Ich, Rolle, Ironie –
Eine bildungstheoretische Skizze zum darstellenden Spiel
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1.[083:6] Die zitierten theaterpädagogischen Meinungen scheinen die Differenz zwischen dem ästhetischen Spiel und dem“Alltagsleben”einzuebnen oder zu verwischen. Um den“sinnlichen Dialog zwischen Menschenc√ ... um Ich-Stärke, Liebesfähigkeit, Frustrationstoleranz, Ausdrucksfähigkeit und Solidarität lustvoll am anderen zu erfahren”bc√ brauche ich nicht unbedingt das Theaterspiel; dafür gibt es andere, vielleicht sogar besser geeignete Handlungsfelder. Deshalb möchte ich geltend machen (das ist in gewisser Weise eine Trivialität): Theater ist nicht das Leben; Theater ist eine Abstraktion des Lebens; und gerade diese Tatsache, die Erfahrung dieser Differenz, hat einen guten Bildungssinn.
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2.[083:7] Die zitierten Positionen erwecken den Anschein, als solle es in der Theaterpädagogik in erster Linie oder gar ausschließlich darum gehen, Probleme der praktischen Lebensführung der Kinder und Jugendlichen unmittelbar lösen zu helfen, und als müsse deshalb das darstellende Spiel vorwiegend oder gar ausschließlich nach derartigen praktischen Gesichtspunkten beurteilt werden. Demgegenüber möchte ich geltend machen: Was im Spiel geschieht, muß ästhetisch bewertet werden.
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3.[083:8] Es wird behauptet, daß der Pädagoge auf“pädagogische Kontrolle und Bewertung von ästhetischen Lernprozessen bei Kindern und Jugendlichen”verzichten solle. Eine solche Behauptung verkennt m.E. nicht nur die Natur des Ästhetischen, sondern auch die Natur von Bildungsprozessen. Bildungsprozesse sind keine allmähliche Entfaltung dessen, was im Kinde sozusagen immer schon vorhanden ist, sondern sind Prozesse, die durch Konfrontatio|a 23|nen hindurchlaufen. Eine Komponente solcher Konfrontationen ist die Auseinandersetzung des Kindes und des Jugendlichen mit den Alternativen gelungen/nicht gelungen, besser/schlechter, befriedigend / unbefriedigend usw. Erziehung und Bildung beginnen nicht an einem kulturellen Nullpunkt. Der Pädagoge, sofern er überhaupt an der Kulturentwicklung teilhat, hat Qualitätsurteile. Diese Urteile muß er ins Spiel bringen; andernfalls würde er den Prozeß der Urteilsbildung an die gesellschaftlich erzeugten Jugendmoden, Subkulturen, Massenmedien u.ä. abgeben. Begründete Urteile wachsen nicht aus dem kindlichen oder jugendlichen Innenleben gleichsam zwanglos heraus, sondern bilden sich in der Konfrontation mit dem, was der Erwachsene für gut und richtig hält. Damit ist freilich nur das Prinzip benannt; auf welche Weise es im pädagogischen Prozeß zur Darstellung kommt, ist damit keineswegs vorentschieden. Für den Bil|c 117|dungsprozeß des Kindes und Jugendlichen schädlich ist nur, dieses Prinzip überhaupt zu leugnen. Daraus folgere ich die Gegenthese: Wer prinzipiell auf Bewertungen verzichten will, sollte sich von Kindern und Jugendlichen fernhalten.
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4.[083:9] Wenn das Theater (das darstellende Spiel mit Kindern und Jugendlichen) eine Abstraktion aus dem Leben ist, dann kann man das auch so ausdrücken: Das Spiel ist die Codierung unseres Alltags oder unserer Alltagsprobleme auf einer anderen Ebene. Man muß sich also über das“Andere”dieser Ebene Klarheit verschaffen, wenn man den Bildungssinn des darstellenden Spiels ermitteln möchte. Die Einebnung, so als sei Theaterspielen nichts als eine kontinuierliche Verlängerung des Lebens, liquidiert die Bildungsbedeutung.
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5.[083:10] Damit hängt zusammen, was insbesondere gelegentlich soziologisch interessierte Theaterpädagogen leicht vergessen: die“Rollen”,c√ die der Soziologe, und die, welche der Regisseur meint, sind von je anderer Art. Freilich gibt es auch im Alltagsleben“Theatralisches”, aber gerade dies hebt sich aus dem Strom der Alltagspraxis dadurch heraus, daß es bewußt inszeniert ist. Bewußte Inszenierung hat etwas damit zu tun, daß wir, als Menschen und der Möglichkeit nach, immer sowohl“bei uns”als auch“außer uns”sind, bzw. sein können. Im Alltagshandeln“sind”wir in gewisser Weise die“Rollen”, die wir“spielen”. Aber zugleich können wir auch der sein, der diese Rollen sieht, und der deshalb eine ironische Distanz zu den Rollen, die er (soziologisch gesehen) spielt, aufrecht erhält. Es existiert also eine Art“Grenze”zwischen zwei verschiedenen“Ichs”: die Grenze zwischen dem Ich, das ich im Leben, empirisch, binc√ und dem anderen Ich, das imstande ist, etwas darüber auszusagen, was“ich bin”. In der Rolle, die ein Jugendlicher im darstellenden Spiel spielt, ist diese Differenz das Thema. Theaterspielen von Jugendlichen hat es deshalb zu tun mit dem Verhältnis der beiden“Ebenen”zueinander, mit der Reflexion von“Ich”auf“mich”, mit dem Verhältnis des reflexiven“Ästhetischen”auf das empirisch“Praktische”. Das klingt kompliziert, müßte aber für Theaterleute, die mit Narren ebenso vertraut sind wie mit , oder , mit“Organon”usw., verständlich sein.
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1. Stadium des symbolischen Austauschs[083:15] In diesem Stadium (genaue Altersangaben sind freilich nicht sinnvoll; aber wir können davon ausgehen, daß es bis in die Grundschulphase hineinreicht) setzt sich das Kind mit seiner Umwelt, mit Lebendigem und Unlebendigem, mit Dingen und Menschen vorwiegend identifikatorisch-nachahmend auseinander. Man könnte auch sagen: es“tauscht”die Gesten und Gebärden seiner Um- und Mitwelt; es ist noch nicht an“Rollen”interessiert; das Wichtigste ist ihm die“Verlebendigung”; es weiß zwar, daß es nicht nur“Leib ist”, sondern auch einen“Körper hat”; das heißt, es weiß sich durchaus abzugrenzen von dem, was es selbst nicht ist; aber es sucht die Ähnlichkeit alles Lebendigen. Diesem Entwicklungsstadium entspricht, zur Seite der ästhetischen Kompetenz hin, das Symbolspiel, in dem beliebige Objekte und Figuren als Symbole für das auftauchen können, was dem Kind im Hinblick auf seine eigene Lebendigkeit wichtig ist. Das pädagogische Bewertungskriterium, das hier ins Spiel kommt, betrifft die Intensität, die Echtheit der gestischen Nachahmung; eine solche kindliche Geste dürfen wir dann“schön”(angemessen, gelungen usw.) nennen, wenn erkennbar ist, daß diese Geste mit Erleben gefüllt ist, wenn gleichsam der Spieler mit dem nachgeahmten Objekt (beispielsweise ein Tier)“verschmilzt”.
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2. Das Stadium des konkreten Rollenhandelns[083:16] In diesem Stadium setzt sich das Kind mit den sozialen Typisierungen des Verhaltens zwischen den Menschen auseinander; diese Typik kommt ihm zum Bewußtsein; es lernt, die Handlungsfelder, in denen es sich bewegt, nach solchen Typisierungen zu“erkennen”; es begreift die“Komplementarität”von Rollen; es kann sich auch in andere Rollen“hineinversetzen”, und zwar deshalb, weil es deren Passung versteht; es versteht auch, wie Handlungssequenzen bis hin zu dramatischen Situationen sich aus solchen Rollenverhältnissen ergeben können. Die ästhetische Kompetenz, die diesem |b [4]|Stadium entspricht, ist die Fähigkeit, so zu tun,“als ob”; freilich spielt es immer noch“seine eigene Rolle”am besten; es kann sich von sich selbst, von dem, was es alltäglich ist, noch nicht wirklich distanzieren; aber es kann die Handlungsdramatik, die sich aus dem Zusammenspiel von Rollen ergibt, zur Darstellung bringen; die pädagogisch-ästhetische Bewertung muß deshalb bc√ihr Kriterium suchen: in der Schlüssigkeit der Darstellung einer konventionellen Handlungsdramatik bzw. der Komplementarität von Handlungsstrukturen; in der“Schönheit”einer Interaktionslogik und darin, ob das Netzwerk von Beziehungen und Rollen wirklich verstanden worden ist.
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3. Stadium der formal distanzierten Interaktion[083:17] Distanzierung von konkret erlebten Interaktionen bedeutet, einen Punkt außerhalb dieser Interaktionswirklichkeit zu finden. Der Jugendliche (um dieses Alter geht es jetzt) sucht diesen gleichsam“exzentrischen”Punkt an zwei verschiedenen Stellen: er sucht diesen Punkt einerseits in sich selbst und andererseits in verallgemeinerbaren Prinzipien. Das Suchen nach dem Punkt“in sich selbst”, daß nun die Frage aufgeworfen wird, wie sich denn eigentlich das“Ich”zu den Rollen, die dieses Ich spielt, verhält. Das Suchen nach den“Prinzipien”bedeutet, eine Antwort auf die Frage zu suchen, ob denn in dem Verhältnis dieses“Ich”etwas enthalten sein könnte, das nicht nur mein individuelles Ich betrifft, sondern weit darüber hinaus auch für alle anderen Geltung beanspruchen könnte. Der Jugendliche beginnt zu begreifen, daß das, was er“scheint”, nicht identisch ist mit dem, was er“ist”; daß es einen Unterschied gibt zwischen Wesen und Erscheinung; daß das“Sollen”nicht schon einfach und umstandslos aus dem“Sein”gefolgert werden kann; kurz: Er befaßt sich (theaterpädagogisch gesprochen) mit der Frage, was seine“Existenz”mit seinen“Inszenierungen”zu tun hat, ob das eine sich mit dem anderen verträgt, oder ob überhaupt erwartet werden darf, daß das eine mit dem anderen verträglich sei. Damit ist |a 26|zur Seite der ästhetischen Kompetenz hin diejenige Bildungsstufe erreicht, in der“Theaterspiel”zum ästhetischen und anthropologischen Thema wird; jedes Theater ist eine Abstraktion, aber wovon? Jedes Theater ist eine Symbolisierung, aber wofür? Jedes soziale Zeichen (Gesten, Worte, Kleidung, Bewegung usw.) bekommt nun eine doppelte Bedeutung: diese Zeichen verweisen sowohl auf das, was“ich bin”, und sie verweisen auf das, was ich – der Möglichkeit nach – sein könnte oder sein will, und sie verweisen darüber hinaus auf den Zusammenhang sozialer Handlungen, die einer|c 119|seits relative Eindeutigkeit signalisieren, aber von denen b√andererseits ich mit Gewißheit sagen kann, daß ich nicht c√der bin, als der ich erscheine. Aus dieser Problemlage ergibt sich als Bewerungskriterium für das Gelingen/Mißlingen: Gelingt es dem Jugendlichen, die“Künstlichkeit”dieser Art von Rollendistanz durch den“Leib, der er ist”und den“Körper, den er hat”zur Darstellung zu bringen? Kann er die“Schönheit”dieses Spiels präsentieren? Ist seine Darstellung den ästhetisch-formalen Anforderungen, die in einem solchen Fall gestellt werden dürfen, gerecht geworden? Kann er ein“ironisches”Verhältnis zu“sich”und zur“Welt”in Szene setzen?