[102:1] Eigentlich ist das Thema, über das ich sprechen will, gar nicht
vernünftig zu behandeln. Obwohl die drei Stichworte (Schule, Kunst, Leben)
in den verschiedenen Schulreformdiskussionen immer wieder, gelegentlich gar
inflationär auftauchten, verbindet sie miteinander doch eine ziemlich
glücklose Geschichte. Von der ironischen Behauptung Senecas, wir lernten nicht für
die Schule, sondern für das Leben, über die Versuche des Comenius, die
Schule als Metapher für lebenslanges Lernen zu verwenden, bis zu den
reformpädagogischen Ideen unseres Jahrhunderts, die Künstlichkeit dieser
gesellschaftlichen Einrichtung wenigstens dadurch zu mildern, daß sie zum
sogenannten Leben hin, heute sagen wir: zu den Alltagserfahrungen der
Schülerinnen und Schüler geöffnet wird, zieht sich die Linie einer
vergeblichen Bemühung, mit der der scharfe Bruch wieder aufgehoben werden
soll, der mit der Erfindung dieser merkwürdigen Einrichtung gesetzt war.
[102:2] Zwar schien das Problem um so dringlicher zu werden, je mehr Kinder
auf Schulen geschickt wurden, pflichtmäßig. Aber es blieb im Prinzip bei der
Regel und der Meinung der humanistischen und reformatorischen Schulmänner
des 16. und 17. Jahrhunderts: in der Schule gilt das Gesetz einer
organisierten formellen Instruktion, zweckrationales Lernen; und alles
Störende, die zuweilen ungeordnet scheinende |b 20|Vitalität der primären Lebenswelten, müsse ferngehalten werden. Das ist
auch heute noch die Lage, und sie ist, wie mir scheint, unwiderruflich
systembedingt. Damit ist allerdings das kulturelle Unbehagen an dieser
Sachlage nicht verschwunden.
[102:3] Die schroffe Grenzziehung zwischen Schule und Leben wird
gelegentlich ausgefranst, z. B. in der Grundschule, z. B. in
Lehr-Lernstilen, z. B. in Kursen und Arbeitsgemeinschaften der Sekundarstufe
II, z. B. in den ästhetischen Fächern. Die Bemühungen also, die
Künstlichkeiten des schulischen Lernens mit dem Lebensalltag der Kinder und
Jugendlichen zu versöhnen, lassen nicht nach. Warum ist das so?
[102:4] Im Hinblick auf Probleme und Formen der ästhetischen Bildung ist
die Sachlage nicht weniger schroff. Was hat denn die Schule mit der Kunst zu
tun? Ist sie, die Kunst, nicht eine Angelegenheit von Erwachsenen? Außer daß
Schulbücher zum Zwecke des leichteren Lernens mit Holzschnitten illustriert
wurden, kam kein Schulmann der frühen Neuzeit – soweit die Quellen mir
bekannt sind – auf den Einfall, die Schüler mit den Arbeiten Dürers vertraut zu machen, sie
das Notenlesen zu lehren etwa am Beispiel von Madrigal-Partituren Hans-Leo Haslers, oder die Romane von Grimmelshausen in das Curriculum aufzunehmen.
Darüber denken wir heute anders – aber gibt es gute Gründe dafür? Zunächst
einmal gibt es Gründe dagegen, jedenfalls aus dem Lager der Kunst: Seit die
Kunst und die Künstler nämlich ihre eigene Autonomie entdeckten oder
propagierten, im 18. Jahrhundert, gibt es dort das Problem der Sezessionen;
wer auf sich hält; hält Distanz zu den Akademien, den Malerschulen, so als
sei Schule, allemal auf Tradition verpflichtet, der Feind der Kunst. Das ist
bis zu Josef Beuys so geblieben.
[102:5] Mit dem Verhältnis schließlich zwischen Kunst und Leben steht es
nicht besser. Die Frage, ob die Kunst das Leben bessern könne, also ob es
irgendeine Wirkbeziehung zwischen Kunst und praktisch interessiertem
Lebensalltag gebe, beantwortete G. Benn höchst skeptisch. Und vergleicht man die
Volksbildungsprogrammatik von J. Beuys mit den Reaktionen des Publikums vor seinen
Objekten, die Schwierigkeit, die auch fortgeschrittene Studenten mit den
Kompositionen Anton Weberns
haben, oder weiter in die Vergangenheit zurückgeblickt auf die Capricos
Goyas oder die Sinnbilder vom
Tod der Kommunikation Manets – dann möchte ich G. Benn recht geben: Weder kann die Kunst das Leben bessernb√ noch ist sie lehrbar, also schulfähig. Kunst und Schule, Kunst und
Leben,
„Schule, Kunst und Leben“
innerhalb einer
Argumentationsfigur – das ist ein abartiges Unterfangen, das ist ein Irrweg,
eine Sackgasse, auf die uns Schiller verführt hatte, als er seine
„Briefe
zur ästhetischen Erziehung“
schrieb.
[102:6] So könnte man meinen!
[102:7] Damit nun aber mein Vortrag nicht schon an dieser Stelle und
entschieden vorzeitig endet, will ich versuchen, gegen den Strich zu
argumentieren, und zwar in drei Hinsichten:
|b 21|
[102:8] in Hinsicht auf die Lesbarkeit der Kunst (1),
[102:9] in Hinsicht auf das Verhältnis von
Verstand und Sinnlichkeit (2) und
[102:10] in Hinsicht auf die
Verschiedenheit der Sinne bzw. der Künste (3).
3. Die Verschiedenheit der Sinne
[102:35] Dieses vorbegriffliche Selbst, das das Ich im Auge hat (
„Reflexion ist das Auge, das sich selber sieht“
, Fichte), wenn es
„sich“
meint, wird seiner selbst nicht unvermittelt
ansichtig, sondern nur das Medium der Sinne, und die sind verschieden. Das
Wort
„Kunst“
, so wie es unsere Kultur semantisch
eingespielt hat, läßt uns vornehmlich an die sogenannte bildende
Kunst denken. In Hinsicht auf Probleme der ästhetischen Bildung muß
es aber geradezu als abartig erscheinen, daß wir von
„Kunsterziehung“
nur im Hinblick auf diese sprechen. Es
gibt, wie jeder weiß, viele Künste; und diese sind an die Vielheit der Sinne
bzw. deren Medien oder vorzügliche Objekte/Sinnesreize gebunden.
[102:36]
„Gebunden“
: das heißt, daß sie Regeln folgen,
die einerseits in dem Organ, das sie ermöglicht, andererseits in einer Form,
die sie kulturell variiert, fundiert sind. Die Tätigkeit unserer Sinne ist
nicht geschichtslos. Sie folgt der Geschichte des jeweiligen Mediums,
obgleich sie sich im Material dessen bewegt, was unserer Organausstattung
zugänglich ist. Eine Theorie der ästhetischen Bildung müßte deshalb
differenziell verfahren. Einige der dabei auftauchenden Probleme will ich
abschließend kurz skizzieren, und zwar mit Bezug auf Bild, Ton und
Bewegung.
[102:37] Nehme ich die bisher vorgebrachten Argumente zusammen, dann läßt
sich sagen, daß an ästhetischen Ereignissen mindestens drei Komponenten
beteiligt sind: die |b 29|Physiologie des jeweiligen
Sinnes, das ästhetische
„Material“
und die zwischen
Verstand und Sinnlichkeit operierende Reflexion. Der Verschiedenheit der
Sinne und des Materials wegen liegt die Hypothese nahe, daß, in Abhängigkeit
von jenen, je andere Aspekte von Selbstempfindung aktiviert werden, ein je
besonderer Bildungssinn ins Spiel tritt.
-
–
[102:38] Der Gesichtssinn geht am entschiedensten in die
Ferne und schafft Distanz. Das zeigt sich beispielsweise schon im
Malvorgang selbst: ich kann innehalten und auf das eben Begonnene
zurückblicken. Obwohl elementar in Farb- und
Formwahrnehmungsmöglichkeiten fundiert, ist das Auge den historisch
bestimmten visuellen Beständen unserer Kultur konfrontiert und schafft
die ästhetisch-bildnerische Tätigkeit ihr Reflexionsmaterial aus diesen,
akzentuiert also am ehesten oder am plausibelsten die Entgegensetzung
von herrschenden Codes der optisch zugänglichen Umwelt und
vorbegrifflich leibhaften Ich-Empfindungen.
-
–
[102:39] Das Ohr ist im Unterschied dazu viel stärker
propriozeptiv, selbstwahrnehmend organisiert und zudem unausweichlich an
fließende Zeit gebunden. Scheint die Frage, ob Bilder etwas Äußeres
abbilden, wenigstens noch selbstverständlich, ist im Hinblick auf Musik
sofort einleuchtend, daß sie ins Leere geht. Ihr Material ist
von vornherein als kulturell-historisches Artefakt
erkennbar – im Falle der europäisch neuzeitlichen Musik beispielsweise
seine Abhängigkeit von der Erfindung der Notenschrift und den damit
gesetzten Parametern. Einerseits geht der Ton, wie es in alten Texten
immer wieder heißt, rascher zu Herzen, trifft also das empfindliche
Subjekt eher als optische Eindrücke; andererseits aber scheint das Ohr
„konservativer“
zu sein als das Auge; viele,
denen die moderne Malerei schon längst kein irritierend Fremdes mehr
ist, haben immer noch große Schwierigkeiten, ästhetisches Wohlgefallen
beim Hören von Zwölftonmusik, also aus den zwanziger Jahren, zu
empfinden.
-
–
[102:40] Wiederum anders stellen sich die Probleme im Falle der
Bewegung. Sie liegt am dichtesten an der eigenen
Leibwahrnehmung. Wenn wir uns bewegen, geben wir ziemlich viel von uns
selbst den anderen preis. Andererseits aber ist die Auseinandersetzung
mit der Schwerkraft und mit der Tatsache, daß wir unseren Leib als
„Instrument“
benutzen können, nun wirklich kein
Problem dieses oder jenes Individuums, sondern ein Problem menschlicher
Subjektivität, ein Gattungsproblem. Im Tanz erneuert sich immer wieder
die elementare Erfahrung des Kindes in dem Augenblick, in dem es ihm
gelingt, sich aufzurichten, zu gehen und den drohenden Fall balancierend
abzuwenden. Die Veränderung von Tanzstilen in der Geschichte –
beispielsweise von der Pavane zur Volte, vom Menuett zum Walzer, vom
Foxtrott zum Rock, vom Gruppentanz zum individuellen Ausdruckstanz usw.
– ist deshalb, wie ich vermute, ein hervorragender Seismograph für die
Veränderung von Lebensgrundstimmungen, für das Verhältnis des
Individuums zur Gemeinschaft, für den Stand der kulturellen Reflexion
über Besonderes und Allgemeines.
|b 30|
[102:41] Das sind nur Andeutungen. Ich konnte hier nur die Aufgabe
skizzieren, nicht aber die damit verbundenen Fragen beantworten. Sollten wir
immer noch Schillers Idee
einer
„ästhetischen Erziehung des
Menschen“
für diskutabel und praktisch relevant halten, dann wäre mindestens viererlei zu tun:
-
–
[102:42] eine bildungstheoretische Begründung des je besonderen
Bildungssinnes unserer ästhetischen Organe;
-
–
[102:43] eine Erläuterung der Bedeutung ästhetischer Ereignisse für
unsere Empfindung und die reflektierende Tätigkeit des Ich;
-
–
[102:44] eine genauere Bestimmung der Bildungswirkung ästhetischer
Ereignisse mit Bezug auf deren Rezeption einerseits und der
eigenen ästhetischen Tätigkeit andererseits;
-
–
[102:45] eine Klärung der Frage, welchen Ort denn eine derart
verstandene ästhetische Bildung im Kontext schulischer Curricula
hat.
[102:46] Mindestens die letzte Frage ist, so scheint es, längst
entschieden. Die Kunstfächer sind etabliert. Aber um welchen Preis? Sie
haben sich, wenn ich derart zugespitzt reden darf, den
Normalitätserwartungen der Lehrpläne gefügt; sie haben sich eingefädelt und
eingerichtet in der begrifflich-curricular vermessenen Welt; sie
rechtfertigen sich mit Hinsicht auf Nützlichkeit, und sei es nur die
demokratische Nützlichkeit intellektueller Kritik, jedenfalls theoretisch
und praktisch. Das schlechterdings Nutzenlose der ästhetischen Erfahrung,
gelegentlich als elitär verunglimpft, das einerseits entschieden
Intim-Private, andererseits Allgemein-Subjektive im ästhetischen Akt, das
vorbegrifflich Nicht-|a 20|Meßbare der korrespondierenden Erlebnisse, die dabei sich einstellenden
Gewißheiten gerade in Opposition zu den gesellschaftlich-praktisch
eingespielten Codes, die Plötzlichkeit und der Choc in den starken
ästhetischen Empfindungen – all dies bleibt auf der Strecke, und zwar
notwendigerweise.
[102:47] Es widerstreitet zutiefst, jedenfalls innerhalb der ästhetischen
Szenarios der Moderne, allem, was wir mit Schulen vernünftigerweise
beabsichtigen. Freilich gibt es gelegentlich Durch- oder Ausbrüche. Immer
wieder gelingt es Lehrern, den ästhetischen Schein (videt? lucet?) elementarer
Subjekt-Erfahrung aufleuchten zu lassen. Aber das sind, systemnotwendig,
Ausnahmen. Kunst und Schule, denke ich, sind sich so fremd wie je zuvor.
Psychologisierende Deutungen, um eine Versöhnung bemüht dadurch, daß sie
ästhetische Objekte als Psychosymbolik, als charakterologischen oder
entwicklungsgerechten Ausdruck interpretieren und daraus gelegentlich gar
curriculare Entwicklungsreihen normativ konstruieren, führen von der Brisanz
ästhethischer Ereignisse eher weg.
[102:48] Aber all dies, sollte es zutreffen, muß uns nicht entmutigen. Im
Gegenteil: Im ersten Abschnitt versuchte ich zu erläutern, was ästhetische
Alphabetisierung heißen könnte: das Bilden der Fähigkeit, ästhetische
Zeichen überhaupt erst lesen, und, in der eigenen Tätigkeit, setzen zu
können. Das ist eine Propädeutik ästhetischer Erfahrung. |b 31|Nirgends, soweit ich weiß, wurde das besser und überzeugender
praktiziert als im Bauhaus. Ich habe Sie in diesem Vortrag
kaum mit längeren Zitaten behelligt. Nun aber, zum Schluß, möchte ich Ihnen
eines zumuten, das, obwohl am Ende stehend, wieder an den Anfang führt, an
den propädeutischen Beginn ästhetischer Bildung.
[102:49] In seiner ersten Vorlesung am Bauhaus 1921
begann Paul Klee
so: Nach einem Hinweis auf die Bedeutung des Wortes
„Analyse“
für den Chemiker:
„In unserem Betrieb sind die ... Beweggründe zur
Analyse natürlich andere. Wir machen keine Analysen von Werken, die
wir kopieren möchten oder denen wir mißtrauen ... Wir untersuchen
die Wege ... um durch die Bekanntschaft mit den Wegen selber in Gang zu kommen ... Wir sind Bildner und werden uns hier
daher naturgemäß auf formalem Gebiet bewegen. Ohne darüber zu
vergessen, daß vor dem formalen Anfang oder einfacher vor dem ersten
Strich eine ganze Vorgeschichte liegt, nicht nur etwa die Sehnsucht,
die Lust des Menschen, sich auszudrücken, nicht nur die äußere
Notwendigkeit dazu, sondern ein allgemeiner Zustand der Menschheit ... Aber noch mehr muß ich hier betonen ... daß uns das tiefste Gemüt, die
schönste Seele nichts nützt, wenn wir die dazugehörigen Formen nicht
bei der Hand haben. – Hier heißt es auf den vereinzelten
Zufallstreffer verzichten, der dem Dilettanten einmalige Ehre macht
... [102:50] Nach diesen allgemeinen
Voraussetzungen beginne ich da, wo die bildnerische Form überhaupt beginnt – beim Punkt, der sich in Bewegung setzt.“