1. Einleitung:
Fragerichtung und
Projektbeschreibung
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1.[119:4] Wir meinen eine pädagogische Diagnostik. Dieser Terminus wird zwar auch in dem zitierten Handbuch verwendet; es zeigt sich aber rasch, daß dort fast nur von schulpädagogischer Diagnostik die Rede ist. Es herrscht demgemäß eine Perspektive vor, in der die institutionell definierten Lernziele (die formulierten Anforderungen der Curricula) ins Verhältnis gesetzt werden zu den Startbedingungen der Schülerinnen/Schüler und zu den„Treatments“des Unterrichts. Es ist also die Frage, ob die dort vorgeschlagene Perspektive zwar für schulisch-unterrichtliche Diagnosen hilfreich, für die Diagnostik der Jugendhilfe bzw. Sozialpädagogik aber als unzureichend gelten darf.
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2.[119:5] Auch für sozialpädagogische Diagnosen gilt das von jenen Unterrichtsdiagnostikern unterstellte logische Schema: es gibt eine in der Person des Kindes oder Jugendlichen manifestierte Verhaltenscharakteristik; es gibt ein gewünschtes Ziel der pädagogischen Bemühung; und es soll gesucht werden eine Form des„Treatments“, der Behandlung, des Umgangs, der Therapie, die diesem Ziel möglichst nahe|A1 A2 A3 10|kommt. Das scheint plausibel zu sein; plausibel oder gar begriffsnotwendig ist es indessen nur im Hinblick auf die Logik, nicht aber im Hinblick auf die Empirie: die Ziele, denen ein sozialpädagogisches„Treatment“dienlich sein soll, sind nur in seltenen Ausnahmefällen derart genau formulierbar, wie das für gewünschte Unterrichtserfolge die Regel ist. Die empirische Passung von Ausgangsbedingungen (Persönlichkeitsmerkmale, familiäre Herkunft, soziale Kontexte, biographische Besonderheiten usw.), von den Pädagogen favorisierten Zielen (etwa nachzuholender Hauptschulabschluß, Vermittlungsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt, Distanzierung von einer Clique von Drogen-Usern, Bildung eines sozial verträglichen Interaktionsverhaltens u. ä.) und von Behandlungs- oder Umgangsweisen, von sozial hilfreichen Settings, die in der Lage wären, problematische Ausgangszustände in gewünschte und sozial akzeptable zu überführen – die Herbeiführung einer solchen Passung wirft begriffliche und empirische Probleme auf, die anders sind als in der Unterrichtsdiagnostik. Im Unterschied zum Lehrer oder Schulpsychologen ist nämlich der Sozialpädagoge nicht der Bekräftigung, der Evaluierung, der Verbesserung einer empirisch eingespielten Logik von Ausgangslage, Treatment und Lernziel konfrontiert, deren Randbedingungen durch die Institution der Schule und der allgemeinen Schulpflicht immer schon vorgegeben sind. Der Sozialpädagoge ist vielmehr dem Prozeß der Konstruktion sozialer Wirklichkeit ausgesetzt, in dem die Variablen, mit denen der Unterrichtsdiagnostiker rechnen kann, noch einmal in Frage gestellt werden. Allerdings sind auch Sozialpädagogen nicht normativ freigesetzt: sie sind an die Normen der Verfassung gebunden, und ihnen ist im Kinder- und Jugendhilfe-Gesetz (KJHG 1990) ein institutioneller Rahmen für die Bewältigung ihrer Aufgaben vorgegeben. Derartige normative und institutionell-rechtliche Vorgaben haben indessen für sozialpädagogische Vorgänge andere Implikationen und Folgen als schulpädagogische. Wer an der Zone sozialer Abweichung arbeitet, sich diese gar pädagogisch zum Thema macht, der muß sich, wenn er in dieser Lage pädagogisch wahrhaftig sein soll, auf Lebensentwürfe einlassen, die curricular nicht mehr vermessen werden können, obzwar durchaus rechtsförmig.
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3.[119:6] In dieser Lage – daß sie so ist, wie gerade nur etikettierend behauptet, muß freilich noch erläutert werden – greifen Sozialpädagogen gern zu einer Rhetorik, die das Plurifaktorielle, die unübersichtliche Schwierigkeit, die Interdisziplinarität, die Unordnung des Alltags, die Unvorhersehbarkeiten, also die Berücksichtigung von allem und jedem hervorhebt. Im Hinblick auf sozialpädagogische Diagnostik führt das zu Aufgabenstellungen, die, wie uns scheint, von niemandem mehr bewältigt werden können. So enthält – ohne daß irgendwelche diagnostische Verfahrensweisen angegeben werden – der schon zitierte Achte Jugendbericht der Bundesregierung die folgenden Aufforderun|A1 A2 A3 11|gen:„Schwierigkeiten (von Kindern und Jugendlichen, d. Verf.) als Ausdruck von Problemlösungsverhalten“„aus dem Erfahrungs- und Verständnishorizont der Adressaten“„ihrer Lebenslage, also den gesellschaftlichen, sozialen, geschlechtsspezifischen und sozialstaatlich geprägten institutionellen Rahmenbedingungen und Deutungsmustern“„näheren sozialen Verhältnisse ... Arbeits-, Lern- und Sozialarrangements“„in ihnen geltenden Erwartungen“„den Lebensphasen und der darin angelegten besonderen Lebensbelastung ... mit ihren Möglichkeiten, Grenzen und Hoffnungen“„öffentlichen und institutionellen Definition“„dadurch ausgelösten gesellschaftlichen Reaktionen“Bundesminister für Familie usw. 1990, S. 132 f.). Dies alles ist gewiß zustimmungsfähig und gut gemeint. Aber können Sozialpädagogen das überhaupt leisten? Es wird in dem zitierten Text ja nicht ein Rahmen für Forschungsproblemstellungen vorgeschlagen, der zur Förderung empfohlen, sondern er hat die Überschrift„Diagnose“. Und unter dieser Überschrift nun erscheinen Aufgabenstellungen, die interdisziplinär alles versammeln, was Sozialwissenschaftlern heute dazu einfallen kann. Wer diese Aufgabe bewältigen wollte, müßte Erziehungs- oder Bildungsromane schreiben. Wer unter uns, den Sozialpädagogen, Theoretikern wie Praktikern, ist schon wie , , , beispielsweise? Aber ein wichtiges Symptom sind derartige„diagnostische“Empfehlungen durchaus: Sie sind ein Anzeichen dafür, daß sozialpädagogische diagnostische Problemstellungen den Konstruktionsregeln für die Herstellung sozialer Wirklichkeit offenbar radikaler konfrontiert sind, als dies in anderen pädagogischen Feldern der Fall ist. Nur daraus können wir uns erklären, daß wenige Absätze eines Textes zur Diagnostik unversehens in den Versuch einer Total-Analyse der Befindlichkeit heranwachsender Individuen im Gesellschaftssystem geraten. Derartige theoretische Peinlichkeiten haben also ihren Grund in der Sache.
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4.[119:7] Dieser Grund in der Sache macht (wenigstens) zwei Reaktionen wahrscheinlich. Die eine ist gerade skizziert worden, der Weg in eine romanhafte, jedenfalls möglichst universelle Lebensdiagnostik, bezogen auf die Klientel der Jugendhilfe. Die andere Reaktion favorisiert die Reduzierung der Komplexität, freilich nach Maßgabe verschiedener Kriterien: Die einen bevorzugen den„Labeling Approach“, das heißt die in der interaktionstheoretischen Diskussion herausgearbeitete These, daß Diagnostik Zuschreibung sei und es also, in sozialpädagogischer Forschung, darauf ankäme, diese Zuschreibungsprozeduren zu beschreiben und in ihrer gesellschaftlichen Funktion zu analysieren. Aber was geschieht dann, nach dieser Analyse? Der Praktiker ist nun |A1 A2 A3 12|zwar kritisch gebildet; aber wie soll er diagnostizieren? Andere verlegen sich auf die kritische Beschreibung von Professionalisierungswegen und von Routinen der Alltagspraxis sozialpädagogisch relevanter Berufe. Auch hier kommt viel zutage, was den Sozialwissenschaftler bekümmern mag. Aber was folgt daraus? Wieder andere verlassen sich auf die„bewährten“diagnostischen Verfahren von Psychologie und Psychiatrie und denken, die Sozialpädagogen würden, mit diesem Wissen ausgestattet, dann schon einen pädagogisch respektablen Weg finden. Dann gibt es noch jene, die weder der universalistischen diagnostischen Attitüde trauen noch einem nur durch Forschungspragmatik zu rechtfertigenden Reduktionismus, und die deshalb auf„Theorie“setzen. In dieser Manier wird beispielsweise neuerdings empfohlen, Theorie der Entwicklung moralischen Urteilsvermögens zur Grundlage der Sozialpädagogik zu machen. Aber auch dies wäre, angesichts unserer Frage nach einer sozialpädagogischen Diagnostik, eine Reduktion. So wenig wir theoretische Reduktionen bemängeln möchten, denn sie sind unumgehbar, so wenig wir auch bezweifeln können, daß moralisches Urteilen und Handeln eine wichtige Dimension der Lebenswirklichkeit der Jugendhilfe-Klientel ist, so nachdrücklich machen wir aber auch geltend, daß dies zwar eine wesentliche Komponente, nicht aber der Grund ist für diejenige Art der Unterstützungsbedürftigkeit, die die Jugendhilfe-Einrichtungen in ihren Kindern und Jugendlichen vorfinden. Die Universalisten also – so möchten wir diese knappen Andeutungen noch knapper zusammenfassen – bürden den Sozialpädagogen, vor allem den Praktikern, zu viel auf. Die Reduktionisten hingegen verlangen von ihnen zu wenig bzw. geben ihnen weder Perspektive noch Hilfe für das, was eine sozialpädagogische Diagnose sein könnte – und darunter verstehen wir nicht irgendeine allgemeine sozialwissenschaftliche Diagnostik der gegenwärtigen Gesellschaft und ihrer Institutionen, sondern eine Diagnostik der Lebenslagen von Individuen.
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1.[119:11] Innerhalb der Jugendhilfe bereitet eine bestimmte Fallgruppe von Jugendlichen den Sozialpädagogen und Sozialarbeitern besondere Sorgen. Es handelt sich um Jugendliche, die als besonders schwierig gelten (vgl. Bundesminister für Familie usw., 1990, S. 152), die sich in besonderen Krisensituationen befinden oder die aufgrund ihrer aktuellen Lebenssituation besonders gefährdet sind (vgl. Münder 1991, S. 182 ff.) und für die es kaum geeignete Hilfemaßnahmen gibt oder die sich allen Hilfeangeboten entziehen wollen. Bei diesen Jugendlichen handelt es sich zum einen um solche in besonderen Lebenskrisen, mit schweren Belastungen, in aktuell gefährdeten Situationen (z. B. im Punker-, Prostituierten- und Nichtseßhaftenmilieu), die eine besondere Betreuung und Inobhutnahme benötigen; nach dem neuen Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) sind bei diesen Jugendlichen die Hilfen zur Erziehung gemäß § 34 (Heimerziehung), § 35 (intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung) und Inobhutnahme (§ 42 angezeigt. Zum anderen betrifft es Jungen und Mädchen, die längere und mehrfach wechselnde Heimaufenthalte hinter sich haben und die in dem üblichen„Heimsetting“nicht genügend gefördert werden können und für eine Einzelbetreuung noch zu unselbständig wirken. Nach unserer Schätzung gibt es pro Jahrgang allein in Niedersachsen mindestens 250 Jugendliche, die dieser Klientel zugerechnet werden können und die an die Jugendhilfe herantreten oder schon betreut werden. Diese Jugendlichen sind nicht nur das„Sorgenkind“der Jugendhilfe, sondern auch das„Stiefkind“sozialwissenschaftlicher Forschung. Die aktuelle Forschungslage ist nicht gerade üppig. Das Forschungsinteresse an dieser Klientel, die wir im folgenden„psychosozial schwer belastete Jugendliche“nennen, war während der 70er Jahre stärker, nahm aber im Zuge der Heimreform ab. Es wurde etwa in der Mitte der 80er Jahre wieder mehr belebt, und zwar im Zusammenhang mit der Diskussion um Abschaffung der geschlossenen Heimerziehung (vgl. Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik 1986; v. Wolffersdorff/Sprau-Kuhlen 1990) und durch die verstärkte Suche nach und der Erprobung neuer Betreuungsformen als Alternativen zur geschlossenen Unterbringung. Als beispielhaft sind hier zu nennen die Modellevaluation von Kupko (1985), D. und W. Hosemann (1986) und die zusammenfassende Auswertung des hessischen Modellprogramms zur heilpädagogischen Intensivbetreuung von Birtsch (1986). Das wiederaufblühende öffentliche Interesse an dieser schwierigen Jugendhilfeklientel steht auch vor dem Hintergrund einer in den letzten Jahren verstärkten selbstkritischen Reflexion der Heimerziehung (Planungsgruppe Petra 1987; 1988; Freigang 1986; Cobus-Schwertner 1984) sowie dem Bemühen um Verbesserung der Kooperation von Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie, die u. a. bei dieser Klientel angebracht ist (vgl. Gintzel/Schone 1989; 1990).
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2.[119:12]Für diese Fallgruppe von Jugendlichen plante und realisierte ein kleiner Trägerverein der Jugendhilfe, Betreiber eines Heims, einer Kindertagesstätte und einiger Wohngruppen, das Praxis-Projekt, nämlich pädagogische Erfahrungs-, Intensiv- oder Erlebniskurse – ein wirklich angemessenes Vokabular zu finden ist schwierig. In Zusammenarbeit mit Jugendämtern und anderen Heim-Trägern wurden insgesamt 18 Jugendliche aus dem Einzugsbereich zweier Landesjugendämter ausgewählt (13 Jungen, 5 Mädchen), deren aktuelle sozialpädagogische Betreuerinnen und Betreuer keine produktive Chance in der Fortsetzung bisheriger Maßnahmen mehr sahen und für die auch befriedigendere Alternativen nicht in Sicht waren. Die Kurse sollten, wie auch schon von anderen Maßnahme-Trägern versucht, in einem ungewohnten, aber gleichwohl stimulierenden, herausfordernden Umfeld stattfinden, ohne dabei das Risiko möglicher Überforderung der Jugendlichen einzugehen. Die Kosten sollten, von Spezialausrüstungen abgesehen (Zelte, Wohnwagen, Tauchgeräte, Boote), die geltenden Pflege-Sätze nicht übersteigen.Nach Maßgabe dieser Gesichtspunkte wurde für 2 Jungenkurse (6 bzw. 7 Jugendliche pro Kurs) ein Flußmündungsgebiet auf der Insel Korsika ausgewählt, für die Mädchengruppe ein Bauernhof in den Pyrenäen. Wie auch sonst in Heimen üblich, war das proportionale Verhältnis des pädagogischen Personals zu den Jugendlichen 1:2. Die„Erfahrungs-Phase“– die Jungen lebten in Zelten, die Mädchen in festem Haus bzw. Wohnwagen – dauerte 5 bzw. 7 Monate. An diese Zeit schloß sich eine„Integrationsphase“an, in der die Eingliederung in Lebensnormalität versucht wurde; sie betraf vor allem Wohnbedingungen, Arbeitsvermittlung und evtl. Schulabschlüsse; eine Zurückeinweisung in stationäre Einrichtungen sollte möglichst vermieden werden. Die„Erfahrungsphase“war, es läßt sich nicht leugnen, eine Art von kaschierter geschlossener Unterbringung: das kulturelle Umfeld war sprachlich fremd, die passablen Überlebenschancen außerhalb der Kleinst-Kolonie mußten den Jugendlichen gering erscheinen, die Wege nach Deutschland waren zu weit und zu aufwendig (dennoch haben 2 Mädchen den Weg von den Pyrenäen nach Amsterdam geschafft). Überdies versprach die dichte Betreuung über alle 24 Stunden des Tages hinweg durch die immer gleichen Bezugspersonen Sicherheit, Zuverlässigkeit, Beziehungsdichte. Außerdem war der Tagesablauf durch die materiellen Herausforderungen durchsichtig und überzeugend strukturiert: bei den Jungen auf Korsika durch Einrichtung eines gemeinsamen Wohnzeltes, Rodung von Macchia-Wildnis, Bau von Backofen und Herd, Versorgung der technischen Geräte (Boote und Tauchausrüstung), Hilfsarbeiten bei umliegenden Einheimischen zur Aufbesserung des Budgets; bei den Mädchen in den Pyrenäen durch die verabredete und existenznotwendige Mithilfe bei der Versorgung von Tieren, bei Schlachtung und Feldbestellung (nur stundenweise am |A1 A2 A3 16|Tag), durch sowohl materiell als auch symbolisch akzeptable Gestaltung der übrigen Zeit, in der Herstellung von Schmuck und Kleidung, für sich selbst und auch auf dem Markt präsentabel. Zudem sollte auch die weitere Perspektive nicht fehlen, das Fortkommen nach der Rückkehr; eine gewichtige Rolle spielte deshalb der Unterricht, zwar regelmäßig durchgeführt, in den Gegenständen aber sehr dicht an den Alltagserfahrungen im fremden Land orientiert.Die Erfolgsbilanz dieser drei Kurse, statistisch ohnehin unerheblich, ist schwer einzuschätzen. Die nackten Daten sind diese: Ein Drittel, also sechs Jugendliche, haben keinen dauerhaften Gewinn daraus ziehen können; ihre Karriere setzte sich fort als Gefängnisaufenthalt, psychiatrische Unterbringung, Trebe. Sieben Jugendliche leben in einer nicht prognostizierbaren Zwischen-Lage. Nur für fünf Jugendliche können wir sagen, daß sie, wenigstens für sich selbst, eine annehmbare und zuverlässige soziale Lokalisierung gefunden haben. Das war vorherzusehen. Derartige Erfahrungen liefern Argumente, oder wenigstens begründete Vermutungen, nach zwei Seiten hin: Ein naiver Optimismus im Hinblick auf den Erfolg derartiger Unternehmungen – auf Schiffen, in Kanada, Korsika, den Alpen oder anderswo – ist unangebracht; ein Dreivierteljahr auch intensivster Betreuung kann nicht zuverlässig gutmachen, was an diesen Jugendlichen 16 Jahre lang schlechtgemacht wurde; aber eine verläßliche Dokumentation, ein sorgfältiger Vergleich zwischen solchen Projekten wäre wohl weiterführend – wenn sie denn sorgfältig dokumentiert und öffentlich zugänglich gemacht und nicht nur als Erfolgsbericht stilisiert würden. Andererseits: Woher können wir denn wissen, daß die Erinnerung an ein solches halbes oder dreiviertel Jahr nicht viel später – auch für die, die nun gerade in Jugendstrafe festgehalten werden – noch eine Wirkung entfaltet, die in der empiristischen Effektivitäts-Kontrolle von Ausgangsbedingung, Treatment-Arrangement und Lernzielrealisierung gar nicht erfaßt werden kann? Für den, der sich pädagogisches Handeln nach den Regeln des Machbarkeits-Mythos vorstellt, ist das freilich unbefriedigend. Es gibt aber auch die pädagogische Maxime, nach der die erfüllte Gegenwart einer nur schwer kalkulierbaren Zukunft nicht aufgeopfert werden dürfe und also das Beurteilungskriterium nicht im künftigen Effekt, sondern in der befriedigend und sinnhaft erlebten Gegenwart liegt.
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3.[119:13]Die wissenschaftliche Begleitung hatte sich mit derartigen Problemen, vor allem aber mit der Dokumentation der Ereignisse zu befassen. Diese Dokumentation umfaßte mehr, als wir in diesem Buch zur Darstellungen bringen. Wenngleich wir aber die Materialerhebungen unter der, im Laufe des Projekts erst allmählich entstandenen, Frage nach den Möglichkeiten einer sozialpädagogisch-hermeneutischen Diagnose auswerten, bilden doch sämtliche Erhebungsschritte, alle Dokumentationsarten den Hintergrund unserer Erörterungen. Wir haben vor al|A1 A2 A3 17|lem die folgenden Erhebungs- bzw. Dokumentationssorten ins Spiel gebracht:
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–Mit allen Jugendlichen wurden drei intensive Gespräche („narrative Interviews“) geführt: eins zu Beginn des Projekts, ein weiteres am Höhepunkt des Kurses im Ausland, ein drittes während der Integrationsphase, mit Rückblick auf den Kurs und Vorblick auf die von den Jugendlichen erwartete Zukunft.
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–Uns waren die Akten der Jugendlichen zugänglich; diese enthielten sowohl die je familiäre und institutionelle Karriere als auch die Diagnosen, die von den verschiedenen Instanzen gestellt wurden.
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–Die Erzieher und Erzieherinnen haben – auf Korsika und in den Pyrenäen – wöchentliche Berichtsprotokolle auf Tonband gesprochen und uns zur Auswertung überlassen. Diese Protokolle enthalten Beschreibungen des Gesamtzustandes der Gruppe und der Umstände, Beziehungsprobleme und solche der Gruppendynamik, vor allem aber Einzelbeobachtungen zum Verhalten der Jugendlichen, zu ihren Gesprächen, Kontakten, Erzählungen, Tätigkeiten, Stärken und Schwächen.
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–Schließlich wurden Fotoserien angefertigt, zum Teil von der wissenschaftlichen Begleitung, zum Teil von den Jugendlichen selbst erstellt. Die wissenschaftliche Begleitung hat überdies einen Video- Film produziert, allerdings nur vom ersten der beiden Kurse auf Korsika.
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Alle diese Materialien waren nicht nur den Erziehern, sondern auch den Jugendlichen zugänglich. Diese aber haben von der Möglichkeit der Einblicknahme nur begrenzt Gebrauch gemacht. Man kann unsere Arbeit also, in älterer Terminologie, als sozialpädagogische Handlungsforschung bezeichnen. Wir bevorzugen den schlichteren Ausdruck„wissenschaftliche Begleitung“. Weder wissen wir, ob das Objekt unserer Erhebungen wirklich„Handlungen“waren oder nicht eher doch nur deren Deutungen; noch wissen wir, ob unsere wissenschaftliche Dokumentation das pädagogische Handeln wirklich hat verändern, gar verbessern können. Derartiges darf man vielleicht nur, wie in der Wissenschaft ohnehin der Regelfall, über viele Umwege und größere Zeitdistanzen hinweg erwarten. -
2. Sozialpädagogisch-hermeneutische Diagnosen
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–[119:17] Den Anfang, wenn wir recht sehen, machte die Rezeption des symbolischen Interaktionismus durch die Pädagogik (z. B. Mollenhauer 1972 , Thiersch 1973, 1977). Ein wesentliches Element dieser Theorie-Tradition war die Annahme, daß das, was ein Mensch aktuell ist, sich in seinen sozialen Etiketten ebenso zeigt wie in seinen Selbst-Entwürfen. Institutionelle Zuschreibungen,„Stigmatisierungen“– und dazu gehört auch das Vokabular der verschiedenen Varianten von„Diagnose“– gerieten so in den Verdacht, nur gleichsam die Hälfte der Wahrheit mitzuteilen.
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–[119:18] Will man diese Hypothese aufrechterhalten oder will man sie gar empirisch überprüfen, dann muß man sich methodische Operationen einfallen lassen, mit deren Hilfe das möglich ist. Die„Ethnomethodologie“hat das versucht (Garfinkel 1967, Cicourel 1975, Parmentier 1983), mit zum Teil verblüffenden Ergebnissen. Durch teils sehr trickreich angelegte Interviews und Feldexperimente wurde ge|A1 A2 A3 20|zeigt, wie stark die Zuschreibungen der öffentlichen, zumal der generalisierten verwissenschaftlichten Rede von dem abweichen, was Personen in wenig typisierten Situationen über ihr Selbst- und Weltverhältnis erzählen, ohne daß entschieden werden könnte, welches etwa die„wahre“Version sei.
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–[119:19] Diese Forschungsrichtung konnte sich bereits auf eine erkenntnistheoretisch und sozialphilosophisch interessierte Diskussion stützen (hier vor allem der wohl meistzitierte Alfred Schütz 1974), als Begründung für jene„ethnomethodologischen“Untersuchungen. Die Frage war hier, in welchen Dimensionen (z. B. Zeit, Raum, Sozialwelt) eine Person ihre lebenswichtigen Gewißheiten bestimmt, wie sie also ihre Lebenswelt konstituiert. Im Unterschied zu gegenwärtig nicht seltenem Sprachgebrauch bedeutet„Lebenswelt“hier nicht eine soziale Lage von Individuen – so als könnte man zu solchen Lagen, nach verschiedenen Gesichtspunkten geordnet, etwa materielle Disparitäten, Regionen, Ethnien usw. zählen –, sondern das erkenntnistheoretische Problem: wie kommen wir überhaupt zu subjektiven Gewißheiten, die auch bei peinlicher Selbstprüfung nicht in Zweifel gezogen werden können?
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–[119:20] Interaktionismus, Ethnomethodologie und Lebenswelt-Reflexion führten dann zum methodischen Konzept des„narrativen Interviews“, das heute im Rahmen der qualitativen Sozialforschung – als Konkurrenten gibt es auch das„nicht-strukturierte“, auch das„Tiefen“-Interview und andere Formen des Erkenntniszugangs für solche Probleme, die nicht vordringlich einer quantifizierenden Bearbeitung bedürfen – einen relativ sicheren Platz hat (Schütz 1974, Soeffner 1979). Es geht dabei um eine Gesprächsform, die, durch die Art der Gesprächsführung, den Probanden/Interviewpartner zu möglichst reichhaltigen Erzählungen (narrativ) über sich und seine Lebensumstände veranlassen soll und (dies ist allerdings nur einer von mehreren möglichen Zwecken bei einem solchen Interview) die auf diese Weise Einblick gewährt in das, was seine„Lebenswelt“konstituiert. Ist man theoretisch nicht allzu anspruchsvoll, kann man auch noch Gesprächsführungs-Vorschläge der Gesprächstherapie nach in den Umkreis dieser Bemühungen einbeziehen.
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–[119:21] Derartige Schritte der Wissenschaftsgeschichte, kräftig gefordert und teils sogar hervorgebracht durch Interessen der Praxis, schärften die Sensibilität für zwei„Kulturen“– wenn wir hier so abgekürzt reden dürfen: es gibt offenbar die Differenz zwischen der Kultur wissenschaftlicher Generalisierungen, öffentlicher Verwaltungen, diagnostischer Zuschreibungen u. a. und der Kultur individuell erzeugten Lebenssinns, persönlicher Gewißheiten, subjekt-bestimmter Kommunikation. Da nun einerseits das Verallgemeinert-Öffentliche auf die unzähligen Individuen, andererseits das Individuell-Private auf |A1 A2 A3 21|das Öffentlich-Allgemeine (schon durch die Sprache) angewiesen ist, nimmt es nicht wunder, wenn gleichzeitig das pädagogische Interesse an allem Autobiographischen stark anwuchs (z. B. Baacke/Schulze 1979, Jens/Thiersch 1987). Eine Autobiographie muß durch die Art ihrer Darstellung – wenn sie nicht zum Klischee einer öffentlich stilisierten Selbstrechtfertigung oder zum bloß subjektivistischen Ausdrucksverhalten verkümmern will – viele Balancen bewältigen: Wahrhaftigkeit der Selbstlokalisierung, historische und soziale Selbstdarstellung, Akzeptierbarkeit durch ein Lese-Publikum, Individualitäts-Behauptung usw..
Begriff und Begründung
Einzelfall/Intervention | Regelverständnis/Wissenschaft |
Merkmale | |
Modelle
heuristisch Organisation affektlogisch mehr einfühlend zeitgleich verdichtend patientenspezifisch subjektive Realität pragmatisch nicht zwingend prädikativ |
Modelle
empirisch Organisation erkenntnislogisch mehr distanzierend zeitversetzt zergliedernd patientenübergreifend gemeinsame Realität systematisch zwingend prädikativ |
Risiken | |
allein affektives Erleben
Involvierung falsche Verallgemeinerung Komplexität hohe Stimmigkeit alleiniges Nachfühlen |
allein kognitives Erleben
Distanzierung falsche Individualisierung Atomismus fehlende Stimmigkeit alleiniges Nachdenken |
Zur Methode der hermeneutisch-diagnostischen Interpretation
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–[119:55] Es werden alle Äußerungen herausgehoben, die dem Interpreten bedeutsam scheinen, zumal solche, die nach Maßgabe der einen oder anderen Theorie wichtig sein könnten.
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–[119:56] Es werden, in einem zweiten Schritt, diese Äußerungen geordnet. Bei diesem Ordnungsversuch folgen wir einer riskanten Unterstel|A1 A2 A3 35|lung, nämlich daß es eine begrenzte Zahl von konflikthaltigen Themen gibt, um die herum die Äußerungen der Jugendlichen sich gruppieren lassen und die diese Äußerungen im Sinne eines strukturierten Zusammenhangs verständlich machen. Wir nennen sie„Lebensthemen“.
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–[119:57] Da es sich um eine„pädagogische“Diagnose handeln soll, versuchen wir schließlich, diese Themen auf Tätigkeiten oder Aufgaben zu beziehen, von denen angenommen werden kann, daß sie für den Jugendlichen, für die Bearbeitung seiner Probleme, seine Selbststabilisierung und Sozial-Lokalisierung hilfreich sind.
3. Zwei Fall-Diagnosen
Beispiel A
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1.[119:60] Über seine Mutter:„Sie hat mich nicht erzogen“,„kann sich nicht durchsetzen“.„Sie war arbeiten, und ich war halt den ganzen Tag alleine“.„Einmal habe ich zu ihr ’n Schimpfwort gesagt ... Da hat sie mir eine geballert“.
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2.[119:61] Er habe„gemacht, was ich wollte“,„bin irgendwann nicht mehr zur Schule gegangen“,„hab angefangen zu klauen“.„Bei , da hab ich geklaut, und da haben sie mich erwischt, da war ich neun“.„Da haben sie mich mit der Polizei nach Hause gebracht.“Seine Mutter„stand an der Tür, hat se angefangen zu weinen ... sie ist ziemlich wütend geworden“.
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3.[119:62] Er wollte nicht zur Schule gehen,„hab immer meine Sachen versteckt, Ranzen und so“;„zur Schule bin ich nie gerne gegangen“, seit der 3. Klasse, vor allem wegen einer Lehrerin,„die konnte mich nicht leiden, ich konnte sie nicht leiden“; ähnlich wie bei der schwierigen Beziehung zur Mutter:„Also das lag an mir und auch an ihr“.
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4.[119:63] Über die Großeltern:„Bei meinen Großeltern hab’ ich gewohnt eine Zeit“(im Alter zwischen einem und vier Jahren, und zwischen 6 und 7, und gerade jetzt wieder). Die waren„bißchen strenger. Haben mehr drauf geachtet, so auf Schule und so.“Von der Mutter ist er„immer abgehauen ... Bei meiner Mutter konnt’ ich nicht leben“.
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5.[119:64]„Was mir gefehlt hat? Ja, so, mehr Zuspruch und so, also daß sich wer um mich gekümmert hat“.
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6.[119:65] Im Heim war das anders. Er erinnert sich noch an das Datum der Heimeinweisung:„19. Januar“, da war er 10 Jahre alt. Da hat ihm„eigentlich alles“besser gefallen:„Freunde ... mehr Zuspruch, also mit Schule, was Schule betrifft, haben sich richtig gekümmert und so. Also – was anderes.“„Ich fand’s gut da“.
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7.[119:66] Auf die Frage, was er in seinem Leben immer gern gemacht habe:„Scheiße gebaut“.„Als ich so 7 war, da haben wir immer so dicke Steine ... diese Feuersteine ... zwischen die Schienen“gelegt,„kam ’n Zug mal vorbei, hat immer schön gescheppert ... und einmal ... Zug angehalten, kam der Typ da raus, der Lokführer ... einfach hinterhergerannt“. –„Abhauen hab ich auch gern gemacht ... auch im Heim ... richtig weg ... geschlafen in Baubuden ... geklaut eben, in Geschäften ... Ist schon mal lustig ... keiner hat einem was gesagt ... war ganz frei irgendwie“.„Haben wir in ’ne Zeitung gekackt, vor die Tür gelegt und angezündet; haben wir geklingelt und: Hilfe, Hilfe, es brennt! Kam er raus, schön im Bademantel und so ’ne Strandlatschen, und da draufgetreten“. –„In der Kiesgrube sind wir immer rumgeheizt ... mit Karren, 80er Mofa“.„Im Unterricht hatten wir ’ne Flasche Wodka mit ... ’n Kasten Bier ... war’n wir besoffen im Unterricht“. An der Decke des Klassenraums konnte man eine Platte lösen, so in den Deckenraum hineinkommen und zu anderen Klassenräumen kriechen.„In der Pause, sind wir immer dringeblieben ... haben die Klappe hochgemacht und haben was runtergeschmissen“(in den anderen Klassenraum). Und immer wieder Schule geschwänzt", auch im Heim hat„alles wieder angefangen“:„Kioskeinbrüche“,„Autos angesteckt“,„abgehauen“,„Trebe“,„Straftaten, also Kriminelles“.
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8.[119:67] Er hat Freunde, aber eigentlich nur„einen ... oder mit zweien, kann man sagen. Mit zwei, drei hab’ ich viel gemacht.“Aber:„Cliquen kann ich nicht ab ... keine richtige Clique, so versammeln, das kann ich nicht ab“.„Abgehauen“ist er immer mit zwei oder drei anderen (während der Heimunterbringung);„ich hab immer den Plan entwickelt“. Aber Chef sein,„sowas kann ich nicht ab“.„Am besten ist, wenn alle entscheiden ... da einigt man sich“.„Im großen und ganzen“, meint A., sei er wie alle Jugendlichen, nicht irgendwie anders. Andererseits: Die anderen Jugendlichen seiner Heimgruppe, mit Ausnahme derer, mit denen er gelegentlich„auf Trebe“ging,„waren eigentlich gar nicht mehr wichtig“; aber sie hatten, wie er meint, auch nichts gegen ihn,„überhaupt nicht, wieso denn?“
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9.[119:68] Anders ist es mit den Erziehern, die wollten, daß er das Heim wieder verlassen sollte.„Eigentlich wollte ich noch dableiben; aber dann nicht mehr“.„Die (Erzieher) haben immer Zimmerdurchsuchungen gemacht bei mir“– (sozusagen eine nachträgliche Rache gegen Unbotmäßigkeit, für A unverstehbar, er fühlt sich fälschlich |A1 A2 A3 39|„beschuldigt“) – und dann folgt ein unverständlicher Satz, fast wie aus den Dokumenten :„... die ein’n kriegt, die hätt’ man gar nicht ganz machen können!“Jedenfalls: Die Erzieher„wollten nicht“, obwohl sie„könnten“.„Das (verständnisvoller auf ihn eingehen,. Für A sind Erwachsene nichts als„Zuspruch“) wollten sie irgendwie nicht, hab ich das Gefühl gehabt“„Aufpasser“, an die er auch keine Erwartungen hat;„Nö, kann man nicht sagen“. Aber:„Zuspruch ... ja, doch, das schon!“Im Grunde könne er auf sich selbst aufpassen,„ich brauch’ keine anderen! ... Also ich könnte jetzt auch ganz gut alleine leben!“
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10.[119:69] Auf die Frage, wo er am liebsten leben, wohnen möchte, antwortet er ganz entschieden – die Eindeutigkeit übertrifft alles, was er bisher erzählt hat:„Im Ausland natürlich ... in Bulgarien!“Und zwar:„Weil: meine Großeltern, mein Opa ist Bulgare“. In Bulgarien ist alles anders, außerdem wird er, wie er sagt, dort das Haus seines Großvaters erben.„Das Haus! Also das Landleben, also das find’ ich dann gut ... so ganz anders. So unter den Leuten einfach mehr Freiheiten ... Die lassen ja ihre Türen offen in der Nacht ... die haben da Vertrauen“; es ist nicht wie bei uns –„so Hausordnungen und sowas. Das ist bekloppt“– wo,„wenn man da die Türen offen läßt, muß man Angst haben, daß morgen alles ausgeräumt ist!“
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11.[119:70] Das Interesse am„Landleben“wird von A präzisiert:„Landwirtschaft ... nee, das nicht, so mit Acker und so, das nicht“. Aber:„Berge und so“, aber auch arbeiten,„muß ich ja“, und„doch, Tiere ja, klar! ... Lämmer, Schafe ... Ziegen – das geht alles“. Näher aber scheint ihm doch Technisches zu liegen. Am liebsten würde er in Bulgarien„irgendwas so, vielleicht irgendwas mit Technik, im technischen Bereich so ... also so Kfz’s, so, von Motorrädern hab ich’n bißchen Ahnung, aber Autos eigentlich nicht so; aber: kann man ja lernen“.
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12.[119:71] Nachdem A im Heim nicht mehr, wegen„Kriminalsachen“, wie er sagt, geduldet wurde, kam er in eine andere Einrichtung (Jugendhilfsstätte), und gleich muß (!?) er wieder„abhauen“:„In der Nacht aus dem Fenster geseilt! Mit’m Freund; also Bettlaken zusammengebunden und an’ne Heizung und dann raus! ... Erst waren wir in ’ner Discothek ... bei Pit waren wir auch, dann waren wir bei ’n paar Freunden, da haben wir geschlafen – sind wir anderen Tag wiedergekommen“. Ein andermal„haben wir in’ner Hütte geschlafen ... haben sie uns geschnappt, da ... abends mal um zwölf geschnappt“.
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13.[119:72] Schließlich – die„Jugendhilfsstätte“blieb eine Episode – kommt A in eine Pflegestelle:„Dann bin ich zu X gekommen ... das ist der angebliche Pflegevater“. Schon der Ort mißfiel ihm:„das war’n |A1 A2 A3 40|Nest ... konnte man noch nicht mal ’ne Kuh oder ’n Schwein auf der Straße sehen ... war nix los da“. Der Pflegevater war unglücklicherweise Lehrer, das„war überhaupt nicht gut“,„der hat immer nur, meistens von Schule gequatscht!“Zur Schule sei er gegangen,„doch, ich bin hingegangen, zweimal ... dann hat’s mir gereicht ... dann bin ich abgehauen ... bin gleich zu meinen Großeltern gefahren ... und seitdem bin ich da“. Aber er will auch bei denen nicht bleiben,„auf gar keinen Fall“. Es gibt„Konflikte immer so ... Spannungen ... ich halt’ mich auch die ganze Zeit im Zimmer auf ... Wenn ich aus der Schule (!) komme, nehm ich mir mein Essen, geh ins Zimmer, bleib ich den ganzen Abend da. Guck auch kein Fernsehen, nix! Ganze Zeit Musik, paar Freunde kommen ... von vier bis acht, und dann hör’ ich ganze Zeit Musik“.„Ich bin meistens allein“; und – in zunächst merkwürdigem Kontrast zu allem Vorhergehenden:„Wenn ich Freunde habe, also – ich kann das nicht ab, dieses dumme Gequatsche immer, die reden dann immer so!“Bei den Großeltern will er also nicht bleiben, gern aber würde er wieder in ein Heim gehen. Außerdem steht er gegenwärtig unter Druck: im Augenblick will er nicht„abhauen“, denn:„ich hab ja jetzt 2 Wochen Knast gekriegt.“
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14.[119:73] Am liebsten ginge er in das Heim in F., er hat dort einen,„mit dem war ich gut befreundet ... In der Schule haben wir viel Scheiße gebaut, mit dem bin ich auch abgehauen immer ... ’n guter Freund, ’n sehr guter Freund“. Das ist ihm sehr wichtig,„natürlich, das sowieso“. Aber genau diese„Freundschaften“werden vom Jugendamt mißbilligt, deshalb soll er nicht nach F.,„angeblich wären da zu schwere Jungs!“Ihm macht das nichts aus, sagt er, auch nicht, daß ihm nun zwei Wochen Jugendarrest bevorstehen:„... das auf gar keinen Fall! Das, das juckt mich nicht!“(Man mag es ihm kaum glauben.)
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15.[119:74] Schwierig aber, das räumt er ein, könnte es –„wegen polizeiliches Führungszeugnis! Das sieht nicht so gut aus!“– mit seinem Wunsch werden, nach Bulgarien, in das Haus seines Großvaters, zu gehen. Daran hängt dann auch noch mehr, z. B.„also erstmal Berufsausbildung“,„Schule“,„keine kriminellen Sachen mehr“. Dies sind die Erwartungen der„Erwachsenen“, die er gelten läßt, nolens volens.
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16.[119:75] Über seine Phantasien vom„Landleben“in Bulgarien hinaus, offenbar eine moderne Variante vom Schlaraffenland, hat er Schwierigkeiten, präzisere Berufswünsche zu formulieren:„Also erstmal liegt’s daran, weil ich faul bin, ziemlich faul ... Aber dann, also so Sachen, so mit Holz, Metall und sowas, das liegt mir nicht so! Am liebsten würd’ ich was mit Reisen machen, immer reisen ... Lokführer ... das einzige, was man mit Hauptschulabschluß machen |A1 A2 A3 41|kann ... darum ja auch so der Kfz-Mechaniker; jedenfalls Reisen“.„Genau! ... Reisen fand ich schon immer gut ... immer unterwegs am besten ... aber nicht so gehen, wandern, so langsam nicht. Wandern mach ich nicht so gerne ... Schwimmen mach ich überhaupt nicht gerne“.
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17.[119:76] Auf die Frage nach drei Wünschen, den wichtigsten, die er hätte, sagt A:„Also Bulgarien, und alles was dazu gehört, also Beruf und so“. Dann (zweiter Wunsch)„Gesundheit und so, daß alles in Ordnung ist“. Und„als drittes, ja, daß hier in Deutschland ... alles wieder in Ordnung kommt, mit Arbeit und so, Ausländerproblem ... also daß die mehr Rücksicht auf die nehmen, nicht auf mich, auf die Ausländer! ... Ich kenn’ viele Türken!“
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1.[119:78] Alles, was A erzählt, hat einen Beziehungshintergrund, wie ein Basso continuo. Diese„Baß-Figur“(um in der musikalischen Metapher zu bleiben) beschränkt sich, wie in der Musik auch, auf einfachste Information:„Zuspruch“, mal mehr, meist zu wenig;„um mich kümmern“; Erwachsene seien„Aufpasser“; deshalb entschließt er sich immer wieder zum„Abhauen“. Einerseits vermißt er soziale Beziehungen, in denen er akzeptiert und gestärkt wird; andererseits hat er auch immer dann Schwierigkeiten, wenn diese Art von„Zuspruch“, des„Sich-um-ihn-Kümmerns“formellere oder gar institutionalisierte Formen annimmt. Das gilt nicht nur für seine Beziehungen zu Mutter, Pflegevater, Erziehern und anderen Erwachsenen, sondern auch für Gleichaltrige. Nur zu ganz wenigen hält er vertrauten Kontakt („Ich bin meistens allein“).„Cliquen“mag er nicht; die sind ihm schon zu formell. Nur auf gleichsam zwanglose Formen von Verständigung und Einverständnis mag er sich einlassen. Er ist andererseits realistisch genug, formellere Settings für seine nähere Zukunft nicht auszuschließen:„Schule“,„Berufsausbildung“; also keine„kriminellen Sachen“mehr, die ja immer in der Zwischenzone zwischen seinem Bedürfnis nach„Zuspruch“und der Abwehr von Verbindlichkeiten liegen, in den Phasen, in denen er„abhaut“und dabei (wiederum) die zuverlässige Kumpanei von anderen sucht. Man mag dieses Lebensthema also„Geborgenheit in dichter sozialer Beziehung versus Vagabundenleben“nennen.
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2.[119:79] Das„Vagabundieren“scheint überhaupt für ihn im Mittelpunkt zu stehen. Unter vorindustriellen, vormodernen Sozialverhältnissen wäre er vermutlich überhaupt nicht auffällig, kein Objekt besonderer pädagogischer Sorge (jahrelanges Vagabundieren war für viele Jugendliche des 15. bis 18. Jahrhunderts normal). Seine„Kriminalität“hält sich offenbar in bescheidenen Grenzen, auch wenn Jugendge|A1 A2 A3 42|richte das anders bewerten müssen. Seine Berichte über die vielen Zwischenphasen, in denen er auf„Trebe“war, sind lebendig und farbig, hören sich lustvoll an. Er will sich nicht bereichern, er will leben, wie Nomaden es tun.„Aufpasser“haben da für ihn keinen Lebenssinn, können nur vorübergehend akzeptiert werden, um dem Überlebenszwang in der modernen Gesellschaft Genüge zu tun. Im Grunde kann er„ganz gut alleine leben“,„ganz frei irgendwie“, wenn nur der„Zuspruch“nicht fehlt – wie zu Beginn des 16. Jahrhunderts, der zwischen seinem 12. und 19. Lebensjahr in Mitteleuropa herumvagabundierte und dabei die Sehnsucht nach„Zuspruch“, nach seiner Heimat und seiner Mutter, nicht verlor. Also ist sein Thema eine archaische Form des Reisens. Das eher Bodenständige, Beharrende liegt ihm nicht: Landleben ja, aber kein Ackerbau, kein Holz, kein Metall; statt dessen„immer reisen“, und der ideale Kompromiß zwischen archaisch-ursprünglichem Begehren und moderner Realitätserwartung ist,„was man mit Hauptschulabschluß machen kann“:„Lokführer“! Aber man ahnt schon, daß in diesem Berufswunsch ein romantischer Überschuß steckt, daß der Kompromiß zwischen Begehren und Realität brüchig ist, jedenfalls vorerst. Dennoch ist die Treffsicherheit, mit der A diesen Ausgleich ins Auge faßt, verblüffend: angesichts möglicher Alternativen, z. B. Matrose oder Reiseleiter oder Fernfahrer oder Vertreter etc. ist der„Lokführer“eine ziemlich passende Symbolisierung seiner nomadischen Wunschkonstellation: rasch von Ort zu Ort, in der Lokomotive allein, mit gesichertem„Zuspruch“durch den einen Arbeitskumpel, statt eines„Chefs“nur den Anpfiff zum Weiterfahren, nachts in immer anderen Hotels usw. – dies ist freilich nur A’s Phantasie, mit realistischen Einsprengseln, nicht die alltägliche Wirklichkeit des Lokführers. Aber diese Phantasie und ihre Repräsentation bekräftigt sein Lebensthema: Nomade sein dürfen.
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3.[119:80] Neben den Beziehungsproblemen und den„Trebe“-Berichten (samt Kleinkriminalität) gewinnt ein drittes Thema unter dem Stichwort„Bulgarien“Kontur.„Bulgarien“ist wie das Code-Wort für ein Problem – und eine Problemlösungs-Bündelung. Durch den bulgarischen Großvater sichert es„Zuspruch“und zugleich, durch die zu erwartende Hauserbschaft, materielle minimale Sicherheit.„Landleben in Bulgarien“ist für ihn aber nicht die Idylle kleinräumiger Seßhaftigkeit, sondern eher freie Bewegung,„Berge und so ... Tiere ... Lämmer, Schafe ... Ziegen“, keine„Hausordnungen“, offene Türen – und dies alles emotional gegründet in„Bulgarien“und„Landleben“scheinen für ihn also zweierlei zu verbinden, zu integrieren: Der Zug in die Fremde und die Zuverlässigkeit naher Beziehungen. Seine Sympathie für Ausländer repräsentiert im Kern kein politisches oder verwandtschaftliches (über den Großvater) Motiv, sondern eines der seelischen Wirklichkeit: Identi|A1 A2 A3 43|fikation mit dem Leben in der Fremde mit Reiz und Risiko eines solchen Lebens. Dies scheint das dominierende Thema zu sein; es erlaubt A, seine anderen Themen, Motive und Erfahrungen aufzuheben, als reale Möglichkeiten in die Zukunft zu projizieren.
Beispiel B
3 Jahre alt: Umzug der Familie in die Großstadt Y,
6 Jahre alt: Vorschulkindergarten ca. 10 Jahre alt: Asthma-Diagnose; Vater arbeitslos
ca. 12 Jahre alt: Heimeinweisung. Zu Hause
Asthma bessert sich, aber ab und zu noch Atemnot
12 – 15 Jahre: Immer Ärger mit den Lehrern
|A1 A2 A3 45|ca. 15 Jahre: Sonderschulabschluß
16 Jahre: Berufsgrundbildungsjahr Holz- und Bautechnik
Häufiges Fehlen in der Schule
Heimwechsel
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1.[119:85] Die Erzieher nerven ihn.
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2.[119:86] Mit Erwachsenen hat er Probleme, unbestimmten„Ärger“.
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3.[119:87] Der Vater ist„groß“,„Schlägertyp“,„Ärger“zu Hause.
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4.[119:88]„faul geworden“, weil ...
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5.[119:89] Dem Vater war’s egal
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6.[119:90] Der Vater ist häufig„weggegangen“
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7.[119:91] Früher fand ich ihn gut, heute nicht mehr
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8.[119:92] Er war groß, LKW-Fahrer ...„was ich auch gern wollte“
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9.[119:93] Später: kein LKW mehr gefahren ... nur noch zu Hause (arbeitslos) gewesen
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10.[119:94] Alkohol war im Spiel
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11.[119:95]„Ärger“mit Schwester
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12.[119:96]„fast gar kein Verhältnis mehr“zu ihr
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13.[119:97] Vorschullehrerin„bekloppt“
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14.[119:98]„bekloppter Lehrer“, ein„großer dicker“, der„immer nur recht hat“
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15.[119:99] ein neuer Lehrer,„der ist dick“, hat mir welche„geballert“
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16.[119:100] Erzieher sollten„richtig durchgreifen“
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17.[119:101] Ärger mit dem Erzieher
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18.[119:102] Unsicherheit in der Selbstbeschreibung seiner Situation in Gruppe/Heim
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19.[119:103] Schule, Mathe: immer ganz gut, immer voraus
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20.[119:104] Holz macht mir Spaß (Chemie)
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21.[119:105] Flugzeug Panzer Einzelkämpfer
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22.[119:106] Essen, Schlafen, Basteln, Holzarbeiten, Joggen, Karate, Schießen
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23.[119:107] keine Freunde
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24.[119:108]„rauhe Typen“, die„nerven mich“,„geben nur an“
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25.[119:109] dto.,„provoziert werden“
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26.[119:110] würde niemanden vermissen, höchstens„Frau W.“
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27.[119:111] LKW-Fahrer als Berufswunsch.„Mein Vater hat gesagt ...“
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28.[119:112] Sinn des Führerscheins:„wegzukommen“
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29.[119:113] Vater:„Stärke und so ... habe ich alles von meinem Vater“,„aber sonst das meiste von meiner Mutter“
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30.[119:114]„lange Strecken“(mit LKW reizen ihn)
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31.[119:115]„Tja, das hab ich alles von meinem Vater“.
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32.[119:116] LKWs, Flugzeuge ...„kann ich drauf“, Doppeldecker„sind mir viel zu langsam“
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33.[119:117] Wanderungen nicht so gern, aber„Überlebenstraining“,„Einzelkämpferausbildung“
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34.[119:118] Gewichtheben
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35.[119:119] warum Korsika?„mal was anderes“,„Ausland“
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36.[119:120]„Kannst ja nicht immer auf’m alten Stuhl da sitzen bleiben“
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37.[119:121]„Ich wollt nicht nochmal anfangen mit Schlägertypen wie mein Vater“
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38.[119:122] Was stellst Du Dir vor?:„Irgendwo da, wo’s ruhig ist“
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39.[119:123] Mit Geld„da hab ich so’n bißchen meine Schwierigkeiten“
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40.[119:124] Drei Wünsche: Alles von vorne, kein Asthma,„Eigenes Haus ... wo’s ruhig ist“
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41.[119:125] Was für’n Gefühl hast Du (jetzt am Ende des Interviews)?„Keins“.
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–[119:127] Es bedarf keiner professionellen psychologischen Kenntnis, um das Thema„Vater“zu identifizieren. Immer wieder kehrt B auf diese Erlebnis-Figur zurück. Immer wieder wird sie widersprüchlich charakterisiert: als bewundert und abgelehnt, als Vorbild und Abschreckung, als anziehend und abstoßend, als strukturierend und chaotisierend.
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–[119:128] Es gibt immer wieder Ärger mit Erwachsenen. Sie sind gelegentlich„bekloppt“, gelegentlich wollen sie„immer nur recht“haben, manchmal sind sie zu stark, manchmal zu schwach;„klein“und„dick“, aber zugleich„durchgreifend“scheint am ehesten akzeptabel zu sein; d. h.: in der Körperdimension überraschend und in der dazu scheinbar gar nicht passenden„Geist“-Dimension ebenso. Der akzeptable Erwachsene muß also offenbar aus derartigen Widersprüchen gemacht sein.
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–[119:129] Beständig hat B„Ärger“in Beziehungskonstellationen, die er aber nicht genau beschreibt. Zumeist handelt es sich um körperliche Auseinandersetzungen. Die einzige, wenn auch äußerst knappe Beschreibung einer Interaktion mit Folge und Veränderung ist rein spiegelbildlich (symmetrisch) konstruiert:„Zu Hause, da hatten alle Angst vor mir ... dann im Heim ... gings mir selber so“. Ein reines Reiz-Reaktions-Schema, ohne das, was in der Literatur„Perspektiven-Übernahme“oder„Empathie“heißt.
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–[119:130] B interessiert sich für LKW-Fahren, Flugzeuge, Joggen, Panzer; für alles, was schnell ist, womit man woanders hin kommt. Das„Langsame“schätzt er, so scheint es, weniger („kleine Dicke“, die zugleich fix im Geist sind, verblüffen ihn). Auch„Wanderungen“sind ihm zu gemächlich; man kommt dabei nicht weit genug. Alles, was dauert, was seine Zeit braucht, wofür Geduld erforderlich ist, bereitet ihm Beklommenheit (Asthma!). Er will von allem„weg“. Wohin, das weiß er nicht. Nur:„Kannst ja nicht immer auf’m alten Stuhl da sitzen bleiben“(Nr. 36).
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–[119:131] Zu diesem starken Bewegungsimpuls steht scheinbar im Widerspruch das Bedürfnis nach Ruhe, nach statischer Kraft, nach dem er|A1 A2 A3 47|füllten Augenblick.„Schlägertypen“„wie mein Vater“mag er nicht, aber er will Karate lernen (die Überlegenheit aus dem Stand!). Er wünscht sich Lebenssituationen,„wo es ruhig ist“, wo nicht beständig Gegenwart auf Zukunft bezogen werden muß (mit Geld„da hab ich ... Schwierigkeiten“). Er wünscht sich Situationen, in denen keine Frustrations-Toleranz nötig wäre. Ihm mißfallen die„deferred-gratification-patterns“unserer Kultur. Zyklische Situationen liegen ihm näher als lineare (sein erster von drei fiktiven Wünschen ist:„Alles nochmal!“). Seine Antizipationen sind deshalb abstrakt: wegkommen,„was anderes“,„Ausland“,„schießen“. Konkret ist das Zirkuläre: Prügeln und geprügelt werden, groß und klein, der Einzelkämpfer, stärker oder besser sein.
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–[119:132] Am Ende des Interviews sagt B auf die Frage, was für ein Gefühl er nun habe:„Keins“. Das steht zum Vorhergegangenen nicht im Widerspruch. Alle seine Äußerungen erscheinen eigentümlich emotionslos, so als sei für Gefühle kein rechter Platz. Er hat offenbar keine Freunde, auch würde er, bei längerer Abwesenheit oder Trennung von seiner Gruppe, niemanden vermissen, höchstens„Frau W.“. Auch sein Vokabular enthält kaum emotionelle Töne, bis auf das Bedürfnis,„wegzukommen“und„Ruhe zu haben“. Das läuft auf so etwas wie Interaktionsvermeidung einerseits und auf die Erwartung gleichsam technischen Interaktionsmanagements andererseits hinaus.
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1.[119:134] Die Ambivalenz starker Figuren, Bezugspersonen, durch die Vater-Erfahrung geprägt;
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2.[119:135] eine„egozentrische“Körperthematik, die eher auf Energie und Bewegung (selbstzentrisch) als auf Beziehungs-Figurationen hin orientiert ist;
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3.[119:136] ein Interesse an Leistung durch Einsatz gegenständlich gerichteter Kraft und an sehr raschen Erfolgserlebnissen;
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4.[119:137] ein Bedürfnis nach – wie wir es etwas umständlich formulieren wollen –„solipsistischen Oasen“, nach Ruhe und Geborgenheit, nach In-sich-ruhen-Können, ohne mit Erwartungen konfrontiert zu werden.
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1.[119:139] Unterstützung seines körpernahen Interesses an gegenständlicher Auseinandersetzung, an rascher Überwindung von Distanzen, an Kraft- bzw. Könnensbeweisen.
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2.[119:140] Respekt vor seiner Vermeidung von dichteren Gruppen-Kontakten, von schwierigeren persönlichen Beziehungen, von deutlicheren Verhaltenserwartungen, die sich auf personelle Interaktionen beziehen.
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–[119:142] Er hätte, in der Rolle des„Bauleiters“, eine gegenständliche (nicht eine emotionell bestimmte) Verantwortung;
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–[119:143] er dürfte selbst„durchgreifen“, d.h. Arbeitsteilungen bestimmen, Tätigkeiten koordinieren (unter der Voraussetzung, daß dieses oder jenes Mitglied der Gruppe mitarbeitet);
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–[119:144] er könnte seine Fähigkeiten zeigen und vor anderen unter Beweis stellen, auch seine„mathematische“Kompetenz (z.B. in Form einer Bauskizze mit Maßangabe);
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–[119:145] er könnte schlechte, ineffektive Zuarbeiter„feuern“– und wäre dann mit den Folgen konfrontiert;
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–[119:146] er würde für sich selbst einen (wenn auch nur symbolischen) Ort der„Ruhe“selber herstellen (man könnte ihm, als beteiligter Pädagoge, für den Fall des gelungenen Abschlusses eine Urkunde ausstellen, aus der hervorgeht, daß die„Hütte“sein Eigentum ist);
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–[119:147] er hätte, am Ende, einen ruhigen Ort der Ferne, durch fast nichts als durch seine eigene Kraft hervorgebracht;
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–[119:148] er hätte vielleicht – durch die Auseinandersetzung nicht nur mit Material, sondern auch mit Mitarbeitern – schließlich eine Erfahrung gemacht, in der sich gegenständliche Auseinandersetzung mit der„Natur“, Auseinandersetzung mit Zeit- und Frustrationsproblemen und mit personbestimmten Interaktionen verbinden.
4. Übersicht über die Diagnosen, Vergleich und Beurteilung
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–[119:150] Die Absicht, den einzelnen Fall ganz und vollständig zu verstehen, und zwar so, daß das je Meinige in der Deutung gänzlich verschwindet und nur das je Andere und Individuelle zur Sprache kommt, wäre eine Wiederholung des Falles, vielleicht seine Imitation. Mit dieser wäre ich genau an der Stelle des anderen, hätte dann aber auch die gleichen Probleme, z. B. solche des Selbstverstehens, wie der andere. Ego und Alter aber sind verschieden. Auch wenn in gewissen Lebensmomenten diese Differenz als verschwundene erscheinen mag – das Verstehen des anderen als ein methodischer Vorgang (der übrigens nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch im Alltag dauernd vorkommt) bedarf der Absehung vom schlechthin Besonderen oder Individuellen, muß sich also auf Verallgemeinerung einlassen.
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–[119:151] Am anderen Ende der so gedachten Skala steht eine Operation, die sich die notwendige Abstraktion zum Rechtfertigungsprinzip macht, das Allgemeine auf einer gleichsam sehr hohen Ebene ansiedelt und so hermeneutischen Bemühungen die (angeblich zuverlässigen) kategorialen Standards vorzugeben versucht. Auch in diesem Fall endet das, was den Namen Verstehen oder Hermeneutik verdient, jedenfalls dann, wenn aus der Diagnose das Wechselspiel zwischen in|A1 A2 A3 50|dividuellem Entwurf und seinen generellen Gehalten nicht mehr ins Spiel tritt. Sehe ich den einzelnen Fall nur noch nach Maßgabe generalisierter Strategien – z. B. der szientistischen, der sozialstaatlichen, der politischen, der kulturell formierten u. ä. – dann bleibt für hermeneutische Bemühungen kein Spielraum. Da solche Strategien sich leicht mit Interessen am Erhalt von Herrschaft und Sozialkontrolle, in Institutionen, Administrationen und kulturellen Formationen verbinden, darf man vermuten, daß hermeneutische Bemühungen auch einen politischen Sinn, eine politische Funktion haben: sie sind allen imperialen Gesten gegenüber, in Praxis und Wissenschaft, distanziert (eine„faschistische Hermeneutik“z. B. kann es, begriffslogisch, nicht geben).
Differenzierende Kategorie | Thema |
1. Körperkoordination; Feinmotorik; Leibversorgung; Spürenserfahrung |
|
2. Umgang mit Dingen; instrumentell vermittelter Bezug zwischen Leib und Welt; Stärke beweisen |
außerdem: Nr. 7, 4
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Differenzierende Kategorie | |
1. Verständigung, Abstimmen wechselseitiger Erwartungen; Aushandeln von Umgangsregeln; Überlegenheit/Unterlegenheit in sozialen Beziehungen Körperkoordination; Feinmotorik; Leibversorgung; Spürenserfahrung |
außerdem: Nr. 20, 21, 17, 10
|
2. Vertrauen, Verläßlichkeit |
außerdem: Nr. 3, 5, 9, 21
|
Differenzierende Kategorie | |
1. (Gruppen-) Zugehörigkeit, Selbstlokalisierung |
außerdem: Nr. 39, 15, 37, 46, 18, 43
|
2. Anpassung und Abgrenzung |
außerdem: Nr. 18, 2, 40, 49, 39, 58
|
3. Selbstentwurf, Balance zwischen Selbst- und Fremdbild; Umgang mit Zeit |
außerdem: Nr. 32, 27, 57, 26, 62
|
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–[119:163] Themen der materiellen Reproduktion, der sozialen Orientierung, der seelischen Befindlichkeit, oder
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–[119:164] Themen, die eher kognitiv, und Themen, die eher affektiv profiliert sind, oder
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–[119:165] Themen, die sich auf Zeitstrukturen, solche, die sich auf Raumstrukturen, und schließlich solche, die sich auf Sozialstrukturen beziehen, oder
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–[119:166] Themen, die sich auf formelle Erwartungen, auf informelle Erwartungen beziehen und solche, die gar keine Erwartungsstruktur erkennen lassen – also alle drei einen normativen Bezug haben, oder
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–[119:167] eher auf Normatives bezogene Themen, eher auf Funktional-Systemisches bezogene Themen, oder
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–[119:168] Themen, die die aktuelle Befindlichkeit, und solche, die Entwicklungsprobleme zur Sprache bringen, usw.
5. Themen und Tätigkeiten
I Differenzierende Kategorie | II Diagnostisch-prognostisch vorgeschlagene Tätigkeiten | III Zusätzlich realisierte Tätigkeiten |
Verständigung, Abstimmung wechselseitiger Erwartungen; Aushandeln von Umgangsregeln; Überlegenheit/Unterlegenheit in sozialen Beziehungen |
|
Einzel- und Gruppengespräche
|
Vertrauen, Verläßlichkeit |
|
eigene Biographie besprechen (alle)
|
I Differenzierende Kategorie | II Diagnostisch-prognostisch vorgeschlagene Tätigkeiten | III Zusätzlich realisierte Tätigkeiten |
(Gruppen-) Zugehörigkeit, Selbstlokalisierung |
|
Einzel- und Gruppengespräch (alle)
|
Anpassung und Abgrenzung |
|
|
Selbstentwurf, Balance zwischen Selbst- und Fremdbild, Umgang mit Zeit |
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Gruppen- und Einzelgespräche (alle)
Schmuck herstellen, Kleider entwerfen, Rollenspiele,
Schminken, Masken herstellen, Kollagen zur Frauenrolle
anfertigen (alle Mädchen)
|
6. Einiges zur Begründung der Aufmerksamkeit für Tätigkeiten
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–[119:188] Das Jugendalter wurde beschrieben als Phase der Ich-Konturierung, der Suche nach Lebenssinn, nach sozialer Lokalisierung, nach„Identität“im Durchgang durch die„Diffusionen“, denen 14 – 18jährige (ungefähr) ausgesetzt sind. Als das wesentliche Medium, in dem solche Diffusionen und Problemstellungen geklärt werden können, galt die Sprache. Darin unterscheidet sich Sprangers Theorie des Jugendalters von 1928 nicht von den Jugendforschern der Gegenwart, die sich der Instrumente qualitativer Sozialforschung bedienen.
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–[119:189] Eine solche, eigentlich am typischen Mittelschichtjugendlichen orientierte Perspektive für theoretisches Nachfragen ist aber im Hinblick auf diejenigen Jugendlichen, die in sozialpädagogischen Maßnahmen betreut werden, besonders wenn sie mit schweren Verhaltensproblemen zu tun haben, irgendwie unpassend. Zwar regulieren auch sie viel und Wesentliches über den sprachlichen Austausch, aber gleichsam nur auf der Vorderbühne. Auf der Hinterbühne ihrer sozialen Inszenierungen – viele von ihnen bestimmen ja ohnehin die gesellschaftliche Hinterbühne für das eigentliche Feld ihrer Selbstverwirklichungen – herrschen andere Formen der sozialen Interaktion, andere Praktiken der Selbstvergewisserung. Das ist für Sozialpädagogen keine Neuigkeit. Daß sich in der Klientel von Jugendhilfe-Einrichtungen – in Heimen, Wohngruppen, psychiatrischen Kliniken usw. – die Fälle häufen, in denen niedriger sozioökonomischer Status, schwieriges familiales Herkunftsmilieu, somatische Beeinträchtigungen, regionale Benachteiligungen usw. kumulieren, ist längst bekannt und braucht hier nicht noch einmal nachgewiesen zu werden. Um so überraschender aber ist es gerade deshalb, daß die sozialpädagogische Forschung – darin von der Praxis deutlich unterschieden – aus diesem Offensichtlichen und in unzähligen Texten immer wieder appellativ zur Sprache Gebrachten kaum Konsequenzen gezogen hat. Unsere Vermutung ist diese: Die Sozialpädagogik hat sich einerseits lange Zeit und aus guten Gründen vorwiegend mit ihren institutionellen Bedingungen befaßt; andererseits hat sie sich auf ihre„Klienten“gleichsam interaktionistisch konzentriert, durch die heftige Rezeption derjenigen Handlungs- und Forschungsperspektiven, die sich in Konzepten wie„Kommunikation“,„Deutungsmustern“,„Gesprächstherapie“,„Beratung“u. ä. andeuten. Die pädagogischen Probleme aber liegen nach wie vor im Zwischenfeld: Die Institution stellt nur eine, freilich wesentliche, ihrer Bedingungen dar; der verbale Kommunikations- und Beratungsfall tritt, nach Maßgabe der alltäglichen Zeitbudgets, etwa eines Heimes, nur selten ein; dazwischen aber liegt die sozialpädagogische Praxis, angefüllt mit einer schier unüberschaubaren Fülle von Ver|A1 A2 A3 73|richtungen und Tätigkeiten, die zwar zumeist auch sprachlich kommentiert werden, deren sinnliche Gestalt aber eine je eigene Bedeutung hat – sozialpädagogischer„Alltag“eben.
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–[119:190] Wir vermuten für die Vernachlässigung von„Tätigkeiten“in der sozialpädagogischen Theorie und Forschung schließlich noch einen historischen Grund. Das sozialpädagogische Denken ist bis in die Gegenwart hinein mitbestimmt durch die pädagogische Geschichte der Anstaltserziehung. Diese, im 19. Jahrhundert formiert und weit in das 20. Jahrhundert hineinreichend, galt und gilt als das abschrekkende Beispiel, das inzwischen gelegentlich zum Bilderbuch-Format stilisiert wurde, insbesondere in der manchmal allzu bereitwilligen Aufnahme der Thesen beispielsweise oder (Goffman 1971, Foucault 1976). Tätigkeiten wurden in solchen Kontexten zumeist assoziiert mit Kinderarbeit, Zurichtung für den Arbeitsmarkt, Ausbeutung; oder mit Unterprivilegierung, volkstümlicher (also auf soziale Unterschichten bezogener) Bildung, mit„praktischer“Begabung im Unterschied zur technischen und theoretischen. So ergab sich ein ideologisches Syndrom aus Kinderarbeit, Ausbeutung und (nur) praktischer Begabung, das historisch zutreffend diagnostiziert wurde, das aber zu merkwürdigen Vereinseitigungen, zu merkwürdigen Gleichsetzungen führte: Körperliche Tätigkeit ist Realisierung von (zugeschriebener) praktischer Begabung, ist Verfügbarkeit für den industriellen Arbeitsmarkt, ist Qualifikation von körperlicher Arbeitskraft und führt zu Ausbeutung. Konsequenz: sozialpädagogische Maßnahmen, die die körperlich bestimmten Tätigkeiten in die Aufmerksamkeit rücken, befördern diese Reihe und schaden deshalb – weil die Reihe bei der Ausbeutung endet – den Emanzipationsinteressen der Jugendlichen. Hingegen sei die sprachliche Distanzierung, die kritische Auseinandersetzung, das aufklärende Wort das wichtigste und letztlich entscheidende Medium der Bildung. Körperliche Tätigkeit war also im Verdacht, in die Reihe pädagogischer Zurichtungen von Arbeitskraft, diese wiederum in die Reihe industrieller fremdbestimmter Arbeitsteilungen zu gehören.
7. Wie Tätigkeiten Lebensthemen zur Sprache bringen
Der Fall D
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–[119:211] Man beobachtet an ihm einen unerklärlichen„von ihm nicht mehr zu kontrollierenden Zustand psychischer Anspannung, er macht oft Nächte durch, zieht hin und her, von Einem zum Anderen und ist umtriebig bis zur völligen Erschöpfung“.
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–[119:212]„Es fällt ihm schwer, reguläre Schulzeiten durchzustehen, er bleibt dem Unterricht oft fern, betrinkt sich und fährt mit dem Mofa eines Mitschülers umher.“
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–[119:213]„Er besorgte sich ein Luftgewehr und schoß damit in der Gruppe umher.“
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–[119:216] Es kommt zur Strafanzeige wegen Drogenbesitzes, möglichen Drogenhandels und Fahrens ohne Fahrerlaubnis.
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–[119:217] Im Alkoholrausch versucht er, den Wagen der Gruppe zu entwenden.
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–[119:218] Er sitzt Tag und Nacht am Computer und schläft kaum.
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–[119:219] Seine einzige Stütze scheint die Freundschaft zu einem fast schon Erwachsenen zu sein, den er regelmäßig zum Computerspiel aufsucht.
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1.[119:221]„Was ist mein, was ist dein, was ist unser? Wunsch nach einem vertrauten Partner und Angst vor Konkurrenz und Selbstverlust.“Seine Kindheit beschreibt D als einen ununterbrochenen Kampf zwischen ihm und seinem Bruder um Spielsachen, Anerkennung und Überlegenheit.„Wir haben uns gefetzt wegen Kleinigkeiten. Weil wir manche Sachen ganz gemeinsam hatten und manche Sachen auch so verschieden, da hat mich das eben aufgeregt teilweise. Und dann gab’s jeden Tag Schlägerei.“Auch in den Freundschaften zu Gleichaltrigen spiegelt sich ein ähnliches Konkurrenzverhältnis wie zu seinem Bruder |A1 A2 A3 82|wider, mit dem er sich noch innig verbunden fühlt. Eng damit verknüpft ist sein nun folgendes Thema
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2.[119:222]„Für sich und bei sich sein, Suche nach einem Bereich der Selbstfindung und Abgrenzung.“D ist wahrscheinlich oft daran verzweifelt, sich gegenüber seinem Bruder oder seinen Freunden einen eigenständigen Tätigkeitsbereich aufzubauen. Wahrscheinlich wurde jeder Ansatz dazu von vornherein durch Konkurrenzverhältnisse zerstört. Diese Situation beschreibt er folgendermaßen:„Ich mache gern was alleine, und dann kann ich’s nicht ab, wenn einer, z. B. E, hinterherkommt. Man kann hier nirgends alleine hingehen und seine Ruhe haben, fünf Minuten später ist er da!“Auch haben seine Eltern und Erzieher ihn nach seiner Meinung nur wenig dabei unterstützt, sich einen eigenen Bereich zu verschaffen:„Das ist ’ne Sache, die ich bis heute nicht verstehe. Wenn ich mal wirklich Sachen habe, die mir Spaß machen, dann darf ich das nicht machen.“Hinzu kommt, daß ihm die nötige Ausdauer und Frustrationstoleranz fehlen und es ihm schwer fällt, einen eigenen Zeitrhythmus zu finden.
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3.[119:223]„Selbst- und Fremdbestimmung. Was mit der Zeit tun, planen oder vergehen lassen?“Aufgrund seiner Selbstunsicherheit und diffusen oder labilen Ich-Abgrenzung erlebt er die von außen an ihn gerichteten Anforderungen als bedrohliche Fremdbestimmung, die er z. T. aggressiv abwehrt. Die Schule bietet ihm viele Beziehungsangebote, aber auf ihren Zeitplan will er sich nicht einlassen. Er schwänzt, aber weiß mit seiner Zeit nichts anzufangen. Am liebsten würde er, wie er sagt, mit seinem Bruder die Schule in die Luft sprengen, mit ihm gemeinsam in der Kanalisation untertauchen und ins Ausland flüchten, um sich dort unter einem Gullydeckel niederzulassen.„Aber was mit der Zeit tun? ... irgendwann auftauchen und erwischt werden.“D interessiert sich in diesem Zusammenhang für Spiele, am liebsten für solche mit labyrinthischem statt linearem Aufbau. Stundenlang spielt er am Computer Labyrinthspiele:„... ich habe ja da tagelang hintereinander am Computer gesessen – gegessen, Computer. Fast gar nicht geschlafen, und das hat mich dann aufgeregt, deshalb hab ich ihn auch verkauft wieder.“
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4.[119:224] Sein letztes Thema hat etwas mit seinem Körper und seelischem Wohlbefinden zu tun. Es läßt sich nur schwer auf den Begriff bringen, weil die Jungen, so unsere Erfahrung, ihre Körperprobleme kaum sprachlich darstellen können. Vorsichtig formuliert heißt es:„Tätigkeitsdrang und Ruhebedürfnis. Wie kann ich mir Situationen schaffen, die eine Balance zwischen Ruhe und Anspannung ermöglichen?“
D: Erstmal muß man Ruhe, ruhig sein, muß geduldig sein, und muß einem Spaß machen.
I: Wieso muß man ruhig sein?
D: Nee, überhaupt. Man darf sich nicht ärgern, wenn man ’n Hänger hat oder sowas. Muß in Ruhe alles fertig machen und nicht alles mit Gewalt oder so.
(...)
I: Was macht dir so am meisten Spaß beim Angeln?
D: Das Sitzen und das Fischefangen.
I: Zum Schluß, als du in der Wohngruppe warst, hast du ja so viel mit dem Computer gespielt. Was ist denn da der Unterschied so für dich? Was reizt dich da am Angeln mehr?
|A1 A2 A3 86|D: Mehr die Ruhe, ja, wie soll ich’s sonst erklären ... die Ruhe geht, oder die Hektik geht auf die Angel, auf die Angelschnur, von der Angelschnur auf den Haken, von dem Haken auf den Fisch. Und wenn man ganz ruhig ist und Geduld hat, dann beißt vielleicht einer an, und wenn man andauernd umherzappelt und dies und das macht, sich nicht auf’s Angeln konzentriert, dann wird wahrscheinlich keiner anbeißen.“
Der Fall F
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1.[119:240] Das erste diagnostizierte Thema lautet: An seine Kindheit kann er sich kaum erinnern, auch die Angaben über seine Erfahrungen in Psychiatrie und Heim sind spärlich. Er hat nur wenige Erinnerungsbilder, die mit Emotionen belegt sind, zumindest kann er sie sprachlich nicht zum Ausdruck bringen. Es fällt F schwer, vergangene Ereignisse auf seinen gegenwärtigen Zustand zu beziehen, also |A1 A2 A3 89|einfache biographische Kausalketten herzustellen. Und auf seine Zukunft möchte er schon gar nicht zu sprechen kommen, zu kompliziert und undurchschaubar könnten die Gegebenheiten sein, in die er sich da rein gedanklich begeben müßte.
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2.[119:241]„Es fällt ihm schwer, sich in komplexere Sachverhalte und Sozialstrukturen mit hohen kommunikativen Anforderungen einzubetten, er wünscht sich einen Ort der Ruhe.“Die Schule hatte ihm zu viele Unterrichtsfächer, die Verhältnisse in seiner Familie sind ihm zu kompliziert und die Erwartungen seiner ehemaligen Erzieher lästig. F wünscht sich einen Ort, wo man ihn in Ruhe läßt, ohne ständigen Erwartungen ausgesetzt zu sein, er träumt vom Leben auf einer Luxusyacht, die ihm ganz allein gehört; wichtiger als Reisepläne wäre ihm allerdings eine gut ausgerüstete Hausbar. Seine Trägheit, sich auf abstrakte soziale Erwartungen oder unerwartete Situationsveränderungen einzustellen, zeigte sich auch im korsischen Alltag. Plötzliche starke Regenfälle setzten den Zeltplatz unter Wasser. Während alle mehr oder weniger chaotisch den Platz räumten und ihre Sachen bargen, lief F stur hinter einem Erzieher her und verlangte von ihm die Entsorgung seiner leeren Batterien, da dieser in seinen Augen dafür verantwortlich war.
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3.[119:242]„Er hat Schwierigkeiten, zwischen seinem Leib und den Dingen einen für ihn und für andere akzeptablen Sinnzusammenhang herzustellen.“In dem Erstinterview rückt F die Dinge in Distanz zu seinem Körper. Bis auf das Zerstören der Fahrräder und dem versuchten Diebstahl des väterlichen Wagens findet man kaum Passagen, wo F sich als Verursacher von etwas durch eine körperliche Tätigkeit empfindet. Der Computer war fast das einzige, womit er sich vor dem Kurs beschäftigte. Auch die Signatur seines Körpers verriet dieses Vakuum einer leibhaften Sinnleere: F war dick und hatte noch„Babyspeck“und Falten. – Er wußte sehr wohl mittels seines Körpers sinnhafte Bezüge herzustellen, nämlich durch ein scheinbares Nichttun, durch das er im Heim oft im Mittelpunkt stand:„Ich hätte sie alle in die Klapse bringen können“, resümiert er.
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4.[119:243]„F hat ein Interesse an Überwindung von Widerständen, an Leistung und Anerkennung durch den Einsatz gegenständlich gerichteter Kraft und den Wunsch nach einer männlichen Bezugsperson, die ihn dabei unterstützt.“Die Zerstörung der Fahrräder und der versuchte Diebstahl des Wagens tauchen in den Erzählungen F’s im Zusammenhang mit den erlittenen Frustrationen und der Ignoranz seitens des Stiefvaters auf.
8. Weitere Differenzierung von Lebensthemen und Tätigkeiten
Der Fall Q
Der Fall A
9. Herkunftserfahrungen und Aufgabenstellungen
Tabelle 8:
Klassifizierung der Herkunftserfahrungen |
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Herkunftserfahrungen | Lebensthemen | Tätigkeiten mit vermutlich heilender Wirkung | |
frühkindliche und kindliche Vernachlässigung | a) der leiblichen und emotionalen Versorgung | – Mütter und Essen, Berufswunsch Koch, körperliches Wohlbefinden, Leibversorgung, Vertrauen verknüpft mit leiblicher Versorgung | – Kochen, Backen, Tischdecken, Essen, Frisieren, Massieren, Schwimmen, Einkäufen, Backofen bauen, Zimmer einrichten, Wäsche und Körper waschen, Nähen, Lagerfeuer machen, Holzhacken, Badewanne bauen, Saunen, Küche einrichten, Angeln |
b) der sensomotorischen Entwicklung und sensomotorischen Integration | – Körperkoordination, Ungeschicklichkeit, Feinmotorik, Umgang mit Leib und Dingen, Gleichgewichtsstörungen | – Schwimmen und Tauchen, Ball- und Geschicklichkeitsspiele, Rollschuh- und Skateboardfahren, Trampolinspringen, Fahrradfahren, Kraftspiele, Wandern, Angeln, Reiten | |
Abschieben und mangelnde Verläßlichkeit in sozialen Beziehungen | – Zweifel in die Verläßlichkeit von sozialen Beziehungen und die Glaubwürdigkeit anderer, Trennungsschmerz und Enttäuschungen von den Eltern, Wunsch nach Familie und eigenen Kindern, Bindungslosigkeit, Käuflichkeit sozialer Beziehungen | – 1:1-Betreuung: Einkäufen und Kochen, Wandern, Klettern, Abseilen, Kanufahren, Reiten, Briefe-, Tagebuch- und Autobiographieschreiben, Gespräche, Zimmer einrichten | |
Ambivalenz von Loslösung und Anklammerung | –
„ich
brauche Dich nicht – hilf mir“ , Abstimmen wechselseitiger
Erwartungen, Aushandeln von Umgangsregeln, Selbsteinschätzung,
eigener Standpunkt im sozialen Umfeld |
– Regel-, Gemeinschafts- und Rollenspiele, Möbelbauen, Abseilen und Kanufahren, gemeinsame handwerkliche Tätigkeiten, Handeln und Tauschen, Lohnarbeit, Briefe schreiben, Telefonieren, Einzel- und Gruppengespräch, Angeln, Autobiographie schreiben | |
Gewalterfahrungen, sexueller Mißbrauch und Familienchaos | – Anpassungsschwierigkeiten in Gruppen oder
Situationen mit hohen kommunikativen Anforderungen, Schwierigkeiten
im Umgang mit Zeit und Zeitrhythmen, Schutz- und Abgrenzungswünsche
(
„solipsistische Oasen“ ), Schwierigkeiten,
über sich und seinen Körper zu reden, Überlegenheit/Unterlegenheit
in sozialen Beziehungen, Nähe-Distanzprobleme |
– Schutzhütte bauen, Mauern, eigenen Stuhl oder Bett bauen, Zimmer einrichten, Tagebuchschreiben, Fotografieren, Angeln, leibliche Spürenserfahrungen (Wandern, Reiten, Schwimmen, Tauchen), Gartenarbeit, Motor- und Maschinenwartung, Gespräche, Dokumentieren, Rollen-, Gemeinschafts- und Regelspiele |
10. Kleines Tätigkeitslexikon
Angeln
Bauen und Mauern, Herstellen von Möbeln
Gartenarbeit
Kanufahren
Klettern und Abseilen
Kochen und Waschen
Nähen
Pingpong, Federball und Tennis
Schreiben und Fotografieren
Schwimmen und Tauchen
Wandern
10. Zusammenfassung
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1.[119:331]Unsere Ausgangsfragen waren zunächst praktischer Natur. Erzieher in den verschiedenen Einrichtungen der Jugendhilfe, besonders in den stationären, haben, nach unserer Vermutung und Erfahrung, in der Regel diagnostische Kompetenzen nicht in das Selbstbild ihrer Professionalität integriert. Diese werden den dafür besser qualifizierten Berufsgruppen überlassen – den Ärzten der Kinder- und Jugendpsychiatrie, den Heimpsychologen, den professionell ausgebildeten Therapeuten. Das gilt insbesondere für solche Fälle, in denen schwierigere Formen der Verhaltensbeeinträchtigung vorliegen. Das hat zur Folge – wenn denn unsere Ausgangsvermutung zutreffen sollte –, daß in einer für das pädagogische Handeln nicht nur wichtigen, sondern zentralen Hinsicht das Selbstbewußtsein der Sozialpädagogen schwach ist, und zwar aus Gründen, die nur in der professionellen Arbeitsteilung, nicht aber in der Sache liegen. Die Sache nämlich, der öffentliche Erziehungsauftrag, verlangt eine Diagnostik, die die pädagogischen Handlungsspielräume und -Perspektiven in den Mittelpunkt rückt. Für diese kann die psychologisch-psychiatrische nur subsidiär sein; das Unbehagen, das viele Sozialpädagoginnen und -pädagogen angesichts dieser Art von Diagnostik empfinden, artikuliert sich zwischen rechtgläubigem Geltenlassen und aggressiv getöntem Ignorieren; es hat seinen Grund darin, daß es bisher nicht gelungen ist, die Wege einer sozialpädagogischen Diagnose zu beschreiben, die ihr Ausgangskriterium in erzieherischen Problemstellungen sucht. Daß dies nun ein wenigstens prinzipiell revidierbares Defizit ist, zeigt sich schon daran, daß die bis|A1 A2 A3 133|lang in der Jugendhilfe gebräuchliche Diagnose-Praxis im Regelfall zwar eine szientifisch zuverlässige Zustandsbeschreibung darbietet, pädagogische Perspektiven aber nur sehr allgemein und häufig nur in wenigen abschließenden Sätzen anbietet. So sieht sich häufig der Erzieher in seinen auf das pädagogische Handeln gerichteten diagnostischen Interessen allein gelassen – etwa dann, wenn angesichts cerebraler Dysfunktionen ein therapeutisches Trainingsprogramm für motorische Koordinationen empfohlen wird. So unerläßlich derartige Empfehlungen sind: Sozialpädagogen sollten über eine eigene, der Komplexität des Erziehungshandelns angemessene Form von Diagnose verfügen, die mit den anderen Diagnose-Arten zwar in eine Kontinuität gebracht werden kann, die es aber erlaubt, die Bildungsprobleme der Jugendlichen stärker in die Aufmerksamkeit zu rücken und damit zugleich sich nicht nur als Vollzugs- oder Nachfolge-Organe von Psychiatrie/Psychologie/Therapie zu interpretieren, sondern als Angehörige einer pädagogischen Profession, die über eine eigene diagnostische Kompetenz verfügt.Um dieses praktische Interesse zur Geltung zu bringen, ist theoretische Arbeit nötig oder wenigstens doch hilfreich. Es gibt gegenwärtig – wenn wir recht sehen – vornehmlich zwei Empfehlungen, wie dem Mangel abzuhelfen sei: das schon zitierte„Handbuch der Pädagogischen Diagnostik“(Klauer 1978) empfiehlt eine Verbesserung der empirisch-diagnostischen Erhebungsverfahren, ein Forschungsprogramm also. Die andere Empfehlung (Achter Jugendbericht der Bundesregierung) zielt darauf, daß der Sozialpädagoge sein gesammeltes sozialwissenschaftliches Wissen auf den einzelnen Fall anwenden solle. Beide Wege sind zwar plausibel und akzeptabel, enthalten aber für den Praktiker einerseits schwierige, andererseits vielleicht an der Sache„sozialpädagogische Diagnostik“vorbeiführende Ratschläge: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Einrichtungen der Jugendhilfe sind keine Forscher, und nur in äußerst seltenen Fällen wird die Aussicht bestehen, daß ihnen professionell ausgebildete sozialpädagogische Diagnose-Experten zur Seite stehen; sie sind aber auch keine in pädagogisch-soziologischer Rundum-Analyse gebildeten Sozialwissenschaftler, die von einem Fall zum anderen all jenen Kriterien genügen könnten, die im Achten Jugendbericht aufgeführt sind. Wir denken deshalb – ohne damit jene beiden Wege überhaupt zu verwerfen –, daß der Beitrag der Erziehungswissenschaft in diesem Feld darin bestehen könnte, einen mittleren Weg zu finden, der für die Praxis begehbar ist, ohne die Ansprüche theoretischer Sorgfalt zu verletzen. Wir nennen diesen Weg„hermeneutisch“: Hermeneutik, als die Lehre von denjenigen Operationen, die„Verstehen“genannt werden, ist, wie nur wenige andere wissenschaftliche Operationen, zwischen Wissenschaft und Praxis situiert (vgl. auch Thiersch 1986, S. 198 ff.). Die Sinnzusammenhänge unseres aktuellen Lebens, unserer Traditionen und |A1 A2 A3 134|unserer Zukunftsentwürfe stellen den unhintergehbaren Sachverhalt dar, in den auch Pädagogen ständig eingebettet sind – in der alltäglichen Lebenspraxis durch Nachfragen, Vergewisserungen, Oppositionen, Korrekturen, Affirmationen usw.; in der wissenschaftlichen Tätigkeit durch Textkritik, linguistische Rekonstruktion, Beschreibungen von subjektivem und objektivem Sinn usw.. Dies ist, wenn man es recht bedenkt, eigentlich das pädagogische Alltagsgeschäft. Unser theoretisches Interesse geht also darauf aus, die diagnostische Dimension einer solchen Hermeneutik pädagogisch relevanter Ereignisse zur Sprache zu bringen. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der pädagogischen Hermeneutik soll dienstbar gemacht werden für eine hermeneutische sozialpädagogische Diagnostik, die den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Jugendhilfe-Praxis für Verstehen und Handeln sich als nützlich erweist.
-
2.[119:332]Ein solches Unternehmen – es wurde eingangs schon erwähnt – hat Vorläufer, Beispiele, Vorbilder, die für unsere leitenden Kategorien bedeutsam waren. Besonders die Aufforderung zur„Lebensweltorientierung“der Sozialpädagogik und die damit nahegelegte engere phänomenologische oder auch weitere sozialwissenschaftliche Bedeutung dieses Ausdrucks (vgl. Bundesminister für Familie usw. 1990, S. 89 f.) war uns ein wichtiger Ausgangspunkt. Dort ist, wie überhaupt in der pädagogisch-phänomenologischen Forschung, eine hermeneutische Aufgabe immer mitgestellt: die Befindlichkeit des Educandus, des in einer Bildebewegung sich befindenden heranwachsenden Subjektes (auch) nach Maßgabe derjenigen Regeln, derjenigen Hinsichten auf oder Weisen von Welt- und Selbstauffassung zu begreifen, die dieses Subjekt für sich selbst geltend macht. Von diesen Hinsichten haben wir zwei in den Vordergrund gerückt: die„Lebensthematik“und die„Tätigkeit“. Wir haben diese beiden deshalb gewählt, weil die lebensweltliche Sinn-Kontur sich – nicht nur, aber jedenfalls auch und unserer Vermutung nach vorzugsweise – bei Jugendlichen in derart schwierigen Lebenslagen in diesen beiden Dimensionen zeigt. Wir haben in den immer wieder eingefügten Fallberichten zu beschreiben und zu erörtern versucht, wie Thema und Tätigkeit zusammenhängen könnten. Dabei blieb allerdings der Begriff der„Tätigkeit“theoretisch noch relativ ungenau. Vorwiegend hatten wir Tätigkeiten im Sinn, für die eine leicht zu bestimmende Leibkomponente eine dominierende Rolle spielt. Dies ist auch bei den meisten von uns konstatierten Tätigkeiten, auch im , der Fall. Andererseits aber ist bei der Niederschrift eben dieses Textes hier eine Leibkomponente insofern im Spiel, als, beim Denken und Schreiben, mindestens das Zentralnervensystem und die Feinmotorik der Hand aktiviert werden. Was unterscheidet also diese hier gerade von mir getane Tätigkeit von anderen, wie beispielsweise dem„Nähen“,„Angeln“,„Tauchen“,„Kochen“usw.? Das sind begriffliche, aber pädagogisch gewiß folgen|A1 A2 A3 135|reiche Probleme und Differenzierungen, die wir hier nicht weiter verfolgen können. Sie sind verbunden mit der Frage nach verschiedenen Sorten der Erfahrung und des Lernens und deren Lokalisierung bei diesem oder jenem unserer Sinne. Was wir getan haben, war also in dieser Hinsicht nur vorläufig. Vorläufig war auch – es wurde im Text schon relativierend darauf hingewiesen – die interne Klassifikation der Themen und Tätigkeiten. Wir resümieren noch einmal unsere diagnostisch leitende Verteilung von Gesichtspunkten, in sprachlich leichter Umformulierung:
Themen Tätigkeiten Sächliche Verhältnisse Beziehungsverhältnisse Ich- oder Selbst-Verhältnisse Die hier„sächlich“genannten Verhältnisse sind solche, die ihren Ausgang vorwiegend in der Leibbeschaffenheit des Subjekts haben. Der Ausdruck„sächlich“ist dafür nicht ganz treffend, denn dieses Verhältnis wird nur zur einen Seite hin von den Sachen – der Widerständigkeit des Materials, dem Tuch, dem Berg, dem Wasser, dem Holz, dem außermenschlich Lebendigen, kurz dem„Nicht-Ich“– bestimmt. Zur anderen Seite hin wird es bestimmt, und dafür haben wir Beispiele benannt, durch erworbene Einstellungen, Ängste wie Hoffnungen, durch Auffassungsweisen also, die im Prinzip änderbar sind.Analoges gilt für die Beziehungsverhältnisse; auch sie haben nur vorwiegend ihren Ausgang in erlebten oder erfahrenen Interaktionen mit signifikanten Bezugspersonen. Wenngleich wir die Meinung teilen, eine Biographie von verhaltensschwierigen Jugendlichen sei zuallererst eine Biographie schwierig zu bewältigender Beziehungsprobleme, möchten wir doch vermeiden, diese Hypothese zur Orthodoxie zu treiben; denn ebenso, wie in die sächlichen Verhältnisse andauernd die Beziehungsgeschichten und -Vorgeschichten sich hineinmischen, gilt auch der umgekehrte Fall. Nicht umkehrbar sind indessen die Deutungen, die Jugendliche vornehmen: sie sind, da sprachliche Artikulatio|A1 A2 A3 136|nen nicht anders als in sozialer Interaktion entstehen können, auch wenn sie Sächliches betreffen, nur in Abhängigkeit von sozialer Beziehung generierbar.Die Ich-Entwürfe schließlich, die„Ich- oder Selbst-Verhältnisse“, konturieren sich nur auf der Basis der beiden anderen. Sie enthalten darüber hinaus aber etwas Weiteres, das für sie wesentlich ist: den Zukunftsbezug. Das Begehren, das Wünschen, schließlich gar das Wollen – die modisch gewordenen Ausdrücke„Bedürfnisse“oder„Interessen“verstellen häufig die hier wichtigen Differenzierungen – hat eine Richtung auf den nächsten Tag, die nur retrospektiv, nur mit Bezug auf den aktuellen Zustand nicht hinreichend verstanden wird. Diese Richtung aber ist für eine pädagogische Diagnose wesentlich. In dem oft zitierten Satz zum Ausgangspunkt der Pädagogik fragte :„Was will denn eigentlich die erwachsene Generation mit der jüngeren?“„Was will denn eigentlich dieser jugendliche Mensch mit seinem Leben und dem derjenigen, die ihm verbunden sind?“Eine sozialpädagogisch-hermeneutische Diagnose sollte darauf eine Antwort geben können, nicht als allgemeine Redewendung, die aus der Jugendforschungsliteratur mehr oder weniger leicht zu entnehmen wäre, sondern als individuell-konkrete Hypothese.Mit diesen drei Dimensionen haben wir nun Themen und Tätigkeiten kombiniert. Dabei hat uns die Annahme geleitet, daß, wenn wir auf die sprachlichen Äußerungen und ihre Form achten, uns die Deutungen erkennbar werden, in denen die Jugendlichen über ihr eigenes Leben berichten und es kommentieren, und daß wir in diesen Berichten und Selbstdeutungen eine Sinn-Linie erkennen könnten, die, obwohl nicht immer ausdrücklich, gleichsam hinter diesen sprachlichen Äußerungen erkennbar wird. Diese Sinn-Linie nun, so unsere Vermutung, tritt um so kräftiger hervor, desto mehr wir von den Tätigkeiten wissen, die die Jugendlichen bevorzugen oder verabscheuen. Das ist eigentlich eine ganz alltägliche pädagogische Operation: Wenn ein Kind sich für das Spiel mit Puppen interessiert oder für Bauklötze oder für Spielzeug-Autos, für Cowboy-Ausrüstungen oder Computerspiele, fragen wir uns, was es bedeuten könnte und ob wir es unterstützen sollten. Die spielerische Tätigkeit erscheint uns als ein Sinn-Entwurf en miniature, als eine Art von Probehandeln in der„Als-ob“-Sphäre ästhetischer Erfahrung. Das gleiche Prinzip gilt auch für die Tätigkeiten, die wir – beispielsweise im – ins Auge gefaßt haben als solche, denen eine bildende Wirkung zugesprochen werden kann, insbesondere in Fällen, in denen Verhaltensschwierigkeiten gravierend geworden sind und deshalb jenes spielerische Probehandeln unterstützt werden sollte. Allerdings gilt für Jugendliche eine nicht unwesentliche Modifikation: Der im Vergleich zum Kindesalter deutlich stärkere und |A1 A2 A3 137|andere Zukunftsbezug – einige Beispiele dafür haben wir erwähnt – läßt vermuten, daß Tätigkeiten eine dauerhafte bildende Wirkung nur dann entfalten, wenn sie nicht nur eine fiktive, sondern auch realistische Bildungskomponente enthalten, d. h. wenn sie in den tatsächlich erwartbaren Lebensalltag der Jugendlichen transferierbar sind. Erst dann sind sie – so scheint uns – in der Lage, produktiv auf die Themen bezogen werden zu können, sei es, daß die Lebensthematik sich dadurch ändert, sei es, daß ein zunächst nur beklemmend erlebtes Thema nicht mehr nur durch destruktive Tätigkeitsarten instrumentiert werden muß, sondern nun in konstruktives Tätigsein überführt werden kann. -
3.[119:333]Wo und wie könnte nun eine mögliche Perspektive für die Weiterarbeit an dem Vorhaben sozialpädagogisch-hermeneutischer Diagnose in Sicht kommen? Was wir in diesem Buch vorgelegt haben, war zunächst kaum mehr als eine Sammlung von Materialien, deren Ordnung und der Vorschlag einiger diagnostisch-hermeneutischer Hypothesen, und zwar so, daß dies nicht nur für Jugendhilfe-Forscher, sondern auch für die Praxis von Interesse sein könnte. Wie ließe sich die hier präsentierte Material- und Kategorien-Sammlung verbessern, und zwar so, daß sie einerseits wissenschaftlich eher befriedigt, andererseits denjenigen besser dienstbar wird, die letzten Endes in den Einrichtungen der Jugendhilfe derartige Diagnosen stellen sollen?Kategorien oder, bescheidener gesprochen, sprachliche Ausdrücke, die zur Ordnung eines empirisch gegebenen Feldes dienen sollen, haben in der Regel die Aufgabe, die Aufmerksamkeit zu richten. Angesichts der von uns gewählten Ausdrücke bzw. Hinsichten – Thema und Tätigkeit, leiblich-gegenständlicher Bezug, Beziehungsprobleme, Ich-Entwürfe – wären sicher nicht nur Ungenauigkeiten zu beseitigen. Auch das ganze Konzept müßte noch einmal revidiert, d. h. auf seine Triftigkeit hin bedacht werden. Das ist nicht nur eine begriffslogische, sondern auch eine empirische Frage: Über die sehr kleine Fallzahl unserer Pilotstudie hinaus müßte die empirische Materialbasis verbreitert werden, um die Validität unserer„Kategorien“erproben zu können. Insbesondere scheint uns das Konzept der„Lebensthematik“verbesserungsbedürftig. Eine begrifflich befriedigende und für die Praxis brauchbare Mitte zwischen allzu weit getriebener Abstraktion einerseits und der ganz am individuellen Fall hängenden Thema-Formulierung andererseits haben wir noch nicht gefunden. Wir hoffen, in dieser Hinsicht mit Hilfe eines quantitativ erheblich umfänglicheren Projekts, allerdings ohne Praxisanteile, nächstens weiterzukommen, in dem eine für Niedersachsen repräsentative Stichprobe von Jugendlichen interviewt werden soll, die den Auswahlkriterien der hier dokumentierten wissenschaftlichen Begleitstudie entspricht.Eher theoretische Probleme, jedenfalls zunächst, wirft das Konzept der„Tätigkeiten“auf. In Anlehnung an neuere therapeutische Vorstellun|A1 A2 A3 138|gen, besonders aber in Vergewisserung des phänomenologisch postulierten„Leib-Apriori“hatten wir unsere Vorstellung von bildenden Tätigkeiten zu konturieren versucht. Diese Vorstellung war orientiert an der Annahme, daß Jugendliche mit Biographien und Verhaltensproblemen wie im Falle unseres Projekts ihre lebenswichtigen Probleme weniger im Medium der Sprache klären und bemeistem, als im Medium leibhafter und gegenstandsbezogener Aktivitäten. Mit der näheren Bestimmung dieser Art von Aktivität aber hatten wir Schwierigkeiten – wie sich an verschiedenen Stellen des Textes zeigt. Wir sind unsicher, ob etwa ein so allgemeiner Ausdruck wie„Leibnähe“hinreichend genau ist, um relativ leibnahe von leibfemen Tätigkeiten unterscheiden zu können. Auch der Ausdruck„sinnlich bestimmte Tätigkeiten“ist begrifflich nicht befriedigender, denn genau genommen gibt es überhaupt keine Tätigkeit eines menschlichen Organismus, die nicht auch sinnlich bestimmt wäre. Frühere und neurophysiologisch weniger kenntnisreiche Generationen hatten es in dieser Frage leichter und konnten, wie etwa , die je vorwiegenden Tätigkeitsarten nach„Kopf, Herz und Hand“klassifizieren. Die„Hand“steht dort, als Symbol gleichsam, für all jene Aktivitäten unseres Organismus, die uns mittels unserer Rezeptoren mit der Außenwelt verbinden; aber mehr noch: Die Hand als einerseits empfindendes, andererseits nach außen hin eingreifendes Organ kann ein tätiges Weltverhältnis insofern symbolisieren, als es Rezeptivität und Spontaneität zugleich ins Spiel bringt, und zwar noch vor jeder sprachlichen Kommentierung. Auf dem gegenwärtigen Stand des Wissens über die Beschaffenheit des menschlichen Organismus muß man indessen, wenn wir recht sehen, nach treffenderen Vokabularien suchen. Und diese Suche wäre nicht nur von theoretischem, sondern auch von praktischem Interesse. Denn wenn es gelänge, eine bestimmte Sorte menschlicher Aktivitäten begrifflich zuverlässig dichter an die Funktionsweisen des Organismus zu binden, besonders an seine Rezeptionsbereitschaften und Bewegungsimpulse, dann ließe sich auch genauer sagen, welche Tätigkeiten welche bildenden Wirkungen entfalten könnten. Man könnte sie dann zuverlässig in einem Konzept sozialpädagogisch-hermeneutischer Diagnose verwenden. Bis dahin aber gibt es noch einiges zu tun.
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4.[119:334] Im Verlauf unserer Beschreibungen und Erörterungen haben wir verschiedentlich die Ausdrücke„Bildung“oder auch„bildende Wirkung“verwendet. Das ist in sozialpädagogischen Texten ungewöhnlich, besonders in solchen, die sich nicht auf die Jugend- oder Bildungsarbeit, auf Freizeit-, Kultur- oder Familienpädagogik beziehen, sondern auf die Klientel der Heimerziehung und ähnlicher Maßnahmen. Ausdrücke wie Lernen, Sozialisation, Therapie scheinen für die meisten Autorinnen und Autoren die Sachverhalte besser zur Sprache zu bringen. Damit rücken indessen Problemstellungen und Frageweisen in den Hintergrund, die im Kern in besonders ausgezeichneter |A1 A2 A3 139|Weise pädagogisch sind. Weniger die Frage nach einer zweckmäßigen Einwirkung auf den jungen Menschen steht in Rede, wenn von Bildung gesprochen wird, sondern eher dessen aktive Auseinandersetzung mit der Welt und mit sich, auf dem Wege zu einer seelisch-geistigen Form. Derartiges kann nur verstanden werden, wenn wir das Individuum verstehen als sich bildend, im Wechselspiel zwischen Empfänglichkeit und Tätigkeit, mit dem Blick seines wie auch immer gebrochenen Ichs auf diese Vorgänge seiner selbst. Dieser Sachverhalt war den Ursprungsautoren der Bildungstheorie – , , – im Auge und bildet auch einen der Leitfäden für Piagets Theorie der Entwicklung des Kindes oder Pleßners Anthropologie. Es ist kein Vorzug, sondern für das Problemspektrum, dem die Sozialpädagogik sich zuwendet, ein Nachteil gewesen, daß der Bildungsbegriff derart eng mit Schule, Unterricht und Ausbildungswesen konnotiert wurde, daß er für den Gebrauch im Bereich der Jugendhilfe weniger tauglich schien. Diese Geschichte der Terminologie sollte korrigiert werden (vgl. Mollenhauer 1988 ) – nicht aus nostalgischer Erinnerung an irgendwelche Anfänge, sondern weil damit Frageweisen aktiviert werden, die uns für die Zukunft der Sozialpädagogik notwendig scheinen. Es ist eben nicht gleichgültig, mit welchen Worten Pädagogen den Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit und ihres Nachdenkens zur Sprache bringen.
Anhang
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1.
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2.
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3.
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4.
1. Anfangsgespräch mit A
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I:[119:343] Also ich muß sagen, ich weiß von dir fast nichts, ne? Also würde mich erstmal interessieren: wo wohnst du im Moment?
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[119:344] W.
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I:[119:345] Bei wem wohnst du da?
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[119:346] Bei meinen Großeltern.
- |A1 A2 A3 141|
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I:[119:347] Wie lange wohnst du da jetzt schon?
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[119:348] Zwei Monate knapp.
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I:[119:349] Beschreib doch mal so’n bißchen, wie du lebst da!
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[119:350] Wie ich da lebe? Morgens halb sieben aufstehn, ja, zur Schule gehn, essen, und dann im Zimmer, ’n paar Freunde. Das ist alles. Den ganzen Tag. Ja, so – und Fernsehgucken nicht so, mach ich nicht gerne.
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I:[119:351] Ungewöhnlich! Aber Musik hören?
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[119:352] Musikhören ja, das – aber Fernsehen selten.
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I:[119:353] Dein Großvater, wie alt ist der?
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[119:354] 76.
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I:[119:355] Und deine Großmutter?
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[119:356] 65.
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I:[119:357] 65. – Wie kommst du denn mit denen so klar, mit deinen Großeltern?
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[119:358] Jo, geht so, also – eigentlich ganz gut.
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I:[119:359] Eigentlich, aber eigentlich auch nicht!
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[119:360] Ja, so, geht so.
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I:[119:361] Ja, ich stell mir das so vor, daß die alten Leute dich auch ziemlich zufrieden lassen.
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[119:362] Jaja, also da –
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I:[119:363] Omas und Opas sind ja meistens ganz lieb.
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[119:364] Meistens! (lacht etwas)
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I:[119:365] Und siehst du deine Mutter noch?
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[119:366] Die seh ich noch, ja.
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I:[119:367] Regelmäßig?
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[119:368] Joo, nicht ganz regelmäßig, aber doch öfters schon.
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I:[119:369] Gehst du gern hin?
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[119:370] Jo. Eigentlich schon.
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I:[119:371] Euer Verhältnis soll ja nicht immer so ohne gewesen sein, ne?
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[119:372] Naja, das ist klar!
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I:[119:373] Kannst das mal beschreiben?
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[119:374] Von früher?
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I:[119:375] Oder wie’s jetzt auch zur Zeit ist.
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[119:376] Ach, zur Zeit eigentlich, da is’ ganz gut. Aber früher war’s nicht so gut. Also das lag an mir und auch an ihr, sie war arbeiten und ich war halt den ganzen Tag alleine, da könnt’ ich praktisch machen, was ich wollte, also hab ich dann auch gemacht, und sie hat mich nicht erzogen, ja – und dann kam, dann bin ich irgendwann nicht mehr zur Schule gegangen, und hab angefangen zu klauen und so, und dann wurd’ se nicht mehr mit mir fertig. Da is’se nach W. zum Jugendamt gegangen.
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I:[119:377] Wie würdst denn deine Mutter so beschreiben?
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[119:378] Wie beschreiben?
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I:[119:379] Was ist sie für’n Typ so, ’ne starke Frau, die sich durchsetzt –
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[119:380] Nee, nee, das überhaupt nicht!
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I:[119:381] Wie würdste denn deine Mutter beschreiben?
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[119:382] Äh, so, also kann sich nicht durchsetzen, das erstmal, überhaupt nicht, dann – sehr ruhig, also so eher ’n Einzelgänger, würd’ ich sagen.
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I:[119:383] Kannste dich noch an Situationen erinnern, die dir wirklich noch so in Erinnerung sind, wie so’n Film, wo du mit deiner Mutter aneinandergeraten bist? Kannst dich da noch an Situationen erinnern?
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[119:384] Ja, klar, viele eigentlich!
- |A1 A2 A3 142|
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I:[119:385] Kannste mal so ein, zwei beschreiben?
-
[119:386] Ja, das war so, da waren wir bei , da hab ich geklaut, und da ham se mich erwischt. Da war ich 9, war ich da, glaub ich, oder 8, und ham se mich mit der Polizei nach Hause gebracht, ja, und da stand se an der Tür, hat se angefangen zu weinen, ja, du hast doch alles, und so, und sie ist ziemlich wütend geworden, aber dann war nix mehr. Hab ich gesagt, daß sie sich beruhigen soll, und da war wieder alles in Ordnung. Ja, und einmal, da war das auch das erste Mal, da hab ich zu ihr ’n Schimpfwort gesagt –
-
I:[119:387] Was haste?
-
[119:388] ’n Schimpfwort gesagt, und da hat se mir eine geballert!
-
I:[119:389] Und du hast zurückgeschlagen oder –
-
[119:390] Nee! Hab ich nicht.
-
I:[119:391] Ist das so, daß dich deine Mutter auch prügelt, oder ist das nie passiert?
-
[119:392] Doch, ist passiert. Das ist passiert.
-
I:[119:393] Um was ging’s da, kannste mal ’n Beispiel nennen, wo du dich dran erinnern kannst?
-
[119:394] Ach, so mit nicht zur Schule gehen und so, und wollt’ nicht, hab immer meine Sachen versteckt, Ranzen und so –
-
I:[119:395] Schulsachen?
-
[119:396] Ja, Schulsachen – Sie mußte ja auch arbeiten gehn, dann is’se arbeiten gegangen, und ich war den ganzen Tag alleine praktisch.
-
I:[119:397] Was macht die beruflich?
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[119:398] Na, jetzt zur Zeit nichts.
-
I:[119:399] Aber so in der Zeit, wo –
-
[119:400] Sekretärin war sie!
-
I:[119:401] Da war sie Sekretärin.
-
[119:402] Ja, und da war sie immer unterwegs, und da war ich im Hort, war ich, aber da wollt’ ich nicht hin, also bin ich nicht hingegangen.
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I:[119:403] Zur Schule biste auch nicht gegangen?
-
[119:404] Nä!
-
I:[119:405] Kannste mal so ganz spontan sagen: wieso biste da nicht hingegangen?
-
[119:406] Äh – Lehrer, teilweise!
-
I:[119:407] Es hat an den Lehrern gelegen?
-
[119:408] Ja! Also, ne, also zur Schule bin ich nie gerne gegangen, so bis 3. Klasse bin ich eigentlich, könnt’ ich sie ertragen, aber dann nicht mehr.
-
I:[119:409] Hat das an den Lehrern gelegen?
-
[119:410] Ja, da war ’n Dorf, und da war ’ne ganz bestimmte Lehrerin, und die war meine Klassenlehrerin, dann war se Rektorin von der Schule, dann war se Bürgermeisterin und noch, hat noch was mit der Polizei zu tun gehabt, also gute Freunde also, kann man nichts machen!
-
I:[119:411] War ’ne starke Frau?
-
[119:412] Kann man so sagen, ja. Ja, die konnte mich nicht leiden, ich konnte sie nicht leiden. Daran lag’s.
-
I:[119:413] Biste alleine mit deiner Mutter gewesen, oder hat die noch ’n Freund ge habt, oder war die verheiratet, ich weiß das nicht.
-
[119:414] Nee, verheiratet nicht, aber hat manchmal ’n Freund gehabt! Ja, aber –
-
I:[119:415] Auch ... wo du das Gefühl hattest, das ist dein Vater?
-
[119:416] Nä!
-
I:[119:417] Also nur du und deine Mutter, keine Geschwister? Oder hast du Geschwister?
- |A1 A2 A3 143|
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[119:418] Doch, ich hab ’ne kleine Schwester!
-
I:[119:419] Ach so, wie alt ist die jetzt?
-
[119:420] Zwei ist die.
-
I:[119:421] Zwei, also das ist ja schon ziemlich lange her. Damals gab’s die noch nicht.
-
[119:422] Nee, damals noch nicht.
-
I:[119:423] Biste nur bei deiner Mutter gewesen, oder biste auch mal woanders gewesen, haste mal woanders gewohnt?
-
[119:424] Seit wann?
-
I:[119:425] Ja, überhaupt, bevor du ins Heim gekommen bist.
-
[119:426] Ja, bei meinen Großeltern hab ich gewohnt eine Zeit!
-
I:[119:427] Wie alt warste da?
-
[119:428] Ach, da war – erst hab ich mit, von 1, da war ich 1 Jahr, bis, ja 2, 3 Jahre hab ich bei meinen Großeltern gelebt, und dann ’n bißchen später wieder, so mit 6 bis 7 so.
-
I:[119:429] War das viel anders als bei deiner Mutter, hatteste da mehr Freiräume, oder waren die strenger als deine Mutter?
-
[119:430] Mm, na, bißchen strenger! Haben mehr drauf geachtet, so auf Schule und so.
-
I:[119:431] Und weswegen haste bei deinen Großeltern gewohnt? Weißte das noch?
-
[119:432] Ja, ich kam mit meiner Mutter nicht klar, ich bin immer abgehauen und bin ich immer zu meinen Großeltern gegangen! Also ich könnt’, bei meiner Mutter könnt’ ich nicht mehr leben.
-
I:[119:433] Du hast vorhin gesagt: meine Mutter konnte mich nicht erziehen!
-
[119:434] Also die konnte sich nicht durchsetzen, ich konnt’ praktisch machen, was ich wollte!
-
I:[119:435] Na, ist doch gut!
-
[119:436] Naja – früher war’s gut, aber jetzt ist nicht gut!
-
I:[119:437] Also ich versteh’ die meisten Jugendlichen so, daß es ihnen eigentlich recht ist, wenn sie sich durchsetzen können!
-
[119:438] Jaa, aber nicht so, also – ich hatte schon ganz schön viele Freiräume, ich konnte machen, was ich wollte, praktisch alles.
-
I:[119:439] Und das ist auch nicht richtig?
-
[119:440] Das ist nicht richtig, also –
-
I:[119:441] Was hat dir denn gefehlt?
-
[119:442] Was mir gefehlt hat? Jaa, so, mehr Zuspruch und so, also daß sich wer um mich gekümmert hat!
-
I:[119:443] Mehr dagewesen wär’?
-
[119:444] Ja!
-
I:[119:445] Und ’n Vater, hat dir der auch gefehlt?
-
[119:446] Nö, eigentlich nicht. – Also wenn ich jetzt überlege, wär’s besser gewesen, wenn einer dagewesen wär’. Aber –
-
I:[119:447] Im Augenblick.
-
[119:448] Ja, aber damals konnt’ ich’s mir gar nicht vorstellen, ja!
-
I:[119:449] Ja, klar, kanntest das ja auch gar nicht mit Vater!
-
[119:450] Nee.
-
I:[119:451] Und was ist beim Herrn S. passiert?
-
[119:452] Bei wem?
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I:[119:453] Oder wie hieß der in der Erziehungsstelle? In der Pflegestelle?
-
[119:454] M.
- |A1 A2 A3 144|
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I:[119:455] Ah, M.! Das war doch ’n Vater?
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[119:456] Nee, für mich nicht. Nee!
-
I:[119:457] Wie lange warst denn da in der Pflegestelle?
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[119:458] Ja, fünf Monate!
-
I:[119:459] Was? Das ist gar nicht so lange gewesen. Davor warste ja im Heim, ne?
-
[119:460] Ja, 5 Jahre lang!
-
I:[119:461] 5 Jahre!
-
[119:462] Ja, mit 10 bin ich ins Heim gekommen!
-
I:[119:463] Das ist ja doch lange, fünf Jahre! War ja wie so’n Zuhause!
-
[119:464] Och!
-
I:[119:465] Kannste dich noch dran erinnern, wie’s (...) also daß se dich ins Heim ge steckt haben –
-
[119:466] Wie’s dazu gekommen ist?
-
I:[119:467] Ja. Kannste das so für dich, kannste das jetzt im nachhinein irgendwie begründen? Warum bist du damals ins Heim gekommen?
-
[119:468] Ja, wegen der Probleme mit meiner Mutter!
-
I:[119:469] Mit deiner Mutter?
-
[119:470] Ja, und auch so –
-
I:[119:471] Warste froh, daß du da wegkamst von deiner Mutter, oder wärste lieber zu Hause geblieben?
-
[119:472] Nee, am Anfang nicht, aber dann ja. ’n Jahr später, dann ja!
-
I:[119:473] Wie war denn so die Heimzeit für dich, haste dich da wohl gefühlt?
-
[119:474] Ja, das war gut, ich fand’s gut da.
-
I:[119:475] Welches war das?
-
[119:476] F., das war ’ne kleine Wohngruppe, 8 Leute waren da.
-
I:[119:477] 8 Leute? Und wieviel Erwachsene?
-
[119:478] Wie, Erzieher? Also am Tag waren immer, war immer einer da. Bis Mittwoch waren immer zwei da, einer war noch so’n Diplompsychologe, war noch dabei, aber nur bis Mittwoch, also halbtags, weil der hatte was mit’m Herz, und der kann auch keine Nachtdienste machen und so. Also einer war immer da, bis 14 Uhr, und dann war immer Ablösung.
-
I:[119:479] Du sagst, nachdem du dich so dran gewöhnt hast, hat’s dir eigentlich ganz gut gefallen dort. Was hat dir denn da – sagen wir mal im Vergleich zu der Situation mit deiner Mutter, was hat dir denn da besser gefallen? Was war denn das?
-
[119:480] Naja, was war das? Also eigentlich alles! Also, ich hatte da, Freunde hatt’ ich sowieso schon immer, aber naja, so mehr Zuspruch, also mit Schule, was Schule anbetrifft, ham sich richtig gekümmert und so. Also – was anderes.Was haste denn da so gerne gemacht? Überhaupt so generell, wenn du mal so dein Leben vorbeiziehn läßt so – was waren eigentlich so Dinge, die du immer gern gemacht hast?
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[119:481] Scheiße gebaut!
-
I:[119:482] Ja? – Das sagen alle! Was denn für Scheiße bauen, wie hat das ausgesehen?
-
[119:483] Och, als ich so 7 war, da ham wir immer so dicke Steine, so die von, diese Feuersteine, die man so zwischen die Schienen legt, ham wir immer draufgelegt auf die Gleise, immer ganz viele da rein, kam ’n Zug mal vorbei, hat immer schön gescheppert, und einmal, öfters passiert, Zugange halten, kam der Typ da raus. Der Lokführer.
- |A1 A2 A3 145|
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I:[119:484] Aha. Und da ...
-
[119:485] Ja, hinterhergerannt! Einfach hinterhergerannt!
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I:[119:486] Also sowas haste gerne gemacht!
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[119:487] Ja.
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I:[119:488] Erzähl’ noch ’n paar Beispiele!
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[119:489] Ja, also Abhauen hab ich auch gerne gemacht.
-
I:[119:490] Als du bei deiner Mutter warst?
-
[119:491] Ja, überhaupt auch so im Heim, das hab ich immer gerne gemacht!
-
I:[119:492] Wie, richtig Trebe, daß du auf Trebe warst?
-
[119:493] Jaja, richtig weg! Also, immer gerne gemacht!
-
I:[119:494] Und was haste in der Zeit gemacht? Wenn du auf Trebe warst?
-
[119:495] Ja – geschlafen in Baubuden meistens so, und dann ham wir geklaut eben! In Geschäften. Blieb ja nichts anderes übrig, eh!
-
I:[119:496] Hm. Und was hat dir da am meisten Spaß gemacht? An diesem Abhauen und Trebegehen?
-
[119:497] Ist schon mal lustig, da kommt man – keiner hat einem was gesagt und so – war ganz frei irgendwie. – Es gibt noch mehr Sachen, aber fallen mir im Moment keine ein! Ja, so, andere Leute, was ham wir gemacht? Ham wir in’ne Zeitung gekackt, vor die Tür gelegt und angezündet, ham wir geklingelt –
-
I:[119:498] In die Zeitung gekackt?
-
[119:499] Ja, in die Zeitung rein, zusammengemacht, angezündet und dann, ja, ham wir geklingelt und: Hilfe, Hilfe, es brennt! Kam er raus, schön im Bademantel und so’ne Strandlatschen, und da draufgetreten! Ja, ja, ist lustig!
-
I:[119:500] Dann habt ihr so im Gebüsch gelauert, geguckt, was der jetzt macht?
-
[119:501] Nö. Vorne vor der Tür gestanden!
-
I:[119:502] So einfach so auf 2 m Entfernung?
-
[119:503] Ja, bißchen weiter weg, so also in so’m Winkel, wo man uns eigentlich gar nicht sehen konnte.
-
I:[119:504] Wie war das so in F., da warste 5 Jahre – was gab’s da für Schwierigkeiten, also in dieser Gruppe? War das mehr mit den Erziehern oder mit den Jugendlichen oder mit der Schule, wie würdste das beschreiben?
-
[119:505] Schule – und mit den Jugendlichen gar nicht viel, nö. Nö, nur mit einem!
-
I:[119:506] Mit einem Jugendlichen?
-
[119:507] Ja, nur mit einem einzigen. Den kannt’ ich schon von früher, kannt’ ich den, der hat mit mir im selben Dorf gewohnt, der kam dann später, kam er dazu. Das war vor’m halben Jahr, knappes halbes Jahr so. 10 Monate oder 8, und der hat immer Mist erzählt und so, ph, mit dem kam ich nicht klar!
-
I:[119:508] Woran hat das gelegen? Ist mir noch nicht –
-
[119:509] Den konnt’ ich nicht ab, also der – früher immer so – irgendwie, schon früher auch immer – also – kam immer an, wurde immer aufdringlich und so. Hat er in der Schule Mist erzählt, also in der 10. Klasse hat er erzählt, hat er die immer geärgert, ja ja, und wenn se mich anpackt, kommt die aus’m Heim und so. Und das war ja 10. Klasse, da waren schon einige Brecher bei!
-
I:[119:510] ...
-
[119:511] Ja, nicht nur gegen mich, auch gegen die andern, also den konnt’ keiner ab da aus’m Heim!
-
I:[119:512] War der stärker als du?
-
[119:513] Nö.
- |A1 A2 A2 146|
-
I:[119:514] Warst du der Stärkste in der Gruppe?
-
[119:515] Nee! War ich nicht. Kamen noch drei andere, ja.
-
I:[119:516] Wie war das so in der Gruppe, mit der Heimgruppe, mit den Jugendlichen, hast dich mit denen gut verstanden?
-
[119:517] Ja.
-
I:[119:518] ... viel zusammen gemacht?
-
[119:519] Ja. Also nee, mit einem eigentlich nur hab ich viel gemacht, oder mit zweien, kann man sagen. Mit zwei, drei hab ich viel gemacht.
-
I:[119:520] Was habt ihr so gemacht im Heim? Haste so bestimmte Interessen gehabt, bestimmte Hobbys, die du da gemacht hast?
-
[119:521] Ja. Ja, waren wir in der Kiesgrube, sind wir immer rumgeheizt.
-
I:[119:522] Mit Fahrrädern?
-
[119:523] Nee! Mit Karren, 80er Mofa –
-
I:[119:524] Und wo habt ihr die hergehabt?
-
[119:525] Na, die hat einer aus’m Heim, der hat drei Karren hat der gehabt! Also zwei 80er –
-
I:[119:526] Ach, da braucht man ’n richtig großen Führerschein!
-
[119:527] Ja, ab 16, mit 16 kann man den machen.
-
I:[119:528] Kann man machen.
-
[119:529] Das hat der gehabt, Mofa und 80er hat der gehabt.
-
I:[119:530] Und das war der, mit dem du dich ganz gut gestanden hast?
-
[119:531] Nee, mit – ja mit dem hab ich auch ganz gut gestanden, aber mit ’nem andern noch besser. Und aus ’nem andern Heim! Der ist aus dem Heim auch rausgeflogen, in F. ist der! Mit dem hab ich öfters Kontakt, also ruf ich manchmal an.
-
I:[119:532] Ah ja. Wart ihr da ’ne Clique?
-
[119:533] Nee, Cliquen kann ich nicht ab!
-
I:[119:534] Wieso kannste keine Cliquen ab?
-
[119:535] Weiß ich nicht!
-
I:[119:536] Also du hast lieber ’n Freund, mit dem machste was –
-
[119:537] Ja, oder mit 3, 4 oder so, aber keine richtige Clique, so versammeln, das kann ich nicht ab!
-
I:[119:538] Mhm. Also so’ne Bande oder so?
-
[119:539] Ja, nee!
-
I:[119:540] Wie war’s zu der Zeit in der Schule? Auf welche Schule biste gegangen?
-
[119:541] Erst Realschule war ich, und dann –
-
I:[119:542] Und hatteste diesmal ’ne Lehrerin, mit der du dich besser verstanden hast, oder hattste da auch ’ne Lehrerin, mit der du nicht klar kamst?
-
[119:543] Nee, nee, mit den Lehrern, ach eigentlich ganz gut. Bloß ich hab wieder zuviel Scheiße gebaut, im Unterricht und so.
-
I:[119:544] Was haste da für’ne Scheiße gebaut?
-
[119:545] Ach, ham wir mal – irgendwas zwischengequatscht und so, und – und da hat, also der jetzt in F. ist, hat so da immer Randale gemacht, hat oben, da sind so’ne Pappdinger, und die ham wir immer abgemacht. So also –
-
I:[119:546] Unter der Decke?
-
[119:547] Unter der Decke sind so Pappdinger, die kann man abheben, und dann kann man, wenn man auf die Tafel steigt, kann man rübergehn. In die an dern Klassenräume, kann man draufgehn. Und dann sind wir in der Pause, sind wir immer dringeblieben, hochgeklettert und sind dann in die andern Klassenräume rein, von oben. Auch wenn wir ’ne Freistunde hat|A1 A2 A3 147|ten, sind wir da hochgegangen, haben die Klappe hochgemacht und ham was runtergeschmissen oder so!
-
I:[119:548] Ist ja irre!
-
[119:549] Und dann haben wir, im Unterricht hatten wir ’ne Flasche Wodka mit, und dann haben wir ’n Kasten Bier mitgebracht, ham wir im Schrank eingeschlossen. Ja und dann ham wir ’ne Flasche Wodka, ham wir ausgetrunken, und dann noch ’n paar Bier hinterher, und auf einmal waren wir besoffen im Unterricht!
-
I:[119:550] Das kann ich mir vorstellen!
-
[119:551] Der hat’s natürlich gemerkt, also nicht, wie wir getrunken haben, aber denn hat er’s gerochen –
-
I:[119:552] Und dann?
-
[119:553] Naja, konnten wir nach Hause gehen! – Ja, Schule geschwänzt dann auch wieder. Alles wieder angefangen, also was früher dann auch war, das hat dann so wieder angefangen!
-
I:[119:554] Wie, was früher auch war?
-
[119:555] Also Schule geschwänzt hab ich ja früher auch! Nicht zur Schule gegangen und so. Da war es dann wieder von früher da.
-
I:[119:556] Wieso biste da aus dem Heim rausgeflogen in F.?
-
[119:557] Ach, ich hab – zuviel, also wegen Schule und so, und dann, ich hab auch mit andern Leuten, wegen Abhauen, ich bin oft abgehauen da, und dann haben wir Straftaten, also Kriminelles –
-
I:[119:558] Was haste da gemacht, ’n Bankeinbruch?
-
[119:559] Nee! Kioskeinbrüche, dann Auto angesteckt ham wir! Ja, ’n Schrottauto war das, da ham wir dringesessen und geraucht haben wir da immer und so.
-
I:[119:560] Und das angesteckt?
-
[119:561] Nee, und dann ham wir – weiß nicht, wie wir drauf gekommen sind, ham wir angemacht, waren so Fussel, ham wir angemacht, ham wir gefragt: Wollen wir raus? – ja, gehn wir raus! Da hat’s angefangen zu brennen!
-
I:[119:562] Also ihr seid mit mehreren Leuten abgehauen, wieviel Leute sind da abgehauen, zu zweit, zu dritt?
-
[119:563] Zu zweit oder zu dritt meistens.
-
I:[119:564] Ging die Initiative von dir aus, oder –
-
[119:565] Nee – nee.
-
I:[119:566] Warst du eher Mitläufer oder warst du jemand, der auch voll hinter gestanden hat?
-
[119:567] Ich war auch einer, der voll hintergestanden hat! Also ich hab immer den Plan entwickelt!
-
I:[119:568] Du hast den Plan entwickelt?
-
[119:569] Wie man’s macht!
-
I:[119:570] Aber Chef warste nicht?
-
[119:571] Nee, war keiner der Chef! War kein Chef da.
-
I:[119:572] Chef kannste nicht ab?
-
[119:573] Nee, sowas kann ich nicht ab. Am besten ist, wenn alle entscheiden, das ist am besten! Nicht einer alleine oder so.
-
I:[119:574] Oh, und wenn’s Streitigkeiten gibt? Kann ja sein, wenn fünf Leute zusammen sind, daß es verschiedene Meinungen gibt. Wer entscheidet dann?
-
[119:575] Da einigt man sich.
-
I:[119:576] Immer?
- |A1 A2 A3 148|
-
[119:577] Meistens! (Beide lachen)
-
I:[119:578] Was waren das noch für Gründe, weswegen du in F. rausgeflogen bist? Also du bist auf Trebe gegangen, haste gesagt, mit der Schule ging es schlecht – was war noch so?
-
[119:579] Kriminalsachen!
-
I:[119:580] Also diese kriminellen Sachen.
-
[119:581] Und dann ham se noch gesagt, daß ich nicht mehr in die Gruppe gepaßt habe. Weil ich, also nach der Schule bin ich gleich zum Freund gegangen, und ich war selten da praktisch. Abends kam ich wieder und bin ins Bett gegangen. Weil wenn ich ins Bett mußte – ich war den ganzen Tag gar nicht da praktisch. Nur zu Hausaufgaben und zum Essen.
-
I:[119:582] Und die Leute in der Gruppe, waren die da noch, also waren die da noch für dich wichtig? Die Jugendlichen in deiner Gruppe, oder waren die da schon gar nicht mehr wichtig für dich?
-
[119:583] Die waren eigentlich gar nicht mehr wichtig. Nicht richtig.
-
I:[119:584] Waren die sauer auf dich?
-
[119:585] Nee, überhaupt nicht, wieso denn?
-
I:[119:586] Daß du nicht da bist!
-
[119:587] Nö!
-
I:[119:588] Wie war das für dich dann? Also die Entsheidung kam von den Erziehern, die haben gesagt: du mußt jetzt raus hier, ne? Oder –
-
[119:589] Jaja!
-
I:[119:590] Wie war das für dich, warste damit einverstanden oder wollteste noch da bleiben in F.?
-
[119:591] Eigentlich wollt’ ich noch dableiben! Aber dann nicht mehr.
-
I:[119:592] Das versteh ich nicht!
-
[119:593] Also eigentlich ja noch, am Anfang wollt’ ich noch dableiben, aber dann kamen noch andere Sachen, die ham mich, haben immer Zimmerdurchsuchungen gemacht bei mir und so.
-
I:[119:594] Ach, von der Polizei oder was?
-
[119:595] Nee nee, von denen! Die Erzieher haben mein Zimmer durchsucht und so! Konnt’ ich alles wieder aufräumen! Und so, da haben sie alles durch sucht immer! Ja, und dann ham se – in der Nacht ist ein Freund von mir rausgegangen, und da haben sie mich beschuldigt, daß ich das gewesen wär. Aber ich wußt’ ja, wer’s war, aber ich wollt’s nicht verraten! Also ich hab’s nicht gesagt, ham se mich beschuldigt!
-
I:[119:596] Was?
-
[119:597] Da ham se mich beschuldigt, haben gesagt, daß ich das gewesen wär und so.
-
I:[119:598] Und der hat da auch was angestellt?
-
[119:599] Nö. Glaub ich nicht!
-
I:[119:600] Nur einfach, daß er weg war?
-
[119:601] Einfach weg! Aber ich war auch in der Nacht weg, also aus’m Fenster geklettert, übers Dach.
-
I:[119:602] Hm. War das auch so’ne ähnliche Situation wie mit deiner Mutter, daß die sich gegen dich nicht durchsetzen konnte?
-
[119:603] Ja, so war’s.
-
I:[119:604] Was hätt’ denn die anders machen müssen? Wenn du das so im nachhinein siehst – oder sagst du, das war o.k., ich bin eben so und kann man nichts machen?
- |A1 A2 A3 149|
-
[119:605] – die ein’ kriegt, die hätt’ man gar nicht ganz machen können!
-
I:[119:606] Also das Gefühl, daß sie sich nicht gegen dich durchsetzen können?
-
[119:607] Nö – besser, sie wollten nicht, könnten se machen. Das wollten sie irgendwie nicht, hab ich das Gefühl gehabt.
-
I:[119:608] Mal eine Frage – was erwartest du von Erwachsenen?
-
[119:609] Was würd ich erwarten –
-
I:[119:610] Die Erwachsenen sind ja für irgendwas da. Für was sind die deiner Meinung nach da?
-
[119:611] Hm ... Aufpasser!
-
I:[119:612] Aufpasser. – Oder ich könnte auch so sagen: Gibt es bestimmte Erwartungen von dir oder bestimmte Wünsche von dir an Erwachsene?
-
[119:613] Eigentlich nicht.
-
I:[119:614] ...
-
[119:615] Nö, kann man nicht sagen.
-
I:[119:616] Du hast vorhin gesagt, mehr Zuspruch, das fand ich ganz gut, du hast gesagt, deine Mutter hätte dir zuwenig Zuspruch gegeben, und als du in der Gruppe warst, da wären Erzieher gewesen, die dir auch mal, was die Schule anbetrifft, auch mal Zuspruch gegeben haben. (A: Ja!) Also von daher sind die Erwachsenen oder Erzieher doch wichtig.
-
[119:617] Ja, doch, das schon.
-
I:[119:618] Aber ich hab so den Eindruck, daß du ganz gut auf dich selber aufpassen kannst!
-
[119:619] Ja, das kann ich machen, ja!
-
I:[119:620] Vielleicht unter Umständen sogar darauf bestehst, daß du auf dich selber aufpassen kannst?
-
[119:621] Nee, ich brauch keine andern!
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I:[119:622] Hm.
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[119:623] Also ich könnte jetzt auch ganz gut alleine leben!
-
I:[119:624] Würdeste am liebsten?
-
[119:625] Wie, am liebsten?
-
I:[119:626] Ja ... so phantasiemäßig. Wo würdste am liebsten wohnen, wie würdste am liebsten wohnen –
-
[119:627] Ach wo?
-
I:[119:628] Ja, im Ausland oder hier in Deutschland –
-
[119:629] Im Ausland natürlich!
-
I:[119:630] Und wo?
-
[119:631] In Bulgarien!
-
I:[119:632] Wieso in Bulgarien?
-
[119:633] Weil meine Großeltern, mein Opa ist Bulgare!
-
I:[119:634] Deine Familie kommt daher?
-
[119:635] Ja!
-
I:[119:636] Warste schon mal in Bulgarien?
-
[119:637] Klar!
-
I:[119:638] Wieso gerade Bulgarien? Kannste die Sprache?
-
[119:639] ’n bißchen!
-
I:[119:640] Was ist denn da anders in Bulgarien als hier?
-
[119:641] Was da anders ist, also eigentlich alles! Die Leute sind ganz anders!
-
I:[119:642] Wie denn? Also ich kenn’ Bulgarien nicht, du weißt sicherlich mehr davon. Beschreib doch mal!
-
[119:643] Also, eben so, wie Ausländer sind, also Türken zum Beispiel!
- |A1 A2 A3 150|
-
I:[119:644] So sind die Bulgaren auch?
-
[119:645] Ja, so ungefähr, klar.
-
I:[119:646] Findste Türken gut?
-
[119:647] Ja. Ja, ich hab nichts gegen Ausländer, überhaupt nicht!
-
I:[119:648] Hm. Wie würdst denn da am liebsten leben in Bulgarien?
-
[119:649] Am liebsten leben? ’n Haus, ist ja schon da, ’n Haus.
-
I:[119:650] Ihr habt da ’n Haus?
-
[119:651] Wir haben da ’n Haus.
-
I:[119:652] Wem gehört das jetzt, wer wohnt da jetzt drin?
-
[119:653] Niemand, es ist, es wird verwaltet, also das steht da, wenn jetzt mein Opa stirbt, dann werd’ ich das erben!
-
I:[119:654] Ist das in der Stadt oder auf’m Land?
-
[119:655] Auf’m Land ist das!
-
I:[119:656] Beschreib mal so’n bißchen!
-
[119:657] Wie?
-
I:[119:658] Das Haus, so wie das so ist, was du davon weißt! Was du gut findest! So, also das ganze Drumherum.
-
[119:659] Das Haus! – Also das Landleben, also das find ich dann gut, nicht so wie hier, also da! So ganz anders! So unter den Leuten einfach mehr Freiheiten. Z. B. im Haus, so Hausordnungen und sowas! Das ist bekloppt!
-
I:[119:660] Gibt’s das da nicht?
-
[119:661] Nee! Die lassen ja auch ihre Türen offen in der Nacht!
-
I:[119:662] Hm.
-
[119:663] Also die haben da Vertrauen! Also nicht daß da solche wie hier so kriminelle Sachen und so, also wenn man da die Tür offen läßt, muß man Angst haben, daß morgen alles ausgeräumt ist!
-
I:[119:664] Ja!
-
[119:665] Braucht man da nicht haben, sowas!
-
I:[119:666] Ja. Und Landleben, was gehört da noch dazu? Tiere z. B.?
-
[119:667] Ja, Tiere auch.
-
I:[119:668] Magste Tiere?
-
[119:669] Ja, klar!
-
I:[119:670] Magste Landwirtschaft überhaupt so?
-
[119:671] Wie, Landwirtschaft, direkt? Nee, das nicht, so mit Acker und so, das nicht! Aber so –
-
I:[119:672] Das Landleben in Bulgarien!
-
[119:673] Ja, das, so, Berge und so –
-
I:[119:674] Was würdste da am liebsten arbeiten, oder würdeste gar nicht arbeiten?
-
[119:675] Ja, muß ich ja!
-
I:[119:676] Was würdste da am liebsten machen jetzt in Bulgarien, hast ’n Haus da – was würdste da gerne machen, wie würdste versuchen, da zu leben? Ist jetzt nur mal so’ne Phantasiegeschichte, ne?
-
[119:677] Ja, leben, also Beruf da, das weiß ich nicht, irgendwas so, vielleicht irgendwas mit Technik, im technischen Bereich so.
-
I:[119:678] Also technischer Bereich, was würdste da machen wollen?
-
[119:679] Also so Kfzs, so, von Motorrädern hab ich ’n bißchen Ahnung, aber Autos eigentlich nicht so, aber – kann man ja lernen.
-
I:[119:680] Hm. Also nicht Landwirtschaft, das würdeste nicht machen?
-
[119:681] Nee.
-
I:[119:682] Tiere auch nicht?
- |A1 A2 A3 151|
-
[119:683] Doch, Tiere ja! Klar.
-
I:[119:684] Kühe auch?
-
[119:685] Kühe – Kühe gibt’s da, nee, da gibt’s keine Kühe! Selten!
-
I:[119:686] Schafe?
-
[119:687] Ja, Lämmer, Schafe.
-
I:[119:688] Also Tiere schon, aber Acker ist nicht so das richtige? Aber Schafe füttern, melken, das könnteste machen?
-
[119:689] Ja, das kann ich. Ziegen und so – das geht alles. Schweine haben die auch nicht, selten. Selten Schweine!
-
I:[119:690] Fühlste dich hier eigentlich als Ausländer?
-
[119:691] Nö. Eigentlich nicht!
-
I:[119:692] Bist ja auch hier geboren und aufgewachsen. Bulgarien kennste eigentlich mehr so aus Erzählungen von deinen –
-
[119:693] Da war ich auch schon!
-
I:[119:694] Da warste auch schon mal. Mit deiner Mutter?
-
[119:695] Nee, mit meiner Tante und meinem Onkel.
-
I:[119:696] Haste noch mehr solche Reisen gemacht?
-
[119:697] Reisen, klar! England –
-
I:[119:698] Mit wem biste nach England gefahren?
-
[119:699] Alleine!
-
I:[119:700] Alleine?
-
[119:701] Da war ich neun!
-
I:[119:702] Neun???
-
[119:703] Ja! Zu meiner Tante.
-
I:[119:704] Das ist ja wirklich selten, daß man mit neun so’ne Reise macht! Hat dich deine Mutter da zum Flughafen gefahren oder biste da alleine hin?
-
[119:705] Nee! Hat mich zum Flughafen gefahren, aber wollt’ ich eigentlich gar nicht!
-
I:[119:706] Du wolltest lieber alles alleine –
-
[119:707] Ja – hat se gemacht, aber eigentlich wollt’ ich das gar nicht so.
-
I:[119:708] Was ist dann nach dem Heim passiert? Du bist jetzt ... rausgeflogen –
-
[119:709] Da war ich in der Jugendhilfsstätte, hier in B.
-
I:[119:710] Und da biste nicht abgehauen?
-
[119:711] Doch, in der Nacht! In der Nacht aus dem Fenster geseilt! Mit’m Freund, also Bettlaken zusammengebunden und an’ne Heizung und dann raus!
-
I:[119:712] Und wann seid ihr wiedergekommen?
-
[119:713] Wie – ach, wann sind wir wiedergekommen? Wir haben übernachtet, erst waren wir in’ner Discothek, waren wir drin, bei P. waren wir auch, dann waren wir bei ’n paar Freunden, da ham wir dann geschlafen, sind wir andern Tag wiedergekommen, und dann zweimal uns mit der ? geschnappt. Ja, beim B-Tor waren wir.
-
I:[119:714] Was habt ihr gemacht?
-
[119:715] Beim B-Tor waren wir! Hä, haben sie uns geschnappt da. Einmal um zwei, abends mal um zwölf geschnappt.
-
I:[119:716] Ich glaub, dich kann man nirgendwo festhalten!
-
[119:717] Nä! Nä! Da ham wir in ’ner Hütte geschlafen, einfach so Decken gehabt und dann da geschlafen.
-
I:[119:718] Biste da auch rausgeflogen aus der Jugendschutzstelle?
-
[119:719] Nee. Da war eigentlich gar nichts.
-
I:[119:720] Wie ist das denn weitergegangen?
- |A1 A2 A3 152|
-
[119:721] Da war ich zwei Wochen da.
-
I:[119:722] Zwei Wochen ...
-
[119:723] Ja, das ist ja nur so’n Übergang. Dann bin ich zu M. gekommen.
-
I:[119:724] Wer ist das?
-
[119:725] Das ist der angebliche Pflegevater. S.
-
I:[119:726] Wo ist das?
-
[119:727] Das ist ’n Nest in der Nähe von G.
-
I:[119:728] Also ’ne ganz andere Umgebung?
-
[119:729] Ja, ganz anders! Also –
-
I:[119:730] Und hat dir das bei dem gut gefallen?
-
[119:731] Nä!
-
I:[119:732] Was hat dir da nicht gefallen bei dem?
-
[119:733] Also, erstmal, das war ’n Nest – das hab ich noch nie gesehen, sowas! Echt! So 30 km weiter gab’s nix! Könnt’ man noch nicht mal ’ne Kuh oder ’n Schwein auf der Straße sehn! Ja – war nix da! Nichts los.
-
I:[119:734] Hat der’ ne Familie gehabt?
-
[119:735] Nä! War ganz alleine da, Lehrer war der.
-
I:[119:736] Haste mit dem Konflikte gehabt so –
-
[119:737] Jaja, klar!
-
I:[119:738] Und worum ging’s dabei meistens?
-
[119:739] Um Schule, der hat immer nur, meistens von Schule gequatscht!
-
I:[119:740] War ja auch Lehrer, ne!
-
[119:741] Ja, und dann noch an derselben Schule!
-
I:[119:742] War das gut, daß der Lehrer an deiner Schule war?
-
[119:743] War überhaupt nicht gut.
-
I:[119:744] Der konnt’ dich kontrollieren, ne?
-
[119:745] Ja.
-
I:[119:746] Immer gleich gewußt, wenn du nicht da warst!
-
[119:747] Nee, jetzt geh ich ja auch zur Schule, hier!
-
I:[119:748] Biste da auch hingegangen, als du bei dem Lehrer gewohnt hast?
-
[119:749] Äh – nee – doch, ich bin gegangen, zweimal. Also eigentlich einmal, dann hat’s mir gereicht, dann bin ich hiergeblieben.
-
I:[119:750] Biste sozusagen abgehauen?
-
[119:751] Dann bin ich abgehauen, ja. Bin gleich zu meinen Großeltern gefahren, hingetrampt, und dann – seitdem bin ich da.
-
I:[119:752] Und wie ist das jetzt für dich, kannste da noch länger wohnen, oder –
-
[119:753] Bei den Großeltern? Nee!
-
I:[119:754] Kannste auch nicht länger wohnen?
-
[119:755] Nee! (lacht etwas) Auf gar keinen Fall!
-
I:[119:756] Und ins Heim willste auch nicht wieder zurück nach F.?
-
[119:757] Wenn ich könnte, würd’ ich das machen! Aber das geht nicht mehr.
-
I:[119:758] Warum?
-
[119:759] Nö, geht nicht mehr, F. geht nicht mehr!
-
I:[119:760] Die nehmen dich nicht mehr?
-
[119:761] Nee, glaub ich nicht, nee!
-
I:[119:762] Und du sagst so ganz entschieden: Bei den Großeltern kann ich nicht bleiben – warum nicht?
-
[119:763] Nee, da gibt’s wohl – Konflikte, immer so, Spannungen gibt’s auch mal. Darum, ich halt mich auch die ganze Zeit im Zimmer auf, den ganzen Tag! Wenn ich aus der Schule komme, nehm ich mir mein Essen, geh ins |A1 A2 A3 153|Zimmer, bleib ich den ganzen Abend da. Guck auch kein Femsehn, nix! Ganze Zeit Musik, paar Freunde kommen, bleiben meistens so von, na, von vier bis acht, und dann hör’ ich die ganze Zeit Musik.
-
I:[119:764] Das hört sich ja so völlig anders an als das, was du bislang gemacht hast! Also von früher hab ich so das Bild, daß du immer abgehauen bist, ne? Und immer unterwegs, nachts oft unterwegs und so, und jetzt – als wenn du so richtig zur Ruhe gekommen bist!
-
[119:765] Jaja, ist ja auch – also, läuft auch nix mehr, ich hab ja jetzt zwei Wochen gekriegt, ja, Knast –
-
I:[119:766] Hast schon rum?
-
[119:767] Nee, noch nicht, kommt ja jetzt erst, ich weiß noch nicht wann! Das ist es ja, für zwei Wochen, Dauerarrest! Ich weiß nicht, wann das kommt, das muß erstmal noch –
-
I:[119:768] Das müßte ja vor Korsika sein!
-
[119:769] Naja – das ist es ja! Das is’ das größte Problem!
-
I:[119:770] ... Also das ist der Grund – mir ist noch nicht klar, wieso du jetzt da die ganze Zeit auf’m Zimmer bist. Also weswegen bist –
-
[119:771] Ja, mach ich sowieso immer, also ich bin meistens so allein! Also, also wenn ich Freunde habe, also – ich kann das nicht ab, dieses dumme Gequatsche immer, die reden dann immer so!
-
I:[119:772] Verbieten die dir auch Sachen, deine Großeltern? Oder haste da ziemliche Narrenfreiheit?
-
[119:773] Ziemliche Narrenfreiheit eigentlich!
-
I:[119:774] Also von daher könntste doch sagen, das ist doch ideal, könntste doch bei deinen Großeltern weiterwohnen! Die sagen dir nichts, du hast dein Zimmer, kannst zur Schule gehn – also das leuchtet mir gar nicht ein, wieso du da nicht weiter wohnen kannst!
-
[119:775] Nee, will ich nicht! Also, das ist nichts, für mich jedenfalls!
-
I:[119:776] Heim ist auch nicht das richtige ...
-
[119:777] Doch, Heim schon! Also, P. steht jetzt also – am liebsten würd’ ich nach F. gehn, aber da komm ich nicht hin!
-
I:[119:778] Warum nicht?
-
[119:779] Komm ich nicht hin, hat Herr R. gesagt!
-
I:[119:780] Und warum nicht?
-
[119:781] Angeblich wären da zu schwere Jungs! Und außerdem, weil ich da einen kenne! Mit dem war ich gut befreundet. Mit dem war ich zusammen in der Schule, in der Schule ham wir viel Scheiße gebaut, mit dem bin ich auch abgehauen immer, da ruf ich auch jetzt noch mal an, also – schon noch Kontakt.
-
I:[119:782] ... Freund?
-
[119:783] Ja, ’n guter Freund, ’n sehr guter Freund!
-
I:[119:784] Ich hab den Eindruck, daß dir die Freunde sehr wichtig sind.
-
[119:785] Natürlich, das sowieso!
-
I:[119:786] Herr R. wahrscheinlich denkt – ich weiß es nicht – denkt, wenn du mit den Freunden zusammenkommst –
-
[119:787] Genau, dann fängt das wieder an!
-
I:[119:788] Dann fängt das alles wieder an!
-
[119:789] Jaja.
-
I:[119:790] Siehst du auch die Gefahr?
-
[119:791] Nee, ich nicht! Ich seh die Gefahr nicht.
- |A1 A2 A3 154|
-
I:[119:792] Nicht ’n ganz kleines bißchen?
-
[119:793] Nä! Wenn ich wollte, hätt’ ich’s schon längst wieder gemacht!
-
I:[119:794] Was hat dich denn so verändert? Der Knast, der dir bevorsteht?
-
[119:795] Nee, das auf gar keinen Fall! Das, das juckt mich nicht. Das is’ es nicht. – Nee, es ist auch so wegen, ich will ja nach Bulgarien, ja, da muß ich ja ’n Beruf haben und all so Sachen, und wenn ich jetzt wegen dem Knast im Register stehe da, dann kann ich ja nicht rüber! Das ist klar, das ist auch noch’n Problem! Wegen polizeiliches Führungszeugnis! Das sieht nicht so gut aus!
-
I:[119:796] Da wär’s auch günstig, wenn du ’n ordentlichen Beruf hättest?
-
[119:797] Jaja, das sowieso! Also erstmal Berufsausbildung, das ist klar!
-
I:[119:798] Was meinst du, sind so die Erwartungen, die an einen Jugendlichen in deinem Alter gestellt werden? Was würdst denn da sagen, was sind so für jemand, vielleicht auch für dich, so die Erwartungen, die an dich gestellt werden?
-
[119:799] Ja – von wem jetzt, so allgemein oder –
-
I:[119:800] Ja, überhaupt so von Erwachsenen, überhaupt mit Erwachsenen, mit de nen du’s zu tun hast. Was würdst du sagen, sind so die Erwartungen, die an dich gestellt werden?
-
[119:801] Schule –
-
I:[119:802] Was noch?
-
[119:803] Beruf.
-
I:[119:804] Daß du ’n Beruf machst?
-
[119:805] Ja. Und eben keine kriminellen Sachen mehr, sowas!
-
I:[119:806] Womit hast du von den Sachen am meisten Schwierigkeiten? Mit den kriminellen Sachen, mit der Schule oder dem Beruf?
-
[119:807] Ja, mit dem Beruf!
-
I:[119:808] Mit dem Beruf. Was meinst du, wieso du da Schwierigkeiten mit hast? Oder haben könntest, du hast es ja noch nicht ausprobiert?
-
[119:809] Ja, erstmal liegt’s daran, weil ich faul bin, ziemlich faul. Das kommt schon mal dazu. Aber dann, also so Sachen, so mit Holz, Metall und sowas, das liegt mir nicht so! Am liebsten würd’ ich was mit Reisen machen, immer reisen!
-
I:[119:810] Mit Reisen?
-
[119:811] Ja, irgendwas mit Reisen!
-
I:[119:812] Immer unterwegs?
-
[119:813] Jaja!
-
I:[119:814] Reiseführer?
-
[119:815] Ja, Lokführer, also –
-
I:[119:816] Lokführer?
-
[119:817] Ja, das einzige, was man mit Hauptschulabschluß machen kann so, also mit Reisen so – darum ja auch so der Kfz-Mechaniker, oder –
-
I:[119:818] Mit Autos was?
-
[119:819] Nee, dann mußte erst – ja irgendwas Mechanisches, irgendwie was mit so Kfz, irgendwas mußte, oder Elektro, da mußte erst ’ne Berufsausbildung haben, bevor man das lernen kann!
-
I:[119:820] Jetzt versteh ich dich, es geht dir eigentlich weniger um die Technik, sondern mehr um das Reisen, daß du Bewegungsmöglichkeiten hast!
-
[119:821] Genau! Also sonst würd’ ich auch gern was anderes machen, bräucht’ ich nicht irgendwie was mit Kfz machen oder so!
- |A1 A2 A3 155|
-
I:[119:822] Kann ich mir gut vorstellen, wenn ich mir so deine Lebensgeschichte noch mal vor Augen halte –
-
[119:823] Reisen fand ich schon immer gut!
-
I:[119:824] ... (lacht)
-
[119:825] Reisen ist immer gut!
-
I:
-
[119:827] Immer unterwegs am besten!
-
I:[119:828] Was kannste denn körperlich gut, was nicht so gut?
-
[119:829] Ja – was ich gut kann, wie jetzt, Sport machen?
-
I:[119:830] Ist egal, also es gibt Leute, die können schnell laufen – was kannst du körperlich gut so?
-
[119:831] Fußball spielen, Tennis – was noch? Ja, dann vielleicht – ja laufen, so lange Strecken laufen, aber nicht so gehen, wandern, so langsam nicht. Wandern mach ich nicht so gerne!
-
I:[119:832] Also, ich hab jetzt die letzte Frage: Du hast drei Wünsche. Was würdst du dir wünschen?
-
[119:833] Wie, drei Wünsche?
-
I:[119:834] Du hast drei Wünsche frei, was würdste dir wünschen?
-
[119:835] Von den drei Wünschen?
-
I:[119:836] Die werden erfüllt. Was würdste dir da wünschen?
-
[119:837] Als erstes 50 Wünsche mehr!
-
I:
-
[119:839] Drei Wünsche? Was wär’s – also Bulgarien, und alles, was dazugehört, also Beruf und so. Das Haus, alles klar! Dann – was gibt’s noch? Äh – also, so Gesundheit und so, daß alles in Ordnung ist, und als drittes – mmm – ja, daß hier in Deutschland, die Leute so, daß alles wieder in Ordnung kommt, mit Arbeit und so, hier Ausländerproblem, nicht daß jetzt so wie die Republikaner oder NPD da, im Gegenteil, also da0 die mehr Rücksicht auf die nehmen und so. Sowas!
-
I:[119:840] Daß die auch mehr Rücksicht auf dich nehmen?
-
[119:841] Nee, nicht auf mich! Also –
-
I:[119:842] Die Ausländer –
-
[119:843] Auf die Ausländer so, Aussiedler und so, also überhaupt.
-
I:[119:844] Mhm! Das dritte ist ja ’n Wunsch, der dich selber gar nicht so direkt betrifft!
-
[119:845] Nö. Aber ich kenn’ viele Türken und so.
2. Anfangsgespräch mit O
-
I:[119:846] Ich denke, wir fangen erst mal so mit ganz einfachen Fragen an, ’s wird vielleicht nachher ’n bißchen schwieriger. Jetzt fangen wir erstmal einfach an. Also: Wie sieht bei dir so ein ganz normaler Tagesablauf aus, also jetzt angefangen mit’m Aufstehen bis abends ins Bett gehen, so beschreib mal deinen Tagesablauf.
-
[119:847] Ja, ich steh morgens auf, hol mir meine Aufgaben unten, da ich nicht zur Schule gehe, mach meine Aufgaben hier oben, von halb neun bis um zehn, dann helf’ ich unserer Haushälterin T. bis um elf, bring die Auf|A1 A2 A3 156|gaben dann runter, und dann hab ich bis um eins, hab ich dann Freizeit, bleib dann bis zum Essen hier, und um drei ungefähr geh ich dann hoch nach V. zu meinem Freund und bin da dann halt den ganzen Nachmittag und den Abend.
-
I:[119:848] Und was sind so deine Lieblingsbeschäftigungen, so zur Zeit?
-
[119:849] Ja, was ich gerne mache, ist Lesen, Schreiben, Malen, Reiten.
-
I:[119:850] Was lieste denn so gern?
-
[119:851] Ja, also Jugendgeschichten.
-
I:[119:852] Jugendgeschichten?
-
[119:853] Ja, also was halt so, von Kindern is’, so im Alter von meinem, so ungefähr in meinem Alter, was die so tagsüber erleben, Abenteuer.
-
I:[119:854] Gut, jetzt wollen wir so’n bißchen über deinen Lebnslauf reden. Ich denke, es ist besser, wenn man das ’n bißchen in Lebensabschnitte unterteilt, und daß wir zuerst erstmal reden über den Lebensabschnitt von der Geburt, von deiner Geburt bis zur Einschulung, also bis zum 6. Lebensjahr, ne? Mit wem hast du da alles zusammengewohnt, bei wem haste gewohnt in der Zeit?
-
[119:855] Ja, es ist so, meine Eltern haben sich kurz nach meiner Geburt scheiden lassen, und ich hab bei meiner Mutter gelebt, war aber auch selber früher oft bei meinem Vater, also der Kontakt zu meinem Vater ist nie abgebrochen.
-
I:[119:856] Der ist nicht abgebrochen. – Wo hast du mit deiner Mutter zusammen gelebt, also in welcher Stadt oder auf welchem Dorf?
-
[119:857] F.
-
I:[119:858] Hat dein Vater da auch gelebt?
-
[119:859] Ja, mein Vater – also wir wohnen jetzt im Stadtteil von F., in U., und mein Vater wohnt 9 km weiter in ’nem andern.
-
I:[119:860] Und dann hast du nur mit deiner Mutter zusammengewohnt, oder haste auch noch Geschwister?
-
[119:861] Na, Geschwister hab ich genug! Also es ist so angefangen: also meine Mutter hat dreimal geheiratet, kann man sagen. Der älteste von uns ist 24, das ist P., der ist nur auf Trebe, hat auch früher nie Schule gemacht, keine Arbeit und so. Dann Zwillinge, A. und M., die wohnen auch außerhalb, dann T., die wohnt in Marburg. Dann S., der ist 18, der wohnt noch bei mir zu Hause, dann ich, und ich bin normalerweise ’n Drilling.
-
I:[119:862] Ach, erzähl nicht!
-
[119:863] Ja! (lacht)
-
I:[119:864] Wirklich?
-
[119:865] Ja, ich hab auch hier in der Akte ein Foto von meinem Zwillingsbruder. Und mein Drillingsbruder ist vor 11 Jahren mit ’nem Autounfall ums Leben gekommen, und, ja M. wohnt bei meinem Vater. Dann halt S. und A., sind auch nochmal Zwillinge. S. wohnt bei meiner Mutter und A. bei meinem Vater, dann R., die ist 6, T., 4, und Th. ist 3.
-
I:[119:866] Und bist du aus der letzten Ehe, oder bist du aus der zweiten?
-
[119:867] Aus der zweiten!
-
I:[119:868] Aus der zweiten Ehe. Das heißt, deine Mutter hat danach dann nochmal geheiratet?
-
[119:869] Ja.
-
I:[119:870] Aha. Und wie alt warst du da, als deine Mutter dann geheiratet hat?
-
[119:871] Noch nicht mal ein Jahr.
- |A1 A2 A3 157|
-
I:[119:872] Noch nicht mal ein Jahr. Das heißt, du hast bei deiner Mutter und deinem Stiefvater gelebt?
-
[119:873] Naja, ich bin bei meiner Mutter und meinem Stiefvater aufgewachsen. Ich bin auch so das einzigste Kind aus der 2. und aus der 1. Ehe, die auch zu meinem Stiefvater Papa sagt, die andern sagen alle R. oder Vater. Meistens, also hauptsächlich R.
-
I:[119:874] Wer hab sich denn da alles so um dich gekümmert, in der, also in diesem Lebensabschnitt?
-
[119:875] Hauptsächlich mein Stiefvater.
-
I:[119:876] Dein Stiefvater.
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[119:877] Ja. Also der, auch wenn er Freitage hatte, der hat mich überall mit hingenommen. Da gibt’s auch viele Fotos von! Also ich war immer mit meinem Stiefvater zusammen!
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I:[119:878] Aha. Und was war der beruflich?
-
[119:879] Der ist beruflich Maurer.
-
I:[119:880] Maurer. Und wer hat sich noch alles um dich gekümmert, also dein Vater, haste ja gesagt, und –
-
[119:881] Ja, meine Mutter und mein richtiger Vater, und meine Oma. Die Mutter von meinem richtigen Vater.
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I:[119:882] Aha. Und dann warste auch mal so’ne Woche bei deinem Vater, und dann ’ne Woche wieder bei deiner Mutter, oder warst du die meiste Zeit bei deiner Mutter?
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[119:883] Nö, wir haben’s so gemacht, also wo sich meine Eltern scheiden lassen haben, waren wir Kinder erst ’ne ganze Zeit bei meiner Oma, weil wir zu Hause auch nicht leben konnten, weil meine Mutter auch, äh, so viel weg gegangen ist und auch so keine Zeit für uns hatte, und da hat se dann R. kennengelernt, wo die dann geheiratet haben, sind wir wieder nach Hause.
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I:[119:884] Und da hatte sie dann auch mehr Zeit für euch?
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[119:885] Ja. Da ist R. dann arbeiten gegangen, und war meine Mutter zu Hause und hat sich dann um uns gekümmert.
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I:[119:886] Kannste dich denn noch dran erinnern, womit du so gespielt hast viel? So in der Zeit?
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[119:887] Mit’m Telefon!
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I:[119:888] Mit’m Telefon?
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[119:889] Ja! Ich war immer am Telefonieren!
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I:[119:890] Mit wem, mit deinen – mit’m richtigen Telefon oder ’n Spielzeugtelefon?
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[119:891] ’n richtiges Telefon!
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I:[119:892] Ach, ’n richtiges Telefon!
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[119:893] Ich hab immer irgendwelche Leute angerufen!
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I:[119:894] Also mit ’m Telefon haste gespielt – noch irgendwelche so Spiele, die du gemacht hast?
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[119:895] Ja, also – mit Puppen hab ich viel gespielt, mit Autos, kleine Spielautos, und sonst halt auch mit meinen Geschwistern.
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I:[119:896] Aha.
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[119:897] Kuscheltiere hauptsächlich.
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I:[119:898] Aha – hm. Und Nachbarschaftskinder?
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[119:899] So eigentlich überhaupt nicht.
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I:[119:900] Nur in der Familie dann.
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[119:901] Ja, da wir ja genug Kinder waren, also – im Kindergarten dann halt, da fing’s dann auch an, daß ich zu meiner Freundin gegangen bin oder die auch zu mir.
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I:[119:902] Und wie ist das mit deinem Vater, hat der dann wieder geheiratet? Dein richtiger Vater?
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[119:903] Ja, mein richtiger Vater hat wieder geheiratet.
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I:[119:904] Und hat der, haben die auch Kinder, oder haben die keine Kinder?
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[119:905] Ja, wenn man’s so nimmt – also eigene Kinder mit seiner jetzigen Frau hat er nicht. Ist halt nur mein Zwillingsbruder, A. und T. sind bei ihm.
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I:[119:906] Und wenn du dich so dran erinnerst: gab’s da auch mal Schwierigkeiten mit deinen Eltern, mit deinem Stiefvater oder mit deinem richtigen Vater, oder mit deiner Mutter –
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[119:907] Ne!
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I:[119:908] – hatten die mal Ärger mit dir?
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[119:909] Nee, in der Zeit nicht, überhaupt nicht.
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I:[119:910] Wenn du dich so an die Zeit zurückerinnerst, was waren so für dich schöne Erlebnisse, an die du dich noch erinnern kannst? Also bis zur Einschulung?
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[119:911] Oh –
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I:[119:912] Also, ’n schönes Erlebnis, wo du denkst: ja, da fallt mir was zu ein, genau da war was! So’n Ereignis, was du noch sehr schön findest?
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[119:913] Ja, meine Oma aus Amerika war mal da, wo ich noch ziemlich klein war, also die Mutter von meiner richtigen Mutter, und wir waren bei uns am See, und mein Stiefvater war ziemlich wasserscheu. Und der hat sich dann auf die Luftmatratze gelegt und ist im See rumgeschwommen, und dann bin ich mit meiner Mutter hin und ham wir ihn von der Luftmatratze runtergeschmissen! (lacht)
-
I:[119:914] Und gab es auch ein unangenehmes Erlebnis aus der Zeit?
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[119:915] Hm – ja, das mit meiner älteren Schwester T. Die hat sich überhaupt nicht mit meinem Stiefvater vertragen! Also da gab’s ziemlich oft Ärger, zwischen den beiden.
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I:[119:916] Ich komm ’n bißchen durcheinander – das ist die ältere Schwester von dir?
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[119:917] Ja, das ist – die ist auch von meinem richtigen Vater. Die älteste von dem.
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I:[119:918] Und weswegen haben die sich gestritten, kannste dich da noch dran erinnern?
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[119:919] Ja, das war so, die hat R. nie akzeptiert, die war ja, ich glaub 5 oder 6 schon, wo meine Eltern sich scheiden lassen haben, und sie hat also meinen Stiefvater überhaupt nicht akzeptiert, und dadurch kam es, die hatten immer – R. hatte was an ihr auszusetzen, sie an ihm. Und sie ist ja auch mit 14, 13 oder 14 auch schon ins Heim gekommen.
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I:[119:920] Und wie biste so mit deinen Geschwistern in der Zeit klargekommen?
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[119:921] Super, immer!
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I:[119:922] Gut, ja? Gab’s keine Schwierigkeiten?
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[119:923] Nur mit meinem älteren Bruder, aber das ist ja unter Geschwistern normal, wir haben uns ab und zu mal gekeppelt, und meistens ging’s dann halt um Spielzeug, da hat er mir was weggenommen oder ich ihm. Und er hat von mir was verschlampt und ich von ihm, und das waren nur so Kleinigkeiten.
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I:[119:924] Wie war denn das so mit Verbieten und Erlauben bei deiner Mutter?
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[119:925] Gleichberechtigt für alle! Meine Mutter hat nie, z. B. jetzt auch bei den drei Kleinen, jetzt die von meinem Stiefvater sind, da macht sie auch z. B., die sind ja ziemlich nah nebeneinander vom Alter her. Und da ist es |A1 A2 A3 159|auch manchmal so, daß die sich auch streiten, wenn z. B. S. was geschenkt kriegt, dann wollen R. und Th. das auch haben. Und da kauft sie halt für alle drei das Gleiche. Also sie macht Unterschiede schon zwischen den Jüngeren und Älteren.
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I:[119:926] Aha.
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[119:927] Auch von den Geschenken her, daß die Kleineren mehr kriegen und die Größeren etwas weniger. Aber das ist normal! Finden wir, das war schon immer so.
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I:[119:928] Und wie war das bei deinem Vater mit Erlauben und Verbieten?
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[119:929] Mein Vater hat mir alles erlaubt! Bei meinem Vater dürft’ ich mit 13 schon rauchen, und wo das meine Mutter dann – mmh, meine Mutter hat gesagt, ich dürfte erst ab 15 rauchen, bei meinem Vater darf ich auch mal ’n Schluck Bier trinken. Meine Mutter ist total strikt gegen Alkohol.
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I:[119:930] Aha. Wie würdst dich denn so als Kind beschreiben? Warste eher ein unruhiges Kind oder ’n ruhiges Kind, ’n Kind, das viel Ärger gemacht hat? Wie würdst denn das im nachhinein sehen?
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[119:931] Ja, also ich, ich war ziemlich unternehmungslustig, ich war wenig zu Hause, ich war meistens unterwegs. Und was bei mir schon von klein auf ist: ich keppel mich gerne!
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I:[119:932] Was heißt das, du keppelst dich gerne?
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[119:933] Jaa, so kleine Schlägereien, also wo ich noch kleiner war!
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I:[119:934] Mit wem haste dich dann angelegt?
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[119:935] Mit Jungs!
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I:[119:936] Mit Jungs?
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[119:937] Ja, ich war früher auch nur mit Jungs zusammen!
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I:[119:938] Wie, jetzt mit deinen Brüdern?
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[119:939] Nee, auch mit denen aus der Nachbarschaft.
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I:
-
[119:941] Ja.
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I:[119:942] Richtig ernst, oder war das Spaß?
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[119:943] Nein, immer nur Spaß.
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I:[119:944] Das war nur Spaß. Und du sagst, du warst viel unterwegs, was heißt das? Also du warst viel auf der Nachbarschaft, oder –
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[119:945] Viel im Dorf! Viel draußen, ja.
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I:[119:946] So, jetzt wollen wir mal über die Zeit reden von der Einschulung bis zur 5. Klasse, also von 7 bis zum 10. Lebensjahr. Wie war denn das so mit der Schule da, als du auf die Schule kamst?
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[119:947] In der Grundschule war alles in Ordnung.
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I:[119:948] Hattste keine Probleme?
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[119:949] Nee, schulisch überhaupt nicht! Nee, von den schulischen Leistungen her – es gibt eine Schote, da, das war ’ne Schulkameradin von mir, wir haben uns gekeppelt, und die hab ich in den Arm gebissen, die mußte zum Arzt und die mußte, hat ’ne Tetanusspritze oder sowas gekriegt, und da wollte mir die Mutter ’ne Anzeige geben.
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I:[119:950] Und weswegen haste der in den Arm gebissen, weißte das noch?
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[119:951] Naja, ich glaub, wegen ’nem Lineal oder ’n Bleistift, wegen irgend sowas haben wir uns gestritten. Sie hat mich in die Haare gezogen, da hab ich ihr in’ Arm gebissen. Das war so, wir haben uns von Anfang an irgendwie nicht richtig verstanden.
- |A1 A2 A3 160|
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I:[119:952] Mit wem warst du da am meisten zusammen, in der Zeit?
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[119:953] Oh – ja, mit den Klassenkameraden, also mit den Jungs.
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I:[119:954] Ah, mit den Jungs.
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[119:955] Ja, immer!
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I:[119:956] Und viel gekeppelt?
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[119:957] Ja, wir waren auch oft im Wald, haben Krieg gespielt ab und zu, und bei uns ist das viel mit der Bundeswehr, da gab’s dann halt diese Gräben, und da haben wir uns Waldhütten gebaut, und waren halt auf dem Spielplatz, haben unter uns viel gemacht.
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I:[119:958] Das war ’ne richtige Clique schon in der Zeit?
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[119:959] Ja.
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I:[119:960] Und waren da auch Mädchen in der Clique, oder waren das nur Jungs?
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[119:961] Na, Mädchen – ja, ab und zu mal, aber die waren nicht oft da!
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I:[119:962] Warst du so’n bißchen der Anführer von der Gruppe?
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[119:963] Kann man so nicht sagen!
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I:[119:964] Kann man nicht so sagen?
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[119:965] Nee, die gab’s gar nicht. Wenn wir was machen wollten, z. B. in den Wald gehen, und wenn das einer vorgeschlagen hat, und da waren die meisten sowieso immer alle von begeistert, und da sind wir alle zusammen hin.
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I:[119:966] Also was habt ihr da gemacht im Wald: ihr habt Buden gebaut, haste erzählt?
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[119:967] Ja, Buden gebaut, oder Krieg gespielt, oder, ja und Schnitzeljagd, oder Räuber und Gendarm – alles mögliche! Haben auch Höhlen gefunden, wenn man’s so nimmt, sind da reingekrabbelt, erforscht.
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I:[119:968] Und wer hat sich da alles um dich gekümmert, so in der Zeit? Also sehr viel um dich gekümmert? Also von den Erwachsenen?
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[119:969] Meine Mutter!
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I:[119:970] Deine Mutter?
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[119:971] Und mein Stiefvater, ja.
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I:[119:972] Und dein Stiefvater. Also du hast gesagt, vorher – also zwischen 1. und 6. Lebensjahr – hat sich am meisten dein Vater um dich gekümmert.
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[119:973] Mein Stiefvater!
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I:[119:974] Und das hat sich danach ’n bißchen geändert, so wie ich das verstanden hab, oder nicht?
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[119:975] Nö, also dann – so seitdem ich in der Schule war, hat sich meine Mutter mehr mit mir mit der Schule beschäftigt. Und so abends, wenn R. von der Arbeit kam und er z. B. in der Scheune rumgebastelt hat, dann war ich immer bei ihm.
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I:[119:976] Was hat denn der so gebastelt, bei sich in der Scheune?
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[119:977] Am liebsten, er macht, er kauft Unfallautos und macht die wieder zurecht und verkauft die weiter.
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I:[119:978] Ach, und da haste auch mit geholfen richtig?
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[119:979] Ja.
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I:[119:980] Du und dein Stiefvater, oder haben deine Brüder auch noch mitgemacht?
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[119:981] Ja,S. ab und zu, wenn er Lust hatte. Oder wir haben die Holz- und Kohleöfen, da fahren wir auch in den Wald und machen Holz. Also das kenn’ ich auch von klein auf, daß wir mit in den Wald fahren und Holz machen!
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I:[119:982] Hatteste da einen Berufswunsch schon, in der Zeit? Was du später mal machen wolltest?
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[119:983] Kindergärtnerin!
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-
I:[119:984] Kindergärtnerin?
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[119:985] Oder Erzieherin, weil ich gut mit kleineren Kindern auskomm’!
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I:[119:986] Also nicht Kfz-Mechanik?
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[119:987] Nee, nee!
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I:[119:988] Hätt’ ja sein können! (Lachen) Kindergärtnerin. – Und wie war das mit deinem richtigen Vater, haste den dann öfters noch gesehen, oder –
-
[119:989] Ja, der Kontakt zwischen meinem Vater und mir ist nie abgebrochen. Nö, da hatte mein Stiefvater auch nichts dagegen, daß ich zu meinem Vater fahre. Ja, so manchmal hat er auch gesagt, wenn ich mit meinem Stiefvater echt tierischen Terz hatte, ne, und wenn ich zu Hause Ärger hatte, bin ich meistens immer zu meinem Vater gefahren, ne. Und wenn’s ganz hart kam, dann kam auch manchmal der Spruch von ihm, daß er meinte: eh, du kannst deine Koffer packen und auch gleich dableiben! ne? Aber manchmal kam er auch wieder an und wollte sich mit mir vertragen. Wir haben’s auch schon mal so gemacht, wir haben zwei Wochen lang kein Wort mehr mit uns geredet!
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I:[119:990] Du und dein Stiefvater?
-
[119:991] Ja. Sind stumm an uns vorbeigegangen!
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I:[119:992] Und weswegen habt ihr euch gestritten?
-
[119:993] Ach, das war so – ich war dann oft in F. in der Stadt, und war dann halt immer nur mit Älteren zusammen, mit 16, 17, und war dann auch abends eben weg, und bin dann erst um 10, halb 11 nach Hause gekommen!
-
I:[119:994] Da warste aber schon älter, da warste schon 11, 12, oder –
-
[119:995] Ja, ungefähr.
-
I:[119:996] Und haste ’ne Erinnerung an ein unangenehmes Ereignis aus der Zeit?
-
[119:997] Nö.
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I:[119:998] Auch nicht.
-
[119:999] Ja, zwischen der Zeit ist eben T. ins Heim gekommen.
-
I:[119:1000] Also da gab’s dann zu Hause sehr viel Ärger?
-
[119:1001] Mit T. und meinem Stiefvater.
-
I:[119:1002] Mit deinem Stiefvater, haste ja schon erzählt.
-
[119:1003] Das war dann die Zeit, wo T. hat angefangen zu klauen, hat meiner Mutter das Geld aus dem Portemonnaie genommen, die ist in der Stadt beim Klauen erwischt worden. Und da hat meine Mutter dann auch von sich aus gesagt: das geht nicht mehr. Und da ist die dann ins Heim gekommen.
-
I:[119:1004] Haste die öfters besucht im Heim?
-
[119:1005] Ja, ich bin oft mitgefahren mit meiner Mutter.
-
I:[119:1006] Jetzt muß ich nochmal fragen: Wieviel Leute seid ihr da gewesen in der Wohnung, also insgesamt jetzt, in der Zeit?
-
[119:1007] Wir waren: T., S., ich, S. und R., ja.
-
I:[119:1008] Und dein Stiefvater und deine Mutter?
-
[119:1009] Ja.
-
I:[119:1010] Hatteste da ’n eigenes Zimmer?
-
[119:1011] Ja. Wir ham ’n ganzes Haus für uns alleine. Neben uns gleich ’n Bauernhof. (I: Hm) Da war ich auch oft.
-
I:[119:1012] So, dann können wir ja jetzt mal reden über die Zeit, also jetzt vom 10. Lebensjahr bis jetzt, ne.
-
[119:1013] Oh, da ist viel passiert!
-
I:[119:1014] Da ist viel passiert.
-
[119:1015] Oh oh!
- |A1 A2 A3 162|
-
I:[119:1016] Wir haben ja viel Zeit! (lacht) Auf welche Schule biste dann gekommen?
-
[119:1017] Nach F. auf die Förderstufe für 2 Jahre.
-
I:[119:1018] Auf die Förderstufe. Und wie lief das auf der neuen Schule?
-
[119:1019] Na, von Anfang an auch bombig, und – ja, dann kam halt ’n neues Fach dazu wie Englisch, und die Tante von meinem Stiefvater, die ist, ja die fährt oft nach Amerika, und bei der hab ich dann auch Nachhilfestunden genommen, falls ich mal nicht zurechtgekommen bin. Und da fing das dann auch an, daß ich halt so ziemlich oft in F. war, manchmal abends auch um 10, naja, sagen wir mal um 11, halb 12 zu Hause angerufen hab und hab gesagt, die sollten mich abholen, weil kein Bus mehr fährt, und daß wir nachts also Züge durch F. gemacht haben mit der Clique, mit der ich zusammen war, und daß mich dann mein Stiefvater halt auch oft gesucht hat, daß es da dann Ärger gab. Und da fing dann halt der Ärger mit meinem Stiefvater an, in der Zeit.
-
I:[119:1020] Was habt ihr denn da so gemacht in F.?
-
[119:1021] Ach, wir saßen meistens oben in der Allee, das waren ja auch Skinheads.
-
I:[119:1022] Ach, du warst mit Skinheads zusammen.
-
[119:1023] Ja. Schon von der Zeit an; ich bin ja jetzt auch viel mit Skinheads zusammen. Und wir saßen dann oben in der Allee, haben ’n Cassettenrecorder gehabt, haben uns unterhalten, die älteren haben sich ’ne Palette Bier geholt, wir sind oft, ja so haben zusammengelegt und Süßigkeiten gekauft, ham uns halt so unterhalten.
-
I:[119:1024] Wie alt warst du da, also als das mit der Clique anfing in F.?
-
[119:1025] 12, 13.
-
I:[119:1026] 12, 13. Wie viele seid ihr da gewesen insgesamt?
-
[119:1027] Och, das war, die Hauptclique, das waren bestimmt 25 Mann!
-
I:[119:1028] 25 Leute!
-
[119:1029] Ja. Die kamen ja aus F., aus W., und halt bei uns aus’m Dorf.
-
I:[119:1030] Jungs und Mädchen, oder –
-
[119:1031] Ja, Jungs und Mädchen.
-
I:[119:1032] Und wie hatteste die kennengelernt?
-
[119:1033] Durch die Schule.
-
I:[119:1034] Und jetzt, mit deinem Stiefvater gab’s dann Ärger, haste gesagt.
-
[119:1035] Ja.
-
I:[119:1036] Worum ging es da immer zwischen euch?
-
[119:1037] Och – na, es war so, wenn ich abends weggeblieben bin, dann hat er mir Stubenarrest gegeben, und meine Mutter war dann eigentlich immer ziemlich weich, und die hat dann gesagt, ich dürfte nachmittags raus und muß halt immer da sein, wenn R. von der Arbeit kommt. Das hab ich auch immer gemacht, und irgendwie hat er’s dann rausgekriegt, daß ich doch immer rausgegangen bin, und da hat er dann noch Ärger mit meiner Mutter angefangen, und dann hab ich auch gesagt, er soll Mutti in Ruhe lassen, das wär ja meine Sache. Ich hätte ja auch sagen können, ich wollte nicht raus, und dann fing’s auch an, daß er dann andauernd was an mir auszusetzen hatte, wie bei T. Bei jedem kleinen bißchen, auch wenn er Ärger auf der Arbeit hatte oder so, immer hat er dann den Frust an mir ausgelassen.
-
I:[119:1038] Was hat er denn an dir auszusetzen gehabt, dein Stiefvater?
-
[119:1039] Och, jedes kleine bißchen, wenn ich mal die Tür zu laut zugemacht hab, hat er mich zurückgeholt, mir ’n paar geknallt und hat dann gesagt, ich |A1 A2 A3 163|soll die Tür leise zumachen. Oder wenn ich mal Milch verschüttet hab oder so, dann ist der gleich ausgerastet, bei jedem kleinen bißchen.
-
I:[119:1040] Und wie hat sich dann deine Mutter verhalten in solchen Situationen?
-
[119:1041] Die ist ruhig geblieben.
-
I:[119:1042] Die ist ruhig geblieben.
-
[119:1043] Naja, die kommt gegen R. nicht an!
-
I:[119:1044] Wie sah das aus, wenn er ausgerastet ist?
-
[119:1045] Naja, er fing an rumzuschreien, also regelrecht hat immer die Leute zusammengeschrien. Und ab und zu ist ihm dann auch mal die Hand ausgerutscht. (I: Hm) Aber wir haben uns immer wieder vertragen, immer wieder! Warum, weiß ich selber nicht.
-
I:[119:1046] Und waren das auch so Situationen, wo du zu deinem Vater gegangen bist?
-
[119:1047] Ja! Da war ich also ziemlich oft bei meinem Vater.
-
I:[119:1048] Dann länger, haste dann da auch geschlafen, oder –
-
[119:1049] Übers Wochenende.
-
I:[119:1050] Übers Wochenende?
-
[119:1051] Nur übers Wochenende.
-
I:[119:1052] Und haste mit deinem Vater darüber gesprochen, über diese Situationen?
-
[119:1053] Ja, also A., die Frau von meinem Vater, hat mich ja, also die kannte R. ja auch schon von früher, und wir haben uns dann halt darüber unterhalten, und die Mutter von meinem Vater, die konnte R. eigentlich nie leiden. Weil er schon früher ’n ziemlich aggressiver Typ war. Und sie hat dann immer zu mir gesagt, wenn ich mich mit ihr darüber unterhalten habe: ja, R. war früher schon immer so!
-
[119:1054] (Pause)
-
I:[119:1055] Und wie war das mit deinen Geschwistern? Haben die zu dem R. gehalten, also zu deinem Stiefvater, oder haben die mehr zu dir gehalten? In solchen Situationen?
-
[119:1056] Gar nicht, überhaupt nicht!
-
I:[119:1057] Gar nicht –
-
[119:1058] Die haben sich immer rausgehalten, weil se genau wußten, wenn sie sich einmischen, kriegen sie auch noch ’n paar auf n Deckel!
-
I:[119:1059] Und haben sie dich dann unterstützt dann noch, also im nachhinein, daß sie dich dann getröstet haben –
-
[119:1060] Ja.
-
I:[119:1061] – oder ham die sich da rausgehalten?
-
[119:1062] Nee, also wenn ich, ich bin ja dann meistens sauer bei mir ins Zimmer, und da war S. ja auch schon etwas älter, die kam auch dann immer an und hat dann geflucht: oh, dieser Scheiß-R.! und so. Und die hat dann auch ihren Frust losgelassen, ne, wenn sie sauer war auf R., aber sie hat das R. nie selber gesagt, weil sie Angst vor ihm hatte.
-
I:[119:1063] Und hatte dein Stiefvater auch Schwierigkeiten, also ähnliche Schwierigkeiten mit den anderen Geschwistern von dir? Oder nur mit dir hauptsächlich in der Zeit?
-
[119:1064] In der Zeit hauptsächlich mit mir!
-
I:[119:1065] Hauptsächlich mit dir.
-
[119:1066] Ja. Also seinen eigenen Kindern hat er so eigentlich nie was getan, ne. Ich hatte meistens so das Gefühl, das sind seine Kinder, und wir gehören zu K., ne? Und K., der trinkt gerne mal einen über’n Durst, kann man so sa|A1 A2 A3 164|gen, ne? Und er hat dann gesagt: ja, die gehören zum Alkoholiker, die haben so mit mir nichts zu tun, die sind unter meinem Niveau! Und er ist ja dann halt was Besseres, und seine Kinder dann natürlich auch!
-
I:[119:1067] Ja, aber weswegen ist er da was Besseres, das hab ich nicht verstanden?
-
[119:1068] Weil er nicht trinkt.
-
I:[119:1069] Ach weil er nicht trinkt – ja! Jetzt hab ich das verstanden!
-
[119:1070] Also er hat früher auch getrunken, er ist jetzt, glaub, seit 14 oder 15 Jahren trocken.
-
I:[119:1071] Und dein Vater nicht?
-
[119:1072] Nein. Die Frau jetzt von meinem Vater, die hat ’ne Entziehungskur gemacht, und die hat’s auch gepackt bis jetzt, schon auch anderthalb Jahre her, die is’ schon anderthalb Jahre trocken. Und sie hat dann auch von Anfang an gesagt: wenn K. was trinken will, soll er in die Kneipe gehn, also bei denen zu Hause steht jetzt auch kein Bier mehr!
-
I:
-
[119:1074] Doch, ich kenn’ ja W. schon seit fünf Jahren, W. R. vom Jugendamt aus H. Weil er sich auch mit T. beschäftigt hat.
-
I:[119:1075] Die dann abgehauen ist, ne?
-
[119:1076] Ja.
-
I:[119:1077] Genau.
-
[119:1078] Naja, und dann war’s so, dann weil Ärger mit meinem Stiefvater war, hab ich in der Schule auch nachgelassen, und die Frau B., die Vertrauenslehrerin, mit der hab ich mich dann unterhalten, und die hat sich dann auch mit Herrn R. in Verbindung gesetzt, die kennt den auch gut, und die hat mir so’n, so’ne Art, was weiß ich, so’ne Tussi da geschickt vom Jugendamt, mit der ich halt viel gemacht habe, mit der ich darüber geredet habe. Also so’ne Vertrauensperson sozusagen.
-
I:[119:1079] Wie alt warste denn da?
-
[119:1080] Da war ich 14 – nee, 13!
-
I:[119:1081] Die kam dann einmal die Woche, oder wie oft?
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[119:1082] Ja, wir haben immer so Termine gemacht. So wie’s ihr gerade gepaßt hat und mir. Sie hat mich öfter von der Schule abgeholt, sind dann Kaffee trinken gegangen oder so, und ham uns dann halt unterhalten.
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I:[119:1083] War dir das unangenehm?
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[119:1084] Nee, überhaupt nicht. Ich hab mich mit ihr auch sehr gut verstanden.
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I:
-
[119:1086] Mit der Schule das blieb eigentlich dann so, weil ich dann meine Aggression an den Lehrern ausgelassen habe. Den Frust, den ich zu Hause hatte, den – z. B. wir hatten da ’n neuen Klassenlehrer, den Herrn D., mit dem hab ich mich von Anfang an überhaupt nicht verstanden, er konnt’, ich hatte das Gefühl, er kann mich nicht leiden, ich konnte ihn nicht leiden, von Anfang an nicht! Und dann war’s dann so, wenn ihm irgendwas nicht gepaßt hat, hat er mir entweder ’n Eintrag ins Klassenbuch gegeben, und ich hab ihn dann auch angekeift, ne? Und er hat dann auch bei jedem kleinen bißchen bei meiner Mutter angerufen und hat das Ganze dann |A1 A2 A3 165|auch, hat immer was dazugedichtet. Und seitdem konnt’ ich den Herrn D. nie leiden, nie!
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I:[119:1087] Was heißt Schwierigkeiten jetzt, also daß ihr euch angefeindet habt; wie sah das dann aus?
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[119:1088] Ja, z. B. wenn ich gefragt habe, ob ich auf Toilette gehen durfte, da hat er dann gesagt: nee, du kannst in der Pause gehn; aber wenn jemand anders da gefragt hätte, dann hätte er gesagt, ja, geh! ne?
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I:[119:1089] Welches Fach hat der unterrichtet?
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[119:1090] Das war der Klassenlehrer, der hat Deutsch, Mathe, Erdkunde und Sozialkunde.
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I:[119:1091] Was waren deine Lieblingsfächer?
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[119:1092] Mathe ist mein Lieblingsfach! Ja, der wollte mir meistens auch in den Arbeiten immer ’ne schlechte Note reinbrettern, aber da ich Mathe auch ziemlich gerne mache und das für mich auch so keine Schwierigkeit ist, hab ich dann halt gute Noten geschrieben, und da fing er dann halt in Deutsch an, weil ich in Rechtschreibung nicht gerade gut bin, und auch meine Schrift nicht gerade die beste ist, und da fing er dann an, mir in Deutsch reinzubuttern.
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I:[119:1093] Da warste auf der Hauptschule, oder auf der Realschule?
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[119:1094] Das war so, ich bin erst auf die Realschule vorgeschlagen worden, und die hab ich denn nich’ gepackt, auch weil ich da auch die Aggressionen losgelassen habe, und da war ich auf der Hauptschule, und da ging’s dann eigentlich besser, bis der Herr D. kam.
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I:[119:1095] Und wenn du sagst: deine Aggressionen loslassen – was heißt denn das? Das versteh’ ich noch nicht so richtig.
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[119:1096] Ja, dann sag ich den Lehrern z. B., zum Herrn D. hab ich meistens gesagt: hier, ich hab schlechte Laune, und er sollte mich dann halt in Ruhe lassen, ne?
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I:[119:1097] Im Unterricht haste das gesagt?
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[119:1098] Jaja, im Unterricht! Und wenn dann – dann war’s halt einmal so, der hat mich andauernd drangenommen, und da bin ich dann so ausgerastet, hab ihn angefaucht, ne, und dann meinte er: ja, dann pack deine Sachen und geh! Da bin ich gegangen. Da fing er dann auch schon an von wegen, drei Tage Schule beurlauben, und wenn das da so weitergeht, daß ich von der Schule runterfliegen würde.
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I:[119:1099] Sag mal, jetzt hast du nur so’n bißchen die schlechten Sachen erzählt. Gab’s da auch schöne Ereignisse in der Zeit?
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[119:1100] Unter den Jugendlichen, ja.
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I:[119:1101] Also mit den Skinheads?
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[119:1102] Mhm.
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I:[119:1103] Was war da besonders schön?
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[119:1104] Och – was war da schön, hat mich meine Mutter auch immer gefragt, was mich daran reizen würde. Äh – naja, daß die, die waren ja meistens immer älter als ich, und dann, ja daß wir halt zusammen waren und zusammen auch viel unternommen haben. Daß wir auch mal auf die Pauke gehauen haben. Also so durch die Straßen gezogen sind und mal ab und zu Randale gemacht haben, und das durfte ja zu Hause nie!
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I:[119:1105] Wann bist du ins Heim gekommen?
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[119:1106] Das war letztes Jahr im – von zu Hause weg bin ich im Februar!
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I:[119:1107] Was heißt von zu Hause weg? Biste dann auf Trebe gegangen oder biste dann gleich ins Heim gegangen?
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[119:1108] Nee, äh, in Bereitschaft war ich 1 Monat.
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I:[119:1109] Was heißt das, Bereitschaft?
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[119:1110] Das sind so Eltern, die Kinder aufnehmen, bei denen’s zu Hause gar nicht mehr klappt, aber wo se noch kein’ Platz im Heim gefunden haben.
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I:[119:1111] Was war denn deiner Meinung nach der Anlaß, weswegen du ins Heim gekommen bist, oder die Gründe?
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[119:1112] Oh –
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I:[119:1113] Wie waren so die letzten Wochen zu Hause? Bevor du dann hier –
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[119:1114] Die waren schlimm! Also der Hauptgrund war ja, warum ich ins Heim gegangen bin, mein Stiefvater hat angefangen, mich zu begrabbeln. Und ich hatte ’ne Freundin in F. im Heim, die heißt H., und die ist aus dem gleichen Grund ins Heim gekommen. Und da hab ich mich da ans, äh, war bei ihr mit im Heim, das war ’n katholisches Heim, hab dann mit der Schwester geredet, und sie hat dann gesagt, das ginge nicht, man müßte das Jugendamt einschalten.
-
I:[119:1115] Aha. Da hattest du auch keinen Kontakt mehr zu dieser Frau vom Jugendamt, mit der du immer Gespräche hattest?
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[119:1116] Nein.
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I:[119:1117] – das lief nicht mehr?
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[119:1118] Nee.
-
I:[119:1119] Aha.
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[119:1120] Und dann hat sie dann ’s Jugendamt eingeschaltet, und da kam Herr R. dann, hab ich das Herrn R. erzählt, und der kam meistens dann in die Schule. Weil meine Mutter – also meine Mutter ist immer noch in dem Glauben, daß das überhaupt nicht stimmen würde, daß das nur ’ne Spinnerei von mir wär, weil ich von zu Hause weg wollte. Und mein Stiefvater streitet das sowieso ab, und das ist eigentlich der Hauptgrund, warum ich ins Heim gekommen bin.
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I:[119:1121] Und das haste mehr oder weniger selbst in die Hand genommen, so wie ich das verstanden habe?
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[119:1122] Ja! Ich hab dann mit Herrn R. geredet, Herr R. hat mit meinem Stiefvater, wollte er reden, er wollte aber nicht. Ich hab dann mit meiner Mutter und Herrn R. geredet bei uns zu Hause, und dann war’s so, dann kam Herr R. in die Schule, und da war ich auch total fertig, dann fing mein Stief wieder an, was ich für’ne Scheiße erzählen würde, dann hat er angefangen, mich zu schlagen. Und dann war ich in der Schule, hab dann zu Frau B. gesagt, ich geh nicht mehr nach Hause, ne? Und hatte auch blaue Flecken, der hat mich mal mit’m Regenschirm verschwartet. Den Regenschirm könnt’ ich dann auch wegschmeißen. Und da kam Herr R. dann in die Schule und hat gesagt – das war ’n Mittwoch – und am Freitag war ich von zu Hause weg. Hat dann gesagt: du hast noch zwei Tage Zeit, deine Sachen zu packen, Freitag hol ich dich! Das war dann so: ich wollte von zu Hause weg.
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I:[119:1123] Und deine Mutter? Wollte die, daß du dableibst?
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[119:1124] Die hat dazu eigentlich gar nichts mehr gesagt. Ja, so, sie war, am Anfang wollte sie gar nichts mehr mit mir zu tun haben, das hat W. mir mal er zählt: sie hat gesagt, wenn ich ins Heim komme, so weit weg wie möglich! Weil sie mit mir überhaupt nichts mehr zu tun haben wollte.
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I:[119:1125] Also mit deinem Vater haste da auch drüber geredet, über die Situation zu Hause?
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[119:1126] Mit meinem richtigen Vater gar nicht!
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I:[119:1127] Da haste gar nicht drüber geredet?
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[119:1128] Nein. Ich hab das ja immer unterdrückt, ich hab das ja nie jemandem gesagt. Ich hab H. dann nur gefragt, warum sie im Heim ist, und da hat sie mir das erzählt, und H. war das erste Mädchen, dem ich das überhaupt erzählt habe.
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I:[119:1129] Weil sie dir das erzählt hat?
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[119:1130] Jaja! Sie hat gesagt, daß ihr Stiefvater halt was von ihr wollte, und da hab ich dann gesagt, daß das bei mir und R. genauso ist. Sie wollte mir das ja auch erst nicht glauben, aber, da H. und ich auch jetzt noch sehr gute Freundinnen sind, wir stehen noch in Briefkontakt, da hat sie’s mir dann halt geglaubt, ich hab mit H. auch viel so unternommen, wir sind sozusagen durch dick und dünn gegangen.
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I:[119:1131] Und wie war das mit deinen Geschwistern, haste mit denen darüber geredet?
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[119:1132] Nein, überhaupt nicht, mit gar keinem.
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I:[119:1133] Wußten die das?
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[119:1134] Nein!
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I:[119:1135] Die wußten das nicht.
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[119:1136] S. hat schon selber gemerkt, daß – also hat er auch zum Herrn R. gesagt, daß R. abends oft bei mir im Zimmer war. Das hat er auch schon mitgekriegt. Aber bei R. war das dann so, weil ich nichts gesagt habe und mir das ja auch meistens gefallen lassen habe von R., weil ich Angst vor ihm hatte, da war’s dann auch so, daß, äh, ich bei ihm rauchen durfte, er hat mir selber Geld gegeben für Zigaretten. Das durfte ja Mutti alles nicht wissen, ne?
-
[119:1137] (Pause)
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I:[119:1138] Wo bist du dann hingekommen, also nach dieser Bereitschaft? Du warst dann 2 oder 3 Wochen in einer Familie, so hab ich das –
-
[119:1139] 1 Monat!
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I:[119:1140] 1 Monat, doch.
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[119:1141] Das war ’ne Pfarrersfamilie, also der Vater war Pfarrer, da war ich dann 1 Monat lang, und dann hat Herr R. gesagt, hier oben wär ’ne Stelle frei, sind wir hier hochgefahren, ham uns das angeguckt, und da hab ich dann zu W. gesagt: ja, das ist o.k., und nach einem Monat bin ich dann hier hochgekommen.
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I:[119:1142] Gleich hier auf die Gruppe?
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[119:1143] Ja, von vornherein.
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I:[119:1144] Und wie war die erste Zeit so in der Gruppe?
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[119:1145] Ganz gut. Am besten war ja von Anfang an, daß ich mich mit S. sehr gut verstanden habe, ist jetzt immer noch so.
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I:[119:1146] Da fällt mir gerade ein, das hat sich dann scheinbar verändert, wenn du früher immer so viel und gerne mit Jungs zusammen warst, aber irgend wann haste dann doch mehr Freundinnen gehabt, ne, die H. haste erwähnt und –
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[119:1147] Ja, H. und S., sind die einzigsten Freundinnen, die ich so richtig habe. (I: Ah so!) Sonst wenn ich in V. z. B. bin, dann bin ich auch mit J. halt immer unterwegs, und da sind wir auch bei seinen Kumpels eben, ne?
- |A1 A2 A3 168|
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I:[119:1148] Mhm. Auch wieder alles Jungs.
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[119:1149] Ja, oder wenn ich in der Stadt bin mit S., da bin ich auch immer mit den ganzen Skinheads zusammen. Und hier im Heim – auch mehr Jungen als Mädchen.
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I:[119:1150] Wo biste dann zur Schule gegangen?
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[119:1151] Ich war in G. auf der Schule. Und da war’s so, da hab ich mich mit Herrn Br. nicht verstanden, mit meinem Klassenlehrer, und dann halt, wir hatten Ausländer bei uns in der Klasse, Türken, ’ne Iranerin und ’n Portugiesen – nee, Jugoslawe war das. Und mit dem Jugoslawen hab ich mich so eigentlich ganz gut verstanden gehabt, und äh, bis er dann rausgekriegt hat, daß ich halt mit den Nazis zusammen bin. Und da fing er dann an, einer von den Türken hat Boxen gemacht, und dann fing er an, wenn ich morgens zur Schule gekommen bin, ist er gleich zu dem hin, und hat dann – er kam dann an, ist an mir vorbeigegangen und meinte so: nach der Schule biste dran! und so. Und ist ja auch so, daß ich nicht kneifen tu, ne?
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I:[119:1152] Was heißt das, kneifen?
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[119:1153] Ja, wenn er jetzt z. B., also er hat gesagt, nach der Schule treffen wir uns da und da, und denn biste dran! Und da bin ich auch hingegangen!
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I:[119:1154] Ach, du bist auch da hingegangen?
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[119:1155] Ich bin hingegangen! (I: lacht) Und die waren nicht da, die sind nicht hingekommen. Dann bin ich den nächsten Tag hin und hab gesagt: hier, hört zu, wir treffen uns dann und dann da, und dann werden wir sehn, wer dran ist! Ja, und da waren sie aber wieder nicht da. Naja.
-
I:[119:1156] Und da hat’s nie ’ne Schlägerei gegeben?
-
[119:1157] Nö! Zwischen M. und mir, also wir ham uns oft gekeppelt. Aber sonst eigentlich nie. In der Schule so auch nicht, war’s die größte Schlägerei sozusagen, was hier jetzt war, das war das mit A. Die hab ich auch noch so zusammengemülmt, die ham die andern nicht wiedererkannt!
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I:[119:1158] Und weswegen haste die zusammengemülmt?
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[119:1159] Das war, da war ich mit M. zusammen, und sie hat ziemlich viel Scheiße drüber erzählt. Was wir gemacht hätten und was wir so vorhätten und alles mögliche.
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I:[119:1160] Warum hat die das gemacht?
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[119:1161] Weiß ich nicht! Also jetzt versteh ich mich mit A. echt bombig! Nach dem. Aber da, da konnte sie mich wahrscheinlich nicht leiden.
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I:[119:1162] Wie, du verstehst dich jetzt mit der Frau, die du da verdroschen hast, wieder bombig?
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[119:1163] Ja, total!
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I:[119:1164] Aha!
-
[119:1165] Das war – also ich schätz’ mal, daß sie mich nicht leiden konnte, wo ich hergekommen bin, ich hab mich mit T., ihrem Freund, super verstanden! Versteh ich mich jetzt auch immer noch! Und da war sie wahrscheinlich eifersüchtig und wollte mir ein’ auswischen. Bin ich zu ihr hingegangen und hab gesagt, hab sie gefragt, warum sie das erzählt hätte, und das hat sie abgestritten. Und da waren die andern Leute aber, denen sie das erzählt hat, alle da. Und da hat die mich dann so sauer gemacht, daß ich ihr ’n paar geknallt habe, ne! Und ich hab zu ihr gesagt, sie soll überlegen, was sie sagt, weil – sie sollt’ es zugeben! Sie sollt’ es wenigstens, wenn sie’s zugegeben hätte, wär alles gut gewesen! Hätt’ ich gesagt: ja, o.k., das |A1 A2 A3 169|vergessen wir. Aber sie hat’s immer wieder abgestritten, und da hat sie mich so gereizt, da hab ich auch mal mit der Faust zugehauen. Da hat sie mich in den Haaren gezogen, was ich nicht ab kann, da bin ich ausgerastet! Und hab sie zusammengehauen.
-
I:[119:1166] Dann haste dich auch nicht mehr unter Kontrolle in so’ner Situation?
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[119:1167] Nä! Also da hatte ich mich echt nicht mehr unter Kontrolle, ich hab mich danach selber gewundert. Ich bin dann von der Gruppe runter und war hier im Zimmer, hab mich einigermaßen wieder abgeregt und bin dann rübergegangen und wollte nochmal mit ihr reden. Hab mich dann auch bei ihr entschuldigt gleich, und hab sie auch selber sozusagen verarztet, hab ihr ’n paar kalte Lappen aufs Gesicht gelegt, bis die Erzieher dann kommen. Und jetzt versteh ich mich mit A. echt bombig.
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I:[119:1168] Gab’s dann nochmal, öfter solche Schlägereien?
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[119:1169] Jaa – dann bin ich einmal verdroschen worden, das war aufm Frühlingsfest, glaube, unten aufm Schützenplatz, da war ich mit N. da, und da war ’n Mädchen genauso wie ich, kann man sagen. Die war aber viel älter als ich, und die hat angefangen, mich zu ärgern. Und da hab ich zu ihr gesagt: Alte, laß mich in Ruh! und da kam sie mit ihrer ganzen Clique an, ich war ja mit N. alleine da. Das war ziemlich die erste Zeit, wo ich hier war, und hat se mich verdroschen. Da sind wir dann auch zur Polizei gegangen und ham sie angezeigt. Und sonst war ich meistens bei Schlägereien nur dabei.
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I:[119:1170] Und mit Jungen haste dich nie gelascht?
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[119:1171] So richtig – naja, in der Zeit, wo ich hier war – hm, in der Schule halt mit M., in der Stadt mal mit ’m Türken, das wissen die Erzieher aber nicht, ’s war aber nur so’n bißchen. Sonst so, eigentlich gar nicht. Ich war sonst eben nur bei Schlägereien dabei. Also wenn sich jemand geschlagen hat.
-
I:[119:1172] Was heißt das: die war ’n Mädchen so wie ich?
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[119:1173] Ja, also, is’ meine Meinung, das ist, naja wie ich kann man eigentlich nicht sagen, weil, ich finde, daß die ziemlich Schlägertypen sind, aber auf Jüngere losgehen. Und das ist bei mir – ich geh ja nicht nur auf Jüngere los. A. ist ja ein Jahr jünger als ich. Und sonst, ich hab auch ’ne große Schnauze sozusagen gegen Ältere, ne. Na also, da hab ich keine Hemmungen!
-
I:[119:1174] Würdste sagen, du bist ’n Schlägertyp?
-
[119:1175] Nee, so nicht, das ist – wenn ich so’ne Auseinandersetzung habe, da is’, ich versuch das erst, mich mit den Leuten auseinanderzusetzen. Und wenn das auch nicht klappt, hol ich mir jemand herbei, ’n Erwachsenen oder so. Ja dann, wenn das echt nicht klappt, dann ist halt so, daß meine Hand wirklich mal ausrutscht!
-
I:[119:1176] Und nicht nur die Hand wahrscheinlich! (lacht etwas)
-
[119:1177] Ja! (verlegen) Aber so’n Schlägertyp bin ich eigentlich nicht. Was ich auch selber weiß: ich kann fest zuhauen! Ich hab auch einmal hier, mit M. von den Füchsen, nee, von den Igeln, da war auch mal was, da waren aber viele vom Heim beteiligt dran, da hab ich auch nur einmal zugehauen. Das war wie bei A., die hatte ’n Bluterguß hinterm Ohr, und M. auch. Da war’s völlig klar, daß natürlich der Bluterguß von mir war, ne? (I: Hm) Ich weiß nicht warum, aber die kriegen immer Blutergüsse hinter den Ohren.
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I:[119:1178] Wie lange biste jetzt hier auf der Gruppe?
-
[119:1179] Knapp ’n Jahr bin ich jetzt hier.
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I:[119:1180] Und wie ist so die Zeit gelaufen, wenn du das jetzt so in der Rückschau siehst, dieses Jahr?
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[119:1181] Ziemlich positiv, also von den Jugendlichen her. Also wie ich mich mit denen vertragen hab. Von den Erziehern her ist es so, ich hab mich nie mit R. und B. vertragen.
-
I:[119:1182] Und weswegen nicht?
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[119:1183] Weiß ich nicht!
-
I:[119:1184] Weißte nicht.
-
[119:1185] Ich hatte immer das Gefühl, daß R. – also hauptsächlich mit R. – daß R. mich nicht leiden kann und ich ihn nicht. Und es gibt viele hier, die R. nicht leiden können. Und das ist ja so, R. und B. haben ja ’n Verhältnis zusammen. Wenn jetzt z. B. R. was sagt, ist B. auch sofort der gleichen Meinung, ne? Also zwei gegen zwei dann, du mit S., und B. und R.! – und R. Ja, nur die letzte Zeit, die letzten paar Tage, wo R. hier war, da so hab ich mich mit R. auch sehr gut verstanden. Das war das einzigste Mal. Wird er wohl seinen guten Tag gehabt haben!
-
I:[119:1186] Was sind denn so deiner Meinung nach die Gründe, weswegen du jetzt an dem Kurs teilnimmst?
-
[119:1187] Hauptsächlich Schlägereien.
-
I:[119:1188] Was werfen dir die Erzieher vor?
-
[119:1189] Daß ich ’n Schlägertyp bin.
-
I:[119:1190] Und möchteste jetzt auch weg hier aus der Gruppe?
-
[119:1191] Ja, eigentlich nicht, also ich würde sehr gerne hierbleiben. Aber die Erzieher haben ja schon gesagt, das geht nicht mehr. Und es steht auch fest, daß ich hier raus muß. Und ich fahr’ lieber bei dem Projekt mit, als in ein anderes Heim zu kommen!
-
I:[119:1192] Was findst denn an deiner jetzigen Situation gut?
-
[119:1193] Na, daß die Erzieher mir nichts mehr zu sagen haben!
-
I:[119:1194] Hast du schon irgendwelche Wünsche, was du so nach dem Kurs machen möchtest? Also irgendwelche Berufswünsche?
-
[119:1195] Na, Berufswünsche –
-
I:[119:1196] Möchteste immer noch Kindergärtnerin werden, oder hat sich das verändert?
-
[119:1197] Naja, das – ja, was ich auch gerne mache, da fing T. auch an, es gibt ja jetzt auch Berufe, die normalerweise früher nur Männer gemacht haben, die auch heute Frauen machen können. Z. B. wie Tapezieren tu ich gerne, Fliesenlegen tu ich gerne, oder halt Malern, so Streichen – das hab ich alles von meinem Stiefvater eben, ne. Und das macht mir auch selber viel Spaß, aber hauptsächlich Tapezieren. Daß ich da vielleicht irgendwie mal was machen könnte. Oder halt irgendwas mit Tieren oder mit kleinen Kindern, weil ich mit kleinen Kindern sehr gut auskomme. Da ich selber 5 jüngere Geschwister habe –
-
I:[119:1198] Also beides, da biste noch nicht so entschieden dazwischen?
-
[119:1199] Nee. Also hauptsächlich mit Tieren oder Kleinkindern.
-
I:[119:1200] Aber du kannst dir auch vorstellen, sozusagen ’n Beruf auszuüben, was eher ’ne männliche Tätigkeit ist?
-
[119:1201] Ja. Da auch viele sagen, daß ich gut zupacken kann! Daher. Wo das mit A. war, da ham – ich hab früher Kickboxen gemacht ’n halbes Jahr. Das hat mir auch echt viel Spaß gemacht, ne? Da haben die Erzieher dann gesagt, |A1 A2 A3 171|ähm, den Vorschlag hatte ich dann auch gemacht, daß ich mir ’n Punchingball kaufe, den mir hier ins Zimmer hänge – daß ich da eben irgendwie meine Aggression oder so loswerden kann. Das ist ja auch manchmal so, was ich – seitdem ich hier bin, was ich mache, wenn ich so sauer bin, also ich geh meistens raus! Ich bin schon mal, da hatt’ ich Ärger hier mit M., da bin ich immer bis R. und wieder zurück gelaufen.
-
I:[119:1202] Gelaufen?
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[119:1203] Ja.
-
I:[119:1204] Aber du bist doch auch häufiger weggelaufen und gar nicht wiedergekommen, ne?
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[119:1205] Ja, kann man sagen, übers Wochenende meistens.
-
I:[119:1206] Wie würdst du dich denn so einschätzen, was kannste handwerklich gut?
-
[119:1207] Handwerklich? Basteln tu ich gern.
-
I:[119:1208] Was, womit?
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[119:1209] Mit Holz! Sägen, schleifen, raspeln, leimen –
-
I:[119:1210] Und was haste da so gebaut, oder was baust du da am liebsten aus Holz?
-
[119:1211] Was ich schon gemacht habe, ist ’n Hubschrauber selber gebaut, oder ’n Regal oder ’n Spiegelschrank. So was ich halt von der Schule her kenne, das hab ich denn auch selber nachgebaut. Mit meinem Bruder zusammen haben wir uns selber mal ’n Vogelhäuschen gebaut, das wurde später dann als Hundehütte benutzt, ist ziemlich groß geworden – meine Mutter meinte, das wär ’ne Vogelvilla! Naja.
-
[119:1212] (Pause)
-
I:[119:1213] Hast du auch hier mit H. gebastelt?
-
[119:1214] Was ich mit H. bis jetzt gemacht hab, das waren Tonarbeiten.
-
I:[119:1215] Tonarbeiten?
-
[119:1216] Mhm.
-
I:[119:1217] Machste lieber Holz oder lieber Ton? Wenn du jetzt entscheiden könntest, würdste lieber Holz machen?
-
[119:1218] Lieber Holz, ja! Was ich auch gerne mache, ist z. B. aufm Bauernhof. Weil ich aufm Bauernhof sozusagen auch aufgewachsen bin. Ich kenn’ mich mit Kühen gut aus, mit Schweinen, mit Mähen, mit Dreschen –
-
I:[119:1219] Was sind denn im Moment für dich ganz wichtige Gesprächsthemen? Also wo du mit andern gern drüber reden möchtest?
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[119:1220] Jaa – über die Zeit, äh, ja von den Leuten von hier, das, was ich z. B. bei S. gemacht hab, das hat lange gedauert, bis sich S. halt beruhigt hat, daß ich weggehe. Und da hab ich ihr denn auch gesagt, das ist ja nur ’n halbes Jahr, und daß ich mir danach auch hier in der Nähe ’ne Wohnung suchen kann. Daß ich auf alle Fälle wieder hierherkomme und, es ist auch eigentlich so für mich schwer, darüber zu reden, weil ich, äh, ’n halbes Jahr ist schon wirklich ziemlich lang! Aber J. fing auch an, ich sollte lieber in ’n anderes Heim gehen, ne. Da hab ich zu ihm gesagt, das ist auch besser für mein späteres Leben. Ich kann ja da auch z. B. herausfinden, zu was ich noch fähig bin, also was ich noch für Fähigkeiten habe, was ich noch machen kann, was mir noch Spaß macht, wozu ich Ausdauer hab, was mir im späteren Leben bestimmt viel helfen wird. Und das hab ich J. dann auch langsam und sicher eingetrichtert.
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I:[119:1221] Kannste dir vorstellen, mal zu heiraten und Kinder zu haben?
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[119:1222] Na, ich verlob mich morgen!
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I:[119:1223] Ach, du verlobst dich? (Lachen) Na, das muß ja nichts heißen, muß ja nicht heißen, daß du dann irgendwann verheiratet bist und Kinder kriegen!
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[119:1224] Ja, heiraten – ja, vielleicht, mal sehn. Was meine Einstellung ist schon von klein auf von wegen Kinder kriegen: ich will selber keine Kinder kriegen, wenn, Kinder adoptieren!
-
I:[119:1225] Ach, willst Kinder adoptieren, und weswegen willste Kinder adoptieren?
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[119:1226] Weil ich der Meinung bin, daß es schon genug Kinder auf der Welt gibt, die keine Eltern haben! Und da find’ ich’s unnütz, noch mehr Kinder in die Welt zu setzen. Von Anfang an schon! Also das hat eigentlich da angefangen, wo meine Schwester, die hat mit 17 ’n Kind gekriegt.
-
I:[119:1227] Die T.?
-
[119:1228] Ja, die T., und die hat auch erst gesagt, sie wollt’ es behalten, und ist da mit nicht zurechtgekommen, und hat’s dann zur Adoption freigegeben. Da hat sich das erst richtig eingeprägt. Daß ich später mal Kinder adoptieren werde.
-
I:[119:1229] Wie ist denn das jetzt im Moment mit dir und deiner Familie? Also mit deiner Mutter und deinem Stiefvater und deinem richtigen Vater?
-
[119:1230] Super, ich hab mich mit meinem Stiefvater jetzt wieder vertragen, ich war ja ’n halbes Jahr hier, bevor ich wieder nach Hause gefahren bin. Und zu erst war’s so, ich bin einmal für – also mit K. (Heimleiter) und M. – für ’n paar Stunden hingefahren, hab so, daß ich mit meiner Mutter wieder ins Gespräch gekommen bin, aber muß ich ehrlich sagen, wo ich wieder bei uns ins Haus eingetreten bin, ich hatte weiche Knie! Ich hatte echt weiche Knie, und dann war’s so, also ich bin zweimal mit K. hingefahren, also einmal nur mit meiner Mutter geredet, einmal mit meiner Mutter und meinem Stiefvater. Dann bin ich ’n Wochenende hingefahren, da ging’s auch gut, und jetzt das letzte, nee, das vorletzte Mal, wo ich zu Hause war, hab ich mich mit meinem Stiefvater wieder vertragen. Da haben wir uns ausgesprochen alleine, ich hab auch gesagt, ich hab mich sozusagen entschuldigt bei ihm, daß wir das auch unter uns ausmachen hätten können, und daß es ja nicht grad’ an die Öffentlichkeit kommen mußte, und das hat er dann auch akzeptiert, und dann ham wir uns wieder vertragen. Mit meiner Mutter war’s so, da hab ich mich – also der Kontakt, wo ich hier war – also telefoniert haben meine Mutter und ich, und geschrieben haben wir uns auch.
-
I:[119:1231] Könnteste dir vorstellen, nach dem Kurs da wieder hinzugehen, zu deinen Eltern?
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[119:1232] Meine Mutter hat schon, ich hab sie mal gefragt, letztes Mal, wo ich zu Hause war, ob ich wieder nach Hause kommen könnte. Da meinte sie: würde mich die Schule in F. wieder aufnehmen, hätte sie mich schon lange wieder nach Hause geholt.
-
I:[119:1233] Das möchtste auch gern?
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[119:1234] Jaa – es kommt ganz darauf an, das ist so’ne Zwickmühle, das ist jetzt so: ich hab zu Hause Freunde, und ich hab hier jetzt genug Freunde. Und ist so, äh – ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, wo ich die erste Zeit hier war, hab ich die Leute, wo ich zu Hause war, ziemlich vermißt, ne. Aber jetzt im Moment ist es so: wenn ich nach Hause fahre, seh ich sie wieder, und ich muß auch wieder hierher, ne. Und wenn ich so, ich versteh mich mit den Leuten, mit denen ich hier zusammen bin, besser als wie zu |A1 A2 A3 173|Hause. Also das sind mehr echte Freunde, kann man sagen, die, die hier sind.
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I:[119:1235] Und würde dich denn die Schule in F. wieder aufnehmen?
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[119:1236] Nee!
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I:[119:1237] Warum bist du da so sicher?
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[119:1238] Das hat meine Mutter gesagt! Die würden mich nicht mehr aufnehmen. Die meisten sind ja froh, daß se mich los sind!
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I:[119:1239] Was heißt, die meisten?
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[119:1240] Na, von den Lehrern.
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I:[119:1241] Endete das hier in Göttingen mit der Schule auch mit ’nem Rausschmiß, oder wie –
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[119:1242] Nein, ich bin von mir aus nicht mehr hingegangen! Weil ich erstens die Schnauze voll hatte mit den Ausländern, die haben mich attackiert, und ich hab von mir aus auch gesagt, daß ich so mit Schlägereien nichts mehr zu tun haben will und bin den Leuten so auch aus dem Weg gegangen, da fing’s denn halt an: ja ich wär feige, und so, und sowas laß ich nicht auf mir sitzen, ne. Und auch wenn ich die Leute in der Stadt gesehen habe, fingen se dann an, mich zu ärgern, ne? Aber nur, wenn ich alleine war, wenn da jetzt z. B. ’n Skinhead dabeigewesen war, der sich auch so anzieht, ne, mit kurzen Haaren, da waren die mucksmäuschenstill! Z. B. ich war mit S. mal in der Stadt, und da ist mir M. entgegengekommen, da war M. ganz klein, und da hab ich gesagt: der ist bei mir in der Klasse, und der ärgert mich immer. Und da ist S. hingegangen, hat ihn am Kragen gepackt und meinte so: Junge hör mal zu, nochmal und du kriegst ’n paar aufs Maul, ne! Und da war ich dann ’n paarmal in der Schule, und da waren se dann ganz klein, und ham dann auch die andern Mitschüler, mit denen ich mich eigentlich so vertragen habe, auch sozusagen gegen mich aufgehetzt, und hab ich dann gesagt, da hab ich kein’ Bock mehr drauf.
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I:[119:1243] Hm. Gut, letzte Frage: Du hast drei Wünsche frei, was würdest du dir wünschen?
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[119:1244] Oh – mmh – Geld, Gesundheit, und – unendliches Leben!
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I:[119:1245] Unendliches Leben?
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[119:1246] Mhm.
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I:[119:1247] Na, wir haben zwei Fragen vergessen – wenn du dir ’ne ideale Schwester bauen könntest, wie sähe die aus?
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[119:1248] Oh! So wie ich.
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I:[119:1249] So wie du?
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[119:1250] Ja.
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I:[119:1251] So wie du? Was heißt das?
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[119:1252] Ja, meine Größe, ja vom Aussehen ist mir egal, aber so vom Charakter her und Einstellung, so wie ich!
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I:[119:1253] Hm. Sag mal so’n bißchen genauer, Charakter, Einstellung und so. Mutig wahrscheinlich, ne?
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[119:1254] Ja, mutig, und auch ziemlich unternehmungslustig, die nicht so eingebildet ist und etepetete und, ähm, was gibt’s denn noch? Die gerne in die Disco geht, die mal gern einen draufmacht. Ah, ja, muß nicht gerade ’ne linksradikale Einstellung haben (I: Hm), und müßte auch so, naja, sie muß halt ziemlich unternehmungslustig sein! Muß sie sich auch durchsetzen können. Auch gegen Jungs zum Beispiel. Tierlieb müßte sie sein, und kleine Kinder müßte sie auch mögen.
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I:[119:1255] Und wie würdst dir ’n idealen Bruder vorstellen?
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[119:1256] Genauso!
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I:[119:1257] Genauso?
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[119:1258] Ja. – Ja, er müßte dann halt auch, ein Bruder, der müßte größer sein als ich, gutes Kreuz haben, gut gebaut sein –
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I:[119:1259] Müßte stärker sein als du?
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[119:1260] Ja. Damit ich mal sagen könnte: jetzt kommt mein großer Bruder und verhaut euch.
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I:[119:1261] Das konntest du nie sagen?
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[119:1262] Doch!
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I:[119:1263] Und hat er auch gemacht?
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[119:1264] Also, verhauen kann man nicht sagen, also er ist immer hingegangen und hat gesagt halt: laß meine Schwester in Ruhe, sonst gibt’s ’n paar!