Terrorismus, Jugend und Erziehung [Textkritische interaktive Ansicht mit a als Leittext]
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Terrorismus, Jugend und Erziehung

[067:1] Über den
»Terrorismus«
, seine vermutlichen Ursachen und Wirkungen, über denkbare und wünschbare Reaktionen ist in den letzten Jahren so viel diskutiert und publiziert worden, daß ich mich scheue, das Angebot an Theorien und Ratschlägen – vernünftigen wie unvernünftigen – durch einen eigenen Gedanken und auf vielleicht zweifelhafte Weise zu bereichern. Diese Scheu hat ihren Grund nicht nur darin, daß das Thema von kompetenteren Autoren nach vielen Seiten hin erörtert wurde; einer ihrer Gründe liegt in dem Eingeständnis, das Zeitgenossen und zumal Wissenschaftlern schwer über die Lippen kommt, daß man sich außerstande sieht, das Phänomen
»Terrorismus«
hinreichend zu erklären. Es gehört offenbar zum Habitus modernen Weltverständnisses, daß ein Handlungsvorschlag nur dann annehmbar gemacht werden kann, wenn die empirischen Gründe für das Ereignis, auf welches die Handlung reagieren soll, hinreichend bekannt sind. So sehr auch ich bereit bin, dies als einen aufgeklärten Grundsatz unseres Handelns zu akzeptieren: es steckt in ihm auch etwas Problematisches. Man kann das an seinen Übertreibungen studieren: Die Behauptung, der
»Terrorismus«
sei eine zwangsläufige Folge struktureller gesellschaftlicher Gewalt, scheint mir ebenso Bestandteil eines Erklärungs-Mythos zu sein, wie die Behauptung, man könne ihn aus den individuellen Biographien von Terroristen erklären, oder gar – hier bereits ins Absurde übertrieben – er sei eine Folge von Erziehungspraktiken, wie sie im Rahmen der Reformanstrengungen seit den sechziger Jahren bei uns einige Verbreitung fanden. Ich möchte mich in diesen Streit mit einem bescheidenen pädagogischen Gedankengang einmischen und fragen, ob es Sackgassen in unserer Reaktion auf die junge Generation gibt, ob wir faktisch Fehler gemacht haben und welche Fehler uns noch bevor|a 28|stehen könnten, ob es pädagogische Handlungsperspektiven gibt, die irgend etwas – und sei es auch nur sehr indirekt – mit
»Terrorismus«
zu tun haben. Die These, die meinen Gedankengang leitet, und die ich im folgenden erläutern möchte, lautet in roher und zugleich trivialer Form:
»Terrorismus«
und Erziehung liegen – innerhalb unseres gesellschaftlichen Systems – auf derart verschiedenen Ebenen, daß jeder Versuch, sie in einen direkten Zusammenhang zu bringen, zu falschen Reaktionen führen muß.

1. Pädagogik und Politik

[067:2] Einer der Gemeinplätze bundesrepublikanischer Bildungspolitik scheint das Meinungsstereotyp zu sein, Politik und Pädagogik, politisches Handeln und die Struktur individueller Bildungsverläufe seien untrennbar und direkt ineinander verwoben. Diese Alltags-Doxa hat auf der einen Seite zu dem – wie mir scheint – naiven Postulat geführt, Erziehung müsse immer und überall Erziehung zum Klassenbewußtsein, wenn nicht zum Klassenkampf sein; sie hat auf der anderen Seite – nicht erst als Reaktion auf jenes Postulat – zu den ideologischen Blüten der bayerischen (und freilich nicht nur bayerischen) Schul- und Schulbuchzensur bis hin zu den Praktiken der Ausführung des sogenannten Radikalenerlasses geführt (eine Art Wiederbelebung dessen, was für den Bereich der Jugendhilfe spätestens 1911 aus Anlaß des preußischen Jugendpflegeerlasses gang und gäbe war); soweit also sind wir heute gekommen.
[067:3] In solchen Positionen ist eine Art pädagogisch-politischen Aberglaubens enthalten, den ich durch drei (Pseudo-)Theoreme charakterisieren und auf das
»Terrorismus«
-Phänomen beziehen möchte.
[067:4] 1. Pädagogische Omnipotenz-Phantasien. Die Erziehungswissenschaft kennt das Phänomen; es tauchte zunächst bei Comenius, später aber bei Rousseau und Fichte auf: Die Vorstellung nämlich, die Zukunft der Gesellschaft sei mani|a 29|pulierbar oder gar determinierbar durch die Art, in der der Erziehungs- und Bildungsprozeß organisiert wird. Die vulgäre Fassung dieser Doxa kennen wir aus den periodisch wiederkehrenden Behauptungen, die Volksschullehrer oder die Lehrer überhaupt seien schuld an allerlei Unerfreulichem der jeweils gegenwärtigen Gesellschaft. Wie wenig indessen Lehrer oder andere Erziehungspersonen im Hinblick auf spätere politische Parteinahme ihrer Zöglinge vermögen, das zeigen uns nicht nur die Studien von einzelnen Biographien, sondern auch Untersuchungen zur Sozialisation. Merkmale des Sozialsystems sind im Regelfall allemal wirksamer als die Merkmale des pädagogischen Umgangs einschließlich der Medien (Bildungsinhalte), deren sich dieser Umgang bedient.
[067:5] Aber selbst diese Behauptung ist weniger solide als sie klingt: Von einer gründlichen Aufklärung des Erziehungsgeschehens und seiner Wirkungen sind wir – mit Ausnahme vielleicht einiger extremer Merkmale dieses Prozesses – noch relativ weit entfernt.
[067:6] Es ist deshalb auf eine gefährliche Art leichtsinnig, die Erscheinung des
»Terrorismus«
auf bestimmte Merkmale des pädagogischen Handelns zurückführen zu wollen. Ebenso leichtsinnig ist es deshalb aber auch, aus der Betroffenheit durch den
»Terrorismus«
sich zu pädagogischen Handlungsprognosen hinreißen zu lassen und beispielsweise eine Änderung der Erziehungspraxis (vgl.
»Mut zur Erziehung«
) als Heilmittel zu empfehlen. Das sind – um im Bild zu bleiben – eher die Rezepte von Kurpfuschern, nicht aber Empfehlungen, wie sie aus einem aufgeklärten Begriff des Erziehungsgeschehens sich ergeben könnten.
[067:7] 2. Die Ohnmachtsphantasien. Der Versuch, das Verhältnis von Politik und Pädagogik zu bestimmen, hat gelegentlich auch zu einer scheinbar entgegengesetzten Meinung geführt. Pädagogische Anstrengung wird dann als ohnmächtige idealistische Unternehmung etikettiert; das Erziehungsgeschehen – bis hin zu den Intentionen der Erzieher und Lehrer – erscheint als eine notwen|b 43|dige Folge |a 30|politischer oder sozialstruktureller Verhältnisse; der Erzieher als moralisch verantwortliches und bewirkendes Subjekt wird ausgelöscht zugunsten eines sozial-deterministischen Weltbildes. In solcher Version erscheint es, als sei es irreführend, überhaupt die Frage aufzuwerfen, ob
»Terrorismus«
und Erziehung in irgendeiner Weise etwas miteinander zu tun haben könnten. Der
»Terrorismus«
selbst wird nur begriffen als notwendige Folge der sogenannten strukturellen Gewalt gesellschaftlicher, vornehmlich politischer und ökonomischer Verhältnisse.
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[067:8] 3. In beiden Stereotypen ist ein Deutungsschema enthalten, das mindestens problematisch, für pädagogisches Handeln jedenfalls völlig unbrauchbar ist: die Konstruktion linear-kausaler Wirkungsketten. Dieses in gewisser Weise naive Deutungsschema mag zur Rechtfertigung für Interessen, zur Stabilisierung von Alltagswissen, zur Identifizierung vermeintlich Schuldiger bisweilen nützlich sein: Zum Verständnis pädagogischer Problemlagen trägt es in der Regel nichts bei. Es verführt uns höchstens zu Kurzschlüssen in der Erklärung und zu Fehlreaktionen im Handeln (wie beispielsweise die Behauptung, der
»Terrorismus«
sei eine Folge der Studentenbewegung oder man müsse ihm durch das Herauszensieren von Gewalt-Darstellungen aus Büchern begegnen und ähnliches).
[067:9] Die Warnung vor derartigen Stereotypen hat einen pädagogischen Sinn; sie hat mit der Gestalt (oder
»Struktur«
) der Tätigkeit zu tun, die wir
»Erziehen«
nennen. Ich möchte die Denkfigur, in der wir uns diese Tätigkeit begreifbar |b 44|machen können, durch einige Worte wenigstens andeuten: Wenn wir nicht wollen (und das ist ein sowohl ethisches als auch politisch bedeutsames Postulat), daß der Erziehungs- und Bildungsvorgang als eine Art Dressur-Akt organisiert wird, bei dem der erwachsene Erzieher, des anzustrebenden Ergebnisses sicher, nichts anderes tut, als die zur zweckentsprechenden Konditionierung nötigen Schritte oder Mittel zu wählen; wenn wir aber auch andererseits ebensowenig wollen, daß Erziehung nichts ist als eine Art |a 31|von Sich-Entfalten-Lassen des Kindes, freilich dann immer unter den Einwirkungen der vorgefundenen Verhältnisse, aber ohne gezielte Willensstellung des Erziehers –, dann bewegen wir uns in dem Bereich, der in der philosophischen Tradition
»Praxis«
genannt wird. In ihm geht es um die Bemühung um
»richtiges«
Handeln bzw. um die Erörterung dessen, was als
»richtiges«
Handeln gelten soll. Insofern soll Erziehung nicht nur
»Technik«
sein, sondern eben auch
»Praxis«
. Das bedeutet, daß prognostisches Wissen – und kausal-analytische Sätze über Zweck-Mittel-Relationen sind prinzipiell von dieser Art – nur begrenzt verwendet werden kann. In Prognosen nämlich wird notwendig unterstellt, daß die heute formulierten Handlungsbedingungen auch morgen noch zutreffen, daß also Zwecke und Randbedingungen gleich bleiben. Das aber ist offensichtlich eine Voraussetzung mit politischem Gehalt. Dieser politische Gehalt mag wünschbar sein; der darin liegende pädagogische Sinn dagegen ist höchst problematisch: Wir müßten die Idee aufgeben, daß, nach bürgerlichem Verständnis, die Würde der Erziehungsaufgabe darin liegt, daß die erwachsene Generation sich der praktischen Herausforderung durch die jüngere stellt, dergestalt, daß sie mit ihr im Erziehungsfeld einen gemeinsamen Erfahrungsraum schafft, dessen Effekte nicht prognostisch gesichert werden können, sondern in dem Sinne
»riskant«
bleiben, in dem
»praktisches«
auf die Subjektivität des anderen sich einlassendes Handeln das immer ist.
[067:10] Was hat das mit
»Terrorismus«
zu tun? In der Erwartung,
»Terrorismus«
und Erziehung zusammenzubringen, steckt eben jene Verführung, den Zusammenhang technisch zu sehen. Gegen diese Verführung hat die Pädagogik sich zu wehren, wenn sie nicht ihr seit Rousseau eigentümliches Ethos aufgeben will, keine bloße Fortsetzung von Politik, nur mit pädagogischen Mitteln, zu sein, sondern der Politik gegenüber Selbständigkeit zu bewahren. Dies ist – so paradox das klingen mag – der politische Sinn jenes pädagogischen Ethos.
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2. Der indirekte Zusammenhang von
»Terrorismus«
, Jugend-Problematik und Erziehung

[067:11] Will man sich überhaupt auf die Suche nach Zusammenhängen begeben, dann ist es zunächst gut, sich zu vergewissern, daß unser Wissen dürftig ist. Ich meine damit freilich nicht die überquellende Fülle von einzelnen Fakten – Fetscher, Salewski und Lanz haben sie ja gerade kürzlich zusammengestellt –, sondern das Wissen über Hintergründe und Motive, über Wirkungen und angemessene Reaktionen. Wir können also nur mit Vermutungen operieren.
[067:12] Zwei Beobachtungen scheinen mir bedeutsam: erstens die Ähnlichkeit der Gewaltäußerungen in zunächst scheinbar so verschiedenartigen Phänomenen wie den
»Halbstarken«
der fünfziger Jahre, den
»Rockern«
und den deutschen
»Terroristen«
; zweitens die Bereitschaft eines großen Teils der jungen Generation, mit der Möglichkeit gewalthafter Selbstdarstellung wenigstens in der Phantasie zu spielen, und dort, wo sie auftritt, von ihr eher beeindruckt als abgeschreckt zu sein. Soll also von der Wirkung des
»Terrorismus«
auf die junge Generation die Rede sein, dann müssen wir zu verstehen suchen, was jene Kontinuitäten, Ähnlichkeiten oder Affinitäten bedeuten können.
[067:13] Mir scheint, daß in diesen Jahrzehnten das Verhältnis der Generationen zueinander in eine verdeckte Dramatik geraten ist, die im Vergleich zu früheren Generationen-Konflikten eine neue Qualität hat. Der klassische bürgerliche Generationen-Konflikt und die Lösung der in ihm auftauchenden Identitätsprobleme vollzogen sich im Medium einer Auseinandersetzung mit der Realität; für diese war die eigene Familie, insbesondere der Vater, das Modell. Der Konflikt war offen, auch bisweilen dramatisch; er hatte seine Szene, er hatte eine identifizierbare Form. – Diese für die Adoleszenz seit langem typische Suche nach Identität präsentiert sich in jüngster Zeit in zunehmend deutlich sichtbarer Weise anders: Der Konflikt mit den Älteren verliert seine sichtbare Dramatik; die Jugendlichen entfer|a 33|nen sich einfach; ihre Suche nach einem Lebensstil führt sie weg, sie begeben sich in die schwach strukturierten Gleichaltrigen-Gruppen hinein, leben an den Eltern vorbei, suchen einen eigenen Lebensstil nicht mehr in der Auseinandersetzung, in der offenen Opposition, die mit Widerstand der Erwachsenen rechnet und die diesen Widerstand auch will, sondern gleichsam vom Nullpunkt der eigenen Existenz aus, ohne Kontakt zur Tradition, ohne den langwährenden Streit mit den Eltern, also auch ohne Geschichte. Sie brechen die Kommunikation ab. Ich kenne keine geschichtliche Epoche, in der es in der jungen Generation eine derartige Fülle von versuchsweisen alternativen Gruppen gegeben hat wie heute. Zugleich dokumentiert sich darin eine selten kompromißlose Ablehnung der etablierten Lebensformen, die derart radikal ist, daß das Gespräch mit den Erwachsenen als sinnlos empfunden wird.
[067:14] Mir scheint, daß in diesem neuen Habitus eine unerhörte pädagogische Herausforderung liegt, für die wir indessen denkbar schlecht vorbereitet sind (an späterer Stelle will ich das erläutern). Auf diese Weise bleiben die Jugendlichen – viel stärker als das früher der Fall war – mit ihrer Problematik allein. Identitätsverbürgende Sicherheit suchen sie dort, wo sie das Versprechen einer alternativen Lebenspraxis, und seien es nur deren Symbole, finden oder zu finden wähnen: im kommerziellen Angebot der Idole und der damit verbundenen Verhaltensmuster, in ökologischen, religiösen oder neuerdings auch therapeutischen Lebensgemeinschaften, in politischen Theorien und den sie propagierenden Gruppen und Sekten. Die Überlebenschancen solcher Alternativen sind relativ gering. Um so wahrscheinlicher wird es, daß das Gefühl drohender Vergeblichkeit, das Zerbrechen der Realitätskontakte und die Dogmatisierung von Lebensentwürfen sich wechselseitig verstärken und Realitätserfahrungen nur noch in hoch stilisierter Auswahl zulassen. Die gleichsam einprogrammierte hohe Wahrscheinlichkeit des Scheiterns läßt den Gedanken an gewalthafte Lösungen mindestens als Phantasie zu: Die Schwelle wird niedriger. Zwei Beispiele mögen für viele |a 34|stehen: die Selbstbiographie Michael Baumanns zur Ermordung des Bundesanwaltes Buback. Baumann schreibt über die Anfänge:
[067:15]
»Die K I-Typen waren schon anders, zu denen hast du auch anders Kontakt gekriegt. Es waren auch die einzigen, die so’ne Musik gehört haben, die auch lange Haare hatten, im Gegensatz zu denen vom SDS, die sahen ja alle noch suspekt aus. Die K I war da genau die richtige Sache, die hatte ne klare Alternative vorzuweisen im Gegensatz zu allen anderen«
(S. 17)
.
[067:16]
»Gleichzeitig waren für mich diese psychologischen Begriffe völlig neu, die Veränderlichkeit von dir selber, deine Verhaltensweisen, daß du die auch gleichzeitig mitänderst.«
(S. 18)
.
[067:17]
»Es geht ja aber darum, daß du in einen anderen Lebensprozeß reinkommst, daß du diese Entwicklungsfähigkeit gleichzeitig entdeckst. Das war eben in der K I ein wichtiger Punkt gewesen, daß über dieses Zusammenleben sich auch dein Verhältnis zum Menschen ändert«
(S. 18)
.
[067:18] Und später:
»Für mich war das sowieso klar, Revolution ist ne Gewaltgeschichte, und irgendwann fängst du damit sowieso an, und dann bereitest du dich so früh wie möglich darauf vor. Für mich war die Tendenz immer dahin, wenn du so ’ne Sache machst, dann machste se gleich richtig. Dann fängst du auch an, irgendwie Schritte in die Wege zu leiten, daß du eines Tages diese Gewalt auch wirkungsvoll einsetzen kannst gegen den Apparat«
(S. 20)
.
[067:19] Auch der Autor des Buback-Artikels gestattet sich die Gewaltphantasie und operiert entlang jener zerbrechlich gewordenen Scheibe, jenseits derer die phantasierte in wirkliche Gewalt übergeht. Beide Autoren sind aber auch Beispiele dafür, daß die Auseinandersetzung – vor allem die moralische – mit der Realität noch geführt wird und jene Verhärtung nicht eintritt, die nur noch die Gewalt als Handlungsperspektive gelten läßt. An eben dieser Stelle nun wird das Problem in einem sehr prägnanten Sinne pädagogisch. In beiden Fällen offenbarte sich unser ganzes Unvermögen, vernünftig zu reagieren: in beiden Fällen staatliche Gewalt, wenn auch in der subtilen Form der Rechtssprechung, und Gewalt der Medien in Form von bloßer Zurückweisung, Entwertung, Diskriminierung. |a 35|Wenn meine Beschreibung jener neuen Form des Generationen-Konfliktes in groben Zügen zutreffen sollte, dann ist es ziemlich wahrscheinlich, daß solche Reaktionen dazu beitragen, die zunächst nur latente Bereitschaft von Teilen der jungen Generation, gewaltsame Lösungen ihrer Identitätsprobleme gelten zu lassen, manifest wird. In dieser Hinsicht scheinen nun wirklich pädagogische und politische Probleme sich zu decken, oder doch wenigstens zu überschneiden. Immer noch scheint es so, daß das staatliche Gewaltmonopol die einzige Antwort ist – von wenigen Musterbeispielen abgesehen –, die wir bei der Auseinandersetzung mit aggressiven Tendenzen zu praktizieren vermögen, gleichviel, ob es sich dabei um Baumann, den Göttinger
»Mescalero«
, die Rocker, die Jugendkriminalität oder andere Formen von Abweichung handelt.
[067:20] In gewisser Weise ähneln sich die Mentalitäten auf beiden Seiten auf eine bedrohliche und zerstörerische Weise. Gewaltphantasien und Gewalthandlungen signalisieren ja in der Regel eine dergestalt aussichtslose Lage, daß keine andere Handlungsform als Problemlösung mehr gedacht oder praktiziert werden kann. Das eigentlich Beunruhigende an dem ganzen hier zu bedenkenden Problem scheint mir deshalb in dieser gefährlichen Ähnlichkeit zu liegen: Die Vernunft oder Unvernunft des Radikalenerlasses und seiner Handhabung, die dogmatische Gleichsetzung von Demokratie und Marktwirtschaft, die Versuche, beunruhigende Ideen aus der ganzen pädagogischen Szenerie möglichst zu liquidieren, sich keiner radikalen Auseinandersetzung mit den tiefen Zweifeln der jungen Generation zu stellen – dies alles ist Teil eines psychologischen Habitus, der nicht nur die Demokratie, sondern auch das Verhältnis zwischen den Generationen zu zerstören droht.
[067:21] Wenn es so etwas gibt, wie eine negative Wirkung des
»Terrorismus«
auf die Jugend, dann – so glaube ich – ist es dieser indirekte Weg über die gesellschaftlichen Reaktionen, die in dem Empfinden vieler Jugendlicher die Gewaltaktionen nachträglich als gerechtfertigt erscheinen lassen. Wem nichts anderes einfällt, als eine repressive Form |a 36|von Vorbeugung, Einsperren oder Aussperren, Verbieten und Drohen, Diskriminieren und Entwerten, der tut – wenngleich mit anderen Mitteln – eben das, was zu bekämpfen er vorgibt.

3. Die pädagogische Problemlinie

[067:22] Ich glaube, daß wir uns heute im Hinblick auf das Verhältnis der Generationen in einem – verzeihen Sie mir diesen pathetisch anmutenden Ausdruck – epochalen Übergang befinden. Was Schleiermacher vor 150 Jahren in seinen pädagogischen Vorlesungen postulierte – wahrhaft nicht links, schon gar nicht sozialistisch, sondern lediglich liberal und republikanisch – ist bis heute die seltene Ausnahme geblieben:
[067:23]
»Sagen wir, die Erziehung soll die heranwachsende Jugend so ausbilden, daß sie tüchtig ist und geeignet für den Staat, wie er es eben ist, so würde dadurch nichts anderes geleistet werden als dieses, die Unvollkommenheit würde verewigt und durchaus keine Verbesserung herbeigeführt werden. Die ganze jüngere Generation würde mit ihrem ganzen Wesen und unvollkommener Zustimmung in diese Unvollkommenheit eingehen«
(S. 30)
. Deshalb soll die Erziehung
»so eingerichtet werden«
, daß
»beides in möglichster Zusammenstimmung sei, daß die Jugend tüchtig werde einzutreten in das, was sie vorfindet, aber auch tüchtig in die sich darbietenden Verbesserungen mit Kraft einzugehen«
(S. 31)
.
[067:24] Statt daß es uns gelungen wäre, der Jugend zu helfen,
»mit Kraft«
in jene
»Verbesserungen«
einzugehen, drohen wir ihnen dort, wo sie es versuchen – freilich häufig ungeschickt, häufig auch mit uns gefährlich anmutenden Sympathien, häufig auch für uns beängstigend – mit dem Abbruch der Kommunikation und bereiten gerade auf diese Weise den Boden dafür, daß die Modelle der neuen Gewalt ansteckend wirken können. Der Versuch, auf diese Herausforderung mit den Mitteln der preußischen Kultus-Verwaltungen zu reagieren, ist – wie viele gegenwärtige Tendenzen zeigen – gewiß eine Möglichkeit, aber eine |a 37|miserable. Würde es wirklich geschehen, daß die bürgerliche Demokratie wieder in den Status eines Gemeinwesens zurückgeführt wird, in dem mit ideologischen, ökonomischen und polizeilichen Mitteln ein unkritisches, die herrschenden Verhältnisse nur noch akzeptierendes formiertes Bewußtsein erzeugt werden soll, dann – so fürchte ich – wird das nur auf dem Wege der Gewalt möglich sein. Bis dieser Zustand erreicht ist, wird die Gewalt und das Sympathisieren mit ihr nicht nur im Staat und in den Köpfen von Politikern, sondern auch in der jungen Generation wachsen. Am Ende wäre nicht nur der Terrorismus, sondern auch die Demokratie am Ende. Wer das nicht will, muß die Risiken auf sich nehmen, die auf dem in den sechziger Jahren eingeschlagenen Weg neuer Perspektiven im pädagogischen Umgang der Generationen liegen. Es ist ja auch eine der negativen Wirkungen des Terrorismus, daß die
»neue Gewalt«
sich als eine Schlüsselfigur anbietet, die andere, vielleicht pädagogisch bedrohlichere Erscheinungen, in den Hintergrund des Bewußtseins verdrängt: die Drogenproblematik, das Ausmaß psychischer Störungen im Jugendalter, die Resignation, die große Zahl von Selbstmorden von Jugendlichen. Diese selbstzerstörerischen Tendenzen übertreffen dem Umfang und der pädagogischen Bedeutung nach den
»Terrorismus«
bei weitem: eine Gewalt nach innen, für die wir niemanden verantwortlich machen können als uns selbst. Der
»Terrorismus«
dagegen bietet die Chance eines großartigen pädagogischen Ablenkungs- und Verdrängungsmanövers.
[067:25] Ich sehe drei Typen von Problemen im Umgang mit der Jugend, die wir lösen müssen, wenn wir ein dem Stand der geschichtlichen Entwicklung und der pädagogischen Vernunft angemessenes Verhältnis zwischen den Generationen wollen:
  1. 1.
    [067:26] Wir müssen die Aporien der Identitäts- und Lebensstilsuche akzeptieren lernen, auch dort, wo sie sich in Formen äußern oder Inhalte zum Thema machen, die für uns fremd, |a 38|beängstigend, bedenklich erscheinen. Wir müssen lernen zuzugeben, daß sie ein Teil von uns sind, oder doch wenigstens sein können.
    »Teil von uns«
    sind sie in einem doppelten Sinne: Zum einen haben wir alle (vermutlich) die Identitäts-Krisen unseres Jugendalters unter anderem dadurch überstanden, daß die das Gegebene überschießende Phantasie schließlich gebremst, in die Kanäle der sozialen Realität, des Hier und Heute, geleitet wurde; aber wir haben wohl auch noch eine Erinnerung daran, die uns vielleicht immer noch in Zorn versetzt, vielleicht beunruhigt, vielleicht als
    »romantischen«
    Teil unserer selbst geniert; vielleicht auch sind wir geneigt, diesen Teil im biographischen Rückblick verächtlich zu machen. Zum anderen stammen sowohl Inhalt als auch Form jener Phantasien der jungen Generation – fast überflüssig zu sagen – nicht aus deren
    »Natur«
    , sondern sind nichts als eine Reaktion auf die Lebensmodelle, die wir ihnen anbieten, auf die Art des Umgangs, den wir mit ihr wählen (einschließlich freilich der Institutionen, die wir für sie schaffen). Deshalb müssen wir den Dialog über Alternativen ernsthaft führen; nur so kann die in den radikalen und dogmatischen Phantasien verlorengehende Geschichtlichkeit und die Auseinandersetzung mit der Realität wieder gewonnen werden.
  2. 2.
    [067:27] Wir müssen uns – wenigstens im Dialog mit der jungen Generation – zu dem Mut entschließen, der den Pädagogen Rousseau noch in die Paranoia trieb: Daß der Prozeß der Wahrheitsfindung prinzipiell unabschließbar ist. Dogmatisch verhärtete theoretische Konstrukte, hochstilisierte Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit,
    »Parteilichkeit«
    als Rechtfertigung für fehlende Argumente, die Sympathie für geschlossene Systeme und Gesellschaften: das alles ist auf der konservativen und rechten Seite unserer politischen Skala häufiger (wenngleich weniger ausdrücklich) als auf der linken. Die Erwachsenen dieser Gesellschaft machen zu großen und einflußreichen Teilen der jungen Generation eben das vor, was sie – wenn es ihnen gegenübertritt – an dieser beklagen. Selbstsicherheit in der Darstellung des |a 39|eigenen Lebensstils und Selbstgerechtigkeit (die sozialpsychologische Seite jenes Dogmatismusproblems): mit diesem pädagogisch folgenreichen Unterschied können offenbar viele der Repräsentanten unseres öffentlichen Lebens, aber auch Eltern und Erzieher, nicht umgehen.
  3. 3.
    [067:28] Die Fähigkeit des ethischen Argumentierens befindet sich bei uns auf einem Niveau, dessen Dürftigkeit vermutlich Kant sich nicht hätte träumen lassen. Ethik – das bedeutet innerhalb unseres Erziehungssystems immer noch die manipulative oder suggestive Durchsetzung der moralischen Präferenzen der Erwachsenen, nicht aber das argumentative Erörtern und Abwägen derjenigen Normen, die als konsensfähig für alle akzeptierbar wären. Solange wir uns auf den Rechtfertigungs- oder Urteilstypus konventioneller Moral verlassen, müssen wir damit rechnen, daß die junge Generation ebenso verfährt; nur wird sie ihre eigenen Konventionen schaffen und dann, da der argumentative Austausch ausbleibt, resignieren, sich zurückziehen und gelegentlich zurückschlagen – sofern sie sich nicht in das vermeintlich Unabänderliche fügt. Woher nehmen wir dann das Recht, ihr ethische Vorwürfe zu machen?
    Pädagogen sind heute und in dieser Gesellschaft herausgefordert, Probleme dieser Art zu lösen. Wir sollten peinlich darauf sehen, daß die Erziehung nicht zu einem verlängerten Arm des Systems
    »innerer Sicherheit«
    degeneriert. Die Anzeichen sind eher beängstigend.
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Jugend und Terrorismus

Wider den pädagogisch-politischen Aberglauben

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Pädagogische Omnipotenz-Phantasien.
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Die Ohnmachtsphantasien.
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Linear-kausale Wirkungsketten

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Terrorismus, Jugend und Erziehung
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