Kinder und ihre Erwachsenen [Textkritische interaktive Ansicht mit a als Leittext]
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Kinder und ihre Erwachsenen

Anmerkungen zur Tradition des pädagogischen
Kolonialismus

[065:1] Im Jahre 1860 veröffentlichte ein Kinderfreund namens Wilhelm Curtmann
Geschichten für Kinder
. In diesem mit pädagogischer Sorgfalt zusammengestellten Bändchen findet sich die folgende Geschichte:
[065:2]
Die Kinder wollten einmal leben wie die großen Leute, und die Eltern erlaubten es ihnen für einen Tag und reisten fort. Was geschah? Des Morgens, als es Zeit zum Aufstehen war, verschliefen die meisten Kinder, weil sie gewohnt waren, sich wecken zu lassen. Da waren sie übler Laune und murrten schon, ehe sie noch den Tag angefangen hatten. Als es an das Frühstück ging, zankten sie sich schon, denn jedes wollte den Rahm von der Milch haben. Auch mit dem Brote ging es nicht in Einigkeit her, denn ein jedes schnitt sich selbst ein Stück ab, aber das eine schnitt das Stück zu dünn, das andere zu dick, das dritte wollte das Krustenstück haben und das vierte wollte es ihm nicht lassen. Das jüngste schnitt sich sogar in die Hand, und es mußte Zunder und Spinnwebe gesucht werden, um das Blut zu stillen. Als dies vorüber war, sollte es in den Garten gehen. Doch man war schon wieder nicht einig denn die Knaben wollten lieber auf die Straße laufen. Allein, weder zum Gehen in den Garten noch auf die Straße war der Anzug geordnet. Das eine der Kinder konnte die Schuhe nicht anziehen, das andere die Strümpfe nicht binden, wieder eines sein Kleid nicht zustecken, und wen es darum ansprach, der wollte ihm nicht helfen. Da war wieder Not an |b 67|allen Ecken. Zuletzt liefen die meisten ungewaschen und ungekämmt und in verkehrtem Anzuge fort. Doch auch in dem Garten tat es nicht lange gut. Weil sie leben wollten wie die großen Leute, so glaubten sie, sie dürften auch unreifes Obst essen, sobald es ihnen gefiele. So geschah es denn, daß einige naschhafte Kinder sich den Magen mit halbreifen Pflaumen überfüllten und noch vor Mittag heftige Leibschmerzen fühlten und sich ins Bett legen mußten. Die auf der Gasse fingen zwar an zu spielen, aber das Spiel artete in Unfug aus, sie warfen sich mit Steinen und trafen in ein Fenster, ja, einer wurde sogar am Kopfe verwundet. Da hatte das Spiel auch ein betrübtes Ende. Noch schlimmer ging es dem größten unter allen Knaben. Dieser nahm seines Vaters Tabakspfeife, stopfte sie sich und fing an zu rauchen. Anfangs bewunderten ihn die übrigen, und er dünkte sich, etwas Rechtes zu sein. Aber bald schnitt er traurige Gesichter, denn ihm wurde so weh, daß er sich erbrechen mußte. Da warf er die Pfeife weg, legte sich auf die Bank und mochte die Welt nicht ansehen. [065:3] Als es Mittag war, waren nur wenige Kinder übrig, die sich an den Tisch setzen konnten, den meisten war der Appetit schon zum voraus vergangen. Die wenigen aber wollten es sich einmal besonders gut schmecken lassen, denn sie durften ja essen, was und wieviel sie wollten. Suppe wollte keines, Gemüse auch nicht, sondern Fleisch und Pfannenkuchen. Aber es war niemand da, der vorschneiden konnte. Da jedes zuerst und am meisten haben wollte, so rissen sie sich um das Fleisch wie die Hunde, und die Pfannenkuchen fielen samt der Schüssel auf die Erde. Zuletzt war jedes froh, wenn es nur satt wurde, und das beschmutzte Tischtuch und die zerbrochene Schüssel waren ihnen so ärgerlich, daß sie lieber trockenes Brot gegessen hätten. [065:4] Ach, sagten sie endlich alle, wenn doch unsere Eltern wieder da wären. Es ist doch gar keine Freude im Hause, wenn sie abwesend sind. Zum Glücke kamen die Eltern bald wieder, denn es hatte ihnen geahnt, daß es zu Hause schlimm gehen würde. Die Kinder aber haben seitdem nicht wieder begehrt, wie die großen Leute zu leben.
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|a 344||b 226|1Abgedruckt in: Marie-Luise Könneker (Hrsg.), Kinderschaukel. Ein Lesebuch zur Geschichte der Kindheit in Deutschland 1775 – 1860, Bd. 1. Darmstadt/Neuwied 1976, S. 64 f.
[065:5] Ich frage mich: Welches Bild vom Kinde macht sich dieser Autor? Kinder sind offenbar verschlafen, übellaunig, zänkisch; sie sind habgierig und zur Kooperation unfähig; sie folgen sinnlos ihren Begierden; sie können nicht einmal richtig spielen – jedenfalls solange die Erwachsenen sie nicht anleiten, sie nicht beaufsichtigen, ihnen nicht zu geordnetem Betragen verhelfen. Dieser |a 339|Autor phantasiert sich Kinder als kleine Wilde, als ein Bündel voller Antriebe, das gezähmt, zivilisiert werden muß. Und natürlich läßt er keinen |b 68|Zweifel daran, daß die Erwachsenen die einzig rechte Art zu leben repräsentieren, daß es für Kinder ein Glück ist, ihnen zu folgen und in ihrer Abhängigkeit zu leben denn:
Die Kinder aber haben seitdem nicht wieder begehrt, wie die großen Leute zu leben
.
[065:6] Ich habe diese Geschichte nicht zitiert, weil ich sie für eine Kuriosität halte. Obwohl in grotesker, wenngleich unabsichtlicher Überzeichnung, drückt sie wesentliche Momente der Grundeinstellung zum Kinde aus, die in unserer Kultur herrschend sind: Kinder sind Fremde, die wir uns ähnlich machen müssen; Kinder sind bedrohlich, so wie rohe Natur es ist; Kinder stellen unsere Vernunft – oder was wir dafür halten – in Frage; wir müssen sie uns deshalb so denken, daß wir gerechtfertigt sind, wenn wir sie nach unserem Bilde erziehen.
[065:7] Wie sieht das aus der Perspektive der Kinder aus? Auch dazu ein überzeichnendes Zitat, das gewiß nicht das Erleben der größten Zahl von Kindern zum Ausdruck bringt, aber dennoch – wie mir scheint – eine pointierte Wahrheit enthält:
[065:8]
Der in dieser Stadt nach dem Wunsche seiner Erziehungsberechtigten, aber gegen seinen eigenen Willen Aufgewachsene und von frühester Kindheit an mit der größten Gefühls- und Verstandesbereitschaft für diese Stadt einerseits in den Schauprozeß ihrer Weltberühmtheit wie in eine perverse Geld- und Widergeld produzierende Schönheits- als Verlogenheitsmaschine, andererseits in die Mittel- und Hilflosigkeit seiner von allen Seiten ungeschützten Kindheit und Jugend wie in eine Angst- und Schreckensfestung Eingeschlossene, zu dieser Stadt als zu seiner Charakter- und Geistesentwicklungsstadt Verurteilte, hat eine, weder zu grob, noch zu leichtfertig ausgesprochen, mehr traurige und mehr seine früheste und frühe Entwicklung verdüsternde und verfinsternde, in jedem Falle aber verhängnisvolle, für seine ganze Existenz zunehmend entscheidende, furchtbare Erinnerung an die Stadt und an die Existenzumstände in dieser Stadt, keine andere.
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|a 344||b 226|2Thomas Bernhardt, Die Ursache. Eine Andeutung. Salzburg 1975.
[065:9] Genau genommen ist dies natürlich nicht die Perspektive des Kindes, sondern die des sich an seine Kindheit erinnernden Erwachsenen. Diese Erinnerung aber wird sehr prägnant zur Sprache gebracht, und zwar so, daß sie zu der von mir eingangs zitierten Geschichte ziemlich genau als ihr Gegenstück paßt: dort das Kind als ungezügeltes Triebwesen, chaotisch, nur den augenblicklichen Launen folgend – hier die Lernwelt des Kindes als
Schreckensfestung
, Geist und Gemüt verletzend, die
Mittel- und Hilflosigkeit
des Kindes ausnutzend, die
Gefühls- und Verstandesbereitschaft
des Kindes niederschlagend.
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[065:10] Beide Zitate sind – wortwörtlich genommen – natürlich nicht repräsentativ, doch ein wesentliches Stück Wahrheit, ein Stück der aktuellen Beunruhigung, ein Stück der Fehlentwicklung, in die unser Verhältnis zu Kindern hineinzulaufen droht.
[065:11] Der Text von Th. Bernhardt symbolisiert eine Grundstimmung, in die immer größere Teile der jungen Generation hineinzugeraten scheinen. Die Anzeichen dafür sind
  • [065:12] die zunehmende Zahl der
    kulturellen Emigranten
    : der Ausweg in die Droge, in religiöse und politische Sekten mit Heilsbotschaften, in das
    einfache Leben
    , das Plädoyer für
    soft technology
    , die neuen ökologischen Orientierungen usw.
  • [065:13] das resignative Nachlassen der Lernmotivationen, besonders in der Schule
  • [065:14] die immer früher einsetzende Abwendung von der Familie und der Legitimationsverlust, den nicht nur die Familie, sondern auch andere Institutionen im Erziehungsfeld erleiden; neben der Schule ist es vor allem das Beschäftigungssystem.
[065:15] Diese Situation zu verharmlosen – beispielsweise mit dem Hinweis darauf, daß doch wohl die überwiegende Zahl der Kinder und Jugendlichen anders sei – scheint mir gefährlich. Krisen kündigen sich nicht notwendig durch Mehrheiten an, sondern in dem historischen Gewicht einer |a 340|bestimmten Symptomatik. Das gilt auch für das Verhalten der erwachsenen Generation. Wenn das Bild vom Kinde, das in dem Text von Wilhelm Curtmann zum Ausdruck kommt, an Glaubwürdigkeit und Selbstverständlichkeit verliert, die Kinder beispielsweise den Erwachsenen bei deren Rückkehr keinen Beifall mehr spenden, dann drohen auch uns, den Erwachsenen, Irrwege. Zwei solcher Irrwege zeichnen sich gegenwärtig besonders deutlich ab.
  • [065:16] Die distanzlose Identifizierung mit dem Kinde, die Verklärung seiner Bedürfnisse und spontanen Antriebe zur
    wahren Natur
    . In dieser Haltung verleugnet der Erwachsene sich selbst. Wer selbst nicht den Mut hat, erwachsen zu sein, taugt auch nicht gut als Erzieher.
  • [065:17] Verbreiteter indessen scheint mir ein zweiter Irrweg zu sein, auch wohl gefährlicher, für die Kinder bedrohlicher: die disziplinierende Abwehr alles dessen, was uns an Kindern und Jugendlichen beunruhigt, die Rückkehr zur naiven Selbstsicherheit jener Lesebuchgeschichte, in der nun nicht der Erwachsene, sondern die Kindheit als die der Möglichkeit nach produktivste Phase im Leben des Menschen verleugnet wird – so als sei der Text Thomas Bernhardts nichts als der singuläre Ausdruck eines Exzentrikers.
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[065:18] Weil dieser zweite Weg gegenwärtig der wahrscheinlichere ist und weil in ihm eine – wenn ich recht sehe – problematische Tradition unserer Erziehungsgeschichte fortgesetzt wird, möchte ich einige Komponenten unseres pädagogischen Habitus skizzieren, die uns möglicherweise schon so selbstverständlich geworden sind, daß wir sie nicht mehr für änderbar halten. Ich will Antworten auf folgende Fragen versuchen:
  1. 1.
    [065:19] Wie sind unsere Erziehungsräume beschaffen?
  2. 2.
    [065:20] Wie gehen wir mit der Zeit des Kindes um?
  3. 3.
    [065:21] Mit welchen Werkzeugen instrumentieren wir die Lernumwelt der Kinder?
  4. 4.
    [065:22] Nach welchen Regeln ordnen und gestalten wir unsere Beziehung zu den Kindern?

1. Die Erziehungsräume

[065:23] Die Welt unserer Kinder ist – wir haben sie so gemacht – eine parzellierte Welt. Das erscheint vielleicht noch nicht besonders bemerkenswert. Wir haben uns daran gewöhnt. Wir müssen also etwas Distanz schaffen. Dazu ist die geschichtliche Erinnerung gut. Ich möchte zwei Beispiele nennen; zunächst die Entwicklung der Unterrichtsräume. Die Welt des Unterrichts war immer schon eine von den übrigen Lebensvollzügen räumlich relativ getrennte Welt, jedenfalls dort, wo die geplante Unterweisung der jungen Generation in eigens dafür gedachten pädagogischen Einrichtungen geschah. Aber die Grenze sowohl zwischen Leben und Unterricht als auch zwischen den einzelnen Teilen des Unterrichts kann unterschiedlich durchlässig oder undurchlässig sein. Im Laufe der Neuzeit nun entstand ein verzweigtes Unterrichtssystem mit immer strengeren Grenzbeziehungen. Zunächst war die Schule noch am Vorbild des alten Hauswesens orientiert, wo der Lehrer alle Lernwilligen aller Altersstufen in seiner Wohnstube unterrichtete; oder es erfolgte der Unterricht in Klosterschulen und Kollegien in großen Hallen, wo in verschiedenen Teilen des Raumes unterrichtet wurde, aber auch in altersgemischten Gruppen. Die weitere Geschichte läßt sich beschreiben als ein Prozeß immer weitergehender Zergliederung. In der Architektur drückt sich ein pädagogisches Prinzip aus: Trennung der Schule vom Leben, Trennung des geplanten Lernens von der alltäglichen Erfahrung, Trennung der Kinder nach Altersgruppen, Trennung der Kinder nach sozialem Status und nach Lerngeschwindigkeiten (Schultypen). Die Schule wird zu einer Art Sortiermaschine. Die |b 71|Grundrisse unserer pädagogischen Anstalten sind das Bilderbuch dazu.
[065:24] Parallel dazu verläuft eine gleichsinnige Entwicklung des privaten Wohnens, jedenfalls im Bür|a 341|gertum. Aus dem Hallen-, Saal- oder Dielenhaus wird zunächst die Arbeitsstätte des Vaters abgegrenzt; es folgen die Schlafkammern und die Küche, dann separate Räume für die Dame und den Herrn, von der Halle bleibt schließlich ein Wohnzimmer und der Flur übrig. Das letzte Glied in der Kette ist das Kinderzimmer.
[065:25] Auch hier also das gleiche Prinzip: die Konstruktion einer Lernwelt für das Kind, in der die möglichen Erfahrungen schon pädagogisch präpariert sind; die Abtrennung dieser Lernwelt vom Leben der Erwachsenen; das Abstrakt-Werden des Lernens und der Lernziele und die möglichst wirkungsvolle Überwachung der Lernvorgänge.

2. Die Erziehungszeit

[065:26] Erwachsen-Werden, Erfahrungen machen, Lernen – das ist vor allem ein Geschehen in der Zeit. Auch diese haben wir gründlich pädagogisiert. Ich erwähnte schon die kulturelle Angewohnheit, Kinder nach Altersstufen und Lerngeschwindigkeiten zu sortieren. Darin steckt ein Denk- und Handlungsschema, das Zeitquanten und Lernleistungen aufeinander bezieht. Nun ist vermutlich keine Kultur denkbar, in der der Vorgang des Heranwachsens nicht in irgendeiner Form zeitlich strukturiert wird. Allein: wie diese Zeitstruktur beschaffen ist, macht den Unterschied aus und wie strikt die Kinder gehalten sind, dieser Struktur zu folgen. Ein Kind kann freilich vieles lernen und also auch, sein Leben an kulturell eingespielten Zeittakten zu orientieren. Aber gibt es nicht vielleicht Zeittakte, die dem Kind Schaden zufügen? Die Bildsamkeit des Kindes und sein Fortschreiten auf dem Wege der Erfahrung sind von vielen Faktoren bestimmt; in jedem Fall aber muß es eine Balance finden zwischen seinen eigenen subjektiven Rhythmen von Spannung und Entspannung, Bedürfnis und Befriedigung, Aufgabe und Lösung der Aufgabe, Wahrnehmung und Verarbeitung der Wahrnehmung einerseits – und den ihm von den Erwachsenen zugemuteten Rhythmen der regelgerechten Bewältigung solcher Probleme. Unser Typus des Umgangs mit der Bildungszeit von Kindern hat m. E. eine geradezu provozierende Ähnlichkeit mit dem Zeittakt industrieller Fertigung. Wir haben – so könnte man in etwas zugespitzter Analogie sagen – in den letzten 200 Jahren zu bedenkenlos die Entwicklung vom hauswirtschaftlichen Hand|b 72|werksbetrieb über die Manufaktur zum industriellen Großbetrieb in der Erziehung zu imitieren versucht.
[065:27] Da aber bleibt vieles auf der Strecke. Die folgenreichen Ereignisse im Lebenslauf eines Kindes sind, nach dem Willen unserer Erziehungsplanung, weniger die bedeutsamen Erfahrungen, die das Kind macht, die Entdeckungen in Familie und sozialer Umwelt, auch Kränkung und erfahrenes Leid, sondern die Gruppierungen und Umgruppierungen zu den dafür vorgesehenen Zeitpunkten: mit 3 Jahren in den Kindergarten, mit 6 Jahren in die Grundschule, mit 10 Jahren Umgruppierung auf die weiterführenden Schulen oder – in der Orientierungsstufe –
Vorgruppierung
usw. Wer im Zeittakt mithalten kann, ist erfolgreich, wer nicht, hat an den Folgen lange zu tragen.
[065:28] Diese Industrialisierung der Bildungszeit, da sie mit zentralistischer Mentalität durchgesetzt wird, wirkt auch in das mikropädagogische Geschehen, die Familie hinein. Ich habe die Vermutung, daß die Zerstörung der Erziehungskraft der Familie nicht so sehr von den familienpolitischen Eingriffen des Staates, wie man gegenwärtig immer häufiger hören kann, ausgeht, sondern daß das Übel darin liegt, daß unser institutionalisiertes Erziehungssystem mit seinen mechanischen, Lernzeit und Lernleistung verrechnenden Schemata die der Familie immer (noch!) mögliche Balance zwischen dem individuellen Bedürfnis-, Erfahrungs- und Bildungsrhythmus der Kinder einerseits und dem in die Arbeitswelt eingepaßten Zeitrhythmus der Eltern andererseits allmählich untergräbt. (Schon heute schaffen viele Familien das nicht mehr.)
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3. Die Werkzeuge der Bildung

[065:29] Ich denke, daß es nützlich ist, den Bildungsprozeß eines Kindes zu betrachten als eine ununterbrochene Kette von Auseinandersetzungen mit dem Szenarium, in dem es lebt und das ihm von uns, den Erwachsenen, präsentiert wird. Zwar treten, jedenfalls in der Regel, die agierenden Personen dieses Szenariums am deutlichsten hervor. Seine bestimmte Gestalt erhält das Ganze aber ebensowohl durch die Medien, die Mittel oder Instrumente, die symbolischen und die dinglichen, mit denen das Kind seine Handlungen und mit denen der Erwachsene seine Beziehung zum Kind gestaltet, instrumentiert. An dieser Instrumentierung läßt sich vielleicht am besten ablesen, daß das um die Jahrhundertwende verkündete
Jahrhundert des Kindes
einen doppeldeutigen Klang hat. Es ist weniger das |b 73|Jahrhundert des Kindes geworden als vielmehr das Jahrhundert der von den Erwachsenen ausgedachten Kindheit.
[065:30] Wenn man – was ich bisher zu skizzieren versuchte – die Welt des Kindes erst einmal räumlich und zeitlich ausgegrenzt, umzäunt und nach dem Prinzip der Produktion von Lernerfolgen geordnet hat, dann ist der Gedanke konsequent, daß auch die Medien und Gegenstände dieses Feldes pädagogisch arrangiert werden müssen. Denn wenn die Gegenstände, die Tätigkeiten, die Handlungen und Handlungsorte der Erwachsenen nicht mehr als die rechte Lernwelt für das Kind gelten können oder sollen, dann muß man sich überlegen, was an ihre Stelle treten kann – und das ist beispielsweise die Spielzeugindustrie.
[065:31] Bis fast zum Beginn des 18. Jahrhunderts war das Repertoire von Spielsachen für Kinder ziemlich begrenzt und blieb über die Jahrhunderte hinweg fast gleich: Reifen, Ball, Kreisel, Windrad, Puppe, Stelzen, Drachen, Schelle, Trommel, Steckenpferd usw. Das änderte sich im 18. Jahrhundert ziemlich rasch: Ein Nürnberger Spielzeug-Katalog von 1790 enthält bereits 1200 Artikel. Das zur gleichen Zeit im Entstehen begriffene Kinderzimmer mußte ja nun gefüllt werden. Und da dem Kinde die Teilnahme am Leben der Erwachsenen immer mehr verwehrt wurde und es deshalb die unmittelbare Anschauung immer mehr entbehren mußte, entsteht im Spielzeug eine imitierte Welt. Diese Lernwerkzeuge aber sollen vom Kind nicht wahllos verwendet werden, sondern in einer der Bildung förderlichen Ordnung. Es entsteht deshalb auch eine Theorie des kindlichen Spiels und mit ihr eine neue Kategorie von Werkzeugen: das ausgesprochene Lernspielzeug oder die Lernmaterialien: Baukästen, Lotto-Spiele, Rechen- und Lese-Spiele. In ihnen wird die Welt der Erwachsenen und die dort mögliche Erfahrung nicht einmal mehr nachgeahmt, es werden nur besondere – wie die Psychologie das dann nennt – kognitive Fähigkeiten trainiert; man sieht schon: Die Schule mit ihren Erwartungen dringt in die Familie ein und
abstraktifiziert
(Sohn-Rethel) die Handlungs- und Lernmuster.
[065:32] Natürlich zieht die Konstruktion pädagogischer Werkzeuge noch weitere Kreise: Es werden – allerdings schon 200 Jahre früher – die Prügelstrafe erfunden, dann die ordentliche Sitzordnung, die Schulbank und – vielleicht das Wichtigste – das pädagogische Sprachspiel. Kinder und Erwachsene lesen nicht mehr das Gleiche. Zu Kindern – glaubt man – müsse man anders reden als zu seinesgleichen, vor allem muß man ihnen die Welt in der präparierten Form von Kindergeschichten präsentieren usw.
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4. Die pädagogischen Beziehungen

[065:33] Wird die Welt des Kindes derart vermessen, gegliedert, geordnet, arrangiert, dann bleibt es nicht aus, daß auch die persönlichen Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern davon betroffen sind. Auch die Welt des Kindes ist inzwischen professionalisiert, von einer Fülle von Experten bevölkert. Unsere Beziehung zu Kindern – so scheint es – wird dadurch nicht notwendig |a 342|besser, eher vielleicht problematischer. Das zeigt sich wie in einem Schlaglicht in der Gesprächspsychotherapie: Dort wird vom Therapeuten verlangt, er solle
echt
sein, und er müsse in seiner Ausbildung lernen, dies im Verhalten zu seinen Klienten zu realisieren. Ein Experte für
Echtheit
also! Eine merkwürdige Entwicklung, die solche Blüten treibt – aber folgerichtig angesichts des Gewimmels von pädagogischen Berufen, deren Inhaber sicher alle ihre Sache gut können, aber jeder etwas anderes: die Grundschullehrer, Hauptschullehrer, Realschullehrer, Gymnaiallehrer, Sonderschullehrer, die Psychotherapeuten, Gesprächstherapeuten, Verhaltenstherapeuten, Psychologen, Logopäden, Gruppenberater, Einzelberater – und gelegentlich hört man schon, daß nun auch noch Eltern ein Zertifikat erwerben sollten, das ihnen ihre Erziehungsfähigkeit bescheinigt. (Ein französischer Kritiker:
Kasperletheater
.)
Es gibt Kinder, die wie an einem Fließband von Experte zu Experte weitergereicht werden und deren Probleme dadurch dennoch nicht gelöst, eher noch vermehrt werden. Jeder dieser Experten verfügt natürlich über ein solides Berufswissen, bedient sich einer bewährten Theorie – einer Umwelt- oder Lern- oder Gesellschafts- oder Triebtheorie –, und er hat den zwar nicht
bösen
, aber den
Experten- Blick
, unter dem sich dieses konkrete Kind allzu leicht zu einem Fall des
homo educandus
verwandelt: der gute oder schlechte Schüler, der Sonderschüler, das schwierige Kind, das therapiebedürftige, entwicklungsgehemmte, sitzengebliebene Kind – und wie unsere Etiketten alle heißen mögen. Das Ghetto, das wir der Kindheit gebaut haben, ist unausweichlich – so scheint es jedenfalls bisweilen.
[065:34] Vielleicht hat meine Beschreibung einen zu pessimistischen Klang bekommen. Vielleicht auch wird sie als
romantisch
mißverstanden. Um alles noch einmal in einem Beispiel zusammenzufassen: Unter den Verkehrsopfern der letzten 25 Jahre befinden sich 1 360 000 Kinder; die Kinderunfallrate steigt genau proportional mit der Kraftfahrzeug-Zulassungsrate; daraufhin fragen wir nicht etwa, |b 75|ob unser Leben nicht vielleicht immer kinderfeindlicher, aber auch für uns Erwachsene im Grunde immer bedrohlicher wird, und versuchen es zu ändern, sondern wir erfinden die Verkehrserziehung und denken, das Problem ließe sich durch dessen Perfektionierung lösen.
[065:35] Aber dennoch muß die Entwicklung, in die wir geraten sind, keine Sackgasse oder Einbahnstraße bleiben. Es gibt Andeutungen für neue Wege der Kindheit; allerdings wird es ihnen nicht gerade leicht gemacht.
[065:36] Im Schulbau beginnt die Architektur, sich auf den Raum als Lern-Umwelt zu besinnen und das Prinzip der Kasernierung zu verlassen. Gesamtschulen und viele Grundschulen fangen gegen viele Widerstände damit an, das Korsett von Zeitrhythmen und Zeugnissen aufzuschnüren und nicht den alten Sortier-Mechanismus weiterzutreiben (IGS, Glocksee); Kinderheime versuchen, klein zu bleiben, um die Trennung von Leben und Lernen aufzuheben oder doch wenigstens zu mindern.
[065:37] Und da die Kinder in ihrer
Mittel- und Hilflosigkeit
– wie Thomas Bernhardt es sagt – sich selbst keinen Ausweg bahnen können, tun es viele Jugendliche für sie, auch um den Preis der Ungewißheit oder der Vergeblichkeit. Unsere Art zu leben
hängt ihnen zum Halse heraus
– um mich einmal so nachlässig auszudrücken. Aber das alles sind noch Minderheiten und sie scheitern häufig im Dickicht der Städte und Administrationen, der Kultusverwaltungen und der als bewährt geltenden Traditionen, der zugestellten und verstopften Zukunftsperspektiven, der zentralistischen und auf Besitzstände erpichten Mentalitäten.
[065:38] Jean Jacques Rousseau hat vor gut zweihundert Jahren dieses Dilemma recht scharfsinnig gesehen und es – allerdings an verschiedenen Stellen seines Werkes – so formuliert:
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[065:39]
Ihr verlaßt euch auf die bestehende Gesellschaftsordnung und bedenkt nicht, daß sie unvermeidlichen Veränderungen unterworfen ist, und daß ihr diejenigen, die eure Kinder erleben werden, weder voraussehen noch verhindern könnt
(Emile III, S. 192)
.
[065:40] Das andere Zitat lautet:
[065:41]
Verlaß keinen Augenblick das Steuer, oder alles ist verloren
(Emile IV, S. 211)
.
b
ø
b
Curtmann
b
In: M.-L. Könneker
b
:
b
[065:2]
»Die Kinder wollten einmal leben wie die großen Leute, und die Eltern erlaubten es ihnen für einen Tag und reisten fort. Was geschah? Des Morgens, als es Zeit zum Aufstehen war, verschliefen die meisten Kinder, weil sie gewohnt waren, sich wecken zu lassen. Da waren sie übler Laune und murrten schon, ehe sie noch den Tag angefangen hatten. Als es an das Frühstück ging, zankten sie sich schon, denn jedes wollte den Rahm von der Milch haben. Auch mit dem Brote ging es nicht in Einigkeit her, denn ein jedes schnitt sich selbst ein Stück ab, aber das eine schnitt das Stück zu dünn, das andere zu dick, das dritte wollte das Krustenstück haben und das vierte wollte es ihm nicht lassen. Das jüngste schnitt sich sogar in die Hand, und es mußte Zunder und Spinnwebe gesucht werden, um das Blut zu stillen. Als dies vorüber war, sollte es in den Garten gehen. Doch man war schon wieder nicht einig denn die Knaben wollten lieber auf die Straße laufen. Allein, weder zum Gehen in den Garten noch auf die Straße war der Anzug geordnet. Das eine der Kinder konnte die Schuhe nicht anziehen, das andere die Strümpfe nicht binden, wieder eines sein Kleid nicht zustecken, und wen es darum ansprach, der wollte ihm nicht helfen. Da war wieder Not an |b 67|allen Ecken. Zuletzt liefen die meisten ungewaschen und ungekämmt und in verkehrtem Anzuge fort. Doch auch in dem Garten tat es nicht lange gut. Weil sie leben wollten wie die großen Leute, so glaubten sie, sie dürften auch unreifes Obst essen, sobald es ihnen gefiele. So geschah es denn, daß einige naschhafte Kinder sich den Magen mit halbreifen Pflaumen überfüllten und noch vor Mittag heftige Leibschmerzen fühlten und sich ins Bett legen mußten. Die auf der Gasse fingen zwar an zu spielen, aber das Spiel artete in Unfug aus, sie warfen sich mit Steinen und trafen in ein Fenster, ja, einer wurde sogar am Kopfe verwundet. Da hatte das Spiel auch ein betrübtes Ende. Noch schlimmer ging es dem größten unter allen Knaben. Dieser nahm seines Vaters Tabakspfeife, stopfte sie sich und fing an zu rauchen. Anfangs bewunderten ihn die übrigen, und er dünkte sich, etwas Rechtes zu sein. Aber bald schnitt er traurige Gesichter, denn ihm wurde so weh, daß er sich erbrechen mußte. Da warf er die Pfeife weg, legte sich auf die Bank und mochte die Welt nicht ansehen. [065:3] Als es Mittag war, waren nur wenige Kinder übrig, die sich an den Tisch setzen konnten, den meisten war der Appetit schon zum voraus vergangen. Die wenigen aber wollten es sich einmal besonders gut schmecken lassen, denn sie durften ja essen, was und wieviel sie wollten. Suppe wollte keines, Gemüse auch nicht, sondern Fleisch und Pfannenkuchen. Aber es war niemand da, der vorschneiden konnte. Da jedes zuerst und am meisten haben wollte, so rissen sie sich um das Fleisch wie die Hunde, und die Pfannenkuchen fielen samt der Schüssel auf die Erde. Zuletzt war jedes froh, wenn es nur satt wurde, und das beschmutzte Tischtuch und die zerbrochene Schüssel waren ihnen so ärgerlich, daß sie lieber trockenes Brot gegessen hätten. [065:4] Ach, sagten sie endlich alle, wenn doch unsere Eltern wieder da wären. Es ist doch gar keine Freude im Hause, wenn sie abwesend sind. Zum Glücke kamen die Eltern bald wieder, denn es hatte ihnen geahnt, daß es zu Hause schlimm gehen würde. Die Kinder aber haben seitdem nicht wieder begehrt, wie die großen Leute zu leben.«
1
1In: M.-L. Könneker (Hrsg.): Kinderschaukel. Ein Lesebuch zur Geschichte der Kindheit in Deutschland 1775 – 1860, Bd. 1. Darmstadt/Neuwied 1976, S. 64 f.
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T. Bernhardt:
b
[065:8]
»Der in dieser Stadt nach dem Wunsche seiner Erziehungsberechtigten, aber gegen seinen eigenen Willen Aufgewachsene und von frühester Kindheit an mit der größten Gefühls- und Verstandesbereitschaft für diese Stadt einerseits in den Schauprozeß ihrer Weltberühmtheit wie in eine perverse Geld- und Widergeld produzierende Schönheits- als Verlogenheitsmaschine, andererseits in die Mittel- und Hilflosigkeit seiner von allen Seiten ungeschützten Kindheit und Jugend wie in eine Angst- und Schreckensfestung Eingeschlossene, zu dieser Stadt als zu seiner Charakter- und Geistesentwicklungsstadt Verurteilte, hat eine, weder zu grob, noch zu leichtfertig ausgesprochen, mehr traurige und mehr seine früheste und frühe Entwicklung verdüsternde und verfinsternde, in jedem Falle aber verhängnisvolle, für seine ganze Existenz zunehmend entscheidende, furchtbare Erinnerung an die Stadt und an die Existenzumstände in dieser Stadt, keine andere.«
2
2T. Bernhardt: Die Ursache. Eine Andeutung. Salzburg 1975.
b
Th. Bernhardt
b
Wilhelm Curtmann
b
Bernhardts
b
Lernen–das
b
wie
b
Theorie des kindlichen Spiels
b
treibt– aber
b
Gymnasiallehrer
b
ø
b
unausweichlich–so
b
Bernhardt
b
Jean-Jacques Rousseau
b
Ihr verlaßt euch auf die bestehende Gesellschaftsordnung und bedenkt nicht, daß sie unvermeidlichen Veränderungen unterworfen ist, und daß ihr diejenigen, die eure Kinder erleben werden, weder voraussehen noch verhindern könnt
b
3
3J.-J. Rousseau: Emile oder über die Erziehung. in neuer dt. Fassung besorgt von L. Schmidts. Vollständige Ausgabe. Paderborn ⁴1978. III. Buch, S. 192.
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[065:39]
»Ihr verlaßt euch auf die bestehende Gesellschaftsordnung und bedenkt nicht, daß sie unvermeidlichen Veränderungen unterworfen ist, und daß ihr diejenigen, die eure Kinder erleben werden, weder voraussehen noch verhindern könnt«
3
3J.-J. Rousseau: Emile oder über die Erziehung. in neuer dt. Fassung besorgt von L. Schmidts. Vollständige Ausgabe. Paderborn ⁴1978. III. Buch, S. 192.
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Verlaß keinen Augenblick das Steuer, oder alles ist verloren
b
4
4Ebd., IV. Buch, S. 211.
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[065:41]
»Verlaß keinen Augenblick das Steuer, oder alles ist verloren«
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4Ebd., IV. Buch, S. 211.
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