Erziehen ist mehr als eine Technik. [Textkritische interaktive Ansicht mit a als Leittext]
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Erziehen ist mehr als eine Technikb

Von der Schwierigkeit, eine Kultur weiterzugeben / Studieren in Deutschland: Pädagogik

[107:1] Was ist ein
Pädagoge
, zumal ein akademisch ausgebildeter? Schwer zu sagen, denn immerhin kamen Jahrtausende europäischer Ausbildungspraxis ohne diese Spezies aus. Pädagoge – also
zuverlässiger Führer
für den Nachwuchs einer Gesellschaft – war, wer über den wesentlichen Bildungsbestand der gerade gegebenen kulturellen Formation verfügte. Das ging indessen nur so lange und insofern gut, als der überlieferte Bestand ohne Zweifel auch als zukunftsfähig gelten konnte. Erste Zweifel daran meldeten sich im 17. Jahrhundert, und seit Rousseaus
Emile
(1762) wurden sie manifest: Wenn die Zukunft unkalkulierbar wird, heute noch viel radikaler als zur Zeit der Französischen Revolution, wie soll man dann mit der nachwachsenden Generation umgehen? Das ist wahrhaftig eine Frage, die sich nicht mit eiligen Feuilletons beantworten läßt, sondern eines gründlichen Nachforschens wert ist. Wie war eigentlich der geschichtliche Verlauf in dieser Frage? Wie verhält sich eine Kultur zum Problem ihrer Überlieferungswürdigkeit? Welche erneuerungsfähigen Impulse werden von der jungen Generation angemeldet? Gibt es ethische Prinzipien für den Umgang der Generationen miteinander, die den historischen Augenblick überdauern könnten? Und welche Themen wären für diesen Umgang wichtig, wenn wir nicht nur das jeweils staatlicherseits gerade Verordnete oder das bürgerseits gerade Gewünschte kurzzeitig uns zu eigen machten, sondern nach einer dauerhaften lebenserhaltenden Thematik suchten?
[107:2] Derartige Fragen haben vielleicht einen schönen Klang; ihre Beantwortung ist wohl auch einiger akademischer Anstrengung wert; ihre Valuta auf dem Arbeitsmarkt, wo, unter anderem, auch Arbeitskraft gegen Geld getauscht wird, ist allerdings starken Schwankungen ausgesetzt: Vor 20 Jahren und auch noch einige Zeit danach gab es eine Hausse, jetzt stecken wir eher in der Baisse. Als vor wenigen Jahrzehnten das Fach Pädagogik als ein Hauptfachstudium eingerichtet wurde – zunächst als Magister- und dann auch als Diplomstudiengang –, gab es die damals begründete Aussicht auf hinreichend viele Stellen auf dem außerschulischen Arbeitsmarkt: in der Heimerziehung, der Jugendhilfe-Verwaltung, der Jugendarbeit, der Erwachsenenbildung, im betrieblichen Ausbildungswesen, der Behinderten-Pädagogik, den verschiedenen Beratungseinrichtungen, schließlich auch in der sozialpädagogischen Lehre und Forschung. Inzwischen müssen wir damit |b 153||c 157|rechnen, daß etwas weniger als 70 Prozent der Studierenden einen fachspezifischen Arbeitsplatz finden und diesen häufig auch nur mit einem Entgelt, das gelegentlich weit unter dessen liegt, was in der Regel bei akademischen Studienabschlüssen erwartet werden darf. Allerdings gibt es für den, der sich für die gelegentlich nicht gar so dicht an den Problemen der alltäglichen Berufspraxis orientierten theoretisch-wissenschaftlichen Studien nicht so sehr interessiert, die Studiengänge der Fachhochschulen im Bereich Sozialwesen. Diese qualifizieren unmittelbar für eine praktische Berufstätigkeit, und an sie läßt sich ein Universitätsstudium der Pädagogik gut als Aufbaustudiengang anschließen. Das ist die Lage. Aber es ist nur eine Seite der Sache.
[107:3] Die andere Seite ist die Tatsache, daß nach wie vor viele junge Leute für sich selbst und ihre lebensthematischen, beruflichen Interessen ein Studium der Pädagogik wählen. Wenn sie das trotz der riskanten Berufsaussichten tun, dann kann das Fach, wenn sie ihr Studium ernsthaft als ein wissenschaftliches betreiben wollen, einiges bieten: Pädagogik muß sich letzten Endes mit der Frage befassen, auf welche Weise und in welchen thematischen Hinsichten eine Kultur an die nachwachsende Generation weitergegeben wird und werden sollte. Jedes Erziehungssystem – ob im alten Athen, in der frühen Neuzeit, bei archaischen Stammeskulturen, in der Dritten Welt oder in unserer Gegenwart – hat es deshalb mit der Zukunftsfähigkeit der kulturellen Bestände und mit Umgangsformen zwischen den Generationen zu tun. Für die wissenschaftliche Ausbildung bedeutet das genaue historische Forschung, historischen und interkulturellen Vergleich, Prüfung des Spektrums der Institutionen vom Kindergarten bis zur Jugendpsychiatrie, der gesetzlichen Vorgaben, der Spielräume für Innovationen – im Umgang mit Randgruppen, Behinderten, Ausländerkindern, psychiatrischen Patienten, aber auch im gleichsam normalen Alltag des Umgangs der Kommunen mit der jungen Generation.
[107:4] Das Fach Pädagogik bietet darüber hinaus aber die Möglichkeit, nicht nur jene objektiv-kulturellen Bedingungen und Chancen für das Generationenverhältnis zu studieren, sondern auch deren subjektive Seite. In der Bundesrepublik gibt es kaum ein pädagogisches Universitäts-Institut, in dem man nicht auch mit den Problemstellungen der pädagogischen Psychologie, der Psychoanalyse, dieser oder jener Therapie-Praxis, überhaupt mit den verschiedenen Formen der individuellen Befindlichkeit von Kindern und Jugendlichen heute sich auseinandersetzen kann. Das enthält indessen gelegentlich auch Schwierigkeiten, denn angesichts unserer Kulturlage sollte uns an einem Rückzug aufs Individuelle, Psychisch-Private, gar deren neomystische Stilisierungen, wenig gelegen sein. Die großen klassischen Vordenker moderner Pädagogik – Rousseau, Pestalozzi, Schleiermacher beispielsweise – sind eben deshalb immer noch studierenswert, nicht weil sie etwa die für |b 154||c 158|uns sinnvollen Problemlösungen schon gefunden hätten, sondern weil sie einen empfindlichen Sinn für das schwierige Verhältnis zwischen den Generationen allererst zur Darstellung gebracht hatten.
[107:5] Derart weit ausgreifende Fragen nehmen sich im Korsett von Studiengängen allerdings zumeist nüchterner aus. Da gibt es ein Grundstudium, in dem in der Regel in die Methoden wissenschaftlichen Arbeitens – also Methoden der empirischen pädagogischen Sozialforschung, der Text-Interpretation, des Verstehens pädagogisch relevanter Sachverhalte der Praxis – eingeführt wird. Bekannt gemacht wird mit den wesentlichen Begriffen und Theorien und möglichen Feldern praktischer Tätigkeit. Das Hauptstudium – Absolventen von Fachhochschulen können in der Regel an dieser Stelle einsteigen – läßt den Studierenden Spielraum für die Wahl eigener Schwerpunkte.
[107:6] Im Unterschied zu den Diplomstudiengängen bietet das Magisterstudium eine besonders breite Vielfalt: Gerade die relativ freie Kombinationsmöglichkeit mit anderen Fächern – mit Geschichte, Musikwissenschaft, Kunstgeschichte, Völkerkunde, Literaturwissenschaft, Biologie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Sozialwissenschaften – eröffnet die Möglichkeit, sich für sehr verschiedenartige Berufsbereiche zu qualifizieren. Das ist deshalb wichtig, weil das Berufsfeld für Pädagogen, die nicht im allemal vorhersehbaren, wenngleich gegenwärtig schlecht behandelten Lehrerberuf tätig sein wollen, starken Schwankungen ausgesetzt ist. Fast alle fünf Jahre verändert sich gegenwärtig die Bedarfsszenerie zwischen psychosozialer Beratung, Stadtteilinitiativen, Jugendzentren, Museumspädagogik, Jugendhilfe-Planung der Kommunen, Planungsbedarf der Jugendwohlfahrtsverbände, Erwachsenenbildung und Freizeiterziehung. Unter Gesichtspunkten der Statussicherheit, der kalkulierbaren Gehaltserwartungen ist das ärgerlich und kein zuverlässiges Datum für Lebensplanung. Andererseits aber ist es erfreulich, daß unsere Gesellschaft im Felde des Generationenverhältnisses, außerhalb der Schule, offenbar noch Varianten und Innovationen gestattet.
[107:7] In dieser Situation, so scheint mir, ist der gut beraten, der sich klarmacht, daß Pädagogik es nicht nur mit Formen, sondern auch mit kulturellen Inhalten des Umgangs mit Kindern und Jugendlichen zu tun hat. Pure Techniken der Vermittlung bleiben leer, wenn wir nicht kompetent sind in dem, was wir vermitteln wollen. Das Studium dieses Fachs erfordert also Kenntnisse in mindestens einem der überlieferungs- und zukunftsfähigen Themen unserer Kultur, seien dies nun die Sprache, die ästhetischen Ausdrucksformen, die neuen Technologien, die Ökologie.
Pädagoge
sollte sich nur der nennen, wer nicht nur über Kommunikationstechniken, sondern auch über inhaltliche Kompetenz verfügt.
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