auch die vermutbaren Handlungen (Darstellungen) des anderen:
[V48:91] Das hier beschriebene Modell der Interaktion enthält noch einen
»Fehler«
. Es ist nämlich – trotz unseres Beispiels – auf die Interaktion zwischen voll kompetenten Handlungspartnern zugeschnitten. Die damit behauptete Symmetrie trifft aber in pädagogischen Situationen um so weniger zu, je jünger das Kind ist; die volle Symmetrie beschreibt das Ende eines Prozesses, in dem sich die einzelnen Komponenten erst allmählich im Kinde ausbilden. Zwar hat das Kind vom Beginn seiner Entwicklung an Impulse bzw. Antriebe; ebenso hat es von Beginn an Wahrnehmungen (es ist also, wie es schon in der klassischen Bildungstheorie, z.B. bei Schleiermacher, heißt, sowohl
»spontan«
als auch
»rezeptiv«
). Aber erst allmählich lernt es, sich selbst von Dingen und Personen zu unterscheiden, sich von diesen getrennt sehen zu können,
»ich«
zu sagen, dann auch sich ein Bild von anderen zu machen (
»Mama«
sagen) und dieses Bild nach neuen Erfahrungen revidieren zu können usw. Es lernt das dadurch, da  es in Interaktionen mit Erwachsenen derartige Differenzierungen erfährt. Auf eine kurze Formel gebracht können wir sagen: Der Bildungsprozeß  des Kindes besteht in seinem ersten und fundamentalen Teil in dem Erwerb von Interaktionskompetenz; diese Kompetenz erwirbt es aber nur durch Teilnahme an Interaktionen, in denen mindestens ein Partner über diese Kompetenz bereits verfügt.
|B 13|
[V48:92] Die in diesem Abschnitt nur sehr skizzenhaft dargestellten Gedankengänge gehen zwar auf G. H. Mead zurück; sie sind aber in der neuern Literatur erweitert und konkretisiert worden, z.B. in:
    [V48:93] Laing, R.D./Phillipson, H./Lee, A.R.: Interpersonelle Wahrnehmung, Frankfurt 1971;
    [V48:94] Lindesmith, A.R./Strauss, A.L.: Symbolische Bedingungen der Sozialisation, Düsseldorf 1974;
    [V48:95] Lorenzer, A.: Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie, Frankfurt/M. 1973.
B
[V48:96] Aufgabe 2
B
also
B
1.2
B
ø
B
nicht
B
Fall
B
Vielmehr kommt ja eine pädagogische Handlung überhaupt nur dadurch zustande, daß zwischen den Interaktionspartnern ein Gefälle im Hinblick auf Kompetenzen (Handlungs-, Rede-, Denkfähigkeit usw.) besteht und deshalb der eine Part eine
»autoritative«
Stellung hat (in der Regel auch noch durch institutionelle Macht gestützt).
B
Dennoch gestattet uns das
B
ø
B
und welche
B
, die nicht notwendig auf dieses Gefälle zurückgeführt werden müssen
B
Verständigung
B
Störungen
B
gleich interpretiert
B
»wahrhaftige«
Darstellung
B
Störungen
B
; oder wenn ein farbiges Kind in den USA beim Spiel mit Puppen zu erkennen gibt, daß die farbigen Puppen immer die
»Bösen«
, die weißen dagegen immer die
»Guten«
sind; es hat sich in diesem Fall das Bild, das sich andere von ihm machen, derart zu eigen gemacht, daß es sich selbst ebenso sieht, wie andere (die Weißen) es sehen; sein
»Selbst«
ist
»entfremdet«
, das Verhältnis des Interaktionsspartners zu sich selbst ist gestört.
B
Erfahrung
B
voneinander
B
unzutreffend sein, d.h.,
B
(z.B. A denkt über B:
»er ist nur faul«
; B denkt über A:
»er kann mich nicht leiden«
.)
B
; oder
B
»Bösen«
B
»Guten«
B
, das Verhältnis des Interaktionsspartners zu sich selbst ist gestört.
B
in einer pädagogischen Situation zweifelhaft sein, welche Werte gelten sollen, ob beide Interaktionspartner noch eine hinreichend gemeinsame Vorstellung vom
»rechten«
oder
»guten«
Leben haben. Pädagogische Interaktionsprobleme, die damit Zusammenhängen, tauchen vor allem im Jugendalter auf, zumal dann, wenn der Jugendliche versucht, seine Identitätsprobleme im Rahmen von Wertorientierungen zu lösen, die von denen seiner Eltern oder der Erwachsenengeneration im ganzen abweichen.
B
.
B
ø
B
nicht nur der Gegenstand
B
erkennende Organ
B
Begriff
»Interaktionsstörung«
B
ø
B

Exkurs

[V48:109] Bei Habermas heißt es
(vgl. Kurs
»Einführung in die Anthropologie der Erziehung«
, Kurseinheit 2, S. 49)
, die Anthropologie – und wir ergänzen: die Pädagogik – müsse sich
»grundsätzlich ihren Begriff vom Menschen erläutern lassen durch den Begriff der Gesellschaft, in dem er entsteht.«
Welche Konsequenzen ergeben sich durch diese Aufforderung für das erziehungswissenschaftliche Nachdenken? Interaktion ist eine durch die Geschichte der Gesellschaft erzeugte KategorieEinen
»Begriff der Gesellschaft«
können wir hier natürlich nicht entfalten. Aber wir können versuchen, einige seiner möglichen Komponenten hervorzuheben, um den gesellschaftlichen Gehalt des Ausdrucks
»Interaktionsstörung«
zu akzentuieren und auf pädagogische Sachverhalte zu beziehen.
[V48:110] In der ersten Kurseinheit haben wir versucht zu verdeutlichen, daß nicht nur der Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis geschichtlich ist, sondern auch das erkennende Organ. Der Begriff
»Interaktionsstörung«
ist Teil eines solchen erkennenden Organs; inwiefern ist er
»geschichtlich«
? Stellen wir uns das Hauswesen eines Handwerkers im 17. Jahrhundert in einer protestantischen Stadt vor. Sowohl der Begriff
»Interaktion«
wie der der
»Interaktionsstörung«
in unserem Sinne wäre dort unverständlich geblieben. Es gab vielleicht
»Störungen«
im Gewerbe, Zunftstreitigkeiten, Zoll-Belastungen, Furcht vor kriegerischen Unruhen, auch erschien dem Hausvater (Meister) wohl bisweilen die Jugend als
»ungebärdig«
, vielleicht gar als
»zuchtlos«
, besonders im Hinblick auf seine Gesellen. Er wäre aber wohl kaum auf die Idee gekommen, Konflikte zwischen Erwachsenen und Unerwachsenen als eine Funktion von Beziehungsproblemen zu deuten. Diese Beziehungsprobleme werden für die Erziehungsaufgabe erst wichtig, wenn soziale Institutionen entstehen, in denen auf der Basis von Interaktionen Lernprozesse für die Heranwachsenden organisiert werden: die von der Produktion getrennte Kleinfamilie, die allgemeinbildende Schule. In diesen Einrichtungen hängt nun nämlich tatsächlich Wesentliches von der Gestalt der interpersonellen Beziehungen ab; und also erscheint die Kategorie
»Interaktionsstörung«
auch sinnvoll und bedeutsam. Daß heute Begriffe wie
»Interaktion«
,
»Interaktionsstörung«
,
»Kommunikation«
,
»interpersonelles |B 16|Handeln«
usw. mehr und mehr in das Zentrum pädagogisch-praktischer Probleme |A 26|(Familieninteraktion, Lehrer-Schüler-Beziehung, Beratung, Therapie für einzelne und Gruppen, Gruppendynamik usw.) und erziehungswissenschaftlicher Fragestellungen rücken, hängt also offenbar mit der Struktur unseres Erziehungssystems und seiner Lokalisierung im Gesellschaftssystem zusammen. Wenn wir uns die Aufgabe stellen, über
»Interaktionsstörung«
nachzudenken und diesen Begriff näher zu bestimmen, dann erläutern wir damit zugleich den Stand unserer
»historischen Vernunft«
, unseren historischen Standort, unser historisch erzeugtes Bewußtsein von der Eigenart unseres Erkenntnisgegenstandes.
B
.
B
B
Kommunikationsforschung
B
B
therapeutisch orientierten Famitien- und Interaktionsforschung
B
B
kognitivistischen Psychologie
B
und in zeitlich aufeinander folgenden Entwicklungsschritten gebildet wird
B
und dem
»richtigen«
Leben
B
ø
B
-begründungen
B
ø
B
[V48:118]
»Unternehmen wir nun den vielleicht etwas riskanten Versuch, die referierten Ansätze zur Bestimmung gestörter Kommunikation zu integrieren. Wir hatten den Diskurs als die letzte Legitimationsbasis für Lernzielentscheidungen und -begründungen bestimmt. Die Rechtfertigung dafür hatten wir daran gesehen, daß in jedem Erziehungsakt der Erzieher seinen Status des Erwachsenen als eines auf der Basis begründeter Handlungsorientierung agierenden Subjektes unterstellt. Diese Unterstellung ist zwar als eine Triebkraft pädagogischer Kommunikation anzusehen, aber eben nur als eine. Der historische Regelfall nämlich erfüllt in seiner faktischen Gestalt nicht den in der Unterstellung postulierten Begriff von Kommunikation, sondern bleibt hinter ihm zurück, wofür empirische Bedingungen als ursächlich angenommen werden müssen, die ihren Inbegriff im historisch sozialen Kontext der Erziehungssituation haben. Lernzielprobleme haben es also mit dieser Differenz zu tun. Die referierten Ansätze machen Vorschläge, in welchen Dimensionen |A 28|Störung ermittelt werden muß und also jene Differenz aufgeklärt werden kann. Es sind dies die folgenden Dimensionen:
  • [V48:119]
    die kognitive Struktur,
  • [V48:120]
    die Beziehungsdefinitionen,
  • [V48:121]
    die Inhalte von Kommunikationen,
  • [V48:122]
    die symbolischen Kommunikationsmittel.
[V48:123]
Jeder Erziehungsakt kann nach diesen Dimensionen analysiert werden. Es sind Dimensionen, d.h., sie können zwar unabhängig voneinander betrachtet wer den, sie treten aber nicht unabhängig voneinander auf: Jede Beziehung, jede Thematisierung eines Inhaltes, jeder Komplex von Symbolen hat eine kognitive Struktur; jede kognitive Struktur konkretisiert sich innerhalb von Beziehungen, angesichts von Inhalten; Inhalte werden bedeutsam im Rahmen von Beziehungsdefinitionen und identifiziert in symbolischen Mitteln usw. Damit haben wir zugleich einen Vorschlag für die Bestimmung des Gegenstandes der Erziehungswissenschaft, d.h. der Bestimmung des pädagogischen Feldes in denjenigen Dimensionen gemacht, die der pädagogischen Intervention zugänglich sind. Das gilt freilich nur, wenn kein Zweifel daran besteht, daß die Natur der pädagogischen Intervention ein kommunikatives Handeln ist, dessen Gegenstand auch nur in dem liegen kann, was den Kommunikationspartnern verfügbar ist. Daß darüber hinaus in jeder pädagogischen Situation Faktoren wirksam sind, die die faktische Gestalt der Kommunikation in unterschiedlicher Stärke bestimmen, unterliegt keinem Zweifel. Diese Faktoren können jedoch für das |B 18|pädagogische Handeln nur mittelbar zum Gegenstand werden, und zwar über die Änderung von kognitiven Strukturen, Beziehungsdefinitionen, Kommunikationsinhalten und Kommunikationsmitteln – d.h. über die zu bildende Handlungsfähigkeit der von jenen Faktoren betroffenen Subjekte.«
(S. 80/81)
.
B
ø
B
:
B
B
(z.B.: das Kind kann sich noch nicht hinreichend verständlich machen; der Erwachsene hat Hemmungen, seine Gefühle dem Kind gegenüber zur Darstellung zu bringen),
B
B
keine Distanz zur Situation einnehmen, also die eingebrachten Geltungsansprüche nicht problematisieren (z.B.: die 14-jährie Tochter möchte abends länger von zu Hause fortbleiben, die Eltern aber wünschenm daß sie um 20.00 Uhr daheim ist; es bleibt indessen bei einem
»Machtkampf«
, ohne daß Gründer erörtert werden)
B
Zu diesem zweiten Problem
B
ø
B
[V48:128]
»Die Möglichkeit, eingespielte Definitionen, Normen, Kommunikationsregeln, die Bedingungen ihrer Stabilität oder Veränderbarkeit problematisieren und also metakommunikativ zum Inhalt machen, über Frage und neue Begründung neuen Konsensus erzielen und das Handeln daran umorientieren zu können, ist zwar die gleichsam letzte Probe aufs Exempel, die höchste mögliche Stufe der Anwendung kommunikativer Schemata und ihrer kognitiven Implikationen? aber weder ist dies der historische Regelfall, noch auch ist es dem Typus nach das, was quantitativ den Erziehungs- und Bildungsalltag ausmacht. Dieser Alltag strukturiert sich viel eher auf einer Ebene kommunikativer Prozesse, in denen es um |A 30|einfachen und nicht um metakommunikativen Umgang geht; und das prinzipiell immer für alle Partner der pädagogischen Kommunikation: Erwartungen wahrnehmen und interpretieren, Regeln erlernen und einhalten, Probleme identifizieren und lösen, Beziehungen definieren, Sprache verstehen, Situationen strukturieren, Handlungen planen usw. Kurz: Eine relative Sicherheit in der Kommunikation muß voraus gesetzt werden, wenn Diskurs als reales Ereignis wahrscheinlich sein soll. Diese Ebene der Kommunikation nennen wir Interaktion.«
(S. 81/82)
B
1.3
B
B
B
Situationen
B
es,
B
,
B
ø
B
seinen
B
ø
B
»Sie hat es nämlich in einer besonderen, von anderen Situationen zu unterscheidenden Weise mit der intentionalen Komponente zu tun. Wir wollen diese Komponente die Meta-Intentionalität der pädagogischen Situation nennen. Für jede menschliche Kommunikation – also auch für die pädagogische – muß unterstellt werden, daß die Partner der Situation eigene Intentionen haben und diese in ihren kommunikativen Akten zum Ausdruck bringen. Ferner muß unterstellt werden, daß das Postulat gilt, daß die Intentionen des anderen in der jeweils eigenen Interaktionsstrategie reflektiert, also nicht nur berücksichtigt, sondern als ernsthaft akzeptiert werden. Das gilt auf der naiven Ebene, ohne Berücksichtigung eines etwa kalkuliert geplanten Situations-Arrangements durch einen der Partner. Aber gerade dies ist für pädagogische Situationen charakteristisch: daß einer der Partner, derjenige nämlich, der sich in der Rolle des Pädagogen definiert, für sich in Anspruch nimmt, Situationen zu strukturieren, und zwar so, daß seine Chance der Einflußnahme in der Situation größer ist als die der anderen Partner. Er nimmt sogar – noch weitergehend – für sich in |A 33|Anspruch, daß ihm selbst, wenn nicht ein Monopol, so doch ein entschiedenes Übergewicht institutionell gesichert wird, um Situationen überhaupt vorweg und nicht erst in der Situation selbst zu strukturieren.«
(Mollenhauer 1972, S. 120/121)
.
B
Kontext lebensgeschichtlich wirksamer sozio-ökonomischer und institutioneller Bedingungen
B
B
B
),
B
B
ø
B
ø
B
indessen
B
wenig
B
(im Anschluß vor allem an Veröffentlichungen P. Bourdieus, und zwar: Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt/M. 1970 und: Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt/M. 1976)
B
...
B
interpersonellen
B
...
B
ø
B
3.
[V48:137]
Von diesen beiden Kontexten, dem der Situation und dem Gesellschaftstypische Grundmuster des pädagogischen Verkehrsder sozio-ökonomischen und institutionellen Bedingungen, läßt sich ein dritter, noch
»allgemeinerer«
unterscheiden: er betrifft die in einer Gesellschaft/Kultur geltenden bzw. herrschenden Grundmuster für den pädagogischen Umgang der Generationen miteinander. Zu den ersten beiden Kontexten gibt es bereits eine Fülle empirischer Materialien; diese dritte Stufe der Organisiertheit pädagogischer Interaktionen ist indessen noch wenig wissenschaftlich ausgearbeitet. Das Programm solcher Ausarbeitung hat Mollenhauer zu skizzieren versucht (im Anschluß vor allem an Veröffentlichungen P. Bourdieus, und zwar: Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt/M. 1970 und: Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt/M. 1976):
|B 23|
»Bourdieu hat die analytische Hypothese geäußert, daß der Begriff des
Habitus
geeignet sei, Regelmäßigkeiten des pädagogisch-interpersonalen Handelns zu studieren, die weder sich aus den fundamentalen Bedingungen von Interaktionen überhaupt, noch aus den historisch besonderen Bedingungen dieser oder jener Einrichtungen erklären lassen, sondern nur noch aus den Reproduktionsinteressen der je historisch besonderen Gesellschaft. Er hat damit eine dritte Ebene der Organisiertheit von Interaktionen angesprochen, auf der so etwas wie der Algorithmus eines Erziehungssystems formulierbar sein müßte (Bourdieu 1970, S. 125 ff.) Der Ausdruck
Habitus
symbolisiert für Bourdieu den Versuch,
im Zentrum des Individuellen selber Kollektives zu entdecken
(Bourdieu 1970, S. 132), er verbindet den Einzelnen – wir können sagen: jede einzelne pädagogische Interaktion –
mit der Kollektivität seines Zeitalters
, weist den
anscheinend noch so einzigartigen Projekten Richtung und Ziel
«
(ebd.).
Es handelt sich dabei um
»eine Art generativer Grammatik der Kultur«
. Und:
»Obwohl sich Bourdieu an keiner Stelle auf den marxistischen Begriff der
Verkehrsformen
bezieht, scheint mir die Ähnlichkeit in mindestens einer Hinsicht doch unverkennbar. Auf unseren Gegenstand bezogen, möchte ich so formulieren: in beiden Fällen ... richtet sich das Interesse darauf, zu ermitteln, ob es einen für Gesellschaftsformationen je spezifischen Satz von Regeln des interpersonellen Handelns gibt, die sowohl die Muster scheinbar individuell besonderer Interaktion, wie auch die ... Muster institutioneller Interaktion generieren.«
(Mollenhauer 1977, S. 51 f.)
Dieser von Bourdieu eingeführte Begriff (er hat ihn allerdings den kunstgeschichtlichen Analysen Panofskys entnommen) hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Begriff
»Sozialcharakter«
, von dem in der zweiten Kurseinheit im Rahmen von
»Autorität und Familie«
die Rede war. Uns scheint dies eine gute Weiterentwicklung wissenschaftlicher Begriffsbildung zu sein, denn sie erweitert die zunächst vorwiegend sozialpsychologischen Konnotationen des Ausdrucks
»Sozialcharakter«
in Richtung auf die nichtpsychologischen Regeln des Zusammenlebens und erlaubt überdies einen Anschluß an andere, für pädagogische Problemstellungen wichtige historische Untersuchungen (z.B. B.Groethuysen: Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich, 2 Bde., Halle 1927 und 1930; N. Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, 2. Bde., Basel 1939; Ph. Aries: Geschichte der Kindheit, München 1975). Die Hypothese, die solche Untersuchungen leitet, läßt sich – freilich noch sehr allgemein |B 24|und wenig spezifiziert – so formulieren: Jede Gesellschaftsformation bzw. kulturell-epochale Einheit bring einen pädagogischen Habitus hervor, der sich in wenigen Grundregeln für den Umgang der Generationen miteinander beschreiben läßt und einerseits durch die kulturellen Traditionen, andererseits durch die Anforderungen des vorherrschenden ökonomischen Systems gestützt wird; dieser Habitus generiert seinerseits die Ziele des pädagogischen Handelns, die Formen der Institutionalisierung und die Formen der Interaktion einschließlich der verwendeten Interaktionsmittel; er
»definiert«
mithin das, was innerhalb einer Kultur/Gesellschaft als
»pädagogische Interaktion«
gilt.
B
2
B
Kritischen
B
2.0
B
Didaktik
B
Curriculums
B
s.
B
117 ff.
B
, mindestens auf die näheste Zukunft des je konkreten Kindes, auf das, was es heute und morgen lernen kann,
B
2.1
B
:
B
verbreitetste
B
2. Aufl., München 1969
B
18f.
B
[V48:141]
»alle isolierten, ihrer Voraussetzungen und Begründungen beraubten Vorschriften über Unterrichtsinhalte, Lernschritte und methodische Mittel. Die Kompendien-Literatur zur Unterrichtsvorbereitung, aber auch viele
Handreichungen
für den Unterricht in einzelnen Schulfächern, zumeist mit dem Titel
Fachmethodik
, mitunter auch als
Fachdidaktik
angeboten, sind voller solcher Sätze. Innerhalb der Situation, aus der sie einmal gewonnen wurden, mochten sie wenigstens teilweise berechtigt sein, aber von ihrem Erfahrungsfeld abgelöst als normative Handlungsanweisung vorgetragen, sind sie sinnlos. So lesen wir hinsichtlich der Unterrichtsinhalte beispielsweise, daß das Thema
Feuerwehr
nicht vor dem 4. Schuljahr behandelt werden dürfe, daß lebende Autoren im Deutschunterricht nicht oder nur sparsam zu benutzen seien; auf der gleichen Ebene liegt auch, wenn aus der empirisch experimentellen Tatsachenfeststellung, daß mit Hilfe des programmierten Unterrichts zweijährige Kinder erfolgreich im Lesen und Schreibmaschine schreiben unterwiesen werden können, normativ gefolgert wird, nun müsse auch so verfahren werden. Ähnliche Beispiele finden wir für Lernschritte, wenn etwa dem fremdsprachlichen Unterricht die Folge vorgeschrieben wird: Vokabel abfragen – Übersetzen – Extemporieren. Der verbreitetste Tummelplatz normativer Sätze aber ist das Feld der Unterrichtsmethoden, ... Hier |B 26|wollen wir nur auf jene trivialen Forderungen verweisen, die als Ausläufer der normativen Methodenlehre sich zwar nur selten in die Literatur verirren, dafür umso mehr die jungen Lehrer während der praktisch pädagogischen |A 39|Ausbildung plagen, so etwa, wenn verlangt wird, daß das Unterrichtsthema immer von einem Schüler genannt werden müsse (durch geschicktes Arrangement während des
Einstiegs
) oder daß der Lehrer immer schräg zur Klasse zu stehen – habe (weil er dann alles sehe). Der Dogmatismus solcher Normen ist leicht durchschaubar.«
(Blankertz, Theorien und Modelle der Didaktik, 2. Aufl., München 1969, S. 18f.)
B
»kritische«
, sondern
B
2.2
B
kritische
B
der
B
1967–73
B
2.3
B
»Da Lernprozesse in hohem Maße beeinflußbar sind, legte die Theorie des technischen Fortschritts die Möglichkeit nahe, Investitionen im Bildungssektor könnten entscheidend sein, um das volkswirtschaftliche Wachstum zu optimieren. In dem Maße, in dem dahingehende Fragestellungen von der öffentlichen Diskussion aufgegriffen wurden, konzentrierte sich auch das Interesse der Erziehungswissenschaft auf Bildungsplanung und Curriculum-Forschung.«
(Blankertz (Hrsg.) : Curriculumforschung – strategien, strukturierung, konstruktion, Essen 1971, S. 7)
B
ders.
B
»Eine Auffassung, derzufolge Theoretiker, in unserem Falle also Erziehungswissenschaftler, forschen und dann ihre gesicherten Ergebnisse dem Praktiker, in unserem Falle dem Lehrer, zur Anwendung, allenfalls zur Erprobung zu übergeben hätten, wird von uns abgelehnt. Eine solche Arbeitsteilung müßte den Lehrer zum Vollzugsorgan degradieren, ihn politisch und fachlich entmündigen, während sie den Erziehungswissenschaftler zum bloßen Theoretiker ohne Verantwortung für die praktischen Folgen seines Tuns machte. Demgegenüber gehen wir davon aus, daß nur eine wechselseitige Kommunikation von Erziehungswissenschaftlern und Lehrern eine gemeinsame theoretische Sprache zu erzeugen vermag, in der kritisch auf Unterricht, die ihn leitenden Prinzipien, Normen und Mittel, sowie auf die jeweils getroffenen unterrichtlichen Entscheidungen und den erforderlichen Konsens mit den Lernenden reflektiert werden kann.«
(Blankertz, Die fachdidaktisch orientierte Curriculumforschung und die Entwicklung von Strukturgittern, in: ders., fachdidaktische Curriculumforschung, Essen 1971, S. 16)
B
:
B
B
Innerhalb
B
.
B
B
Einander
B
[V48:150]
»Es handelt sich um Kriterienkomplexe, mit deren Hilfe vorgegebene inhaltlich bestimmte Zumutungen zu Lerngegenständen, zu Unterrichtsinhalten strukturiert und qualifiziert werden, weithin auch vorliegende komplexe Unterrichtsinhalte (Unterricht, Lehrbücher, Richtlinien usw.) beurteilt und mit Bestimmtheit kritisiert werden können. Strukturgitter leisten also das, was früher ein einziges, in seinen Aspekten schwer durchschaubares Auswahl- und Konstitutionskriterium, nämlich
»Bildung«
leisten sollte. Ihm gegenüber haben Strukturgitter jedoch Vorzüge: Einerseits sind sie auf den jeweiligen Unterrichtsbereich hin differenziert und implizieren die jeweilige wissenschaftsdidaktische Fachstruktur, andererseits legen sie |A 44|ihre normativen Voraussetzungen ausdrücklich offen, während sich im Bildungsbegriff bis in die heutige Zeit unausgewiesene Ideologien konservieren konnten. Didaktische Strukturgitter sind also weder Lerninhalte noch Lernziele, sondern Kriterien für deren Beurteilung in analytischer und konstruktiver Absicht.«
(Blankertz a.a.O., S. 20)
B
2.4
B
B
»unkritischen«
B
ø
B
Lenzen, D.:
B
/
B
[V48:152]
»Dem historischen Charakter der sozialen Verhältnisse wird man nur gerecht, wenn man nicht allein davon ausgeht, daß die Oberflächenstrukturen subjektive Hervorbringungen auf der Basis (universaler) Tiefenstrukturen, sondern, daß diese Tiefenstrukturen selbst noch Resultate der objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse und ihrer Entwicklung sind.«
(Lenzen, D.: Didaktik und Kommunikation, Frankfurt/M. 1973, S. 21/22)
B
,
B
die wir bereits in der zweiten Kurseinheit zitierten
B
(Horkheimer, M.: Kritische Theorie. Frankfurt 1968, S. 148)
B
ø
B
[V48:156]
»Die Tatsachen, welche uns die Sinne zuführen, sind in doppelter Weise gesellschaftlich präformiert. Durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstandes und den geschichtlichen Charakter des wahrnehmenden Organs.«
(Horkheimer, M.: Kritische Theorie. Frankfurt 1968, S. 148)
B
ø
B
ø
B
B
B
,
B
Lenzen, D.:
B
[V48:161]
»Unterricht ist nicht ... ein Generat eindimensionaler Lehrertransformation, sondern zum gleichen Teil auch das Resultat von Schülerhandlungen (und das u.U. sogar in erheblich höherem Maße).«
(Lenzen, D.: a.a.O. S. 132)
B
Beispiel
B
[V48:164] Der Lehrer steht vor der Klasse. Sie ist imBeispiel 4. Schuljahr. Vorausgegangen ist eine Exkursion zum Güterbahnhof.
[V48:165] Lehrer:
»Als wir in der vergangenen Woche am Güterbahnhof waren, haben wir allerlei gesehen. Wir wollen nun darüber nachdenken, was wir gesehen haben.«

Klasse: schweigt
Lehrer:
»Frank, erzähl du einmal!«
B
.
B
[V48:166a] Der Verlauf dieser kurzen Unterrichtssequenz scheint auf den ersten Blick ganz und gar ausschließlich durch den Lehrer bestimmt. Seine Aufforderung an die Klasse über die gemeinsame Exkursion nachzudenken, ist das Ergebnis seiner Transformation aus der Oberflächenstruktur
»Besuch im Güterbahnhof«
zu einem Bestandteil des Unterrichts. Die Lehreraufforderung wird von den Schülern wörtlich verstanden, d.h. in ihre Tiefenstruktur übersetzt und befolgt. Die Schüler schweigen und denken nach, wie es der Lehrer will. Sie nehmen keinen Einfluß auf das Geschehen. Selbst der Zeitpunkt, an dem sie mit dem Nachdenken aufhören sollen, wird vom Lehrer festgelegt. Er entscheidet darüber, wer von ihnen mit dem Erzählen beginnt.
[V48:166b] Auf den zweiten, vielleicht etwas genaueren Blick, nimmt man aber auch noch etwas anderes wahr. Der Ablauf der Szene bestimmt jetzt nicht mehr nur der Lehrer, sondern ihn bestimmen auch die Schüler, und zwar zu einem nicht unbeträchtlichen Teil. Sie verstehen die Äußerung:
»Wir wollen nun darüber nachdenken ...«
nicht wörtlich, sondern so wie sie gemeint war, als Aufforderung nämlich zum Erzählen. In ihrer Reaktion geben die Schüler dem Lehrer zu erkennen, daß sie mit seiner indirekten Ausdrucksweise nicht zufrieden sind. Durch ihr beharrliches Schweigen zwingen sie ihn das Wort
»nachdenken«
durch
»erzählen«
zu ersetzen, die Unterstellung
»Wir wollen ...«
zu vermeiden und eine bestimmte Person anzusprechen.
|B 35|
[V48:166c] Die Schüler belehren den Lehrer darüber, wie man das, was man meint, auch adäquat zum Ausdruck bringt, (vgl. zu dieser Szene Dieter Lenzen, a.a.O. S. 135 .)
B
aufeinander bezogenen
B
.
B
Lenzen, D.:
B
[V48:168]
»für die zu erziehende Generation und damit für die Zukunft einer Gesellschaft Partei zu nehmen im Sinne der Realisierung des guten Lebens.«
(Lenzen, D.: a.a.O. S. 124)
B
:
B
3
B
I
B
:
B
beginnen wir unsere Darstellung mit diesen
B
3.1
B
ø
B
wissenschaftlicher Theorie (Habermas)
B
[V48:186] Bei der Erläuterung der erkenntniskritischen Position Horkheimers (in der zweiten Kurseinheit) wiesen wir schon darauf hin, daß dort der Erkenntnisprozeß so verstanden wird, daß er immer in irgendeiner Weise an gesellschaftliche Interessen gebunden sei. Dieser Gedanke nun wurde von J. Habermas aufgegriffen und in seiner Antrittsvorlesung an der Universität Frankfurt im Jahre 1965 (Erkenntnis und Interesse, in: J. Habermas, Technik und Wissenschaft als
»Ideologie«
, Frankfurt/M. 1968, S. 146–168) genauer entfaltet:
[V48:187] Habermas beginnt mit einer kurzen Skizze einiger Positionen der abendländischen Philosophie. Er hebt dabei insbesondere die These der klassischen griechischen Philosophie (vor allem Platon) hervor, daß Theorie praktisch bedeutsam dadurch sei, daß der Philosoph, überhaupt jeder an Erkenntnis interessierte Mensch,
»die unsterbliche Ordnung anschaut«
, die Ordnung des Kosmos also, und dabei nicht umhin könne,
»sich selber dem Maß des Kosmos anzugleichen, ihn in sich nachzubilden«
(S. 147)
. Nachdem nun aber, in der Geschichte der neuzeitlichen Philosophie und Wissenschaft, die Gewißheit dieses Zusammenhanges verloren ging, sei die Vorstellung aufgekommen, Theorie habe mit Praxis, mit den alltäglichen Orientierungen des menschlichen Lebens, nichts gemeinsam (S. 150). Die Frage, die sich Habermas stellt und die schon (eine Generation früher) Horkheimer beschäftigt hatte, ist nun, ob es sich wirklich so verhält. Er diskutiert deshalb die Position eines Philosophen, der sich mit diesem Problem intensiv auseinandergesetzt hatte und – ähnlich wie die griechische Philosophie des Platon – zu der Meinung gelangte, gerade durch die Konzentration des Erkennenden auf nur theoretische Einsichten, eine Kontemplation,
»die ihn aus dem Netz der Lebensinteressen befreit«
, könne die Theorie
»eine handlungsorientierende Bildung«
erzeugen
(S. 151)
. Dieser Philosoph ist E. Husserl (1859–1938), der Begründer der
»Phänomenologie«
. Habermas meint nun, daß dieses Vertrauen auf die
»therapeutische Kraft«
der reinen Theorie zwar respektabel, nicht aber begründbar sei
(S. 152)
. Müssen wir uns also zufrieden geben mit der (Unentscheidbarkeit der Frage, in welcher Weise und ob überhaupt die Theorie (wissenschaftliche Erkenntis, Philosophie) mit der alltäglichen Lebenspraxis der Menschen verbunden ist? Oder stehen Theorie und Praxis, Erkenntnis und Interesse nicht doch in einem unauflösbaren Zusammenhang?
|B 39|
[V48:188] Habermas wirft damit eine Frage auf, die nicht nur wissenschaftstheoretisch, sondern auch unmittelbar pädagogisch bedeutsam ist. Das zeigt sich in dem Bezug auf den für die griechische Philosophie wichtigen Zusammenhang von Theorie und Bildung des Menschen (Paideia) und in dem prinzipiell zustimmenden Hinweis auf Husserls Hoffnung, durch die
»universale wissenschaftliche Vernunft«
könne die Menschheit
»zu einem von Grund aus neuen Menschentum«
gebildet werden
(S. 151 f.)
. Damit nun diese Hoffnung nicht nur behauptet, sondern auch begründet werden kann, müsse geprüft werden, wie denn die Erkenntnistätigkeit des Menschen mit dem Handlungssinn, der der Praxis innewohnt, verbunden sei, ob – nicht nur für die Lebensformen der griechischen Polis, sondern auch für die moderne Zivilisation – so etwas wie ein
»erkenntnisleitendes Interesse«
ermittelt werden kann.
[V48:189] Die Frage wird nun von Habermas nicht für jede Art von Er kenntnis, für jede Art von Wissenschaft und Philosophie beantwortet, sondern nur für einige, freilich in der modernen Wissenschaft besonders wichtige Konzeptionen wissenschaftlicher Forschung erläutert:
»Für drei Kategorien von Forschungsprozessen läßt sich ein spezifischer Zusammenhang von logisch-methodischen Regeln und erkenntnisleitenden Interessen nachweisen«
(S. 155)
, nämlich
  1. 1.
    [V48:190] für erfahrungswissenschaftliche Theorien und Verfahren (
    »empirisch-analytische Wissenschaften«
    ),
  2. 2.
    [V48:191] für solche Theorien und wissenschaftlichen Verfahren, die sich mit dem Sinn menschlicher Handlungen, insbesondere in den verschiedenen Kulturäußerungen in Geschichte und Gegenwart befassen (
    »historisch-hermeneutische Wissenschaften«
    ), und
  3. 3.
    [V48:192] für solche Theorien und Verfahren, die sich auf das soziale Handeln richten und prüfen,
    »wann die theoretischen Aussagen invariante Gesetzmäßigkeiten des sozialen Handelns überhaupt und wann sie ideologisch festgefrorene, im Prinzip aber veränderliche Abhängigkeitsverhältnisse erfassen«
    (S : 158)
    (
    »systematische Handlungswissenschaften«
    ).
|B 40|
[V48:193] Diesen drei Typen oder Klassen von Wissenschaften lassen sich nun je besondere
»erkenntnisleitende Interessen«
zuordnen, die nicht nur in der Wissenschaft eine Rolle spielen, sondern die bereits im Alltagshandeln der Menschen enthalten sind. Diese Interessen seien – wie Habermas sagt –
»transzendental notwendig«
(S. 162)
, d.h., es handelt sich um Gesichtspunkte, die vor jeder besonderen Erfahrung mit der Eigentümlichkeit der Gattung Mensch gesetzt sind:
  1. 1.
    [V48:194] Der Mensch muß sein Leben durch Arbeit erhalten, muß also über Natur verfügen können; dazu ist eine Art von Wissen erforderlich, das es gestattet, auf Grund von Kenntnis der Gesetze natürlicher Abläufe Prognosen zu formulieren und Werkzeuge (Techniken) herzustellen. Das darin enthaltene Interesse nennt Habermas das technische Erkenntnisinteresse.
  2. 2.
    [V48:195] Der zweite Wissenstypus entsteht dadurch, daß Menschen ihr Leben nicht nur
    »materiell«
    sichern; sie brauchen
    »eine Orientierung des Handelns unter gemeinsamen Traditionen«
    (S. 162)
    , eine Kultur, und das geschieht im Medium der Sprache. Das darin enthaltene Interesse nennt Habermas das praktische Erkenntnisinteresse.
  3. 3.
    [V48:196] Schließlich wird das gesellschaftliche Leben der Menschen immer auch durch Formen der Herrschaft zusammengehalten; das menschliche Individuum muß deshalb sein Bewußtsein als Einzelnes, seine Ich-Identität zu den Normen der Gruppe in Beziehung setzen und – wenigstens der Möglichkeit nach – sich von diesen Normen,
    »aus der Abhängigkeit von hypostasierten Gewalten«
    (S. 162)
    lösen können. Das darin enthaltene Interesse nennt Habermas das emanzipatorische Erkenntnisinteresse.
|B 41|
[V48:197] Für die Erziehungswissenschaft ist dieser Gedankengang aus zwei Gründen interessant:
  1. 1.
    [V48:198]
    Er verknüpft den Begriff der Bildung des Menschen mit den Problemen wissenschaftlicher Methode, wirft also die Frage auf, wie der Zusammenhang zwischen den Erkenntnisweisen des Menschen und seiner Lebenspraxis zu denken sei. Diese Frage nun war nicht nur für die griechisch-antike
    »Paideia«
    von zentraler Bedeutung, sondern auch für jene Autoren, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Grundzüge einer Theorie der Bildung entwarfen und auf Sinn und Methode akademischer Studien bezogen; das waren beispielsweise und vor allem J.G. Fichte, F.W.J. Schelling und F.D. Schleiermacher.
    (Auch heute noch sind diese Schriften nicht nur lesenswert aus historischem Interesse; der historische Abstand ist so groß nicht, daß wir nicht Fragestellungen in ihnen entdecken könnten, die immer noch aktuell sind. Das gilt besonders für Schellings
    »Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums«
    , Fichtes
    »Deduzierter Plan einer in Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt«
    , Schleiermachers
    »Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn«
    und Steffens
    »Über die Idee der Universitäten«
    . Wir möchten Ihnen die Lektüre dieser Schriften sehr anraten. Besseres ist seitdem über den Zusammenhang von Bildung und Wissenschaft nicht geschrieben worden; Sie sollten das irgendwann einmal lesen, beispielsweise in der Ausgabe: Die Idee der deutschen Universität, hrsg. von E. Anrich, 1956; vgl. dazu auch H. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, Reinbek 1963)
  2. 2.
    [V48:199]
    Die Erziehungswissenschaft will die Theorie pädagogischer Handlungen sein. Damit ist sie mit einer Schwierigkeit konfrontiert, die in dem Text von J. Habermas zur Sprache gebracht wird. Welches methodische Fundament soll sie sich suchen? Ist sie die Theorie einer Technik, deshalb dem technologischen Interesse zuzurechnen und nach Art der empirisch-analytischen Wissenschaften zu konstruieren? Ist sie die Theorie sinnvermittelnden Handelns und also den historisch-hermeneutischen Wissenschaften zuzurechnen? Oder ist ihr Gegenstand die Ausbildung einer herrschaftskritischen Ich-Identität, mithin eine Disziplin innerhalb der kriti|B 42|schen Handlungswissenschaften, denen ein emanzipatorisches Interesse innewohnt?
    Die Antwort ist nicht so leicht zu geben, wie es bei raschem Blick auf diese Unterscheidungen scheinen könnte, denn sicher kann man in der Tätigkeit von Eltern, Erziehern und Lehrern alle drei Momente wiederfinden, ohne sogleich sagen zu können, daß dieser Befund nicht rechtens sei.
    Obwohl diese Frage seit Erscheinen der oben referierten Vorlesung von J. Habermas in der Erziehungswissenschaft mit besonderer Heftigkeit diskutiert wurde, sollte man nicht unterschlagen, daß ihre Erörterung eine längere Tradition hat. Falls Sie an dieser Stelle Ihre Kenntnisse vertiefen möchten, ist die Schrift von W. Flitner: Das Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft in der Gegenwart, Heidelberg 1957, zu empfehlen. Dort finden Sie auch Hinweise auf den weiteren Kontext von Positionen und Kontroversen in der Vergangenheit.
B
3.2
B
(Klafki)
B
Klafkis
B
.
B
[V48:201] Klafki steht hier exemplarisch für die Vertreter einer Theorie der kritischen Pädagogik. Vergleiche als einen ähnlichen Ansatz, der ebenfalls von der Habermas’schen Erkenntnistheorie ausgeht, Wolfgang Lempert, Bildungsforschung und Emanzipation, in: Leistungsprinzip und Emanzipation, S. 510 ff.
B
Geisteswissenschaftliche
B
[V48:203]
»Es ist die methodische Naivität der geisteswissenschaftlichen Pädagogik im Hinblick auf die Erfassung der jeweils gegenwärtigen Erziehungswirklichkeit, also all der Vorgänge, Institutionen, Faktoren, die den tatsächlichen Ablauf von erzieherischen oder erzieherisch bedeutsamen Prozessen in der jeweiligen Gegenwart ausmachen und bestimmen...«
(Klafki, Aspekte kritisch konstruktiver Erziehungswissenschaft, S. 30)
B
Unterschied
B
Erfahrungswissenschaftliche
B
Begründung für ihre Verfahren
B
[V48:205]
»Wenn Erziehungswissenschaft bestimmte Erkenntnisse über gesetzmäßige oder mindestens gesetzartige Zusammenhänge, etwa zwischen der Anwendung bestimmter Übungsmethoden und dem Erfolg beim Behalten oder über den Zusammenhang zwischen bestimmten Organisationsformen des Unterrichts und den sozialen Beziehungen der Schüler, gewonnen hat, so scheint es möglich, in theoretischem Vorentwurf Anwendungssysteme, Technologien des Lehrens oder der Unterrichtsorganisation zu entwickeln und sie in der Praxis als pädagogische Techniken zum Einsatz zu bringen.«
(Klafki, a. a. O., S. 37)
B
ø
B
ist, was
B
ø
B
ø
B
habe.
B
[V48:207]
»eine aufweisbare, von Interessen bestimmte Fehleinschätzung der gesellschaftlichen Situation und der in ihr gegebenen Handlungsmöglichkeiten zur Folge«
habe.
(Klafki, a.a.O., S. 51)
B
Demgegenüber macht er folgendes geltend:
B
nur in einer entsprechend strukturierten Gesellschaft
B
[V48:209]
»Die konsequente Reflexion auf die Möglichkeit, dem einzelnen wirklich zur Selbstbestimmung, zur Emanzipation, zum Recht auf individuelles Glück zu verhelfen, führt kritische Theorie zu der Einsicht, daß diese Möglichkeit nur in einer entsprechend strukturierten Gesellschaft gegeben ist. Erziehungswissenschaft im Sinn kritischer Theorie muß daher notwendigerweise zur permanenten Gesellschaftskritik werden oder sich mit Gesellschaftskritik verbünden, die an den genannten Prinzipien orientiert ist.«
(Klafki, a. a. O., S. 51)
B
B
[V48:211]
»Ideologiekritische Dimension von ErziehungswissenschaftPrinzipiell kann die Hermeneutik die ideologiekritische Perspektive durchaus in sich aufnehmen, und sie muß es heute tun...«
(Klafki, a. a. O., S. 42)
B
,
B
[V48:214]
»Allgemein ergibt sich also: Die für die Erziehungswissenschaft relativ neuen erfahrungswissenschaftlichen Methoden und die von ihr bereits länger praktizierten historisch-hermeneutischen Methoden schließen einander nicht etwa aus, sondern sind wechselweise aufeinander bezogen. Man kann das Verhältnis als einen ständigen dynamischen Rückkoppelungsprozeß beschreiben: von hermeneutischer Entwicklung der Fragestellungen und Hypothesen zur hermeneutischen Interpretation der so gewonnenen Ergebnisse und zur Herleitung neuer Hypothesen für neue empirische Untersuchungen usf.«
(Klafki, a. a. O., S. 36 /7)
B
Aufgabe 3
B
ø
B
Stellen Sie sich ein Forschungsvorhaben vor, in dem die Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft von Schülern untersucht werden soll. Welche Überlegungen sind in die Untersuchung miteinzubeziehen?
B
[V48:221] Versuchen Sie dabei insbesondere sich vorzustellen, wie das
»technische«
, das
»praktische«
und das
»emanzipatorische«
Erkenntnisinteresse zur Geltung gebracht werden könnten. Vielleicht haben Sie bereits Ähnlichkeiten mit dem Methoden-Kapitel der zweiten Kurseinheit entdeckt. Es ist nützlich, dort noch einmal nachzulesen.
B

3.3 Handlungsforschung

B
3.3.1
B
prinzipiell
B
ø
B
Kritik
B
[V48:224] Das deutet sich schon in dem von Klafki gewählten Ausdruck
»kritisch-konstruktiv«
an. Nicht nur unter dem Eindruck der Kritischen Theorie, sondern auch durch die Hoffnungen, die sich um 1970 (Tätigkeit des Deutschen Bildungsrates, rasche Vermehrung der finanziellen und organisatorischen Ressourcen für die Bildungs- und Erziehungsforschung) im Hinblick auf eine Beteiligung der Wissenschaft an Reformen einstellten, wurde die methodologische Diskussion neu belebt. Der alte Zweifel, ob auch für die Erziehungswissenschaft das Experiment der Königsweg der Forschung sein könne, bekam neue Nahrung; denn nun konnten ja Experimente einem nur
»technologischen«
Erkenntnisinteresse zugeschlagen werden. Andererseits war unabweislich, daß die Bildungsreform empirisch gewonnenes Wissen benötigte. Aber wie sollte dies gewonnen werden, und zwar so, daß auch dem
»praktischen«
und dem
»emanzipatorischen«
Erkenntnisinteresse genüge getan wird?
B
In dieser Situation wurde – im Rückgriff auf Vorschläge, die schon während des 2. Weltkrieges K. Lewin in den USA gemacht hatte (Die Lösung sozialer Konflikte, Bad Nahueim 1975) – ein Forschungskonzept attraktiv,
B
versprach
B
Handlungsforschung
B
Forschung als eingreifende
B
B
, ein ethisches
B
ø
B
Methodologisches Motiv
B
Erziehungswissenschaftliche Forschung
B
ø
B
über symbolisierte Gehalte
B
Forschung als Kommunikationsprozeß
B
Ethisches Motiv
B
u. a.
B
Ungerechtfertigt erscheinen deshalb Forschungsverfahren, die im Interesse systematischer Bedingungsvariation diese Tatsache vernachlässigen und die Veränderung von Menschen mit deren Manipulation gleichsetzen.
B
»Objekte«
B
Politisches Motiv
B
ø
B
»emanzipatorische Praxis«
B
kritischer
B
Handlungsforschung, besonders Handlungsforschung in kritischer Absicht, hat noch keine lange Tradition. (Wie wir in den beiden ersten Studienbriefen gesehen haben, hat sie in der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule so gut wie keine Rolle gespielt ). Es gibt darum noch keinen anerkannten Kanon methodologischer Regeln, der z.B. der Methodologie des Experiments äquivalent wäre. Wir müssen uns hier darauf beschränken, einige Orientierungslinien zu ziehen. |B 48|Voll verständlich wird Handlungsforschung erst, wenn sie zusammen mit der vorherrschenden empirisch-analytischen Methodologie und Forschungspraxis gesehen wird, zu deren Ergänzung oder gegen die sie entworfen wurde. Ebenso müssen wir auf die Darstellung von beispiel haften Handlungsforschungsprojekten verzichten. Im folgenden stützen wir uns zunächst auf Beiträge von Wolfgang Klafki, sodann auf die Handlungsforschungskonzeption des Wiesbadener Autorenkollektivs Heinze/Müller/ Stickelmann/Zinneker. Andere Ansätze und Darstellungen, etwa die von Haag et al . (1972) und Moser (1975), müssen unberücksichtigt bleiben.
B
3.3.2
B
unmittelbar
B
nach
B
im Forschungsprozeß selbst
B
zukünftige
B
betreffenden
B
  1. »(1)
    [V48:232]
    Handlungsforschung ist in ihrem Erkenntnisinteresse Charakteristik der Handlungsforschungund damit ihren Fragestellungen von Anfang an auf gesellschaftliche bzw. auf pädagogische Praxis bezogen, sie will der Lösung gesellschaftlicher bzw. praktisch-pädagogischer Probleme dienen.
  2. (2)
    [V48:233]
    Handlungsforschung vollzieht sich in direktem Zusammenhang mit den jeweiligen praktischen Lösungsversuchen, denen sie dienen will; sie greift als Forschung unmittelbar – und nicht erst nach vollzogenem Forschungsprozeß, als sog.
    Anwendung
    der Forschungsergebnisse – in die Praxis mit ein, und sie muß sich daher für Rückwirkungen aus dieser von ihr selbst mitbeeinflußten Praxis auf die Fragestellungen und Forschungsmethoden im Forschungsprozeß selbst – und nicht erst in der abschließenden Auswertungsphase im Hinblick auf zukünftige Forschung – offenhalten.
  3. (3)
    [V48:234]
    Handlungsforschung hebt in irgendeinem Grade bewußt und gezielt die Scheidung zwischen Forschern auf der einen und Praktikern in dem betreffenden Aktionsfeld ... auf der anderen Seite auf zugunsten eines möglichst direkten Zusammenwirkens von Forschern und Praktikern im Handlungs- und Forschungsprozeß.«
    (Klafki 1976, S. 60)
B
des Theorie-Praxis-Verhältnisses
B
1.
B
wird
B
Arbeitsteilung
B
pragmatischen
B
»Praxisnähe«
B
ø
B
für sie
B
ihrer
B
kritisch
B
»über ihr«
B
2.
B
Handlungsforschung und
B
technisches Erkenntnisinteresse
B
Sie versucht das dadurch, daß sie die Sinnverständigung, die sozialwissenschaftlicher Erkenntnis als kommunikativer Erfahrung ebenso zugrunde liegt wie der Erziehung als einem kommunikativ vermittelten Bildungsprozeß, systematisch zur Geltung zu bringen sich bemüht. Das bedeutet, daß Forscher und Praktiker sich gemeinsam verständigen
B
  • über die Handlungsziele im Praxis-Feld (z.B. ob die Verminderung des um Leistungen konkurrierenden Verhaltens von Schülern zugunsten stärker kooperierenden Unterrichtsverhaltens anzustreben sei),
  • |B 50|
  • über die Forschungsziele und ihre Stellung zu den Handlungszielen (z.B. welche Hypothesen dem Handlungsziel dienlich und welche Veränderungen der Praxis daraufhin möglich und zweckmäßig sein könnten),
  • über die Wahl der Forschungsmittel, der Arrangements und einzelnen Forschungstechniken (z.B. ob auf Vergleichsgruppen verzichtet werden könne, standardisierte Beobachtungs- oder Testverfahren nützlich seien, gruppendynamische Verfahren Verwendung finden könnten),
  • über die Auswirkungen, die die einzelnen Forschungsschritte auf das Praxisfeld haben (z.B. Kontroversen im Lehrerkollegium, Verunsicherung von Eltern, Leistungsabfall bei Schülern, Fortbildungsinteressen der Lehrer usw.)
B
ø
B
Komplizierung des Forschungsprozesses
B
:
B
der zu erforschenden pädagogischen Praxis
B
unter dem Einfluß der Forschungspraxis
B
Innovationsforschung
B
[V48:247]
»Mit dem Ansatz der Handlungsforschung wird das Verhältnis von Theorie und Praxis, das die Erziehungswissenschaft seit eh und je als eine ihrer Kernfragen beschäftigte, in einer neuartigen Weise aufgeworfen: weil nämlich einesteils der Vollzug der Forschung – die Forschungspraxis – hier, mindestens z.T., als ein Moment der zu erforschenden pädagogischen Praxis auftritt und weil zum anderen die zu erforschende Praxis von Anfang an als eine zu verändernde, und zwar eine unter dem Einfluß der Forschungspraxis zu verändernde betrachtet wird. Handlungsforschung ist also Innovationsforschung, bei der die Forschung in den Innovationsprozeß mit einbezogen wird.«
(Klafki, a.a.O., S. 61)
B
»Forscher«
B
»Erforschte«
B
zum anderen
B
ø
B
ø
B
. Man kann deshalb die große Bedeutung, die das Konzept der Handlungsforschung im Rahmen der Kritischen Erziehungswissenschaft gewonnen hat, auch so verstehen, daß mit ihm keine völlig neue Forschungsstrategie entworfen wird. Vielmehr ist sie ein Weg, die von Habermas skizzierten Erkenntnisinteressen (das technische, praktische und emanzipatorische) nicht arbeitsteilig über verschiedene Wissenschaften und Forschungsvorhaben zu verteilen, sondern in einem Forschungsprojekt zusammenzubinden.
B
ø
B
sondern
B
gleichsam
B
Wissenschafts- gemeinschaft
B
a. a. O.,
B
Kriterien
B
werden hinfällig bzw.|B 54|müssen reformiert werden
B
ø
B
action research
B

3.3.3 Kritik der
»kritischen«
Handlungsforschung

[V48:279] In der Diskussion zur Handlungsforschung gibt es manche Übertreibungen, die den methodischen Sinn dieses Konzepts überstrapazieren. Problematisch erscheinen vor allem die folgenden Meinungen von Erziehungswissenschaftlern, die versuchen, das Handlungsforschungskonzept radikal zu interpretieren und im strengen Sinne des Wortes als methodologische
»Alternative«
, die sich aus dem Ansatz der Kritischen Erziehungswissenschaft ergebe, vorzuschlagen.
  1. 1.
    [V48:280]
    Zunächst wird der methodologische
    »Gegner«
    , die Stilisierungen
    »positivistische Sozialforschung«
    , so stilisiert, wie es Horkheimer einst mit der
    »Traditionellen Theorie«
    tat – damals allerdings und in polemischer Absicht zu Recht, weil es galt, überhaupt erst einmal das Problem einer
    »kritischen«
    Wissenschaft zu skizzieren –:
    »Positivistische Sozialforschung zielt auf raum- und zeitunabhängige Gesetzesaussagen über Soziales ab und unterstellt damit eine subjektunabhängige Verfestigung sozialer Struktur. Ihr logisches Handlungskorrelat ist die Technokratie, das heißt die zweckrationale Steuerung des Handelns von Menschen aufgrund der Einsichtnahme in die ermittelten Sozialgesetzlichkeiten.«
    (Heinze et al., S. 21)
    Diese Form der Behauptung enthält zwar in dieser allgemeinen Form etwas Zutreffendes, trifft aber die Erziehungs- und Bildungsforschung nur in (quantitativ) unbedeutenden Teilen. Vor allem aber nimmt sie nicht zur Kenntnis, was – über Horkheimer hinaus – inzwischen über verschiedene Erkenntnisinteressen und ihr Verhältnis zueinander gedacht worden ist.
  2. 2.
    [V48:281]
    Gelegentlich scheint es, als würden Vertreter der Handlungsforschung nicht nur bestimmte Forschungstraditionen, sondern Forschung überhaupt verwerfen, und zwar zugunsten eines aufgeklärten Gesprächs zwischen Forschern und Praktikern.
    Es
    »gilt, die positional, situativ und personal vermittelten Differenzen in der Verdinglichung des Bewußtseins von Untersuchenden und Untersuchten durch gezielte Konfrontation zur wechselseitigen Auslösung von Lernprozessen – diese verstanden als Entdinglichung des Alltagsbewußtseins und -handelns – zu verwenden.«
    (S. 36)
    Eine derartige
    »Entdinglichung«
    – also offenbar doch das, was Habermas als Ideologiekritik dem emanzipatorischen Erkenntnisinteresse und dessen theoretischen und methodischen Prozeduren zugerechnet hat – soll u.a. dadurch herbeigeführt werden, daß die Forscher nicht nur
    »die Sinndeutung, die die Praktiker einer sozialen Lebenswelt geben«
    (Heinze u.a., S. 42)
    in den Forschungsprozeß als ein Moment unter anderen aufnehmen, sondern sich gleichsamvon den universalistischen Orientierungen der Wissenschafts- gemeinschaft zu verabschieden.
    »Dafür tauschen sie einiges von der lokaleren, an das Handeln im konkreten Praxisfeld gebundenen Gesinnung ihrer neuen sozialen Bezugsgruppe ein.«
    a. a. O., (S. 69)
    Eine solche Maxime, wenn sie mehr beinhalten soll als den Hinweis darauf, daß die Handlungsforschung auch den Dialog mit den Praktikern will, ist in der Konsequenz eine Preisgabe von begrifflich angestrengter Theorie überhaupt und hat mit der
    »Kritischen Theorie«
    nichts mehr zu tun. Unmittelbares Betreiben von praktischer Veränderung eines Feldes, aufklärende Unterhaltungen und Übernahme von
    »Gesinnungen«
    muß von theoretisch relevanter Erhebung von Daten streng unterschieden werden. Deshalb warnte Habermas schon bei Beginn dieser methodischen Entwicklung:
    »Die modischen Forderungen nach einem Typus von action research, der Erhebung mit politischer Aufklärung verbinden soll, übersehen den auch für Sozialwissenschaften geltenden Umstand, daß eine unkontrollierte Veränderung des Feldes mit der gleichzeitigen Erhebung von Daten im Feld unvereinbar ist.«
    (J. HABERMAS: Theorie und Praxis. Einleitung zur Neuausgabe 1971, S. 18)
  3. 3.
    [V48:282]
    Die empfohlene Abkehr vom wissenschaftlichen Universalismus enthält noch eine weitere, für erziehungswissenschaftliche Methodologie fundamentale Komponente:
    »Kriterien wie Gültigkeit, Kontrolle, Generalisierungsfähigkeit, Prognostizierbarkeit von forschungsleitenden Hypothesen und Aussagesystemenwerden hinfällig bzw.|B 54|müssen reformiert werden«
    (Heinze u.a., S. 57)
    ; oder an die Stelle der Forderung nach Objektivität der Forschungsprozeduren, nach Genauigkeit der Operationen bei der Datenerhebung (Reliabilität), nach Übereinstimmung der Forschungsoperationen mit dem Gemeinten (Validität) soll beispielsweise
    »Stimmigkeit«
    (Vereinbarkeit von Zielen und Methoden der Forschungsarbeit) oder
    »Transparenz«
    (Nachvollziehbarkeit des Forschungsprozesses für alle Beteiligten) treten (H. Moser, Aktionsforschung als kritische Theorie der Sozialwissenschaften, München 1975, S. 117 ff.).
    Derartige Empfehlungen sind nicht nur nachlässig. Sie geben in der Tendenz die Kriterien für zuverlässige Informationen preis. Auch im Alltagsleben gilt, daß eine Information um so zuverlässiger ist, je mehr Einigkeit im Hinblick auf den Gegenstand besteht, über den informiert werden soll (Validität); je mehr die Wahrnehmungen, Beobachtungen, Erfahrungen, auf die die Gesprächspartner sich berufen, von anderen nachvollzogen werden können (Objektivität) und je genauer die Beobachtungen usw. sind (Reliabilität). Wir sehen nicht, welche Gründe geltend gemacht werden könnten, diese Anforderungen fallen zu lassen.
[V48:283] Auch die Handlungsforschung, sofern sie Forschung sein will, ist nur möglich, wenn sie sich auf Theorien stützt, deren Zuverlässigkeit prüfbar sein muß und die während eines Forschungsprojektes nicht beliebig aufgegeben werden dürfen. Hier ist besondere Strenge gerade im Interesse der kritischen Erziehungswissenschaft zu fordern. Die teils komplizierten Theorien über den Zusammenhang von Sozialstruktur und Persönlichkeitsstruktur, Interaktion und Sozialisation, Lernen und Handeln, Geschichte und gesellschaftlicher Formierung von Bildungsprozessen usw. können nur aufrechterhalten bzw. modifiziert werden, wenn die Hinweise auf
»emanzipatorisches Interesse«
nicht zur Ausrede für begriffliche und methodische Nachlässigkeit geraten. Nur dann wird die Handlungsforschung ein respektables Instrument der Erziehungswissenschaft sein können.
B
Aufgabe 4
B
Lehrers