Historische Umbrüche und ihre Folgen für die Pädagogik [Textkritische interaktive Ansicht mit a als Leittext]
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[082:1] Übersicht: Die Geschichte der systematischen Erörterung pädagogischer Probleme beginnt in unserem Kulturkreis im Jahre 1657: Johann Amos Comenius veröffentlichte damals eine
»vollständige Kunst, alle Menschen alles zu lehren«
. Pädagogisches Bewußtsein reicht freilich bis ins erste vorchristliche Jahrtausend zurück. Vor dieser
»Achsenzeit«
(Karl Jaspers) war der Umgang mit der nachwachsenden Generation noch nicht zu einem gesellschaftlichen Prozeß unter dem Begriff Erziehung stilisiert. Mit Comenius kam eine pädagogische Ungewißheit zur vorläufigen, theoretischen Ruhe, die seit dem ausgehenden Mittelalter die sozialen Umbrüche – Erstarken der Geldwirtschaft und der Stadtkultur – begleitet hatte. Die Anfänge der neuzeitlichen Erziehungs- und Bildungstheorie entsprangen der realhistorischen Herausforderung, für die neuen Lebensformen eine Pädagogik zu finden, die zuverlässige Lebensorientierungen bot. Die Theoretisierung der Pädagogik, verbunden mit dem Erfolg des Buchdrucks, schematisierte die Vorstellung vom Kind und rief nach Korrekturen im Sinne einer größeren Rücksicht auf die Persönlichkeit des einzelnen Kindes. Diesen Intentionen entzogen die sozialen Veränderungen im neunzehnten Jahrhundert den Erfolg. Die industrielle Revolution stürzte die Pädagogik in eine tiefe Krise, die bis zum Ende des Ersten Weltkriegs dauerte. Für Deutschland wurde die Weimarer Republik eine Zeit des pädagogischen Aufbruchs. Damals begann, was noch heute als Pädagogik im Sinne akademischer Forschung und Lehre gilt.
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Historische Umbrüche und ihre Folgen für die Pädagogik

[082:2] Im Jahre 1657 erschien in deutscher Sprache eine
»vollständige Kunst, alle Menschen alles zu lehren«
; ein Jahr später publizierte derselbe Autor ein lateinisch-deutsches Bilder- und Lesebuch für Kinder, ein
»kleines Büchlein: aber gleichwohl ein kurzer Begriff der ganzen Welt und der ganzen Sprache«
. Der Verfasser dieser erstaunlichen Versprechungen war Johann Arnos Comenius. Wer heute über Erziehung und Unterricht nachdenkt, profitiert – wissend oder unwissentlich – von der Pädagogik des Comenius, der wie mit einem Paukenschlag das systematische Erörtern von pädagogischen Problemen in die europäische Kultur einführte – freilich flankiert von vielen anderen. Wie war das möglich, welches sind die Gründe dafür?
[082:3] Daß es so etwas wie pädagogische Probleme gebe, war auch den vorangegangenen Generationen vertraut. Der
»Paukenschlag«
des Comenius erreichte Ohren, die über Jahrhunderte hinweg vorbereitet waren. Diese Vorbereitung reicht bis in jene Epoche der Geschichte hinein, die
Karl Jaspers (1949)
»Achsenzeit«
nannte (etwa 800–200 v. Chr.) und die die Wende von den archaischen Kulturen hin zu denen markiert, die eine gemeinsame Gattungsgeschichte zu ihrem Thema machen. Vordem, so scheint es und so belehrt uns die Ethnologie am Beispiel sogenannter |a 364|primitiver Kulturen, gab es das nicht, was wir, in moderner Perspektive,
»pädagogische Probleme«
nennen. Archaische Kulturen kennen derartige Fragen nicht als Fragen; der Umgang mit der nachwachsenden Generation ist in einen kosmischen Zusammenhang eingebettet, ist selbst ein Moment dieses Zusammenhanges, das nicht änderbar ist.
»Natur«
und
»Gesellschaft«
, dieser für uns selbstverständlich gewordene Unterschied, sind noch nicht geschieden. Die Scheidelinie trennte vielmehr
»das Bekannte vom Fremden, das
Geheure
vom
Nicht-Geheuren
«
(Zimmermann 1983, S. 140)
; da ist kein Platz für
»Pädagogik«
, sondern nur für ganzheitliche Teilnahme an der Praxis dieser Kulturen, für
»Gabentausch«
.
[082:4] Erst mit der
»Achsenzeit«
ändert sich das. Unter Bedingun|A 161|gen, die den Menschen denken lassen, daß die Welt seiner Lebensformen und die Welt der Naturereignisse verschieden seien, ist auch der Gedanke möglich, daß der einzelne Erwachsene für das ihm gegebene einzelne Kind eine persönliche Verantwortung übernehmen könne oder daß eine ältere Generation im Umgang mit einer jüngeren dafür Sorge zu tragen habe, daß diese jüngere den kulturellen Bestand weitertrage oder gar ihn verbessere. Das aber sind bereits späte neuzeitliche Formulierungen, |B 141|an Rousseau und Schleiermacher angelehnt. Der Weg bis dahin verlief über mehrere krisenhafte Stationen: die Entdeckung des Ich in der klassisch-griechischen Antike und das damit entstehende Bildungsproblem einer Balance zwischen Individualität und Sozialität; die Entdeckung einer offenen Zukunft im Spätmittelalter und die damit verbundene Frage, wie man, bei Wahrung des christlich überlieferten Menschenbildes, für ein noch unbekanntes Morgen erziehen könne; die bürgerliche Industrie und Demokratie und die damit gesetzte Aufgabe, qualifizierte Leistung und Gerechtigkeit in den Bildungschancen ins Gleichgewicht zu bringen.

Geldwirtschaft und Stadtkultur

[082:5] Die erste große Verunsicherung, die das Erziehungsdenken des christlichen Europa erfaßte, begann im Spätmittelalter und nahm ihren Ausgang in den Stadtkulturen. Neben dem Adel, dem Klerus und den Bauern kündigte sich in den Städten eine neue Lebensform an – wie schon einmal ähnlich in der griechisch-antiken Polis – mit einer völlig andersartigen materiellen Basis: dem Warentausch, der stadtarchitektonisch im Markt symbolisiert ist (s. den Beitrag von W. S. Freund in Bd. II und von K. W. Rothschild in Bd. VIII). Die Bürger dieser Stadt hatten nun nicht nur Waren in ihren Speichern, sondern auch Geld in ihren Taschen. Wie soll man damit umgehen? Die Folgen waren unabsehbar, denn nun schien es, als wären nicht nur Personen gleichen Standes einander gleich, sondern als bemesse sich Gleichheit und Ungleichheit nach dem Kriterium des Geldbesitzes (s. den Beitrag von K. Heinemann in Bd. VIII). Daß Menschen gar von nichts als dem Geldverkehr leben konnten (Banken), erschien absurd; es paßte weder zu den christlichen noch zu den heidnisch-bäuerlichen Überlieferungen. Wer soll regieren, die Kaufleute oder die Handwerker? Oder kann vielleicht jeder – wie die Teilnehmer an den em|a 365|porschießenden Wett- und Glücksspielen im Florenz |A 162|des vierzehnten Jahrhunderts glaubten – teilnehmen an der Geld/Macht-Gleichung? Girolamo Savonarola verbrannte die Symbole derartiger
»Eitelkeiten«
1498 auf der Piazza del la Signoria in Florenz – und wurde an derselben Stelle wenig später selbst verbrannt. Sein Protest hatte keine Chance (Warnke 1973). Um 1440 aber hatte schon ein Kaufmannssohn, Humanist und Architekt, Leon Battista Alberti, in einem langen Traktat
»Über das Hauswesen«
zu bedenken gegebenAB, ob nicht doch – trotz aller scheinbaren Unvereinbarkeit mit den Traditionen – die kaufmännische, durch den Geldverkehr bestimmte Lebensform der neuen Stadtbürger moralisch gerechtfertigt werden könne. Er hätte sich dabei auf einen Autor berufen können, den Abt eines Klosters in Kalabrien, Joachim von Floris (Fiore), der um 1200 schon den zwei bis dahin angenommenen Weltaltern (dem des Alten und dem des Neuen Testaments) ein drittes
»sub tipico intellectu«
hinzufüg|B 142|te, in dem der Heilige Geist sich unmittelbar in der Vernunft des Menschen ausdrücke und das nun bald beginnen werde (Tondelli 1953, Grundmann 1927). Diese These war der Stadtkultur der Renaissance willkommen, denn dieses dritte Weltalter schien nun wirklich angebrochen zu sein, die Vernunft des Menschen schien – in der Distanzierung von klerikaler Dogmatik, ABder Geldwirtschaft der Kaufleute, ABder auf Erfahrung sich gründenden Wissenschaft – ein zukunftsfähiges Projekt zu sein. Gut zwanzig Jahre, nachdem Savonarola die Symbole der neuen Lebensform verbrannt hatte, erschien das Werk des Joachim von Floris erstmals und in großer Auflage in VenedigAB, denn inzwischen hatte sich, durch Gutenbergs (oder anderer) Erfindung, die Stadtkultur ihr Medium geschaffen, mit dessen Hilfe sie, außer dem Handel und als universelles Bildungsinstrument, ihre Perspektive der Weltgeschichte durchsetzen konnte.
[082:6] Was haben diese hier nur skizzierten historischen Andeutungen mit pädagogischen Problemen zu tun? Die angeführten Sachverhalte setzten sich freilich in ihren allgemeinen Bedeutungen erst allmählich, über die Distanz von etwa zweihundert Jahren durch; und diese Zeit, man kann es sich kaum anders vorstellen, muß für die Zeitgenossen ein schwieriges Schwanken zwischen verschiedenartigen Orientierungen gewesen sein. Was in der Literatur zwischen Dante, Petrarca, Rabelais und schließlich Shakespeare sich abspielte, hatte eine Entsprechung in den Niederungen des pädagogischen Alltags und in den Zwischen|A 163|zonen der nun neu entstehenden Gruppe pädagogisch interessierter Autoren.
[082:7] Die Niederungen des Alltags: Was wünschte sich ein Weber in Nürnberg, ein Drucker in Basel um 1520 für seine Kinder? Wenn sie zur Kenntnis nahmen, was im städtischen Magistrat und in Gasthöfen geredet, was von guten Handwerkern, Künstlern produziert, was von Predigern empfohlen und was an populärer Druckgraphik auf dem Marktplatz verkauft wurde, dürfen wir sie uns als Menschen vorstellen, die auf der Suche waren und die nicht sicher sein konnten, welches der verschiedenen Angebote wirklich zukunftsfähig wäre: Hatte die Äbtissin Charitas Pirckheimer (Schwester eines Dürer-Freundes) recht, die ihre Nonnen gegen den säkularisierten Zugriff des Magistrats verteidigte? Hatten die faszinierend perspektivischen, avantgardistischen Holzschnitte Albrecht Dürers recht, der auf |a 366|Theorie, auf Mathematik und Konstruktion und auf das produktive einzelne Individuum setzte? Sollte man sein Kind in die Schule schicken – und in welche? In die Klosterschule, die Magistratsschule, zu einem der Rechen- und Lesemeister (für die Holbein in Basel ja sogar schon Reklameschilder gemalt hatte)? Sollte man den Ratschlägen der Pfaffen folgen oder nicht vielleicht doch den Empfehlungen des berühmten Erasmus von Rotterdam, dessen Bücher zwischen Löwen und Krakau in unzähligen Druckereien hastig gedruckt wurden? Und |B 143|die Meinung des Augustinermönchs Martin Luther, jedermann solle lesen können, gilt sie auch für meine Kinder? Und das Rechnen – ist es nicht lebensnotwendig?
[082:8] Die Zwischenzonen pädagogisch interessierter Literaten: Daß eine Umwandlung des Erziehungswesens von seiner mittelalterlichen in eine moderne Gestalt hinein bevorstand, war den Zeitgenossen bewußt. Aber welche Probleme waren zu lösen, welche Prinzipien zu finden? Die humanistisch-reformatorische Essayistik nahm sich der Problemlage an. Philipp Melanchthon beispielsweise hebt die historische Komponente der neuen Bildungsaufgabe deutlich hervor:
»Denn was were dieses für ein Stad / da alle Burger in großem reichthumb / frieden vnd wollust lebeten / vnd were doch in solcher stad kein erkentnis Gottes / kein Mensch der schreiben vnd lesen könde / hetten kein Calender / wisten gar nichts von Historien / vnd alten Geschichten / die vns ein Spiegel sein sollen vnsers lebens / vnd vns allerley erinnern / |A 164|Welcher vernunfftiger wolt in solcher Stad wonen«
(zit. nach Ballauff, Schaller 1970, Bd. II, S. 60).
[082:9] Erasmus versucht die Grundsätze eines gebildet-gesitteten Betragens herauszustellen, die für diese beginnende Neuzeit Geltung beanspruchen konnten. Montaigne formulierte das Prinzip der freien Bildungstätigkeit als Kritik an der überlieferten
»Schulmeisterei«
:
»Ich will, daß er [der Erzieher] den Zögling reden lasse und anhöre ... Unsere Seele geht nur am Gängelband, gebunden und den Regungen fremden Willens unterworfen, hörig und geknebelt unter der Fuchtel ihrer Unterweisung. Man hat uns so sehr an die Leine genommen, daß wir des freien Ganges entwöhnt sind. Unsere Kraft und Freiheit sind dahin«
(Montaigne 1953, S. 186 f).
[082:10] Diese Anfänge neuzeitlicher Erziehungs- und Bildungstheorie entwickelten sich also unter der Bedingung der realhistorischen Herausforderung, für die neu entstehenden Lebensformen nun auch die
»richtigen«
pädagogischen Deutungen und Perspektiven, angesichts der Krise mittelalterlicher Orientierungen einen zukunftsfähigen Ausweg zu finden. Es ist die theoretische Leistung der Literaten, in dieser Situation einen Zusammenhang zwischen der geschichtlichen Überlieferung (vor allem der Antike) und den Zukunftsaufgaben hergestellt zu haben; und es ist die praktische Leistung des städtischen Frühbürgertums, in dieser Krise eine pädagogisch rechtfertigungsfähige Lebensweise gefunden und darin zugleich die pädagogische Reflexion als integralen Bestandteil dieser Lebensweise bestimmt zu haben. Ergebnis dieser Krise ist nicht nur die erste umfassende Erziehungstheorie des Comenius, sondern ebenso ein neugestaltetes, an der Muttersprache und den
»Realien«
sich mehr und mehr orientierendes Schulwesen, eine Theorie der bür|a 367|gerlich-patriarchalischen Familienerziehung in der
»Hausväter-Literatur«
, das Inter|B 144|esse an einer pädagogischen Versorgung auch der marktmäßig unproduktiven Bevölkerungsteile (Armenerziehung), das Interesse an Kinderheilkunde. Immerhin aber brauchte dieser Vorgang – datiert man seinen Anfang mit der Frührenaissance – ungefähr zweihundert Jahre.
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Liberalität und große Industrie

[082:11] Das so gefundene pädagogische Konzept, die erreichte neue Plattform eines explizit pädagogischen Reflektierens, enthielt jedoch bereits den Keim einer neuerlichen Krise: Comenius forderte nicht nur dazu auf, alle Menschen alles (das
»Ganze«
) zu lehren, sondern er tat das mit den Mitteln des Buchdrucks, der die Bildungswelt der jungen Generation vielleicht mehr als alles andere revolutionierte (vgl. Postman ³1983). In dem Maße, in dem das Buch das Bildungsmittel zur Verwirklichung jener Forderung wird, werden die Adressaten und die Wissensbestände
»abstrakt«
AB: Nicht mehr dieses konkrete Kind in diesem Hauswesen wird angesprochen, sondern Kinder überhaupt; nicht mehr das für das persönliche Leben dieses Kindes wichtige Wissen wird mitgeteilt, sondern Wissen überhaupt. Diese Instrumentalisierung des pädagogischen Verhältnisses hat eine neue Qualität. Erziehung des Nachwuchses geschieht nun nicht mehr als mehr oder weniger gebremste Teilhabe des Kindes am Alltag der Erwachsenen, sondern in einer Art Kunstwelt. Der moderne Begriff der
»Kindheit«
entsteht, in Entwicklungsstufen differenziert, durch die massenhaft entstehenden Schulen formiert und vorangetrieben, durch pädagogische Lehren unterstützt und auf den Hintergrund des durch Bücher verbreiteten Wissens bezogen.
[082:12] Der Erfolg dieses neuen kulturellen Konzepts von
»Pädagogik«
war nicht zu leugnen: Darf man die Zahl derer, die lesen und wenigstens ihren Namen schreiben konnten, um 1500 auf höchstens 10 Prozent der Gesamtbevölkerung schätzen, so sind es 150 Jahre später schon ungefähr 40 Prozent, und zwar ohne daß es eine Schulpflicht gab. Aber der erziehungsgeschichtliche Prozeß hatte auch eine Schattenseite: Die Instrumentalisierung des pädagogischen Verhältnisses durch Buch und andere Lernmittel, durch die Produkte der nun rasch anwachsenden Spielzeugindustrie, durch altersmäßig gestufte Unterrichtsorganisation, durch die zunehmende Propagierung von Techniken der Triebkontrolle, war zwar einerseits ein Moment im
»Prozeß der Zivilisation«
(Elias 1969), andererseits aber auch ein Prozeß gesellschaftlicher Typisierung, in dem weniger die konkrete Eigentümlichkeit des Kindes, sondern eher das Typische der an das Kind gerichteten Lernerwartungen zum Thema gemacht wurde.
[082:13] Wilhelm von Humboldt beklagte 1797, daß
»das einseitige Verlangen, alle Naturen Einer Richtschnur zu unterwerfen, |A 166|nur zu allgemein verbreitet«
sei |B 145|
(Humboldt 1960, Bd. 1, S. 482)
. Das war besonders auf den Bildungsprozeß der nachwachsenden Generation gemünzt, darauf, schon im Kinde den späteren brauchba|a 368|ren, nützlichen Bürger in einem bestimmten Gewerbe zu sehen, nicht aber sein Wesen, dessen Zukunft der Erwachsene noch gar nicht wissen kann, dessen Eigentümlichkeit,
»Individualität«
zunächst einmal ruhig sich entfalten solle. Humboldt konnte sich mit dieser Meinung auf Jean-Jacques Rousseau stützen, der eine Generation früher schon schrieb:
»Immer suchen sie im Kind den Erwachsenen, ohne zu bedenken, was ein Kind vorher ist«
(Rousseau 1963, S. 102)
. Was ein Kind vorher ist – diese Formel weist auf die Sphäre des
»Privaten«
; im Kind den Erwachsenen zu suchen oder
»alle Naturen Einer Richtschnur zu unterwerfen«
verweist demgegenüber auf die Sphäre der
»Öffentlichkeit«
. In dem Maße nämlich, in dem Erziehung und Bildung zu öffentlichen Angelegenheiten wurden – bis hin zu den Entwürfen einer bürgerlich-fortschrittlichen Schulgesetzgebung Marquis de Condorcets in der Französischen Revolution und Johann Wilhelm Süverns in der preußischen Reform –, wurde die Erziehung innerhalb des bürgerlichen Hauswesens
»privat«
. Die öffentlichen Unterrichtsanstalten bildeten das Kind zum Typus, die privaten bürgerlich-kleinbürgerlichen Verhältnisse dagegen zur
»Individualität«
; so jedenfalls meinte man (die ersten Gesamtschulideen Süverns und Schleiermachers wollten diese Differenz überbrücken, aber sie scheiterten an der obrigkeitlichen Reaktion).
[082:14] Mit dieser Differenz von öffentlicher und privater Orientierung der Erziehungsaufgabe kreuzte sich eine andere, und zwar die Differenz zwischen dem, was ideengeschichtlich vernunftgemäß schien, und dem, was realgeschichtlich sich ereignete oder machbar war. Als die bürgerliche Bildungstheorie (z. B. Humboldt, Goethe, Schleiermacher, Fröbel) ihre idealistischen Perspektiven entwarf, wurde der europäische Erziehungsalltag schon von anderen Kräften bestimmt, veränderte die wirtschafts- und sozialgeschichtliche Entwicklung die Lebensformen (daß der Analphabetismus bald verschwunden sein würde, war abzusehen): Das Proletariat und mit ihm die Probleme der proletarischen Familie schafften sich Platz auf der geschichtlichen Bühne. Die massenhafte Kinderarbeit – zunächst und am stärksten in England – ließ die bürgerlichen Erziehungsideale kraftlos erscheinen. Die Anfänge eines neuen Selbstbewußtseins der Frauen – im Proletariat durch weibli|A 167|che Erwerbsarbeit, im Bürgertum durch intellektuelle Selbstdarstellung in den
»Salons«
unterstützt – provozierten ideologische Kontroversen
»über die Weiber«
AB und, bis in unsere Gegenwart hinein, eine breite Literatur, die über die pädagogischen Folgen der Frauenemanzipation räsoniert.
[082:15] In diesem Zusammenhang ist ein scheinbar nebensächliches Datum für die Gesamtheit des pädagogischen Geschehens höchst symptomatisch: die rasche Zunahme von Praktiken zur Empfängnisverhütung, die seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zuverlässig angenommen werden kann, und der starke An|B 146|stieg vorehelich gezeugter Kinder in den Jahrzehnten davor (Shorter 1977, S. 101 ffAB). Der Sachverhalt symbolisiert mehrerlei: eine Auflösung traditionell bestimmter Lebensformen, ein damit verbundenes Nachlassen informeller Sozialkontrolle in den
»privaten«
Bereichen des Verhaltens, einen Verlust konventioneller Orientierungen zugunsten persönlich-emotional bestimmter Beziehungsmuster, eine Verkleinerung der |a 369|Haushalte (Familien), eine Individualisierung der Lebensweise, die wirtschaftliche Not großer Bevölkerungsteile, die eine Beschränkung der Kinderzahl nahelegte – und zuallererst natürlich eine dramatische Veränderung der Sexualmoral, die, nimmt man die auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung entstandene Theorie Sigmund Freuds ernst, gravierende Folgen für das Beziehungsverhalten der Menschen, besonders auch zwischen Erwachsenen und Kindern, haben mußte.
[082:16] Der Einbruch der industriellen Revolution in die europäischen Lebensformen stürzte das Erziehungsdenken und -handeln in die vielleicht schwerste Krise seiner Geschichte. Durch die Aufklärung freigesetzt von den überlieferten Autoritäten, besonders der Kirche, herausgefordert durch demokratische Zukunftsentwürfe, in die Enge getrieben durch die soziale Klassenteilung, auf Fortschritt verpflichtet durch das Wachstum der großen Industrie, schien einer vernünftigen und zugleich realitätsgerechten Erziehungsorientierung der Boden entzogen zu sein. Positivität in Sachen ABErziehung und Bildung schien nur noch einerseits in der Zurichtung der jungen Generation auf die nun kapitalistisch formierten gesellschaftlichen Lebensbedingungen, andererseits im Rückzug auf die idealistisch-romantischen Erziehungsideologien verbürgt werden zu können. Das Proletariat hatte unter beidem zu leiden, die Bourgeoisie profitierte von beidem – so jedenfalls er|A 168|schien die Lage intellektuellen Kritikern wie Heinrich Heine, Karl Marx oder auch dem Schulmann Adolph Diesterweg. Für alle aber, die Intellektuellen und die Praktiker, die Bürger und die Arbeiter, war eine wirklich zuverlässige Orientierung für das pädagogische Handeln nicht in Sicht. Davon zeugen nicht nur die Autobiographien aus der Arbeiterschaft und dem Bildungsbürgertum, die ihr Leben voller Widersprüche darstellen, sondern auch das Fehlen eines pädagogisch-theoretischen Entwurfs, der dem vergleichbar wäre, was eine oder drei Generationen früher von Rousseau und Pestalozzi, von Kant und Schleiermacher geschrieben worden war. Ganz anders als in Renaissance und Reformation führte dieser gesellschaftliche Umbruch zunächst zu einer Art Lähmung der pädagogischen Produktivität.
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Demokratie und Gerechtigkeit

[082:17] Der ideologische Zuschnitt des
»viktorianischen«
England, der Restauration und des zweiten Kaiserreichs in Frankreich, der
»wilhelminischen«
Ära in Deutschland beförderte eher pädagogische Rückgriffe auf das
»bewährte Alte«
als die Suche nach zukunftsfähigen, der gesellschaftlich-geschichtlichen Lage angemessenen Lösungen. Das war insofern möglich, als die Beunruhigungen, die unter der Oberfläche von Konventionen fortbestanden, ignoriert wurden. Die durch Rousseau, die Französische Revolution, die idealistisch-liberale Pädagogik der Deutschen in Klassik und Romantik, in den sozialen Bewegungen formulierten Erziehungsprobleme blieben liegen, wurden vergessen oder unterdrückt. Mit dem Ersten Weltkrieg änderte sich das Szenarium. Daß aus der Krise neue Lebensformen geboren werden könnten, diese Erwartung kündigte sich seismographisch in der |a 370|Kunst an, von Dada bis zu den Künstlern des
»Bauhaus«
, von Schönberg bis Webern, von Kafka bis Heinrich Mann.
[082:18] Auf der Ebene pädagogischer Praxis veränderte sich die Beziehung der Generationen zueinander. Die patriarchalisch-autoritären Familienverhältnisse gerieten, besonders im Bürgertum, unter die Kritik der Jugendbewegung, die sich anschickte, eigene Lebensperspektiven zu entwerfen. Im Bildungswesen wurde endlich, im
Artikel 146 der neuen Reichsverfassung
, die hundert Jahre alte Forderung nach einer gleichen Elementarbildung für alle erfüllt:
»Das öf|A 169|fentliche Schulwesen ist organisch auszugestalten. Auf einer für alle gemeinsamen Grundschule baut sich das mittlere und höhere Schulwesen auf. Für diesen Aufbau ist die Mannigfaltigkeit der Lebensberufe, für die Aufnahme eines Kindes in eine bestimmte Schule sind seine Anlage und Neigung, nicht die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung oder das Religionsbekenntnis seiner Eltern maßgebend.«
In unzähligen Schulversuchen wurden neue Formen des Unterrichts erprobt und das Verhältnis von Schule und Leben neu durchdacht. Neben die traditionelle Profession des Lehrers trat, durch das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (1922) unterstützt, die neue Berufsgruppe von Sozialpädagogen, die die außerschulischen Erziehungsprobleme aufgriffen und pädagogische Perspektiven beispielsweise in der Familienfürsorge und der Erziehung von
»Verwahrlosten«
entwickelten.
[082:19] So schien die Erschütterung, in die Europa durch den Krieg gekommen war, pädagogisch produktiv zu werden, und zwar nicht nur in der Praxis, sondern auch in der wissenschaftlichen Theorie. Was wir heute in Deutschland Pädagogik nennen, im Sinne akademischer Lehre und Forschung, formierte sich in den Jahren der Weimarer Republik. Anders als in der frühen Neuzeit oder zur Zeit der idealistischen Bildungstheorie zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts wurde nun das Nachdenken über Erziehung und Bildung durch eine kräftige Bewegung in der Praxis gestützt. Die Vielheit der Projekte und der |B 148|politisch-weltanschaulichen Positionen beförderte dabei zuallererst das systematische, auf die Erziehungsaufgaben im ganzen gerichtete Interesse, weniger dagegen das erfahrungswissenschaftliche Detail. So entstand die geisteswissenschaftliche Pädagogik (z. B. Wilhelm Dilthey, Herman Nohl, Theodor Litt) als Versuch, das praktische Geschehen im Kontext der Geschichte zu deuten, die prinzipienwissenschaftliche Pädagogik (z. B. Paul Natorp, Alfred Petzelt) als Versuch, die aller Erziehung notwendig innewohnenden Grundsätze herauszuarbeiten, die sozialistische Pädagogik (z. B. Siegfried Bernfeld, Paul Oestreich) als Versuch, die Aufgaben einer ökonomischen Neugestaltung der Gesellschaft im Hinblick auf ihre pädagogischen Voraussetzungen und Folgen zu durchdenken. Und schließlich wurden auch, wenngleich nur sehr zögernd, die neuen Einsichten der psychoanalytischen Theorie zur Kenntnis genommen.
[082:20] Indessen beruhte der Optimismus, nun die Grundlage für zuverlässige pädagogische Orientierungen, zukunftsfähige For|B 170|men der Gestaltung pädagogischer Verhältnisse gefunden zu haben, auf einem Kompromiß. Der uns heute immer noch bestürzende geringe Widerstand, der von der Masse der deutschen Bevölkerung dem |a 371|Nationalsozialismus entgegengesetzt wurde, machte das offenbar, und die Mehrdeutigkeit vieler Formeln, mit denen damals die zeitgemäßen Erziehungsaufgaben zusammengefaßt wurden, hat – trotz aller politischen Integrität ihrer Verfasser – einen Teil daran.
[082:21] So schrieb der bedeutendste Theoretiker der pädagogischen Bewegungen der zwanziger Jahre, Herman Nohl, im Jahre 1933:
»Jede pädagogische Bewegung verläuft in drei Phasen – das ist ihr Gesetz. Die erste Phase ist immer die des Gegensatzes gegen eine veraltete Bildungsform, die abgelebt ist und nur noch starr vererbt wird, und der nun das selbständige, aus eigenen Kräften lebende Individuum entgegengestellt wird ... Es folgt dann eine zweite Phase, die das, was hier für das einzelne aristokratische Individuum gewonnen wurde, allen zugute kommen lassen will, also sozial und demokratisch gewendet ist ... War das Schlagwort der ersten Phase
Persönlichkeit
, so heißt das der zweiten Phase
Gemeinschaft
als die lebendige Beziehung von Mensch zu Mensch. Die allgemeine Formel für beide Phasen heißt:
Alle Kräfte wecken und lebendig machen
. Dann entsteht aber die Frage: Kann man Kräfte wecken, ohne ihnen einen Gehalt zu geben? Müssen Kräfte nicht eine Richtung haben? ... So setzt eine dritte Phase ein ... Auch die pädagogische Bewegung unserer Generation ist jetzt in diese dritte Phase eingetreten ... Das Schlagwort dieser dritten Phase ist nicht mehr Persönlichkeit und Gemeinschaft, sondern
Dienst
... Die dritte Phase der Bewegung betont die Bindung und die Zusammennahme, die Autorität und die LeistungAB«
(ABNohl ³1949, S. 119fAB).
[082:22] Nohl, der diese Phasen als dialektische Bewegung verstand, wurde von den Nationalsozialisten seines Amtes enthoben – aber seine Formel war doch mißverständlich und konnte für die Barbarei mißbraucht werden. Die Krise |B 149|des Jahrhundertbeginns hatte zwar – durch die Frauenbewegung, die Arbeiterbewegung, die Jugendbewegung, die ästhetische Avantgarde unterstützt – eine pädagogische Theorie hervorgebracht, die sich nun auch in den Kanon der Wissenschaften einfädeln konnte. Die Sonden des Produktes aber reichten offenbar noch nicht tief genug, auch waren wohl die Krisen, auf die das Jahrhundert zusteuerte, noch nicht deutlich genug sichtbar.
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Zur Lage der Gegenwart: Kommunikation und Umwelt

[082:23] Spätgeborene glauben es immer besser zu wissen. So können wir heute, im Rückblick auf ein halbes Jahrtausend europäischer Erziehungsgeschichte, wenigstens versuchen, deren Konturen zu bestimmen, um so erneut eine Problemplattform zu erreichen, die unserer geschichtlichen Situation angemessen wäre. Es ist kein geschichtlicher Zufall, daß nach dem Zweiten Weltkrieg die Behauptung, wir befänden uns in einer Phase tiefer Verunsicherung im Hinblick auf die für die Erziehung der jungen Generation maßgebenden Orientierungen, immer größere Verbreitung fand, und zwar in Zeitungsfeuilletons und Elternratgebern ebenso wie in pädagogischen Programmschriften und wissenschaftlichen Analysen. Der |a 372|Grund dafür darf darin vermutet werden, daß erst in der Gegenwart die Konsequenzen uns bewußt zu werden beginnen, die mit den folgenreichen historischen Entscheidungen zu Beginn der Neuzeit gesetzt wurden: eine wissenschaftliche Zivilisation, ein christlich-humaner Umgang der Menschen miteinander ohne Ansehung von Geburt und Stand, eine vernunftgemäße und – unter der Bedingung gewaltiger Bevölkerungszahlen – auf Bildung als Liberalität hin orientierte Unterrichtung der Massen. Jede dieser Komponenten hat ihre Schattenseite, ist Moment in dem Prozeß der
»Dialektik der Aufklärung«
(Theodor W. Adorno) .
[082:24] Das Projekt des Comenius hat das Zerbrechen der aus dem Mittelalter überlieferten Idee der Ganzheit einer Lebensform nicht aufzuhalten vermocht. Die idealistische Bildungstheorie Humboldts, Goethes und Schleiermachers war machtlos gegenüber der Reaktion und der Klassengesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts. Die pädagogischen Bewegungen der Weimarer Republik – und ebenso in den anderen europäischen Staaten – unterschätzten die gesellschaftlichen Kräfte, die, gleichgültig gegenüber den Problemen einer humanen Erziehung, die Bedingungen bestimmen, unter denen das Leben der Menschen sich vollzieht. So zeichnet sich heute, also in der vorläufig letzten Krise abendländischer Erziehungsgeschichte, ein Problemprofil ab, das aus den folgenden Komponenten zu bestehen scheint:
[082:25] 1. Das Verhältnis des Menschen zur Natur. In dem Maße, in dem die Umwelt des Menschen künstlicher wurde, verschob sich auch die Rolle, die die |B 150|
»Natur«
im Bildungsprozeß spielt. Ihre |A 172|Repräsentation im Leben des Kindes wurde nicht nur immer spärlicher, sie wurde auch, im Zusammenhang mit der neuzeitlichen Naturwissenschaft, nach einem analytischen Schema aufgefaßt, in dem sie wesentlich als auszubeutende Quelle menschlichen Reichtums erschien; als solche war sie unermeßlich, wenn man ihre Nutzung nur intensiv genug betrieb. Zu diesem Zweck mußte sie in ihre Bestandteile zerlegt werden; erst dann ließ sie sich effektiv beherrschen. Diesem Schema folgte die neuzeitliche Bildungshaltung in allmählich immer stärkerer Ausprägung, vor allem im Unterricht, aber auch durch die alltäglichen Vorbilder im Leben der Erwachsenen. Bestand zu Beginn der Neuzeit für Paracelsus die Bildungsaufgabe noch darin, die Bildegesetze der Natur als denen der inneren Menschwerdung gleich einzusehen und zu lernen, den Mikro- auf den Makrokosmos abzustimmen, so tritt in der Aufklärungspädagogik, beispielsweise in der Einführung der Linnéschen Klassifikation der Pflanzen, die analytische Haltung unverhüllt hervor. Sie erzeugt schon im Kinde jene Haltung sachlicher Immoralität, der Goethe in seinen naturwissenschaftlichen Schriften und in
»Wilhelm Meisters Wanderjahre«
die Lehre von den
»Ehrfurchten«
entgegensetzte und die heute in die Krise geraten ist. Erst seit die Möglichkeit der Selbstvernichtung der Menschheit sichtbar geworden ist, kommt uns wieder zum Bewußtsein, daß die Bildungsaufgabe nicht nur eine Einführung in die Machbarkeiten sein darf, sondern die
»Stellung des Menschen im Kosmos«
(Max Scheler) vorbereitet.
[082:26] 2. Das Problem der
»Intimität«
.
Die Entwicklung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation, der neuzeitlichen Rationalität und der demokratischen Öffent|a 373|lichkeit hat, auf der Ebene der Erziehung, nicht nur Schulen, Chancengleichheitspostulate und jene charakteristische Abstraktion hervorgebracht, die den Kindern in ihrem Bildungsprozeß als
»Erfahrung«
präsentiert wird,AB sondern auch eine Art Gegenbewegung: Konnte es zunächst, etwa im achtzehnten Jahrhundert, noch so scheinen, als sei der Bereich des bürgerlich-privaten Lebens der Ort, an dem sich die
»Individualität«
des Kindes ausbilde, die dann in die öffentliche Sphäre
»mit Kraft«
(Schleiermacher)
verbessernd eingreifen könne, so präsentiert sich seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ein anderes Problempanorama. In dem Maße nämlich, in dem die
»Öffentlichkeit«
zum Spielfeld für Systemva|A 173|riablen wird, der einzelne zum Datenträger für administrative, politische oder ökonomische Prozeduren, der Markt gegenüber den konkreten Bedürfnissen gleichgültig, Verständigung über Lebenssinn in gesellschaftlichen Organen unmöglich erscheint, gewinnen die personbestimmten Beziehungen und Lebenswelten, gewinnen
»Gemeinschaft«
und
»Kommunikation«
eine alternative Bedeutung (vgl. Sennett ²1983).
[082:27] Die pädagogisch relevanten Symptome sind beispielsweise: die Intimisierung der Wohn|B 151|umwelten, die Eltern-Initiativen zur Kleinkindererziehung, die Free-School-Initiativen, die rapide anwachsenden
»Therapie«
-Formen, das ausufernde Beratungswesen, die Ausbreitung
»kommunikativer«
Stile im Unterricht der Schulen, die gravierenden Veränderungen im sexuellen Verhalten Jugendlicher, die Milieus jugendlicher Subkulturen, die Verlagerung der Lebensthematik Jugendlicher von der Produkt- zur Motivationsorientierung, die Resonanz der
»Antipädagogik«
, die Selbstdeutung von Eltern nach psychoanalytischen Theoriemustern, die
»Staatsverdrossenheit«
großer Teile der jungen Generation. In derartigen Erscheinungen kündigt sich eine Problematik an, die spätestens im Biedermeier begann, nun aber auf eine Pointe zuläuft, die eine theoretische und praktische Antwort verlangt. Wenn wir nämlich wollen, daß das
»Projekt Demokratie«
überlebensfähig ist, dann müssen wir – so scheint es – einen Erziehungsmodus finden, der die Aufspaltung der Bildungsaufgabe in einen öffentlichen, aber gleichgültigen Teil (Schule) und einen engagierten, aber privat-intimen Teil (Familie, Subkulturen, Nachbarschaften usw.) verhindert.
»System«
und
»Lebenswelt «
(Habermas 1983, Bd. 2, S. 171 ffAB)
sind zwar die zwei theoretischen Konstrukte, mit deren Hilfe wir uns den Prozeß der Neuzeit als Ausbildung einer problematischen Opposition verständlich machen können. Die praktische Frage an unsere Erziehungswirklichkeit ist aber, ob wir in der Lage sind, eine pädagogische Praxis auszubilden, in der die Aufmerksamkeit für das eine nicht dem anderen geopfert wird, einen pädagogischen Alltag also, in dem beides repräsentiert ist.
[082:28] 3. Das Problem der Medien. Die Lösung dieses Problems, eine Balance herzustellen zwischen öffentlicher Beteiligung und intim-privater Befriedigung und Sinnerfüllung, wird erschwert, wenn nicht gar blockiert durch die Funktion der Massenmedien. So wie um 1500 die Erfindung des Buchdrucks eine neue Phase in der Geschichte der Erziehung einleitete, so |A 174|– wie es scheint – die neue Qualität der Massenmedien im zwanzigsten Jahrhundert: Die allgemeine Zugänglichkeit ihrer Produkte verwischt den Unterschied zwischen Kind und Erwachsenem (Postman ³1983); |a 374|die Bilderwelt erübrigt die Anstrengung von Begriff und Argument, die vom geschriebenen Satz noch herausgefordert wird; bis auf kleine randständige Gruppen (z. B.
»Punker«
und traditionalistische Kreise des Bürgertums) verschwindet eine altersspezifische Kleidung; die Thematik des Films erreicht tendenziell jeden; die Werbung richtet sich an Kinder wie an Erwachsene; die Schule bietet demgegenüber kaum noch einen Kommentar und unterbietet den scheinbaren Erfahrungsgehalt, den die Kinder aus ihren alltäglichen Wahrnehmungen ziehen.
[082:29] Diese ABEntwicklung ist einleuchtend, präsentiert doch der Warenmarkt einen Interaktionsmodus, der jedem, der laufen und zählen kann, zugänglich ist. Aber damit verschwindet die alteuropäische Idee von
»Kindheit«
, wonach die Aneignung von Welt über mühsam zu durchlaufende Entwicklungsstufen erfolgt, |B 152|die nur dann der Bildung des Menschen zuträglich sind, wenn jeder dieser Stufen ein Eigenrecht, wenn der Kindheit im Ganzen eine Erfahrungs- und Weltsichtqualität eingeräumt wird, die als wesentlicher Bestandteil des Gattungsbegriffs in Geltung bleibt. Jean Piaget, der Genfer Psychologe, Philosoph und Pädagoge, hat in seiner Lehre von den notwendigen Stufen des kindlichen Bildungsprozesses die Summe aus der neuzeitlichen Überlieferung des Erziehungsdenkens gezogen. War er eine Art Don Quichote, oder ist nicht doch die Vorstellung, die in den antiken Lebensformen sich ankündigte, von Jesus von Nazareth angedeutet, von Augustinus erläutert, von der Frührenaissance auf einen
»realistischen«
Weg, von Rousseau polemisch auf den Begriff gebracht, von Ellen Key (
»Das Jahrhundert des Kindes«
, 1900) und Maria Montessori (
»Kinder sind anders«
, 1938) programmatisch formuliert wurde, die humanere Variante?
[082:30] Krise der Pädagogik: Das ist eine Krise des Selbstverständnisses des Menschen. Anthropologie und Erziehungstheorie, die faktischen Verhältnisse im Leben der Menschen und ihre Praxis im Umgang mit Kindern hängen untrennbar aneinander. Die Erziehung kann nie besser sein als das Leben, das die Erwachsenen führen. Das Projekt
»Moderne«
, das im fünfzehnten Jahrhundert begann, ist es an sein Ende gekommen? Wird Pädagogik, als die systematische Bemühung, junge Generationen zugleich in |A 175|eine gegebene Welt stufenweise einzuführen und dabei, auf jeder Stufe, die Humanität unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit nicht zu versäumen, überflüssig werden? Unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit scheint das möglich; so wie die
»Pädagogik«
, aus der Krise des Spätmittelalters geboren, vor fünfhundert Jahren in die Geschichte eintrat, könnte sie auch heute wieder, unter der Bedingung einer abermaligen kritischen Wendung, verschwinden. Aber wollen wir das?

Literatur

    [082:31] Alberti, L. B.: Über das Hauswesen (um 1440). Zürich 1962
    [082:32] Ariès, Ph.: Geschichte der Kindheit. München 1975
    [082:33] Ballauff, T., Schaller, K.: Pädagogik. Eine Geschichte der Bildung und Erziehung, Bd. II: Vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Freiburg i. Br. 1970
    [082:34] Blankertz, H.: Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Wetzlar 1982
    [082:35] Elias, N.: Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde. Bern, München 1969
    [082:36] Grundmann, H.: Studien über Joachim von Floris. o. O. 1927
    |a 375|
    [082:37] Habermas, J.: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde. Frankfurt/ M. 1981
    [082:38] Humboldt, W. von: Schriften zur Anthropologie und Geschichte. In W. von Humboldt: Werke, Bd. 1. Darmstadt 1960
    [082:39] Jaspers, K.: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. München 1949
    [082:40] Mause, L. de (Hg.): Hört ihr die Kinder weinen? Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit. Frankfurt/ M. 1977
    [082:41] Mollenhauer, K.: Vergessene Zusammenhänge. Über Kultur und Erziehung. München 1983
    [082:42] Montaigne, M.: Essais. Zürich 1953
    [082:43] Nohl, H.: Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie. Frankfurt/ M. ³1949
    [082:44] Postman, N.: Das Verschwinden der Kindheit. Frankfurt/ M. ³1983
    [082:45] Rousseau, J.-J.: Emile oder Über die Erziehung. Stuttgart 1963
    [082:46] Schleiermacher, F.: Pädagogische Schriften, 2 Bde. Frankfurt, Berlin, Wien 1983 f
    [082:47] Sennett, R.: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt/ M. ²1983
    [082:48] Shorter, E.: Die Geburt der modernen Familie. Reinbek 1977
    [082:49] Titze, H.: Die Politisierung der Erziehung. Frankfurt/ M. 1973
    [082:50] Tondelli, L., u. a.: Il libro delle figure dell’abate Gioacchino da Fiore. Turin 1953
    [082:51] Warnke, M. (Hg.): Bildersturm. Die Zerstörung des Kunstwerks. München 1973
    [082:52] Zimmermann, K.: Über einige Bedingungen alltäglichen Verhaltens in archaischen Gesellschaften. In M. Baethge, W. Eßbach (Hg.): Soziologie: Entdeckungen im Alltäglichen. H. P. Bahrdt, Festschrift zu seinem 65. Geburtstag. Frankfurt/M., New York 1983, 135–147
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Stationen der europäischen Pädagogik

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Bilder- und Lesebuch (lateinisch-deutsch)
B
Bilder- und Lesebuch ( lateinischdeutsch)
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; die
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[082:3-4] Daß es so etwas wie pädagogische Probleme gebe, war auch den vorangegangenen Generationen vertraut. Der
»Paukenschlag«
des Comenius erreichte Ohren, die über Jahrhunderte hinweg vorbereitet waren. Diese Vorbereitung reicht bis in jene Epoche der Geschichte hinein, die
Karl Jaspers
»Achsenzeit«
nannte (ca. 800–200 v. Chr.) und die die Wende von den archaischen Kulturen hin zu denen markiert, die eine gemeinsame Gattungsgeschichte zu ihrem Thema machen. Vordem, so scheint es und so belehrt uns die Ethnologie am Beispiel sogenannter |a 364|primitiver Kulturen , gab es das nicht, was wir, in moderner Perspektive,
»pädagogische Probleme«
nennen. Archaische Kulturen kennen derartige Fragen nicht als Fragen; der Umgang mit der nachwachsenden Generation ist in einen kosmischen Zusammenhang eingebettet, ist selbst ein Moment dieses Zusammenhanges, das nicht änderbar ist;
»Natur«
und
»Gesellschaft«
, dieser für uns selbstverständlich gewordene Unterschied, sind noch nicht geschieden; die Scheidelinie trennte vielmehr
»das Bekannte vom Fremden, das
Geheure
vom
Nicht-Geheuren
«
(Zimmermann 1983, S. 140)
; da ist kein Platz für
»Pädagogik«
, sondern nur für ganzheitliche Teilnahme an der Praxis dieser Kulturen, für
»Gabentausch«
. Erst mit der
»Achsenzeit«
ändert sich das. Unter Bedingun|A 161|gen, die den Menschen denken lassen, daß die Welt seiner Lebensformen und die Welt der Naturereignisse verschieden seien, ist auch der Gedanke möglich, daß der einzelne Erwachsene für das ihm gegebene einzelne Kind eine persönliche Verantwortung übernehmen könne oder daß eine ältere Generation im Umgang mit einer jüngeren dafür Sorge zu tragen habe, daß diese jüngere den kulturellen Bestand weitertrage oder gar ihn verbessere. Das aber sind bereits späte neuzeitliche Formulierungen, |B 141|an Rousseau und Schleiermacher angelehnt. Der Weg bis dahin verlief über mehrere krisenhafte Stationen: die Entdeckung des Ich in der klassisch-griechischen Antike und das damit entstehende Bildungsproblem einer Balance zwischen Individualität und Sozialität; die Entdeckung einer offenen Zukunft im Spätmittelalter und die damit verbundene Frage, wie man, bei Wahrung des christlich überlieferten Menschenbildes, für ein noch unbekanntes Morgen erziehen könne; die bürgerliche Industrie und Demokratie und die damit gesetzte Aufgabe, qualifizierte Leistung und Gerechtigkeit in den Bildungschancen ins Gleichgewicht zu bringen.
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(Alberti 1962)
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faszinierendperspektivischen
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gebildet-gesitteten Betragens
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freien Bildungstätigkeit
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[082:8a] Die Zwischenzonen pädagogisch interessierter Literaten: Daß eine Transformation des Erziehungswesens von seiner mittelalterlichen in eine moderne Gestalt hinein bevorstand, war den Zeitgenossen bewußt. Aber welche Probleme waren zu lösen, welche Prinzipien zu finden? Die humanistisch-reformatorische Essayistik nahm sich der Problemlage an. Melanchthon beispielsweise hebt die historische Komponente der neuen Bildungsaufgabe deutlich hervor:
[082:8b]
»Denn was were dieses für ein Stad / da alle Burger in großem reichthumb / frieden vnd wollust lebeten / vnd were doch in solcher stad kein erkentnis Gottes / kein Mensch der schreiben vnd lesen könde / hetten kein Calender / wisten gar nichts von Historien / vnd alten Geschichten / die vns ein Spiegel sein sollen vnsers lebens / vnd vns allerley erinnern / |A 164|Welcher vernunfftiger wolt in solcher Stadt wonen«
(zit. nach Ballauff, Schaller 1970, Bd. II, S. 60).
[082:9a] Erasmus versuchte die Grundsätze eines gebildet-gesitteten Betragens herauszustellen, die für diese beginnende Neuzeit Geltung beanspruchen konnten. Montaigne formulierte das Prinzip der freien Bildungstätigkeit als Kritik an der überlieferten
»Schulmeisterei«
:
[082:9b]
»Ich will, daß er (der Erzieher) den Zögling reden lasse und anhöre ... Unsere Seele geht nur am Gängelband, gebunden und den Regungen fremden Willens unterworfen, hörig und geknebelt unter der Fuchtel ihrer Unterweisung. Man hat uns so sehr an die Leine genommen, daß wir des freien Ganges entwöhnt sind. Unsre Kraft und Freiheit sind dahin«
(Montaigne 1953, S. 186f.).
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200
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, d. h.
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Instrumentierung
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1939
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[082:11-12] Das so gefundene pädagogische Konzept, die erreichte neue Plattform eines explizit pädagogischen Reflektierens enthielt jedoch bereits den Keim einer neuerlichen Krise: Comenius forderte nicht nur dazu auf, alle Menschen alles (das
»Ganze«
) zu lehren, sondern er tat das mit den Mitteln des Buchdrucks, der die Bildungswelt der jungen Generation vielleicht mehr als alles andere revolutionierte (vgl. Postman 1983). In dem Maße, in dem das Buch das Bildungsmittel zur Verwirklichung jener Forderung wird, werden die Adressaten und die Wissensbestände
»abstrakt«
, d. h.: nicht mehr dieses konkrete Kind in diesem Hauswesen wird angesprochen, sondern Kinder überhaupt; nicht mehr das für das persönliche Leben dieses Kindes wichtige Wissen wird mitgeteilt, sondern Wissen überhaupt. Diese Instrumentierung des pädagogischen Verhältnisses hat eine neue Qualität. Erziehung des Nachwuchses geschieht nun nicht mehr als mehr oder weniger gebremste Teilhabe des Kindes am Alltag der Erwachsenen, sondern in einer Art Kunstwelt. Der moderne Begriff der
»Kindheit«
entsteht, in Entwicklungsstufen differenziert, durch die massenhaft entstehenden Schulen formiert und vorangetrieben, durch pädagogische Lehren unterstützt und auf den Hintergrund des durch Bücher verbreiteten Wissens bezogen. Der Erfolg dieses neuen kulturellen Konzepts von
»Pädagogik«
war nicht zu leugnen: Darf man die Zahl derer, die lesen und wenigstens ihren Namen schreiben konnten, um 1500 auf höchstens 10% der Gesamtbevölkerung schätzen, so sind es 150 Jahre später schon ungefähr 40%, und zwar ohne daß es eine Schulpflicht gab. Aber der erziehungsgeschichtliche Prozeß hatte auch eine Schattenseite: Die Instrumentierung des pädagogischen Verhältnisses durch Buch und andere Lernmittel, durch die Produkte der nun rasch anwachsenden Spielzeugindustrie, durch altersmäßig gestufte Unterrichtsorganisation, durch die zunehmende Propagierung von Techniken der Triebkontrolle war zwar einerseits ein Moment im
»Prozeß der Zivilisation«
(Elias 1939), andererseits aber auch ein Prozeß gesellschaftlicher Typisierung, in dem weniger die konkrete Eigentümlichkeit des Kindes, sondern eher das Typische der an das Kind gerichteten Lernerwartungen zum Thema gemacht wurde.
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I
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Kinde
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(z. B. von Hippel 1792, Brandes 1802)
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19.
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beförderten
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konnte nur gelingen, weil
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Bauhauses
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[082:17-18] Der ideologische Zuschnitt des
»viktorianischen«
England, der Restauration und des zweiten Kaiserreichs in Frankreich, der
»wilhelminischen«
Ära in Deutschland beförderten eher pädagogische Rückgriffe auf das
»bewährte Alte«
als die Suche nach zukunftsfähigen, der gesellschaftlich-geschichtlichen Lage angemessenen Lösungen. Das konnte nur gelingen, weil die Beunruhigungen, die unter der Oberfläche von Konventionen fortbestanden, ignoriert wurden. Die durch Rousseau, die Französische Revolution, die idealistisch-liberale Pädagogik der Deutschen in Klassik und Romantik, in den sozialen Bewegungen formulierten Erziehungsprobleme blieben liegen, wurden vergessen oder unterdrückt. Mit dem Ersten Weltkrieg änderte sich das Szenarium. Daß aus der Krise neue Lebensformen geboren werden könnten, diese Erwartung kündigte sich seismographisch in der |a 370|Kunst an, von Dada bis zu den Künstlern des
»Bauhauses«
, von Schönberg bis Webern, von Kafka bis Heinrich Mann. Auf der Ebene pädagogischer Praxis veränderte sich die Beziehung der Generationen zueinander. Die patriarchalisch-autoritären Familienverhältnisse gerieten, besonders im Bürgertum, unter die Kritik der Jugendbewegung, die sich anschickte, eigene Lebensperspektiven zu entwerfen. Im Bildungswesen wurde endlich, im
Artikel 146 der neuen Reichsverfassung
, die hundert Jahre alte Forderung nach einer gleichen Elementarbildung für alle erfüllt:
»Das öf|A 169|fentliche Schulwesen ist organisch auszugestalten. Auf einer für alle gemeinsamen Grundschule baut sich das mittlere und höhere Schulwesen auf. Für diesen Aufbau ist die Mannigfaltigkeit der Lebensberufe, für die Aufnahme eines Kindes in eine bestimmte Schule sind seine Anlage und Neigung, nicht die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung oder das Religionsbekenntnis seiner Eltern maßgebend.«
In unzähligen Schulversuchen wurden neue Formen des Unterrichts erprobt und das Verhältnis von Schule und Leben neu durchdacht. Neben die traditionelle Profession des Lehrers trat, durch das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (1922) unterstützt, die neue Berufsgruppe von Sozialpädagogen, die die außerschulischen Erziehungsprobleme aufgriffen und pädagogische Perspektiven beispielsweise in der Familienfürsorge und der Erziehung von
»Verwahrlosten«
entwickelten.
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19.
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Vielfalt
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politischweltanschaulichen
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allererst
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.
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.
AB
[082:20-21] Indessen beruhte der Optimismus, nun die Grundlage für zuverlässige pädagogische Orientierungen, zukunftsfähige For|B 170|men der Gestaltung pädagogischer Verhältnisse gefunden zu haben, auf einem Kompromiß. Der uns heute immer noch bestürzende geringe Widerstand, der von der Masse der deutschen Bevölkerung dem |a 371|Nationalsozialismus entgegengesetzt wurde, machte das offenbar, und die Mehrdeutigkeit vieler Formeln, mit denen damals die zeitgemäßen Erziehungsaufgaben zusammengefaßt wurden, haben – trotz aller politischer Integrität ihrer Verfasser – einen Teil daran. So schrieb der bedeutendste Theoretiker der pädagogischen Bewegung der zwanziger Jahre, Herman Nohl, im Jahre 1933:
»Jede pädagogische Bewegung verläuft in drei Phasen – das ist ihr Gesetz. Die erste Phase ist immer die des Gegensatzes gegen eine veraltete Bildungsform, die abgelebt ist und nur noch starr vererbt wird, und der nun das selbständige, aus eigenen Kräften lebende Individuum entgegengestellt wird ... Es folgt dann eine zweite Phase, die das, was hier für das einzelne aristokratische Individuum gewonnen wurde, allen zugute kommen lassen will, also sozial und demokratisch gewendet ist ... War das Schlagwort der ersten Phase
»Persönlichkeit«
, so heißt das der zweiten Phase
»Gemeinschaft«
als die lebendige Beziehung von Mensch zu Mensch. Die allgemeine Formel für beide Phasen heißt:
Alle Kräfte wecken und lebendig machen
. Dann entsteht aber die Frage: Kann man Kräfte wecken, ohne ihnen einen Gehalt zu geben? ... So setzt eine dritte Phase ein ... Auch die pädagogische Bewegung unserer Generation ist jetzt in diese dritte Phase eingetreten ... Das Schlagwort dieser dritten Phase ist nicht mehr Persönlichkeit und Gemeinschaft, sondern
»Dienst«
... Die dritte Phase der Bewegung betont die Bindung und die Zusammennahme, die Autorität und die Leistung .«
(H. Nohl 1949, S. 119f.).
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erschien
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der neuzeitliche Bildungshabitus
AB
der analytische Habitus
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hervorgebracht,
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[082:26-27] 2. Das Problem der
»Intimität«
.
Die Entwicklung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation, der neuzeitlichen Rationalität und der demokratischen Öffent|a 373|lichkeit hat, auf der Ebene der Erziehung, nicht nur Schulen, Chancengleichheitspostulate und jene charakteristische Abstraktion , die den Kindern in ihrem Bildungsprozeß als
»Erfahrung«
präsentiert wird, hervorgebracht, sondern auch eine Art Gegenbewegung: Konnte es zunächst, etwa im 18. Jahrhundert, noch so scheinen, als sei der Bereich des bürgerlich-privaten Lebens der Ort, an dem sich die
»Individualität«
des Kindes ausbilde, die dann in die öffentliche Sphäre
»mit Kraft«
(Schleiermacher)
verbessernd eingreifen könne, so präsentiert sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ein anderes Problempanorama. In dem Maße nämlich, in dem die
»Öffentlichkeit«
zum Spielfeld für Systemva|A 173|riablen wird, der Einzelne als Datenträger für administrative, politische oder ökonomische Prozeduren, der Markt gegenüber den konkreten Bedürfnissen gleichgültig, Verständigung über Lebenssinn in gesellschaftlichen Organen unmöglich scheint – gewinnen die personbestimmten Beziehungen und Lebenswelten, gewinnen
»Gemeinschaft«
und
»Kommunikation«
eine alternative Bedeutung (vgl. Sennett 1983). Die pädagogisch relevanten Symptome sind beispielsweise: die Intimisierung der Wohn|B 151|umwelten, die Elterninitiativen zur Kleinkindererziehung, die Free-School-Initiativen, die rapide anwachsenden
»Therapie«
-Formen, das ausufernde Beratungswesen, die Ausbreitung
»kommunikativer«
Stile im Unterricht der Schulen, die gravierenden Veränderungen im sexuellen Verhalten Jugendlicher, die Milieus jugendlicher Subkulturen, die Verlagerung der Lebensthematik Jugendlicher von der Produkt- zur Motivationsorientierung, die Resonanz der
»Antipädagogik«
, die Selbstdeutung von Eltern nach psychoanalytischen Theorie-Mustern, die
»Staatsverdrossenheit«
großer Teile der jungen Generation. In derartigen Erscheinungen kündigt sich eine Problematik an, die spätestens im Biedermeier begann, nun aber auf eine Pointe zuläuft, die eine theoretische und praktische Antwort verlangt. Wenn wir nämlich wollen, daß das
»Projekt Demokratie«
überlebensfähig ist, dann müssen wir – so scheint es – einen Erziehungsmodus finden, der die Aufspaltung der Bildungsaufgabe in einen öffentlichen, aber gleichgültigen Teil (Schule) und einen engagierten, aber privat-intimen Teil (Familie, Subkulturen, Nachbarschaften usw.) verhindert.
»System«
und
»Lebenswelt «
(Habermas 1983, Bd. II, S. 171 ff.)
sind zwar die zwei theoretischen Konstrukte, mit deren Hilfe wir uns den Prozeß der Neuzeit als Ausbildung einer problematischen Opposition verständlich machen können. Die praktische Frage an unsere Erziehungswirklichkeit ist aber, ob wir in der Lage sind, eine pädagogische Praxis auszubilden, in der die Aufmerksamkeit für das eine nicht dem anderen geopfert wird, einen pädagogischen Alltag also, in dem beides repräsentiert ist.
AB
20.
AB
.
AB
ubiquitäre
AB
ø
AB
Punks
AB
Sicht der
AB
ganzen
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AB
[082:28-29] 3. Das Problem der Medien. Die Lösung dieses Problems, eine Balance herzustellen zwischen öffentlicher Beteiligung und intim-privater Befriedigung und Sinnerfüllung, wird erschwert, wenn nicht gar blockiert durch die Funktion der Massenmedien. So wie um 1500 die Erfindung des Buchdrucks eine neue Phase in der Geschichte der Erziehung einleitete, so |A 174|– wie es scheint – die neue Qualität der Massenmedien im 20. Jahrhundert. Die ubiquitäre Zugänglichkeit ihrer Produkte verwischt den Unterschied zwischen Kind und Erwachsenem (Postman 1983); |a 374|die Bilderwelt erübrigt die Anstrengung von Begriff und Argument, die vom geschriebenen Satz noch herausgefordert wird; bis auf kleine randständige Gruppen (z. B.
»Punks«
und traditionalistische Kreise des Bürgertums) verschwindet eine altersspezifische Kleidung; die Thematik des Films erreicht tendenziell jeden; die Werbung richtet sich an Kinder wie an Erwachsene; die Schule bietet demgegenüber kaum noch einen Kommentar und unterbietet den scheinbaren Erfahrungsgehalt, den die Kinder aus ihren alltäglichen Wahrnehmungen ziehen. Diese Sicht der Entwicklung ist einleuchtend, präsentiert doch der Warenmarkt einen Interaktionsmodus, der jedem, der laufen und zählen kann, zugänglich ist. Aber damit verschwindet die alteuropäische Idee von
»Kindheit«
, wonach die Aneignung von Welt über mühsam zu durchlaufende Entwicklungsstufen erfolgt, |B 152|die nur dann der Bildung des Menschen zuträglich sind, wenn jeder dieser Stufen ein Eigenrecht, wenn der Kindheit im ganzen eine Erfahrungs- und Weltsichtqualität eingeräumt wird, die als wesentlicher Bestandteil des Gattungsbegriffs in Geltung bleibt. Jean Piaget, der Genfer Psychologe, Philosoph und Pädagoge, hat in seiner Lehre von den notwendigen Stufen des kindlichen Bildungsprozesses die Summe aus der neuzeitlichen Überlieferung des Erziehungsdenkens gezogen. War er eine Art Don Quichote, oder ist nicht doch die Vorstellung, die in den antiken Lebensformen sich ankündigte, von Jesus von Nazareth angedeutet, von Augustinus erläutert, von der Frührenaissance auf einen
»realistischen«
Weg, von Rousseau polemisch auf den Begriff gebracht, von Ellen Key (
»Das Jahrhundert des Kindes«
, 1900) und Maria Montessori (
»Kinder sind anders«
) programmatisch formuliert wurde, die humanere Variante?
AB
das
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15.
AB
»sub specie aeternitatis«
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»Sub specie aeternitatis«
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500
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