Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik/Sozialarbeit [Textkritische interaktive Ansicht mit a als Leittext]
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Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik/Sozialarbeit oder
Das Pädagogische
in der Sozialarbeit/Sozialpädagogik

I.

[099:1] bBöhnisch und bMünchmeier fragten in ihrem 1987 erschienenen Buch zur Jugendarbeit:
Kann man sich eine Jugendarbeit vorstellen, die ihr Zentrum nicht in der Pädagogik hat?
b Eine ihrer Vermutungen geht dahin, daß der Stand der Professionalisierung derartigen Vorstellungen im Wege ist. Wenn an Fachhochschulen und Universitäten die Professionalisierung des einschlägigen beruflichen Nachwuchses unter dem Namen
Pädagogik
betrieben wird, dann hält sich naturgemäß in der nachfolgenden Praxis der Jugendarbeit die Meinung, es handele sich um ein Tätigkeitsfeld mit vorwiegend
pädagogischen
Aufgaben; das ist das Ergebnis, wie die beiden Autoren meinen, einer Legitimationsfalle.
[099:2] Nach dieser objekt- und selbstkritischen Problemeröffnung lassen sie indessen eine verblüffende Konsequenz folgen: Der Pädagogik-Begriff sei zu
erweitern
, müsse nicht nur Interaktionen, sondern auch
Arrangements
in sein Konzept mitaufnehmen – als Kronzeuge wird bPestalozzi zitiert. Wer hätte das gedacht?
[099:3] Mir mißfallen an dieser Argumentationsbemühung zwei Momente:
  1. 1.
    [099:4] Die Autoren verwenden zur Charakterisierung ihres nun
    erweiterten
    Begriffs von Pädagogik den Terminus
    vernetztes Denken
    und erwecken den Eindruck, als sei dies neu. Abgesehen davon, daß sie vermutlich
    vernetzendes Denken
    meinen (denn schon der Bau des Zentralnervensystems ist vernetzt, nolens volens), also im Objektbereich des Denkens Netzwerke konstruieren oder rekonstruieren wollen – abgesehen von dieser terminologischen Schwierigkeit also gibt es derartige Bemühungen des pädagogischen Denkens nicht nur in der Anfangsform bei Pestalozzi, sondern in einer langen modernen
    sozialisationstheoretischen
    Tradition, die sich, im ersten Drittel unseres Jahrhunderts mit dem Terminus
    funktionale Erziehung
    , mit den Studien zum proletarischen Kind und zur Interaktion zwischen Siedlungsstrukturen und Heranwachsen verband, und die seit den 50er Jahren in den Arbeiten bBronfenbrenners zur Sozialisations-Ökologie, der klassischen Sozialisationsstudie von bDouglas (
    The Home and the School
    b) auf dem Stand moderner empirischer Sozialforschung präzisiert wurde, in der Familientherapie (z.B. bMinuchin; 1977) seit zwanzig Jahren eine Rolle spielt und seit mindestens zehn Jahren, seit den ersten Rezeptionen von bFoucault |b 132|in der Pädagogik nämlich, diskutiert wird. Aber nicht nur in der
    Allgemeinen Pädagogik
    , wo derartige Anstöße naturgemäß zuerst aufgenommen wurden, auch in der wissenschaftlich reflektierten Berichterstattung über Jugendarbeit gibt es lange schon diese
    Erweiterung des Pädagogik-Begriffs
    (weil bessere Kenner als ich hier im Raume sind, brauche ich das nicht im einzelnen zu zitieren!). Die Etikettierungen der verschiedenen Phasen der Jugendarbeit nach dem letzten Krieg (als
    sozialintegrative
    ,
    emanzipatorische
    ,
    antikapitalistische
    ,
    spurensuchende
    |a 54|etc.) haben offenbar das theoretische Blickfeld eingeschränkt. Das Dilemma wäre aber auch durch eine Korrektur des Blicks nicht aus der Welt, auch dann nicht, wenn die
    Theorie der Jugendarbeit
    sich auf der Höhe der derzeit geführten allgemein-pädagogischen Diskussion bewegen würde. Damit komme ich zum zweiten, das mir mißfällt:
  2. 2.
    [099:5] Derartige Erweiterungen des Begriffs
    Pädagogik
    konnte ich über lange Zeit, seit der
    Einführung in die Sozialpädagogik
    b
    oder der
    Versuche zu einer Theorie der Jugendarbeit
    b relativ mühelos integrieren (ich hatte Pestalozzi ja gelesen!). Seit einigen Jahren aber wird mir solche Integrationsbemühung fraglich, und zwar deshalb, weil ja immerhin möglich sein könnte, daß das, was wir seit gut 200 Jahren, auch mit allen naheliegenden Erweiterungen,
    Pädagogik
    nennen, an ein Ende kommt. Da war mir die Hypothese von Böhnisch/Münchmeier, in ihrer ersten Version, höchst willkommen. In der Tat: Das pädagogische Proprium der Jugendarbeit ist nichts als eine Legitimationsstrategie der Professionalisierungsinstanzen und, daran anschließend oder diese ermöglichend, der zur Subsidiarität verpflichtenden Administration: Wenn man
    Pädagogik
    sagt, bekommt man eher Geld, als wenn man nur von
    Unterhaltung
    spricht. Ein fast witziges Symptom dafür sind die umfangreichen Legitimationsbemühungen der sogenannten Freizeitpädagogik um einen Ereignistyp herum, der bloß mit
    Unterhaltung
    und
    Animation
    nicht schlecht beschrieben wäre. Jedenfalls spätestens vom 16. Lebensjahr ab, ca. 5 % eines Jahrgangs ausgenommen (davon später), brauchen Jugendliche die Pädagogik nicht, brauchen sie keine pädagogische Jugendarbeit. Sie brauchen eine vernünftige Stadtarchitektur, gute und billige Verkehrsverbindungen, leicht erreichbare und wenig kontrollierte Treffs, annehmbare Berufs- und Arbeitschancen. Kurz: Sie brauchen eine vernünftige Sozialpolitik und eine annehmbare Stadtkultur.

II.

[099:6] Die Attacke, die Böhnisch/Münchmeier zu reiten versuchen, wird also gleichsam schon vor ihrem Ziel abgebrochen, in falschem Respekt vor
Pädagogik
. Denn die Konsequenz der vorgeschlagenen Erweiterung des Pädagogik-Begriffs wäre seine Abschaffung. Das wird auch in einem zweiten kritischen Motiv der beiden Autoren deutlich: in ihrem Postulat eines nicht-pädagogischen Zeitkonzeptes. Für die Jugendarbeit, so meinen |b 133|sie, werde das pädagogische, auf je individuelle wie kollektive Zukunft hin orientierte Zeitkonzept zunehmend unproduktiv oder unangemessen. Statt dessen müsse die Konzentration der Jugendlichen auf Gegenwärtigkeit nicht nur ernstgenommen (das kann auch in bloßer Jugendforschung geschehen), sondern für die Jugendarbeit konzeptionell grundlegend werden. Dies nun ist in der Tat ein fundamentaler Stoß gegen alles, was wir mit dem Adjektiv
pädagogisch
schmücken. Es scheint deshalb angebracht, einige Unterscheidungen hervorzuheben bzw. in Erinnerung zu rufen:
  1. 1.
    [099:7] Was wir zusammenfassend dem Objektbereich von Sozialpädagogik/Sozialarbeit zurechnen, ist ein ziemlich heterogenes Feld von Handlungen, Maßnahmen und Einrichtungen. Nur ein Teil davon läßt sich auf
    Pädagogik
    beziehen.
  2. 2.
    [099:8] Was in der Praxis sich abspielt und was in Theorie und Forschung geschieht, muß nicht unbedingt unter einem Namen zusammengeführt werden. Das gilt besonders dann, wenn gesetzliche und sozialpolitische Regelungen, institutionelle Settings, praktizierte Handlungsprozeduren und Professionalisierungswege derart unterschiedlich sind, daß die Suche nach sogenannten einheitlichen oder umfassenden Theorien von vornherein suspekt sein muß.
  3. 3.
    [099:9] Die erfolgreichste Forschung in unserem Feld ist deshalb immer noch die, die sich auf solche Erscheinungen bezieht, die sich durch einen hohen Grad gesell|a 55|schaftlicher Verallgemeinerung auszeichnen: Professionalisierung, sozialstaatliche Administration, historische Institutionen-Typik. Demgegenüber bleibt die Erforschung von Grundproblemen des klientenbezogenen Handelns, also genau diejenige Thematik, die traditionellerweise der
    Pädagogik
    am nächsten stünde, stark zurück.
  4. 4.
    [099:10] Diese Lücke wird nun angefüllt mit einem Typus intellektueller Produkte, die sowohl thematisch als auch methodologisch schwer zu bestimmen ist.
    Sozialpädagogik/Sozialarbeit
    hat es nämlich seit längerem schon nicht nur mit der Grenze zwischen
    pädagogischen
    Handlungen und gesellschaftlich-institutionellen Formierungen zu tun (mit der Grenze zwischen Praxis und Habitus in der Terminologie bBourdieus), sondern innerhalb der Handlungsentwürfe zwischen Pädagogik und Therapie.
    Pädagogik
    ist, in dieser Hinsicht, zum Inbegriff von Adaptationsbemühungen bzw. appellativen Verteidigungsstrategien geworden: ein beträchtlicher, wenn nicht der größte Teil der auf
    pädagogisches
    Handeln bezogenen Literatur (in unserem Bereich) besteht aus Transformationsversuchen psychologischer, psychoanalytischer und sonstwie therapeutischer Wissensbestände. Unsere intellektuelle Tätigkeit, als
    Erziehungswissenschaftler
    , besteht also darin, daß wir kommentieren. Das aber ist der Anfang vom Ende einer Fachdisziplin. (Man braucht sich nur vorzustellen, was mit diesen Wissenschaften geschähe, wenn etwa die Musik- oder die Literaturwissenschaft ihre intellektuelle Haupttätigkeit |b 134|im Feuilleton hätte: zeitweise würde das noch gut gehen; dann aber wären die Kommentare oder
    Kritiken
    nicht einmal mehr
    gebildet
    zu nennen.)
  5. 5.
    [099:11]
    Derartiges droht der
    Pädagogik
    im Felde von
    Sozialpädagogik/Sozialarbeit
    . Wir hätten dann, im Hinblick auf wissenschaftliche Tätigkeit im Bereich
    Sozialpädagogik/Sozialarbeit
    , die folgende Konstellation:
    • Die sozialstaatliche Komponente und damit die politischen Rahmenbedingungen des Handelns erforschen die Kollegen der Sozialpolitik, der soziologischen Armutstheorie, der Theorie gesamtgesellschaftlicher Reproduktionsstrategien.
    • Die unter solchen Bedingungen möglichen Professionalisierungen samt der daran beteiligten Ideologien, Ausbildungsgänge und berufsstandspezifischen Strategien und deren Darstellung in den beteiligten Einrichtungen (kommunalen Ämtern, Heimen, Beratungsstellen, Kliniken, Jugendgefängnissen etc.) erforschen die Kollegen einer historisch orientierten und juristisch kenntnisreichen Sozialforschung (z.B. bSachße etc.).
    • Im Hinblick auf die mikrosozialen Probleme psychischer Dispositionen und ihrer Einfädelung in sozial erweiterte Kontexte versorgt uns die Psychoanalyse, versorgen uns die daran mehr oder weniger anschließenden Meinungen, Vorstellungen, Konzepte – also meinethalben auch
      Theorien
      – mit einer Fülle von fallorientierter Forschung oder wenigstens doch begründeter Meinungsbildung, bmit Verallgemeinerungs-Absichten. Gelegentlich gelingen solche Verallgemeinerungsversuche, wie z.B. in den Konzepten
      Übertragung und Gegenübertragung
      ,
      Einführungssituation
      ,
      Spiegelstadium
      ,
      Übergangsprojekt
      und ähnlichem.
    • Schließlich diejenigen, die nun, als Erziehungswissenschaftler oder Pädagogen, in diesem Dreieck sich ihren Platz zu bestimmen suchen: Es sind, nach gegenwärtiger Konstellation,
      Folgerungs-Wissenschaftler
      , oder, wie ich schon sagte, Kommentatoren, mit gelegentlich kritischen Einfällen. Es ist also die Frage, welches Spektakel sie auf diesem schön geometrischen Dreiecksplatz, mit den Seitenbebauungen von Sozialpolitik, soziologischer Institutionentheorie und Psychoanalyse, aufzuführen in der Lage wären, wenn sie denn schon zur Architektur des Platzes, jedenfalls zum Grundriß, nichts mehr beitragen können.
    |a 56|
    Ob wir nun
    Sozialpädagogik
    oder
    Sozialarbeit
    sagen,
    Jugendhilfe
    oder
    Sozialhilfe
    , ob wir uns auf das Wohlfahrtsgesetz, das Sozialhilfegesetz, das Jugendgerichtsgesetz, das Bürgerliche Gesetzbuch beziehen, die Verwaltungswissenschaft, Rechtswissenschaft, Soziologie, Psychoanalyse oder Sozialpolitik als Erkenntniszubringer bemühen: Es bleibt die Frage, ob unsere pädagogische
    commedia dell’arte
    Regeln folgt, die sich nicht schon aus der Platzbebauung ergeben, sowohl für die Produktion und Aufführung des Stücks als auch für seine Analyse.
|b 135|

III.

[099:12] Mit der Wahl der Platz- und Theatermetapher habe ich nun einen Hinweis gegeben. Er weist zurück auf die Anfänge sozialpädagogischer Theorie-Bemühungen vor knapp 20 Jahren, als die Interaktionstheorien bMeads und bGoffmans in unser Metier Einzug hielten; er weist auf die gegenwärtige Lage hin, darauf nämlich, ob das, was auf dem Platz geschieht, nicht vielleicht ein Marionettenspiel sei; er weist darauf hin, daß – wenn es denn kein Marionettenspiel sein sollte – es hilfreich sein könnte, die Regeln der Aufführungspraxis und ihre möglichen Perspektiven zu ermitteln (wie B. Brecht das in seinem
Organon für das Theater
tat).
[099:13] Hat man derartiges im Blick, dann darf man sich zwar immer noch als Kommentator verstehen (siehe Brecht). Dieser Kommentar aber müßte (wie bei Brecht) in einer substantiellen Vorstellung von
pädagogischem Theater
gegründet sein. Dazu nun versuche ich einige Stichworte:
  1. 1.
    [099:14] Sozialpädagogen führen weder
    Komödien
    noch
    Tragödien
    auf. Zu den ersten fehlt ihnen der Witz, zu den zweiten das Pathos. Sie sind
    Stückeschreiber
    oder Regisseure oder Spieler in solchen Stücken. Der Spielplatz ist ihnen angetragen; sie können ihn nicht wählen. Sie können in ihren Stücken nichts zur Darstellung bringen außer dem, was die Spieler mitbringen (freilich mit der Stadtarchitektur und deren Wohnbedingungen im Rücken) und was, unter solchen Bedingungen, an Spielregeln möglich ist (die Akzeptanz durch das Publikum eingeschlossen). Was also könnten die Elemente sein, aus denen dann die Spielregeln gemacht werden? – Damit verlasse ich diese theatralische Metapher und gehe zu akademischer Prosa über.
  2. 2.
    [099:15] Böhnisch/Münchmeier und viele andere haben zu Recht bemängelt, daß das seinerzeitige Aufklärungkonzept von
    Pädagogik
    , wenngleich darin vielleicht dessen Logik folgend, sich auf eine Vorstellung von Erziehung oder von
    pädagogischen Verhältnissen
    als bloße Beziehungsphänomene verengt habe. Dieser Kritik stimme ich zu. Tatsächlich, so denke ich, hat die Erziehungs- oder Bildungsforschung dazu beigetragen, pädagogische Sachverhalte als pure Beziehungssachverhalte zu definieren. An der Produktion dieser Problemdefinition waren viele beteiligt. Sogenannte
    Anti-Pädagoginnen und -Pädagogen
    , Adepten der
    Theorie menschlicher Kommunikation
    (bWatzlawick), Ausleger der Gesprächstherapie von bRogers, Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten; Jugendarbeiter (oder wie soll man sie nennen?), denen das Hauptproblem darin besteht oder bestand, auf
    Bedürfnisse
    zu reagieren; Heimerzieher, die sich durch derartige Alltags-Theorien im Recht glaubten, wenn sie einem verhaltensgestörten aggressiven Kind den Hammer nicht
    autoritär
    aus der Hand nahmen. Derartige Erscheinungen sind |b 136|historische Indikatoren für eine auf
    Interaktion
    eingeengte Vorstellung von dem, was Pädagogik sei oder sein könnte.
  3. 3.
    [099:16] Man muß einen solchen Zustand, eine solche Verengung des Begriffs vom Umgang der älteren mit der jüngeren Generation nicht von vornherein beklagen. Es könnte ja tatsächlich so sein, daß das überlieferte Projekt
    Pädagogik
    historisch an sein Ende kommt, jedenfalls außerhalb der Schulen. Diejenigen Einrich|a 57|tungen, die wir
    sozialpädagogische
    nennen, könnten zur Bekräftigung zwei ihrer Charakteristika als Argumente geltend machen: Gemessen an den überlieferten Kriterien von Bildungsfortschritt und sozialer Integration läßt sich über Erfolg oder Mißerfolg wenig Zuverlässiges sagen – und: Sie sind, jedenfalls tendenziell, wenngleich in verschiedenen Ausprägungsgraden, den überlieferten Standarderwartungen weniger strikt ausgesetzt. Sie könnten sich also in der Tat mit Entertainment und Beziehungspflege zufriedengeben.
  4. 4.
    [099:17] Man muß derartige Tendenzen, sagte ich, nicht von vornherein verwerfen. Wovon wir uns aber nicht dispensieren dürfen, das ist die sorgfältige Analyse der Implikationen eines solchen Vorgangs, sowohl in praktischer als auch in theoretischer Hinsicht. In praktischer Hinsicht müssen wir uns im Gedächtnis halten, daß die Bevorzugung dieser oder jener begrifflichen Perspektive zugleich mit einer Option für diesen oder jenen Handlungstypus verbunden ist. In theoretisch-begrifflicher Hinsicht ist der Geltungsbereich zu kontrollieren. Und das sollte angesichts der Verschiedenartigkeit sozialpädagogischer Maßnahmen und Einrichtungen nur von Fall zu Fall geschehen. Von vornherein eine einheitliche Antwort für die gesamte Jugendhilfe oder gar für Jugend- und Sozialhilfe gemeinsam zu erwarten, würde die Forschung eher erschweren – eine Trivialität! In diesem Sinne will ich Komponenten eines, wie mir scheint, gegenwärtig nach wie vor notwendigen Begriffs von
    Pädagogik
    skizzieren. Allerdings sind meine Stichworte schlechterdings unoriginell, sie rufen nur ins Gedächtnis, was längst bekannt ist.
  5. 5.1.
    [099:18] Wichtigster Bezugspunkt meiner Vorstellung von
    Pädagogik
    , der Fluchtpunkt gleichsam, ist die Annahme, daß das Größer- und Älterwerden des Menschen ein Bildungsvorgang sei. Das heißt, daß wir uns selbst und andere im Lichte eines idealisierten Regulativs beurteilen, das Kontinuität in den Abfolgen der Ereignisse unterstellt. Ausdrücke wie
    Brücke
    ,
    Fragmentierungen
    ,
    Regressionen
    ,
    Entwicklungsalter
    , oder
    Lernen
    ,
    Anpassung
    ,
    Widerstand
    ,
    Aneignung
    ,
    Kritik
    usw. würden bedeutungsleer sein, wenn nicht zugleich jene Unterstellung von Bildung leitend wäre.
  6. 5.2.
    [099:19] Die Rede vom
    Bildungsvorgang
    unterstellt eine zeitliche Struktur, in der mindestens Vergangenheit und Zukunft aufeinander bezogen sind. Ausdrücke wie
    Einbildungskraft
    ,
    Utopie
    , oder gar
    Antizipation
    sind nur in derartigen Bezugnahmen verständlich. Man muß dafür nicht, wie die vitalistische Fraktion der Aufklärung im 19. Jahrhundert, einen
    Bildungstrieb
    unterstellen. Es genügt, wenn wir darin übereinstimmen, |b 137|daß eine menschliche Handlung, als Handlung nach neuzeitlichem Verständnis, ohne die imaginierte Vorwegnahme eines möglichen nächsten Schrittes nicht zustande kommt.
  7. 5.3.
    [099:20] Wie auch immer man sich, seit Augustinus, diese Mikro-Konstellation für die Auseinandersetzung mit Zeit denken mag: Mir ist keine Gesellschaft bekannt, die auf markante Altersklassifikationen verzichtet hätte. Meine anthropologische Phantasie reicht nicht aus, um mir ein
    Verschwinden der Kindheit
    vorstellen zu können, d.h. in dem Sinne, daß es keine markanten Differenzen im Bildungsvorgang zwischen Kindheit und Erwachsenen gäbe, daß es also auch keine je spezifischen Aufgaben gäbe, die zu bewältigen sind. Diffusionen in dieser Hinsicht kann ich nur als Sozialpathologie begreifen. Von relativ untergeordneter Bedeutung ist, wo bzw. wann eine Gesellschaft, hier im Maskulinum genannt, die Einschnitte zwischen Kind, Jüngling, Mannesalter oder Greis setzt, ob sie 3, 7 oder 10 Stadien bevorzugt, ob sie harte oder weiche Übergänge schätzt usw. Kurzzeitig, wie gerade jetzt in unserer Kultur, gewinnen diese Varianten vielleicht dramatisch an Bedeutung. Wird dem Sog dieser Dramatik indessen der Grundsachverhalt (die
    Entwicklungstatsache
    , wie bBernfeld sagte) aus dem Auge verloren, dann verschwindet
    Pädagogik
    tatsächlich im Strom von Anpassungen an Trends und büßt damit ihren eigenen möglichen Anteil an kritischer Theorie ein.
  8. |a 58|
  9. 5.4.
    [099:21] Diese Entwicklungstatsache ist je historisch spezifischen
    Strukturen
    ausgesetzt. Ziemlich grob und abstrakt möchte ich, fürs erste, zwischen relativ zwanghaften und relativ zwanglosen unterscheiden. Haushaltseinheiten mit mehr als einer Generation und verschiedenen Geschlechtern sind eher zwanglose pädagogische Milieus; pädagogische Einrichtungen mit zeitlicher Eingliederung eher zwanghaft. (Wie schwierig das im einzelnen, im Hinblick auf die empirischen Fälle ist, hat Michael Honig in seiner exzellenten Untersuchung zur Gewalt in Familien gezeigt.) Pädagogische Theorie und Forschung hätte die kulturell passende und dem Einzelfall oder den Falltypen gerechte, erträgliche, entwicklungsförderliche Balance zu ermitteln.
  10. 5.5.
    [099:22] Im hier idealisierten, d.h. auf den gedachten, dem Begriff entsprechenden Fall hin entworfen, ist die
    zwanglose
    Variante nicht etwa ein pures Beziehungsnetzwerk, in dem, irgendwie human, auf Bedürfnisse reagiert wird. Es ist ein sozialer Ort, an dem Probleme gelöst, Aufgaben erfüllt, Themen traktiert werden. Das geschieht entwicklungs- oder naturgemäß auf verschiedenen Niveaus der
    Bildung
    . Pädagogisch davon ist die differenzielle Anforderungs- und Antwortstruktur. Ohne derartige Anforderung, die sich sowohl auf Lösung objektiver Sachfragen als auch auf je subjektive Kompetenzen bezieht, entsteht allenfalls ein psychiatrisch-therapeutisches Setting, vielleicht auch eine Poesie wie bAlbees
    Wer hat Angst vor Virginia Woolf
    b, aber keine Pädagogik.
  11. |b 138|
  12. 5.6.
    [099:23] Mit zu lösenden Problemen, zu bewältigenden Aufgaben, zu traktierenden Themen, ebenso mit den sozialen, mehr oder weniger zwanghaften Konstellationen ist – überflüssig und peinlich zu sagen – immer schon längst das gesellschaftliche Umfeld mit im Spiel. Insofern präsentiert jedes pädagogische Milieu mindestens einen Ausläufer dessen, was auch sonst gesellschaftlich-kulturell der Fall ist. Es zeigt für sich eine Lebensform, die auch als solche verantwortet und gerechtfertigt werden mußb und ist darin den rechtfertigungspflichtigen
    gesellschaftlichen Verhältnissen
    , wie man sagt, unausweichlich verbunden. Wir haben also Lebensmilieus zu verantworten, oder, wie bBöhnisch/bMünchmeier sagen, ökologische Arrangements.
[099:24] Das ist, in groben und knappen Zügen, was ich überall dort geltend machen würde, wo wir mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben. Sofern diese Skizze zustimmungsfähig sein sollte – sie ist ja bescheiden und fast selbstverständlich genug –, ergeben sich mindestens zwei dann zwingende Konsequenzen: Sozialpädagogische Forschung hätte, sofern sie pädagogische Forschung ist und sich nicht auf die Randbebauung jenes Dreiecksplatzes bezieht, die Ereignisse in diesen sechs Hinsichten zu beschreiben. Praktische Argumentationen hätten, wenn sie auch nur eine dieser Hinsichten glauben vernachlässigen zu können, für solche Vernachlässigung die Begründung zu erbringen.
b
:
b

1.
»Erweiterung«
des Pädagogik-Begriffs

b
Lothar
b
Richard
b
.
b
Johann Heinrich
b
(1)
b
ø
b
Urie
b
James W. B.
b
; 1969
b
empirischcr
b
Salvador
b
ø
b
Michel
b
ø
b
usw.
b
(2)
b
(1964)
b
(Müller u. a. 1964)
b
und
b
2. Zeitkonzept und (Sozial-)Pädagogik
b
und
b
(1)
b
laßt
b
(2)
b
(3)
b
(4)
b
Pierre
b
gebildete
b
(5)
b
(a)
b
(b)
b
usw.
b
Christoph
b
ø
b
(c)
b
b
u.ä.
b
(d)
b
3. Sozialpädagogisches
»Theater«
b
George Herbert
b
Irving
b
Bert
b
(1)
b
(2)
b
und
b
»Anti- Padagoginnen und Pädagogen«
b
Paul
b
Carl
b
(3)
b
sozialpadagogische
b
(4)
b
theoretischen
b
(5.1)
b
(5.2)
b
(5.3)
b
Siegfried
b
(5.4)
b
Michael Sebastian Honig (1986)
b
(5.5)
b
Edward
b
(1971)
b
(5.6)
b
,
b
b
Lothar
b
und
b
Richard
b