Sozialpädagogische Einrichtungen [Textkritische interaktive Ansicht mit a als Leittext]
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5.2. Sozialpädagogische Einrichtungen

5.2.1 Begriff

[128:1] Jahrhunderte, Jahrtausende lang gab es im wesentlichen zwei gesellschaftliche Einrichtungen, die einem pädagogischen Zweck dienten: die Verwandtschaft (das Hauswesen, die Familie) und die Schule. Innerhalb des Verwandtschaftssystems lernte der Nachwuchs alles, was für die alltägliche Lebenspraxis, für die Teilhabe an der Kultur notwendig war. In den Schulen erwarb man – zumeist in beliebiger Altersmischung – spezielle Kenntnisse und Fertigkeiten, die nur für wenige nötig erschienen: für politische Eliten; für die Berufsgruppe der Schreiber in Kulturen, die über eine Schriftsprache verfügten; für Kaufleute Rechenschulen; für die Sorge um die religiöse Überlieferung Klosterschulen u.ä. Diejenige Art von Einrichtungen, die wir heute
sozialpädagogisch
nennen und in denen, über Familie und Schule hinaus, gesellschaftlich nötig scheinende speziellere pädagogische Zwecke verfolgt wurden, gibt es erst in nennenswertem Umfang und in deutlicher Konturierung seit ca. 150 Jahren. Man zählt dazu gegenwärtig so verschiedenartige Einrichtungen wie AKindergärten, Beratungsstellen, Heime, Straßen-Sozialarbeit, Freizeitheime, Jugendverbände.
[128:2] Lange Zeit war es strittig, ob man dafür den Ausdruck
sozialpädagogisch
verwenden solle. Im 19. Jahrhundert gab es zwei Varianten (vgl. Winkler 1988): Nach der einen Variante sollte die Sozialpädagogik die Einbettung jeder Form von Erziehung in die tatsächlichen gesellschaftlichen Zusammenhänge zum Gegenstand haben; da diese Einbettung aber von jedem Erziehungs- und Bildungsereignis behauptet werden |a 448|darf, wäre der Ausdruck Sozialpädagogik gleichbedeutend mit Pädagogik, sofern dies eine Wissenschaft ist, die sich um die Erkenntnis der gesellschaftlich tatsächlichen pädagogischen Verhältnisse bemüht. Nach der anderen Variante sollte die Sozialpädagogik all jene Probleme bearbeiten, die sich als pädagogisch relevante Folgen der
Sozialen Frage
herausstellten: Aufgaben, die damals vorwiegend unter dem Stichwort Pauperismus (Verarmung) diskutiert wurden und die die Vergesellschaftung der Erziehung, d.h. ihre Übertragung an öffentliche Instanzen, über die Schule hinaus betrafen. Diese Bedeutungsvariante hat sich schließlich durchgesetzt; 1929 erschien, als Teil des A von Herman Nohl und Ludwig Pallat herausgegebenen
«Handbuches der Pädagogik»
, der Band
«Sozialpädagogik»
(vgl. Nohl/Pallat 1929); er enthielt eine Erörterung derjenigen Probleme familialer und öffentlicher Erziehung, deren rechtliche Bestimmung vor allem im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG von 1922) vorgenommen worden war.
[128:3] Als
«Sozialpädagogische Einrichtungen»
galten also, nach damaligem gesetzlichen Sprachgebrauch, die Einrichtungen und Maßnahmen der Jugendwohlfahrtspflege, nämlich, nach dem |A 8|oben zitierten Handbuch: das Jugendamt/die Familienfürsorge, Kinderhorte und Tagesheime, die Jugendpflege, Einrichtungen der Heimerziehung, Erziehungsberatungsstellen, die Kriminalpädagogik. Dieser Katalog hat sich inzwischen erweitert und differenziert. Auch der alte Ausdruck
«Jugendwohlfahrtspflege»
ist nicht mehr gebräuchlich; statt dessen ist heute von
«Kinder- und Jugendhilfe»
die Rede, nun auch in der Neufassung des einschlägigen Gesetzes kodifiziert, des
«Kinder- und Jugendhilfegesetzes»
(KJHG von 1991). Das Spektrum der Einrichtungen und Maßnahmen ist groß, und deren Aufgabenstellungen sind durchaus verschieden. Für die Einrichtungen der Schulpädagogik lassen sich noch hinreichend viele Merkmale angeben, die ihnen allen gemeinsam sind; für sozialpädagogische Einrichtungen ist das kaum möglich. Zwischen einer Tagesstätte für Kleinkinder und einer Drogenberatungsstelle beispielsweise – beide werden heute als sozialpädagogische Einrichtungen bezeichnet – sind die Unterschiede derart groß, daß es nicht sinnvoll erscheint, für sie eine einheitliche
Theorie
entwerfen zu wollen. Der Ausdruck Sozialpädagogische Einrichtungen ist also ein Sammelname für höchst Verschiedenes, zusammengehalten nur durch die gesetzlichen Grundlagen und die entsprechenden Berufsausbildungen (Sozialpädagogik, Sozialarbeit). Die sozialpädagogische Forschung und die mit ihr einhergehende Konstruktion von Theorien kann immer nur Teile, Aspekte, Komponenten dieses heterogenen Feldes sich zuverlässig zum Thema machen.
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5.2.2 Geschichte

[128:4] Die Einrichtungen und die mit ihnen gegebenen Aufgaben sind zwar verschieden und sollten – innerhalb einer wissenschaftlichen Zivilisation – durch eine entsprechende Vielzahl von forschungsgestützten Theorien beschrieben und erklärt werden. Schaut man sich indessen ihre Geschichte an, dann scheint es, als könnten wir den Prozeß der Entstehung sozialpädagogischer Einrichtungen doch relativ einheitlich als kontinuierliche Vergesellschaftung der Erziehung beschreiben, über die Einrichtungen der Schule und der Familie hinaus, und dafür auch die historischen Ursachen benennen. Obwohl es manche Gründe geben mag, die Vorgeschichte sozialpädagogischer Einrichtungen auch im Mittelalter oder gar in der Antike aufzusuchen (etwa die Militärerziehung der Spartaner als außerschulische Bildung, die Findelhäuser des Mittelalters, die MönchsordenA), spricht viel dafür, den Anfang derartiger pädagogischer Bemühungen in den Stadtkulturen der frühen Neuzeit anzunehmen, auch wenn die volle Entfaltung der ursächlichen gesellschaftlichen Strukturen erst im 19. Jahrhundert sichtbar wurde. Es scheinen vor allem drei Strukturmerkmale der gesellschaftlich-kulturellen Entwicklung zu sein, die dazu beigetragen haben, daß, über mehrere Jahrhunderte hinweg, außer der Familie und der Schule ein verzweigtes System |A 9|von Erziehungsinstanzen entstehen konnte, das wir heute als die sozialpädagogischen Einrichtungen der Gesellschaft vorfinden und für selbstverständlich halten: die sich ausbreitenden Stadtkulturen, die fortschreitende Alphabetisierung und die Arascher werdende Zunahme der Bevölkerung in Europa im Verein mit immer differenzierter werdenden gesellschaftlichen Verhältnissen.
[128:5] Diese drei Faktoren, so kann man aufgrund der historischen Quellen vermuten, wirkten zusammen, als die ersten sozialpädagogischen Einrichtungen der europäischen Neuzeit entstanden: die Armengesetzgebung europäischer Städte und die an sie sich anschließenden Institutionen (Nürnberg 1522). Der Vorgang scheint ziemlich dramatisch gewesen zu sein (vgl. Sachsse/Tennstedt 1980). Die noch im Mittelalter vorherrschende Mentalität, nach der die Gabe an die Armen, das Almosen, etwas Gottgefälliges war und Adem Geber Heil versprach, zerbröckelte unter den nun, vor allem in den Städten, herrschenden Bedingungen des Tausches, des Marktes, des Geldes. Der Bevölkerungsanteil, der an der Armutsgrenze lebte, war beträchtlich; in manchen Städten machte er im 16. und 17. Jahrhundert die Hälfte der Stadtbewohner aus. Die Stadtverwaltungen versuchten, diese Massen zu ordnen, besonders den Zuzug von Armen aus den ländlichen Regionen zu drosseln. Sie unterschieden |a 450|zwischen ehrbaren unterstützungswürdigen Armen, die ohne eigene Schuld in Armut geraten waren (Tod des Ehegatten, zu viele Kinder, Hungersnöte, Krankheiten), und anderen, die nicht auf Unterstützung und Bleiberecht hoffen konnten. Es wurden Armenhäuser bzw.
«Zucht- und Arbeitshäuser»
, insbesondere Asolche für Kinder (z.B. Würzburg 1579, Bamberg 1588, Köln 1603, Lübeck 1579, Bremen 1596, Hamburg 1604) eingerichtet mit der Absicht, durch Arbeit eine ökonomische und kulturelle Eingliederung in die städtischen Milieus zu erreichen. Obwohl uns, nach heutigem Sprachgebrauch, derartige Kontroll- und Zwangsmaßnahmen nichts mit
Pädagogik
zu tun zu haben scheinen, war doch, nach damaligem Verständnis, hier durchaus Erzieherisches im Spiel: Die Klassifikation der Armen, ihre Kontrolle, die Absonderung der Kinder und die ihnen auferlegte Nötigung zur Arbeitsamkeit dienten nicht nur den städtischen Herrschafts- und Wirtschaftszielen, sondern folgten auch dem entstehenden Bild des städtischen Bürgers, seiner kulturellen GestaltA.
[128:6] Für dieses neue Bild des Stadtbürgers ist die zunehmende Alphabetisierung ein wichtiger Indikator. Zur gleichen Zeit, in der die Armenordnungen erlassen, die Armenhäuser eingerichtet wurden, stieg die Zahl der Schulgründungen sprunghaft an. In einigen Städten (z.B. Montpellier, AmsterdamA) wurden bereits im 17. Jahrhundert zwischen 40A und 50 Prozent Alphabeten gezählt; 150 Jahre vorher waren es noch höchstens zehn Prozent. Mit den Schulen – in der gleichen Zeit begann der Buchdruck seinen Siegeszug – änderten sich die pädagogischen Normen: Es ent|A 10|stand nicht nur die Erwartung, daß jeder Mensch lesen, schreiben und rechnen können sollte; er sollte dies auch innerhalb einer kalkulierbaren Lebensspanne lernen;
Zeit
wurde zu einem kostbaren Gut, nicht nur für den Kaufmann, sondern für jeden, der lernen wollte. Die Armen waren mithin derjenige Teil der Bevölkerung, der solchen Erwartungen nicht entsprechen konnte: Er vergeudete seine Zeit, anstatt sie durch Arbeitsamkeit produktiv zu verwenden, und er war analphabetisch. Man kann diese Zusammenhänge nicht nur an den Armen- und Schulordnungen jener Zeit studieren, sondern auch bei den damaligen Theoretikern, z.B. bei Erasmus von Rotterdam oder Johann Amos ComeniusA.
[128:7] Die europäische Bevölkerungsvermehrung (ca. 38,5 Mill. um das Jahr 1000, ca. 187 Mill. um 1800) vollzog sich in Schüben. Der kräftigste setzte zu Beginn des 18. Jahrhunderts ein. Schon früh läßt sich erkennen, daßA sich institutionelle Differenzierungen Aergeben, wenn die Zahlen steigen. Was man als pädagogische Aufgaben vor sich sah, war immer weniger nur im Milieu eines Hauswesens zu bewältigen; auch die Schulen reichten bald nicht mehr aus; denn je mehr Kinder und Jugendliche in die |a 451|Schulen geschickt wurden, desto größer wurde auch die Aufmerksamkeit für diejenigen, die mit dieser Einrichtung Schwierigkeiten hatten, und desto mehr entstand ein Bewußtsein davon, daß ein angemessenes modernes Erziehungssystem mehr Leistungen zu erbringen hat als die, die Familie und Schule bereitstellen. Schon früh fand man, allerdings nur gelegentlich, daß kindliche und jugendliche
Straftäter
anders behandelt werden sollten als erwachsene (z.B. Amsterdam 1596); für lange Zeit aber beschränkten sich die pädagogischen Maßnahmen zumeist auf Einsperrung und körperliche Arbeit (in den mittleren und östlichen Provinzen Brandenburg-Preußens gab es zwischen 1670 und 1776 34 Gründungen von
«Zucht- und Arbeitshäusern»
mit einer Platzzahl zwischen 30 und 500, davon vielleicht ein Drittel Kinder)
. Im 18. Jahrhundert aber erweiterte sich die pädagogische Phantasie (vgl. Blankertz 1982); zwei eindrucksvolle Beispiele sind August Herrmann Francke in Deutschland (1663–1727) und Johann Heinrich Pestalozzi (1746 bis 1827) in der Schweiz. Beide – obwohl in ihren Überzeugungen, ihren Einstellungen zu Kindern und durch den zeitlichen Abstand von drei Generationen sehr verschieden – nahmen an, daß nach wie vor in den familiären Haushalten der pädagogische Grund für die weitere Entwicklung des Kindes gelegt werde; auch sahen beide die schulische Unterrichtung als das Kernstück öffentlicher, letzten Endes vom Staat zu garantierender Erziehung und Bildung. Darüber hinaus Aschien ihnen unabweislich, daß eigentlich das ganze Leben des Kindes und des Jugendlichen pädagogischer Hilfe bedürfe und daß vor allem für solche Kinder Sorge zu tragen sei, die ohne besondere Anstrengungen der Gesellschaft nicht zu ihrem Recht kämen, weil die Normalformen von Familie und Schule ihnen nicht zur Verfügung stehen. Allein in Bayern gab es 1812 bereits mindestens 32 Einrichtungen der Heimerziehung mit insgesamt 1070 Kindern (vgl. Schwab 1992). Diese Perspektive war neu; sie war einerseits ein Moment der
Aufklärung
, also |A 11|des Bestrebens, die menschlichen Verhältnisse vernunftgemäß einzurichten; andererseits war sie Afunktional angesichts der nun tatsächlich einsetzenden Bevölkerungsvermehrung (im Gebiet des Deutschen Reiches: 1750 ca. 20 Millionen, 1900 ca. 60 Millionen). Ein wichtiges Dokument der Rechtsgeschichte ist in diesem Zusammenhang das
«Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten»
von 1794. An diesem Dokument wird allerdings auch die Zweideutigkeit erkennbar, die bis heute vielen sozialpädagogischen Einrichtungen anhaftet, z.B.
§ 7
:
«Veranlassungen, wodurch ein schädlicher Müßiggang, besonders unter den niederen Volksklassen genährt, und der Trieb zur Arbeitsamkeit geschwächt wird, sollen im Staate nicht geduldet werden»
. Man kann die Zweideutigkeit auf die einfache Formel |a 452|bringen, daß die sozialpädagogischen Einrichtungen eine gesellschaftliche Kontrollfunktion erfüllen sollten, durch Kasernierung, Zucht, Arbeit und religiöse Disziplinierung (A.H. Francke), und daß sie der Hilfe, Unterstützung und Erweiterung der Lebenschancen dienen sollten (J.H. Pestalozzi).
[128:8] Die durch die Aufklärung, also die Vernunfttheorien des 18. JahrhundertsA ins Spiel gebrachte neue pädagogische Perspektive führteA im 19. JahrhundertA zu einem immer detailreicher ausgefächerten System sozialpädagogischer Einrichtungen. Dabei begannen zwei Gesichtspunkte allmählich eine besondere Bedeutung zu erhalten: Die Kindheit, vornehmlich aber das Jugendalter rückten als eine Lebensphase in den Blick, deren eigentümliche Charakteristik im ganzen Erziehungssystem pädagogisch zu berücksichtigen sei; und: Auch die Pädagogik habe Sorge dafür zu tragen, daß die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten des ständisch-feudalen gesellschaftlichen Systems allmählich geringer würden,
«denn es wäre frevelhaft, die Erziehung so anzuordnen, daß die Ungleichheit absichtlich und gewaltsam festgehalten wird auf dem Punkt, auf welchem sie steht»
(Schleiermacher 1983, Bd. 1, S. 41)
. Diese beiden Gesichtspunkte, altersgemäße Formen der Erziehung und eine Orientierung an der republikanischen Gleichheitsidee, erreichten indessen die Praxis sozialpädagogischer Einrichtungen nur gelegentlich. Die geringsten Spuren davon zeigten sich in der Heimerziehung (vgl. Röper 1976), die noch bis in die Zeit der Weimarer Republik hinein zumeist durch den Zwang zur Arbeitsamkeit und religiös-kirchliche Disziplinierung gekennzeichnet blieb. Ein wenig Liberalität zeigte sich gelegentlich in den Anfängen der außerschulischen Jugendbildung, in Gesellen- und Jünglingsvereinen (vgl. Krafeld 1984, Schwab 1992). Am ehesten folgte die Einrichtung von Kindergärten jenen beiden Gesichtspunkten (vgl. Erning/Neumann/Reyer 1987): Nach einigen Vorläufern – z.B. die Kinderschule Johann Friedrich Oberlins (1740 – 1826) im Elsaß, die Kinderbewahranstalten in England, im Rheinland und in Westfalen, die pädagogischen Experimente der Frühsozialisten (z.B. Robert Owens Gründung in Schottland 1809) – eröffnete 1840 Friedrich Fröbel den ersten Kindergarten, dessen Aufgabe und Arbeitsweise |A 12|sich streng auf die Eigentümlichkeiten des Kindesalters (vor allem das Spiel) gründen sollte; aber obwohl Fröbel in seiner Theorie der Kindheit und des Kindergartens die Gesamtheit der entsprechenden Altersgruppe im Auge hatte und nicht nur die privilegierten bürgerlichen Schichten, blieben die Kindergärten für lange Zeit Einrichtungen, die von Proletarier-Kindern kaum besucht wurden; diese blieben weiterhin auf Bewahranstalten bzw. Volkskindergärten (seit 1869) angewiesen.
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[128:9] Das ist für sozialpädagogische Einrichtungen bis in die Gegenwart hinein charakteristisch geblieben: Sie sind Einrichtungen, die zum überwiegenden Teil auf Notlagen reagieren, auf Folgen gesellschaftlicher Strukturmerkmale (Armut, Ungleichheit, Industrialisierung, Landflucht, Verstädterung, Immigration, Drogenprobleme, Kriminalität usw.), von denen Kinder und Jugendliche besonders hart getroffen werden und die, wenn schon die Ursachen nicht beseitigt werden, wenigstens durch pädagogische Hilfen kompensiert werden sollen. Das wurde schon im 19. Jahrhundert am Beispiel der Familienfürsorge besonders deutlich, als – bedingt durch
Pauperismus
, Bevölkerungswachstum und
Proletarisierung
– die Zahl der in soziale Not geratenen Familien rasch anwuchs. Teils durch städtische Gemeinden, teils durch private
«Wohltätigkeitsvereine»
wurden Hilfemaßnahmen einer fallbezogenen Betreuung oder Beratung eingeleitet, die allerdings häufig in dem Konfliktfeld zwischen Kapitalinteressen, gerechter Sozialpolitik und pädagogischer Verantwortung nicht eindeutig Partei nahm für die Familien und ihre Kinder (z.B. das Elberfelder System 1853). Vordem gab es allerdings bereits vielfältige private Initiativen, besonders aus dem kirchlichen Bereich, beispielsweise aus den Anfängen der Inneren Mission, für die man exemplarisch die Aufzeichnungen von Johann Hinrich Wichern (1808 – 1881) studieren kann, im übrigen einer der wichtigsten Gründer von Erziehungsheimen (das
«Rauhe Haus»
in Hamburg 1833)A. Wichern besuchte, beriet und unterstützte über mehrere Jahre hinweg verarmte und in schwierigsten Verhältnissen lebende Familien im Hamburger Stadtteil St. Georg und führte darüber, was äußerst selten ist, genaue Protokolle.
[128:10] Am Ende des Kaiserreichs, also nach 1919, entstand eine neue Situation: Mit dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG von 1922) wurde versucht, fast den gesamten Bereich sozialpädagogischer Einrichtungen einheitlich zu regeln. Jedes Kind sollte nun ein
«Recht auf Erziehung»
haben; dafür sollten überall Jugendämter eingerichtet werden, die sich um eine befriedigende Versorgung mit sozialpädagogischen Einrichtungen zu kümmern hätten; die Aufgaben wurden als zwei große Bereiche unterschieden, als Jugendfürsorge (Einrichtungen für irgendwie in Not geratene Kinder und Jugendliche) und Jugendpflege (Einrichtungen der außerschulischen Jugendbildung, vor allem Jugendverbände, Freizeiteinrichtungen). |A 13|Ein Jahr später wurde das erste Jugendgerichtsgesetz erlassen (JGG von 1923), nach dem nun erstmalig alle straffällig werdenden Jugendlichen nach einem besonderen Gesetz behandelt werden mußten, in dem die Erziehungsaufgabe neben den Strafzweck rückte; das fand seinen sichtbarsten Ausdruck in der Einrichtung von Jugendstrafanstalten, in denen man versuchte, unter den eigentlich erziehungswidrigen |a 454|Umständen der strafweisen Einsperrung pädagogischen Gesichtspunkten Geltung zu verschaffen.
[128:11] Diese beiden gesetzlichen Regelungen (RJWG und JGG) waren eine Folge und eine Begleiterscheinung von zwei wichtigen Vorgängen in den ersten 25 Jahren des 20. Jahrhunderts: den bürgerlichen sowie Asozialistischen Jugendbewegungen und der pädagogischen Reformbewegung. Die verschiedenen Jugendbewegungen, die sich bald verbands- oder vereinsartig organisierten, brachten den Anspruch zur Sprache, schon im Jugendalter ein eigenständig-sinnhaftes Leben zu gestalten, ohne Bevormundung durch die erwachsene Generation. Die pädagogische Reformbewegung versuchte, den Anspruch auf eine kind- und jugendgemäße Pädagogik in der Gestaltung der sozialpädagogischen Einrichtungen zu verwirklichen – vor allem in den Kindergärten, in der Familienfürsorge, in den Erziehungsheimen, im Jugendstrafvollzug.
[128:12] Das alles war gut gemeint. Aber schon bei der Auslegung und Anwendung jener beiden Gesetze stellten sich große Schwierigkeiten ein, und die Reformbemühungen in den Einrichtungen blieben auf wenige beschränkt. Vor allem konnte bis heute der Konflikt nicht gelöst werden, der die meisten sozialpädagogischen Einrichtungen belastet: Können sie wirklich dem pädagogischen Grundsatz folgen, nur der Förderung und Unterstützung in entwicklungsschwierigen Lebenslagen zu dienen – oder sind sie nicht immer oder zumeist auch Eingriff, Kontrolle, Disziplinierung im Hinblick auf den Normalitätsentwurf, den die Gesellschaft bevorzugt, d.h. im Hinblick auf diejenigen Vorstellungen von einem richtigen, guten Leben, die die Mehrheit der Bürger sich macht?

5.2.3 Beschreibung sozialpädagogischer Einrichtungen der Gegenwart

[128:13] Die Sozialpädagogik – bzw. in der Terminologie der Rechtspraxis die Kinder- und Jugendhilfe – hat also Erziehungsprobleme zum Thema, die außerhalb des relativ dauerhaft etablierten Schulsystems auftauchen. Von welcher Art diese Probleme sind und wie man auf sie vernünftigerweise durch pädagogische Maßnahmen und Einrichtungen reagieren sollte, läßt sich naturgemäß viel schwerer vorhersagen als im Falle der Schule. Daraus folgt, daß diese Einrichtungen in Art und Aufgabenstellung rasch wechseln, denn sie müssen sich ja den wechselnden gesellschaftlichen Bedingungen immer wieder neu anpassen. Dem versucht das seit 1991 gel|A 14|tende Kinder- und Jugendhilfegesetz Rechnung zu tragen: Es enthält einen sehr differenzierten und flexiblen Katalog von Ein|a 455|richtungen und Maßnahmen, der es erlaubt – trotz vieler Einwände, die gegen dieses Gesetz vorgetragen werden –, beweglich auf neue Problemlagen zu reagieren. Aus den letzten 30 Jahren kennen wir einige wichtige Vorgänge, an denen dieses Grundproblem sozialpädagogischer Einrichtungen deutlich wird, z.B.:
  • [128:14] Seit etwa 1965 zeigte sich, daß Jugendämter und Jugendverbände allein nicht in der Lage sind, eine den Interessen der Jugendlichen dienliche Versorgung mit Freizeiteinrichtungen sicherzustellen; es entstanden selbstverwaltete Jugendzentren für
    unorganisierte
    Jugendliche, aber mit dem Anspruch auf öffentliche Unterstützung.
  • [128:15] Im Zusammenhang mit der sog. Individualisierung von Lebenslagen, d.h. der Vereinzelung der Menschen, und der von Nachbarschaften und anderen unterstützenden Sozialmilieus zunehmend isolierten Situation von Familien entstand ein Beratungsbedarf, der inzwischen über die traditionelle Erziehungsberatung weit hinausgeht und zu einem breit gefächerten System von Beratungseinrichtungen geführt hat.
  • [128:16] Die Unzulänglichkeiten der Heimerziehung, insbesondere im Hinblick auf die Selbständigkeitsansprüche von Jugendlichen, machten neue Formen der Betreuung und des gemeinsamen Wohnens erforderlich; so wurden nach 1970 kleine Jugendwohngemeinschaften eingerichtet, die für viele Jugendliche an die Stelle der vordem üblichen Großheime traten.
  • [128:17] Seit den 70er Jahren nahm das Problem des Drogengebrauchs und der Drogenabhängigkeit von Jugendlichen derart zu, daß das Fehlen vernünftiger Hilfen und Reaktionen immer offensichtlicher wurde. Es entstanden nicht nur vielfältige Einrichtungen der Drogentherapie, sondern ein bis heute andauernder Streit darüber, welche Theorien die überzeugendsten wären und welche Formen der Beratung, Begleitung, Hilfe, Therapie am ehesten Erfolg versprechen.
  • [128:18] War vor vier Jahrzehnten noch die Zahl der Haushalte, in denen Kinder von nur einem Elternteil erzogen wurden, so gering, daß keine besonderen Maßnahmen erforderlich zu sein schienen, ist die Lage heute schon erheblich anders: In ungefähr jedem siebten Haushalt in der Bundesrepublik Deutschland werden Kinder von nur einem Elternteil, zumeist den Müttern, versorgt. Da die normierende Funktion der alten bürgerlichen Kleinfamilie abzunehmen scheint, muß man mit weiterem Anwachsen solcher Haushalte rechnen. Dadurch entsteht ein sozialpädagogischer Bedarf, auf den gegenwärtig mit vermehrten Kinderkrippen und Kindergartenplätzen reagiert wird, aber auch durch private nachbarschaftliche Einrich|A 15|tungen, mit der Kooperation |a 456|mehrerer Haushalte zur Kinderbetreuung, auch durch die Einrichtung von Tagesmüttern (nur in wenigen Bundesländern) usw.
  • [128:19] Schon in den 20er Jahren in zunächst wenigen städtischen Ballungszentren, seit 1960A in jeder Stadt wurde sichtbar, daß die Siedlungsarchitektur unserer Städte den Spielraum für Kinder zunehmend liquidiert. Die sozialpädagogische Reaktion bestand in der Einrichtung von Kinderspielplätzen in den verschiedenen Stadtquartieren, zumeist mit einer Standardausrüstung von Spielgeräten, die zwischen Konstanz und Flensburg zum Verwechseln ähnlich sind, häufig auch durch hohe Drahtzäune umgrenzt. Heute fragt man sich, ob das richtig war und ob eine sozialpädagogische Verantwortung von Stadtarchitekten und Gemeindeverwaltungen nicht zu anderen Lösungen der Städtebau- und Sanierungsplanung führen müßte.
[128:20] Dies sind nur einige Beispiele dafür, wie gesellschaftliche Veränderungen einen veränderten sozialpädagogischen Bedarf erzeugen und wie, als Reaktion auf diesen Bedarf, neue Einrichtungen entstehen, denen man zutraut, eine pädagogisch verantwortbare Hilfe zu sein (vgl. Müller 1982). Im folgenden kann also nur der gegenwärtige Stand beschrieben werden, und zwar in typisierender Auswahl. Schon in 30 weiteren Jahren kann die Lage anders sein.

5.2.3.1 Familienergänzende Einrichtungen der Kinderpflege, -erziehung und -bildung

[128:21] Daß die Familie allein nicht mehr ausreicht, um den Kindern ihr
Recht auf Erziehung
zuverlässig zu sichern, ergibt sich bereits aus den folgenden Tatsachen: Schon vor dem Eintritt in die Schule brauchen Kinder den Kontakt mit Gleichaltrigen – was, angesichts der zunehmenden Privatisierung der familialen Haushalte, ohne zusätzliche Bemühungen sehr häufig nicht möglich wäre; die Zahl der Fälle, in denen nicht nur der Vater, sondern auch die Mutter berufstätig ist, steigt und erfordert deshalb häufig schon im frühen Alter eine wenigstens stundenweise außerfamiliale Versorgung der Kinder; manche Kinder wachsen unter Familienbedingungen heran, die selbst dann als wenig förderlich beurteilt werden können, wenn generell immer noch unterstellt werden darf, daß die Familie das vergleichbar beste Erziehungsmilieu für Kleinkinder ist. Es gibt gegenwärtig, sehr grob klassifiziert, drei Einrichtungen, die auf diese Situation reagieren: sog. Kinderkrippen, Tagesmütter bzw. Spielkreise sowie Kindergärten.
[128:22] Kinderkrippen sind Einrichtungen für Kleinstkinder im Alter von ca. einem halben Jahr bis zum Alter von drei Jahren. Sie sind, ähnlich wie die Kinderbewahranstalten zu Beginn des 19. Jahrhunderts, für solche Fami|a 457|lien gedacht, die wegen Berufstätigkeit der Mütter und/oder |A 16|Väter den Tag oder Halbtag über auf diese Hilfe angewiesen sind. Die Zahl dieser Einrichtungen ist zwar gering; die damit aufgeworfenen Probleme aber sind ziemlich interessant.
[128:23] Vor der Vereinigung 1990 gab es im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland in Kinderkrippen und Krabbelstuben etwas mehr als 28 000 Plätze; das bedeutet: Etwas mehr als ein Prozent der Kinder im Alter Abis zu drei Jahren sind tagsüber in einer solchen Einrichtung untergebracht. Ungefähr die Hälfte dieser Einrichtungen hat weniger als 20 PlätzeA (1132 solcher Einrichtungen gab es 1990). Im Durchschnitt wurden über vier Kinder von einer Erziehungsperson betreut. Von den rund 6900 Beschäftigten waren 1990 nur 2,5 Prozent männlichen GeschlechtsA.
[128:24] Diese nüchternen Zahlen geben einiges zu denken auf. Seit Jahrzehnten gibt es einen Streit darüber, ob diese außerfamiliale Unterbringung von Kleinkindern pädagogisch überhaupt gerechtfertigt werden kann. Die einen behaupten, es sei schädlich, wenn das Kind in diesem Alter, und sei es nur während des Tages, in eine familienfremde Umgebung versetzt wird und die wichtigste Bezugsperson, die Mutter, entbehren muß; sie betrachten Krippen und Krabbelstuben deshalb als ein zwar gelegentlich notwendiges, aber möglichst zu vermeidendes Übel. Die anderen sehen darin ein
familistisches
Vorurteil und meinen, daß das Kind durchaus nicht unter der vorübergehenden Mutter-Entbehrung leiden müsse, ja daß es einen Entwicklungsgewinn bedeute, wenn es sehr frühzeitig, in leichter Distanzierung von der Mutter oder den Eltern, sich auf Gleichaltrige beziehen könne, und daß gerade auch der Wechsel der Bezugspersonen der Selbständigkeit förderlich sei (vgl. Schmalohr 1980). Diese Frage istA schwer zu entscheiden, wie die teils sehr heftigen Diskussionen zeigen. Ähnlich schwierig ist die Frage, ob Frauen in solchen Einrichtungen besser am Platz sind als Männer; unsere kulturelle Gewohnheit hat dazu geführt, daß in diesen Einrichtungen fast nur Frauen tätig sind. Läßt sich das mit pädagogischen Argumenten rechtfertigen, oder muß auch dies als Folge eines männlichen Vorurteils zurückgewiesen werden? Die Hälfte der Einrichtungen hat mehr als 20 Plätze, nur ca. 25 Prozent haben bis zu zehn Plätze. Ist, so kann man fragen, die pädagogische Qualität einer Einrichtung abhängig von ihrer Größe? Muß nicht wenigstens im Hinblick auf die Zahl der Kinder eine gewisse Familiennähe gewahrt werden?
[128:25] Die letzte Frage hat, neben anderen, dazu geführt, daß in jüngster Zeit vermehrt Spielgruppen entstanden, zumeist durch private Initiativen, und daß die Institution der Tagesmütter in vielen Städten eingeführt wurde: Eine Frau, zumeist mit eigenen Kindern, nimmt am Tage oder |a 458|auch nur stundenweise mehrere andere Kinder (3 – 6) in ihrer Wohnung auf; die Ge|A 17|samtpersonenzahl bleibt ungefähr auf dem Niveau einer großen Familie. Aber selbst diese Einrichtungsart hat heftige Kontroversen ausgelöst.
[128:26] Am wenigsten strittig ist die Einrichtung des Kindergartens. Seit seiner Begründung in der Mitte des 19. Jahrhunderts ist die Zahl der Kindergärten ständig gewachsen. Sie werden heute ergänzt durch Kinderhorte und Tageseinrichtungen, auch durch Einrichtungen für behinderte Kinder, in denen bereits schulpflichtige Kinder pädagogisch betreut werden (1990: ca. 25 200 Kindergärten, ca. 3400 Kinderhorte, ca. 1400 Spielkreise, ca. 620 Einrichtungen für behinderte Kinder). Allerdings steht nur in wenigen Städten und Regionen jedem Kind auch ein Platz in diesen Einrichtungen zur Verfügung; zumeist liegt die Versorgung zwischen 65A und 80 Prozent. Man kann das für zu gering halten mit dem Hinweis darauf, daß jedem Kind ein Platz zustehen sollte, so wie auch jedes Kind ein Recht auf Unterricht/Schulbesuch hat; man kann das aber auch – wenn nur der regional unterschiedliche Bedarf entsprechend befriedigt wird – für ausreichend halten; denn immerhin bedeutet ja die zunehmende
Vergesellschaftung
der Erziehung auch eine Art Schwächung der privat-familialen Erziehungskräfte. Über derartige Fragen, auf beiden Seiten mit Gründen, wird gestritten. Nicht gestritten wird mehr darüber, daß Kindergärten und Horte pädagogisch-professionell zu betreibende Einrichtungen sind, wenngleich mehrere Konzepte sich in Konkurrenz zueinander befinden. Dürfen die pädagogischen Vorstellungen AFröbels immer noch Geltung beanspruchen, nach denen eine auf sorgfältiger Beobachtung der Spieltätigkeit des Kindes beruhende (
phänomenologische
)
Theorie des Spiels die AGrundlage zu sein habe, gekoppelt mit einer vielen Kritikern heute als
sozial-romantisch
erscheinenden Vorstellung vom Leben des Kindes? Hatte die italienische Kindergartengründerin Maria Montessori (1880 – 1952) recht, wenn sie für die Erziehung im Kindergarten auf die Wachstumskräfte des Kindes vertraute und dessen Unabhängigkeit und Selbständigkeit vornehmlich durch Spiel- und Lernmaterialien bilden wollte, die die Sinnes- und Verstandestätigkeit herausfordern? Hat die psychoanalytische Kindergartenpädagogik recht, wenn sie Triebbeschränkungen aufzuheben wünscht, den
repressiven
, d.h. triebunterdrückenden Charakter der bürgerlich-kleinfamilialen Erziehung kritisiert und auf die Selbstregulierungen vertraut, die die Kinder in ihren Gleichaltrigengruppen vornehmen? Haben schließlich jene recht, die die Entfernung des pädagogischen Milieus im Kindergarten von der Alltagswirklichkeit des modernen Kindeslebens beklagen und deshalb die
wirklichen
Lebenssituationen (Konflikte in |a 459|der Familie, Erfahrungen mit dem Konsum, Krankheit und Tod, Aggression und Verträglichkeit etc.) zum Thema des pädagogischen Umgangs machen möchten? Oder ist die Waldorf-Pädagogik, von Rudolf Steiner (1861 – 1925) begründet, der Königsweg der Kindererziehung, nach der für das Alter der Abis zu Siebenjährigen |A 18|die
Nachahmung
und die damit gegebene Phantasieanregung das wichtigste Entwicklungsprinzip sei, woraus u.a. folge, daß die ästhetische und moralische Gesamtgestalt der Umwelt des Kindes, von den Naturmaterialien der Inneneinrichtungen bis zu den Körpergesten der Erwachsenen, das wichtigste Erziehungsmittel ist?
[128:27] Derartige Kontroversen zeigen, daß die Einrichtung des Kindergartens inzwischen, wie vordem schon die Schule, eine große Dichte und Ernsthaftigkeit der Diskussion hervorgebracht hat. Daß für die Fragen der Gestaltung von Kindergärten nicht nur wissenschaftliche Forschung über die Entwicklung, die Kompetenzen, die Lernchancen von Kindern notwendig ist, sondern in sie auch Weltsichten hineinspielen, die wissenschaftlich vielleicht nicht entscheidbar sind, gehört zur Natur der Sache: Ob man die Kindheit vor dem Schuleintritt überhaupt institutionalisieren soll oder nicht, wie sich die erwachsene Generation einen vernunftförmigen Umgang mit kleinen Kindern denkt, wie eine Kultur sich auf das nachwachsende Lebendige bezieht, auf die Tatsache ihrer sowohl biologischen als auch kulturellen Erneuerung – diese Fragen sind kaum nur mit den Mitteln der wissenschaftlichen Argumentation zu entscheiden. Sie erfordern ein begründetes (geschichtspraktisches) Wollen.

5.2.3.2 Einrichtungen der außerschulischen Jugendbildung

[128:28] Den weitaus größten Teil der wachen Zeit während eines Tages verbringen junge Menschen in unserer Kultur, wenn sie älter sind als zwölf Jahre, in der Schule, in anderen Arten von Ausbildung und in deren Diensten. Es bleibt ein Spielraum, der häufig als Freizeit bezeichnet, in seinem Ausmaß aber auch gelegentlich überschätzt wird. Jedenfalls hat unsere Gesellschaft für diese Lebensräume im Jugendalter vorgesorgt: Es ist selbstverständlich geworden, daß es in allen, wenigstens den städtischen Gemeinden Sportvereine gibt, andere Jugendverbände, kommunale Freizeithäuser, selbstverwaltete Jugendzentren, für größere Regionen auch Jugendbildungsstätten mit einem tage- oder wochenweise organisierten Angebot von Veranstaltungen der politischen, Aästhetischen, Alebenspraktischen oder andersartigen Bildung, schließlich Maßnahmen der Jugenderholung. Dieses Einrichtungs- und Maßnahmenspektrum klingt eindrucksvoll. Die Zahl der Jugendlichen, die es erreicht, ist indessen wesentlich geringer, als die öffentliche Diskussion gelegent|a 460|lich glauben macht: Im Jahre 1988 gab es ca. drei Millionen Jugendliche, die in der einen oder anderen Form von diesem Typus von Einrichtungen mit öffentlicher finanzieller Förderung Gebrauch machten; weit mehr als die Hälfte davon nahm an Erholungs- bzw. Ferienmaßnahmen teil. Für Einrichtungen der außerschulischen Jugendbildung im engeren Sinne blieben nur etwas mehr als eine Million Jugendliche für das |A 19|gesamte Gebiet der damaligenA Bundesrepublik (1988); das heißt, daß ungefähr jeder fünfte Jugendliche von einer derartigen Einrichtung Gebrauch machte. Welche Einrichtungen sind es nun, die innerhalb dieses Angebotes eine pädagogisch wichtige Rolle spielen?
[128:29] Da gibt es zunächst diejenigen Einrichtungen, man kann sie zusammenfassend als Jugendgruppen bezeichnen, die, häufig im Anschluß an eine Erwachsenenorganisation, sich als Verbandsjugendarbeit formieren: Sportvereine bzw. -verbände, Kirchen, Parteien, Wohlfahrtsverbände, freie Jugendverbände und Jugendbünde. Je nach Verbands- oder Vereinszweck ist die Arbeit in solchen Gruppen A(die Gruppengröße bleibt zumeist unter 25 Teilnehmern) in der Regel spezialisiert und auf einen loyalen Nachwuchs bzw. einen allgemeinen Bildungszweck hin orientiert: die Sportvereine für Leibesübungen und den Nachwuchs für den Leistungssport, kirchliche Gruppen innerhalb von Kirchengemeinden oder religiös interessierten Jugendverbänden, Nachwuchs-Gruppen für politische Parteien, aber auch solche Gruppierungen wie Adie Feuerwehrjugend (vorwiegend in ländlichen Regionen) oder, schon seit der Jahrhundertwende bedeutend, die Pfadfinderjugend. Die Arbeit in diesen Einrichtungen/Jugendgruppen ist zumeist ehrenamtlich, ist nur über die Verbandsorganisation institutionalisiert, wird aber durch öffentliche Finanzierung ermöglicht. Sie haben eine gemeinsame Interessenvertretung in den örtlichen und regionalen Jugendringen bis hin zum zentralen Bundesjugendring. Der Status der Ehrenamtlichkeit von Mitarbeitern/Gruppenleiterinnen schließt ein, daß eine professionelle Ausbildung nicht erforderlich ist, abgesehen von den Funktionären der Verbände.
[128:30] Man kann darüber streiten, ob Subventionen aus öffentlichen Mitteln für jene Art von Einrichtungen notwendig sind – jedenfalls befriedigen sie offensichtlich einen Bedarf; und diese Befriedigung genießt nach dem KJHG einen Rechtsanspruch. Etwas anders ist die Lage bei solchen Einrichtungen, die nicht einem Verband eingeordnet sind, sondern die sich an Jugendliche überhaupt wenden, unabhängig davon, ob diese organisiert sind oder nicht. Für ihre Gründungen (nach einigen Vorläufern während der Weimarer Republik in Hamburg und Berlin setzte eine flächendeckende Verbreitung erst in der Phase zwischen 1955 und 1965 ein) gab es vor allem zwei Motive: Die Zahl der jugendlichen Mitglieder in |a 461|Verbänden und Jugendbünden ging stark zurück, und es bildete sich ein nachdrückliches Interesse der Pädagogik an einem Bildungsangebot für Jugendliche heraus, das Treffpunkte, Kommunikationsmöglichkeiten und inhaltlich gerichtete Interessenbildung ermöglichte, und zwar für im Prinzip alle Jugendlichen, ohne zugleich eine organisierte Bindung zur Voraussetzung zu machen. Diese Einrichtungen hießen beispielsweise Freizeitheim, Jugend-Café, Heim der offenen Tür, Jugendzentrum o.ä. In der Folge dieser Motive und der kommunalen Entwicklungen gibt es heute vornehmlich drei Typen derartiger Einrichtungen: Häuser, die von der politischen Gemeinde unterhalten werden und ein grundsätzliches pluralistisches Angebot machen (vom Moped-Reparieren bis zur politischen Diskussion); Häuser bzw. Einrichtungen, die von einem Verband (z. B. einer Kirche) betrieben werden und die mal mehr, mal weniger pluralistisch angelegt sind, jedenfalls aber die Verbandsziele nicht verleugnen; Einrichtungen, die entschieden und programmatisch sich von
denen da oben
(Stadtverwaltung, Verbandsfunktionäre) unterscheiden wollen, sich deshalb
selbstverwaltet
nennen und die eigenen Interessen, zunächst und zumeist die der Gründungsgruppe, offensiv zur Darstellung bringen. Man könnte meinen, daß der dritte Einrichtungstyp hochselektiv ist, die anderen dagegen nicht. Dies ist nicht der Fall. Schon in den 60er Jahren zeigte sich, daß – je nach Standort, Mitarbeitern, Ausstattungen, Angebot – nach kurzer Zeit eine relativ homogene Gruppe von Jugendlichen diese oder jene Einrichtung besuchte: eine von den Betreibern häufig nicht beabsichtigte Auslese also, nach Kriterien der sozialen Schichtzugehörigkeit, des subkulturellen Stils, der politischen Orientierung oder anderen.
[128:31] Ein dritter Einrichtungstyp der außerschulischen Jugendbildung sind die in der Art von Tagungsheimen angelegten Jugendbildungsstätten. Es gibt davon in der Bundesrepublik derzeit ungefähr 30. Das ist zwar eine kleine Zahl; sie erfüllt aber im Rahmen der außerschulischen Jugendbildung sehr wichtige Funktionen: Es sind einerseits Orte des didaktischen Experimentierens mit neuen Erfahrungen des Jugendalters, neuen Themen, neuen Bildungskonzepten. So reagierten diese Einrichtungen in den letzten 30 Jahren immer sehr rasch auf veränderte Problemlagen: offene Jugendarbeit versus Verbandsjugendarbeit (ca. 1955), Bildungsarbeit mit Arbeiterjugendlichen (ca. 1960), politische Bildung und Konflikte in der betrieblichen Berufsausbildung (ca. 1965), kapitalismus-kritische Bildung (ca. 1970), ästhetische und subkulturelle Problemstellungen (seit ca. 1975), Gewalt im Jugendalter, historische Spurensuche, Regionalisierungen, Probleme der Multikulturalität (seit 1985); und sie brachten immer neue pädagogische Phantasie ins Spiel im Hinblick auf |a 462|die Frage, wie unter knappen Zeitbedingungen (in der Regel nur wenige Tage) ein Thema derart stimulierend behandelt werden kann, daß die jugendlichen Teilnehmer auch noch nach der Rückkehr in ihren familiären, schulischen oder beruflichen Alltag einen produktiven Bildungsimpuls behalten. Andererseits erfüllen die Einrichtungen eine multiplikatorische Aufgabe: Sie sind Stätten der haupt- und ehrenamtlichen Fortbildung für diejenigen Berufsgruppen, die sonst in der außerschulischen Jugendbildung tätig sind; auch in dieser Funktion sind sie also ein Umschlagplatz für neue Problemstellungen |A 21|und Erfahrungen, für theoretische Reflexion, für praktische Perspektiven. In solchen Hinsichten spielten in den letzten Jahrzehnten beispielsweise der
«Jugendhof Steinkimmen»
in der Nähe Bremens, die
«Musische Bildungsstätte Remscheid»
, das
«Evangelische Studienzentrum Josefstal»
am Schliersee in Bayern, der
«Jugendhof Dörnberg»
bei Kassel eine besondere Rolle. Die wichtigsten Anstöße für eine Theorie der außerschulischen Jugendbildung kamen aus diesen und ähnlichen Einrichtungen.

5.2.3.3 Einrichtungen der Heimerziehung

[128:32] Die Erziehung von Kindern und Jugendlichen außerhalb der Familie in Heimen ist, neben der Unterbringung von Kindern in Pflegefamilien, wohl die älteste sozialpädagogische Institution. Obwohl sie in den letzten 200 Jahren viele Veränderungen erfahren hat, sind ihre grundlegenden Strukturmerkmale gleichgeblieben (vgl. Colla 1981): Häuser mit zumeist weit mehr als 20 Plätzen für verschiedene Altersgruppen; als relativ selbständig wirtschaftende
Hauswesen
; mit einem zum Empfang öffentlicher Finanzmittel berechtigten Träger; mit einem professionell ausgebildeten Erziehungspersonal; mit in der Regel mehrjähriger Verweildauer der Kinder und Jugendlichen; mit rechtlichen Grundlagen für deren Unterbringung; mit einer
Indikation
, d.h. mit der Maßgabe zu rechtfertigen, warum die Unterbringung eines Kindes oder Jugendlichen geboten scheint. Nahezu alles, was in der Heimerziehung an Veränderungen geschah, entzündete sich an diesem letzten Strukturmerkmal: Unter welchen Bedingungen ist es wirklich verantwortbar, ein Kind aus seiner vertrauten Umgebung herauszunehmen und in einem Heim unterzubringen?
[128:33] Zunächst wieder einige Zahlen, um den Umfang der Problematik deutlich zu machen (hier wie auch im Hinblick auf die anderen Einrichtungen vgl. immer die regelmäßigen Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes Wiesbaden, Fachserie 13, Reihe 6): 1990 gab es im früheren Bundesgebiet ungefähr 2500 derartige Einrichtungen mit zusammen etwas mehr als 68 000 Plätzen. Ca. ein Drittel dieser Einrichtun|a 463|gen wurde von kirchlichen Trägern betrieben, ein weiteres Drittel von anderen Vereinen und Verbänden, das restliche Drittel von den Gemeinden und Ländern. Diese Angaben sind nur deshalb interessant, weil sie im historischen Vergleich eine Veränderung anzeigen: Die Zahl der Einrichtungen der kirchlichen Träger hat beispielsweise, zugunsten von kleineren Vereinen, abgenommen; man könnte daraus folgern, daß der Einfluß kirchlicher Vorstellungen auf die Erziehung in sozialpädagogischen Einrichtungen geringer geworden ist, etwa im Vergleich zum Beginn des Jahrhunderts; es könnte aber ebensogut sein, daß christliche Erziehungsgrundsätze, vom Sadismus der früheren kirchlichen Anstalten befreit, sich nun verallgemeinern konnten. Wie dem auch sei: Die Zahlen allein geben schon Anlaß, darüber nachzudenken und zu forschen, welcher Art die |A 22|Veränderungen sind, die wir beobachten können. Die Zahl der insgesamt verfügbaren Plätze hat sich vielleicht und ganz ungefähr seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts proportional verdoppelt (die genauen Zahlen sind derzeit wegen fehlender historischer Forschung unbekannt). Womit hängt das zusammen? Hat die Hilfsbereitschaft von Verwandtschaften und Nachbarschaften nachgelassen? Sind die Kontrollinteressen der Gesellschaft nachdrücklicher geworden? Hat unsere Sensibilität für schwierige Lebenslagen zugenommen? Übrigens ist seit ca. 1983 wieder ein stetiger, wenngleich proportional unbedeutender Rückgang der Gesamtplatzzahlen zu beobachten.
[128:34] Wahrscheinlich spielen alle diese Komponenten eine Rolle. Der Rückgang der Heimplätze geht einher mit zunehmender Differenzierung des pädagogischen Angebots. Das hängt vermutlich damit zusammen, daß man seit langem schon bestrebt ist, Heimunterbringungen möglichst zu vermeiden und statt dessen AKindern und ihren Familien ambulante Hilfen anzubieten: beratende Unterstützung, therapeutische Angebote, betreute Wohngelegenheiten für Jugendliche usw. Einer solchen Maßnahmendifferenzierung entspricht es, wenn auch die Heime sich sorgfältig überlegen, welche Art von Kindern und Jugendlichen sie fördern wollen und können. So entstand einerseits eine Spezialisierung der Einrichtungen, andererseits eine Differenzierung der heiminternen Erziehungs- und Therapiewege. Es gibt Heime für solche Kinder und Jugendliche, die unter unzumutbaren familiären Bedingungen leben und für die es deshalb förderlicher scheint, in einem Heim untergebracht zu werden, das notfalls für sie auch eine Langzeitunterbringung bis zur sozialen und ökonomischen Selbständigkeit bereitstellt. Daneben gibt es Heime, deren Klientel in ihrem Verhalten vorwiegend durch somatische, also Leib- und Hirnstörungen beeinträchtigt ist und deshalb einer besonderen heilpädagogischen Behandlung bedarf; in solchen Fällen besteht die Hoff|a 464|nung, daß eine Behandlung von wenigen Jahren ausreichen könnte, um die Beeinträchtigung so zu mindern, daß das Kind wieder in seine Familie zurückkehren kann. Ähnliche Hoffnung besteht in solchen Heimen, die Kinder mit Aneurotischen Störungen aufnehmen und sich auf psychotherapeutische Behandlungsverfahren spezialisiert haben. Zwar wird auch in solchen Fällen eine Rückführung in die Familie etwa nach höchstens zwei Jahren angestrebt; da aber gerade die Verhältnisse in der Familie die Verhaltensbeeinträchtigung mit hervorgerufen haben, muß auch hier häufig eine längere Heimunterbringung vorgesehen werden. Schließlich gibt es Heime, zumeist nur für Jugendliche, die eine Klientel aufnehmen, die schon in anderen Einrichtungen und Maßnahmen betreut wurde, bis dahin aber vergeblich; in der Regel handelt es sich dabei um Jugendliche mit mehrfacher psycho-sozialer Belastung, häufig auch als schwer
verwahrlost
oder
kriminell
bezeichnet.
|A 23|
[128:35] In allen solchen Fällen ist es schwer, eindeutige Diagnosen zu erstellen und also auch eindeutige Erziehungs- bzw. Therapiepläne zu entwerfen. Die Einrichtungen gehen deshalb häufig dazu über, ihre Erziehungs- und Behandlungspraktiken intern zu differenzieren: psychoanalytische Therapie, Verhaltenstherapie, Heilpädagogik, Behandlungsformen mit verschiedenen ästhetischen Medien, Kunst- bzw. Gestaltungstherapie, Spieltherapie, Gesprächstherapie u.a. Ein gutes Heim ist heutzutage also eine Einrichtung, die kompetente Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter braucht, die höchst schwierige Kinder und Jugendliche akzeptieren können, aber die auch wissen, daß Liebe allein nicht genügt, sondern daß professionelle Kenntnisse und Fähigkeiten notwendig sind, um den Aufgaben gerecht zu werden (vgl. Bettelheim 1970). Das darf allerdings nicht zu übertriebener Spezialisierung und Zerstückelung ausarten.
[128:36] Jedes Heim ist eine Haushaltseinheit, braucht einen
Stil
, muß ein im ganzen lebenswertes Milieu präsentieren. Man hat dies einmal therapeutisches Milieu genannt. Der Ausdruck ist aber irreführend. Für den Pädagogen – er oder sie sind ja keine einschlägig ausgebildeten
Therapeuten
– ist entscheidend, daß sie oder er es vermag, die Lebensumwelt solcher Kinder als Ganzes so zu gestalten, daß Entwicklungsmöglichkeiten sich eröffnen, die diesen Kindern und Jugendlichen sonst nicht zur Verfügung stehen. Diese Gestaltungsaufgabe erstreckt sich von den personalen Beziehungen (in welchen Hinsichten darf sich der Pädagoge/ die Pädagogin an die Stelle der natürlichen Eltern setzen?) über die Architektur solcher Einrichtungen, die bevorzugten Tätigkeiten, die Fragen der materiellen Versorgung wie Adas Kochen bis hin zu der Wahl von Möbeln. Bei dem Versuch, solche Aufgaben zu bewältigen, wird deutlich, daß es |a 465|weniger eine einzelne Maßnahme oder Handlung ist, die erzieht, sondern der Gesamtgestus einer Lebensform.

5.2.3.4 Beratungseinrichtungen

[128:37] Sucht man nach einem Indikator für die Beantwortung der Frage, ob das Zusammenleben der Generationen, der Umgang mit Kindern, deren Hineinwachsen in eine kulturell vorgegebene Umwelt schwieriger geworden ist oder nicht, dann bieten sich die vielfältigen Beratungsstellen an, die es heute allenthalben gibt. Es scheint so, als würde damit ein Bedarf befriedigt, der relativ neu ist. Noch vor 40 Jahren gab es, als sozialpädagogische Einrichtungen, fast nur die Erziehungsberatungsstellen, die zumeist von Familien aufgesucht wurden, deren Kinder an schulisch erkennbar gewordenen Lernschwierigkeiten litten. Heute verfügt jede Stadt mit mehr als 100 000 Einwohnern über ein differenziertes Netz solcher Einrichtungen, die ihre Hilfe für ein breites Spektrum von Lebensproblemen anbieten; sie sind mal mehr, mal weniger spezialisiert und nennen sich bei|A 24|spielsweiseA Erziehungsberatung, Krisenberatung, Ehe- und Partnerschaftsberatung, Lebensberatung, Familienberatung, Drogenberatung, Jugendberatung u.ä. Häufig beraten sie ihre Klienten nicht nur, sondern sind auch in der Lage, mehr oder weniger anspruchsvolle
Therapien
durchzuführen, je nachdem, welche Berufsgruppen mit welchen Ausbildungen in einer solchen Einrichtung tätig sind (Ärzte, Sozialpädagogen, Psychologen, Sozialarbeiter). Freilich gibt es sozialpädagogische Beratung als Tätigkeit auch außerhalb dieser Einrichtungen, im Zusammenhang von Ämtern (Jugendamt, Arbeitsamt, Sozialamt) oder als ambulantes Gewerbe (Institutionenberatung für sozialpädagogische Einrichtungen etwa, die interne Schwierigkeiten ihrer Arbeitsvollzüge bereinigen wollen). Von diesen soll hier nicht die Rede sein, sondern nur von Beratungsstellen, die Kinder, Jugendliche und Bürger verschiedenen Alters spontan aufsuchen können, wenn sie meinen, sich in einer beratungsbedürftigen Situation zu befinden.
[128:38] Wann ist jemand
beratungsbedürftig
, und welche pädagogische Haltung ist in einem solchen Fall die richtige? Die besondere Charakteristik dieser Einrichtungen wird deutlich, wenn wir sie mit anderen, im engeren Sinne
pädagogischen
vergleichen, mit Schulen oder Erziehungsheimen etwa: Solche Einrichtungen formulieren ihre pädagogischen Handlungsziele als typisierte Lernerwartungen, relativ unabhängig von dem je einzelnen Individuum – die Beratungseinrichtungen hingegen versuchen, von der ganz individuellen Problematik der Ratsuchenden auszugehen; Schulen und Heime fassen deshalb ihre Klientel in Gruppen zusammen, die nach überindividuellen Kriterien gebildet werden: nach Lernfort|a 466|schritt, Alter, Therapiebedürftigkeit, Behandlungsdauer o.a. Im Unterschied dazu arbeiten Beratungseinrichtungen vorwiegend mit einzelnen (wie man gleich lesen wird, gilt dies inzwischen nicht mehr uneingeschränkt) ohne jede Vorgruppierung, in der Form eines dialogischen Verhältnisses zwischen zweien. Schließlich – auch dies im Unterschied zu Schulen, in den meisten Fällen aber auch zu Heimen – ist für den Beratungsvorgang wesentlich, daß die Klienten die Beratungsstelle aus eigenem Antrieb aufsuchen und nicht dazu genötigt oder verpflichtet sind. Ob jemand
beratungsbedürftig
ist, definiert dieser selbst und niemand sonst – so jedenfalls lautet die Option der Beratungstheoretiker. Aus diesem Grund gibt es im Berufsfeld der Sozialpädagogik und Sozialarbeit immer dann heftige Diskussionen, wenn diese Maxime angetastet wird, beispielsweise bei Verordnung von BeratungspflichtenA wie im Falle der gesetzlichen Regelungen zur Abtreibung (StGB§ 218), bei der AIDS-Beratung oder der Beratung für Drogenabhängige. Jeder Eingriff in die Freiwilligkeit wird von den davon betroffenen Einrichtungen sensibel registriert, weil er ein Prinzip verletzt, das – so wird den Eingriffswilligen vorgehalten – die Arbeitsweise der Beratung beschädigt und den Beratungserfolg herabsetzt. Selbstdefinierte Beratungsbedürftigkeit und
richtige Haltung
der Beraterinnen und Berater sind also voneinander abhängig, jedenfalls dann, wenn |A 25|die selbstverantwortliche Problemlösung gleichsam der Fluchtpunkt des Beratungsprozesses sein soll.
[128:39] Nun gibt es gerade im sozialpädagogischen Bereich, insbesondere dann, wenn Kinder oder Jugendliche zu den letztendlichen Adressaten der Beratung gehören, gelegentlich Schwierigkeiten mit dem Aufrechterhalten jener Prinzipien oder Maximen. Das soll an zwei Beispielen erläutert werden, der Erziehungsberatung und der Drogenberatung.
[128:40] Zunächst wieder einige Zahlen, um den Umfang der Problematik anzudeuten. Man geht heute davon aus, daß für je 50 000 Einwohner eine Erziehungs- und Familienberatungsstelle zur Verfügung stehen müßte, um den Beratungsbedarf zu decken. Es scheint so, als sei diese Richtzahl erreicht, denn 1986 gab es bereits insgesamt ca. 1250 Einrichtungen dieser Art. Aber dieser statistische Durchschnitts-Schein trügt: Viele der Einrichtungen verfügen nur über weniger als drei Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, können also nur eine relativ geringe Zahl von
Fällen
betreuen, überdies sind großstädtische Regionen häufig befriedigend, ländliche und kleinstädtische häufig unterversorgt; und schließlich gibt es über die Klientenzahlen keine zuverlässigen Angaben, so daß die Zahl der Einrichtungen allein keinen zuverlässigen Hinweis auf die Versorgungsdichte gibt. Besseren Einblick in die Struktur der Beratungsstellen vermitteln regionale Zahlen: Eine Einrichtung in einer befriedigend versorgten |a 467|Großstadt (130 000 Einwohner) hat im Jahre 1988 423 Familien mit Kindern beraten oder mit ihnen auch eine Therapie durchgeführt; davon wurde der Besuch der Beratungsstelle in ca. zehn Prozent der Fälle von den Kindern/Jugendlichen selbst angeregt. Nun könnte man meinen, daß sich daran schon zeige, wie gering das Gewicht ist, das der selbst definierten Beratungsbedürftigkeit beizumessen ist, denn weitaus die meisten Kinder/Jugendlichen werden offenbar von anderen, zumeist den Eltern, der Beratungsstelle zugeführt und sind zumeist Aunter 16 Jahre alt (ca. 75 Prozent). Es liegt nahe anzunehmen, daß eigentlich erst an dieser Altersgrenze die Fähigkeit sich ausgebildet hat, sich selbst als
beratungs
-
oder
therapiebedürftig
definieren zu können; die Eltern, die das Recht und die Pflicht zur Sorge für ihr Kind haben, sind also gleichsam naturgemäß auch diejenigen, die die BeratungsstelleA mit ihrem KindA aufsuchen. In sehr vielen Fällen sind also die Eltern (72 Prozent der Fälle) die wichtigsten Klienten der Beratungsstelle, denn sehr häufig sind sie es, die an der Entstehung einer Verhaltensschwierigkeit wenigstens Mitverantwortung zu tragen haben. Aus diesem Grunde auch gehen immer mehr Erziehungsberatungsstellen zu Formen der Familienberatung und -behandlung über. Das ist freilich aufwendig, erfordert vor allem größere Zeiträume, weil hier die ganze Familie, gelegentlich auch noch ihr soziales Umfeld, das ganze
System sozialer Kommunikation
in die Beratung und Behandlung einbezogen wird – |A 26|denn die Verhaltens-, Lern- oder Handlungsprobleme des Kindes werden, in dieser Sichtweise, als Folge eines ganzen Netzes von vielleicht problematischen Beziehungen verstanden. In der Einrichtung, der die vorstehenden Zahlen entstammen, betrifft diese Behandlungsart ca. sechs Prozent der Fälle, das sind immerhin ca. 25 Familien für nur eine Einrichtung. Das ist aber möglicherweise noch zu wenig, denn die entschieden häufigsten Symptome der Kinder zeigen sich in ihren sozialen Beziehungen.
[128:41] Anders sind die Sachverhalte bei Drogenberatung und -therapie beschaffen. Da das Alter der Beratungs- und Therapiebedürftigen hier entschieden höher liegt als im Falle der Erziehungs- und Familienberatungsstellen (die zuvor zitierte Beratungsstelle hatte es nur mit 3,6 Prozent
«Drogen- und Genußmittelmißbrauchs»
-Fällen zu tun), hat auch die Frage nach dem selbstbestimmten Aufsuchen solcher Einrichtungen eine andere Bedeutung: Es handelt sich in der Regel um zwar junge, häufig noch adoleszente, aber im Rechtssinne mündige Bürgerinnen und Bürger. Die Frage, ob auch in solchen Fällen fremdbestimmte Veranlassungen zum Aufsuchen einer Beratungsstelle und zur Annahme eines Therapieangebotes gerechtfertigt sein könnten, ist ziemlich schwer zu beantworten. Die Sachlage ist besonders dann schwierig, wenn die Bera|a 468|tung/Therapie zugleich mit einer Strafandrohung verbunden sein sollte; der oben beschriebenen
richtigen Haltung
des Beraters könnte dadurch der Boden entzogen werden. Aber: Welche Ausmaße hat das Problem eigentlich?
[128:42] Da die statistische Dokumentation im Bereich der Beratungseinrichtungen unzureichend ist, sind die Zahlen zumeist eher Schätzungen: Es gab 1990 etwa 50 spezialisierte Jugend- und Drogenberatungsstellen in den alten Ländern der Bundesrepublik (für diese und die weiteren Zahlenangaben vgl. Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren 1991 und Bundesminister für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit 1990); insgesamt aber kümmerten sich ca. 800 Beratungsstellen um diese Probleme, viele allerdings nur nebenbeiA und viele ohne besondere Aufmerksamkeit für Jugendliche. Man geht von ca. 100 000 Hilfesuchenden aus (vgl. Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren 1991), nur die Hälfte davon ist aber mit einer Beratungsstelle in Kontakt; und von diesen wiederum sind nur ungefähr sieben Prozent Jugendliche (Auszubildende, Schüler und Studierende). Aus solchen Zahlen ergibt sich eine schwer zu beantwortende Frage: Der sehr geringe Anteil derjenigen, die sich selbst als beratungs- oder therapiebedürftig empfinden und deshalb eine solche Einrichtung aufsuchen,A kann als ein Hinweis darauf gedeutet werden, daß wir im Hinblick auf vorbeugende Hilfen ziemlich ratlos sind und daß die sozialpädagogischen Institutionen, jedenfalls im Bereich der Drogenhilfe, erst dann auf den Plan treten, wenn ein Problem lebensgeschichtlich dramatische oder gar ausweglos scheinende Formen angenommen hat. Darf man in dieser Situation auf dem Beratungsgrundsatz bestehen, der Klient müsse un|A 27|ter allen Umständen sich selbst als beratungsbedürftig bestimmen, ehe eine institutionelle Intervention, ein wenn auch sanft vorgenommener Eingriff von außen in sein Leben erfolgt? Das ist schwer zu entscheiden.
[128:43] Man sieht an diesen beiden Einrichtungen – den Erziehungs-/Familienberatungsstellen und den Einrichtungen der Suchthilfe – besonders deutlich, in welcher Weise sozialpädagogische Einrichtungen eine Gratwanderung zu bewältigen haben zwischen förderlicher Unterstützung in schwierigen Lebenslagen und möglichst frühzeitiger Kontrolle von Entwicklungen, die in problematische und belastende Biographien hineinführen können. Jedenfalls sind für den Bereich der Suchtberatung die geringen Erfolgsquoten – nur ca. 17 Prozent der Beratungs- und Behandlungsfälle werden als
gebessert
eingestuft – Anlaß zum Nachdenken und zu verbesserter Forschung.
|a 469|

5.2.3.5 Jugendstrafvollzug

[128:44] Jugendstrafanstalten sind der vielleicht problematischste, sicherlich aber der extremste Fall sozialpädagogischer Einrichtungen. Der sozialpädagogische Konflikt zwischen förderlicher Hilfe/Unterstützung und öffentlichem Eingriff/Kontrolle tritt hier am stärksten und am offensichtlichsten hervor. Die Unterbringung eines Jugendlichen in einer Jugendvollzugsanstalt erfolgt durch die Anordnung eines Jugendgerichts nach einem regulären Jugendgerichtsverfahren (gemäß JGG). Es handelt sich um die Verhängung einer Freiheitsstrafe (Jugendstrafe), Einsperrung für viele Monate oder Jahre, in Einzel- oder Gruppenzellen und mit einem höchst künstlichen Lebensalltag, der nur noch entfernt Ähnlichkeit mit einem
normalen
Leben hat. Ist unter solchen Strafbedingungen überhaupt noch Erziehung möglich? Das Gesetz verlangt dies, denn die Jugendstrafe als Freiheitsentzug soll dem Zweck der Erziehung – oder, mit einem unschönen Fremdwort: der Resozialisierung – dienen. Die gefängnismäßige Einsperrung und die Absonderung der straffällig gewordenen Jugendlichen von den sozialen Kontexten, in denen sie gelebt haben, soll also dazu genutzt werdenA, sie dortA – mit dann hoffentlich eher sozial verträglichen Verhaltensweisen – wieder einzugliedernA. Das könnte als eine absurde Aufgabenstellung erscheinen.
[128:45] Auch im Falle dieser Einrichtung ist es nützlich, sich den Umfang des Problems klarzumachen und damit sich auch die Art der von dieser Einrichtung betroffenen Jugendlichen vor Augen zu führen. Zunächst ist es wichtig zu wissen, daß von allen Jugendlichen, die in ein Jugendgerichtsverfahren verstrickt werden, nur etwa knapp zehn Prozent zu einer Jugendstrafe, also Unterbringung in einem Jugendgefängnis, verurteilt werden (übrigens sind von diesen nur etwa fünf Prozent Mädchen oder junge Frauen). Obwohl nach dem Gesetz möglich (Strafmündigkeit mit 14 Jahren), wird fast niemand mit einem Lebensalter unter 16 Jahren zur Jugendstrafe verurteilt. Ehe es dazu kommt – nicht nur bei den unter 16jährigen, sondern in der überwältigenden Zahl der Fälle auch bei den älteren –, nutzt der Jugendrichter die vielen Aihm gesetzlich zur Verfügung stehenden Möglichkeiten: Er kann es bei einer Verwarnung belassen, eine Wiedergutmachung des Schadens anordnen, den Jugendlichen zu einer Arbeit verpflichten, ihn zu einer gemeinnützigen Tätigkeit veranlassen und vieles andere mehr. Erst wenn nach häufig wiederholter
Rückfälligkeit
und angesichts der Schwere der Straftat – in der juristischen Terminologie:
«Schwere der Schuld»
alle Wege erschöpft zu sein scheinen, wird der Jugendrichter eine Jugendstrafe verhängen.
[128:46] Wer als Jugendlicher derzeit zur Verbüßung einer Jugendstrafe in einer Jugendstrafvollzugsanstalt untergebracht ist, von dem darf in der |a 470|Regel angenommen werden, daß er sich über Jahre hinweg in einer
kriminellen Karriere
befunden hat und vielleicht noch befindet, ohne daß ein Ende abzusehen ist – daß er, auch dies in Wiederholungen, schwere Straftaten beging (etwa schwere Körperverletzung, Raub) – oder daß er durch einmalige, aber äußerst schwerwiegende Verbrechen (Tötungsdelikte), nach der Rechtsauffassung des Gerichts, derart schwere Schuld auf sich geladen hat, daß eine Freiheitsstrafe verhängt wird. Dies alles – selbst noch das Tötungsdelikt – kann aber in der größten Zahl der Fälle, jedenfalls im Jugendalter, als Moment höchst schwieriger, belasteter, konflikthafter Lebensläufe interpretiert werden. Wie soll die Einrichtung
Gefängnis
darauf vernünftig reagieren, zumal viele Straftaten als Folge gesellschaftlicher Entwicklungen leicht zu identifizieren sind, beispielsweise: Die Eigentumsdelikte von Jugendlichen nahmen in den letzten zehn Jahren parallel zu der – häufig wenig scharf geahndeten – Wirtschaftskriminalität der Erwachsenen zu; die Ladendiebstähle vermehrten sich mit der Vermehrung der Supermärkte; die
Verkehrskriminalität
von Jugendlichen stieg in dem Maße, in dem der Verkehr insgesamt zunahm und robuster wurde (vgl. Deutscher Bundestag 1986). Derartige gesamtgesellschaftliche Abhängigkeiten individueller Biographien kann auch ein Jugendgefängnis nicht außer Kraft setzen. Es kann nur zweierlei zu erreichen suchen: eine folgenreiche Einsicht in die eigene Verantwortlichkeit für das soziale Handeln und den Erwerb von Verhaltensweisen und Handlungsstrategien, die sozial verträglich sind. Wie macht man das – und ist das überhaupt möglich unter der Bedingung des gefängnismäßigen Freiheitsentzugs?
[128:47] Im Jahre 1990 beispielsweise (alle Zahlen nach: Statistisches Bundesamt 1990) befanden sich 4197 Jugendliche (14 – 21 Jahre alt) in Jugendgefängnissen (davon nur 110 weibliche)A. Je nach Größe eines Bundeslandes Agibt es dort je mehrere Vollzugsanstalten. Diese sind nach Strafdauer und Behandlungsarten gegliedert, und man kann sagen, daß dies zugleich eine Gliederung ist nach der
«Schwere der Schuld»
, Adas heißt auch nach der Schwierigkeit der je individuellen BiographieA. So gibt es Jugendgefängnisse, die nur für Jugendliche mit kurzen Freiheitsstrafen unter fünf Monaten vorgesehen sind. Hier wird gegenwärtig ein Erziehungsstil realisiert, der die Prinzipien der Heimerziehung mit denen des juristischen Strafzwecks locker zu verbinden sucht, und zwar dadurch, daß sog. offene Formen des Vollzugs angestrebt werden: Die in Gruppen zusammenwohnenden Jugendlichen werden, soweit irgend möglich, an Ausbildungs- und Arbeitsplätze im näheren regionalen Umfeld vermittelt, müssen sich aber in der übrigen Tageszeit dem Anstaltsreglement unterwerfen.
|a 471|
[128:48] Jugendliche, die längere, zum Teil viele Jahre währende Strafen zu verbüßen haben, erleben derartige Formen eines halboffenen Vollzugs erst gegen Ende ihrer Haftzeit. Den größten Teil der Aufenthaltsdauer im Gefängnis verbringen sie Aeingeschlossen. Der Erziehungs- bzw. Resozialisierungsaufgabe versuchen die Anstalten dadurch nachzukommen, daß innerhalb der Gefängnismauern möglichst viel geschieht im Hinblick auf versäumtes Lernen, auf Eingliederung in die Berufswelt, auf soziale Verhaltensweisen u.ä. Ein sehr großer Teil dieser Jugendlichen/Heranwachsenden verfügt nicht über einen regulären Schulabschluß; der größte Teil hat keine abgeschlossene Berufsausbildung; die meisten haben nicht lernen können, wie man mit Personen umgeht, die sich außerhalb der engsten eigenen, zumeist ebenfalls
kriminellen
Subkultur oder Clique befinden; in ihren privat-personalen Beziehungen scheiterten die meisten. Eine Jugendstrafvollzugsanstalt müßte alle diese Aufgaben bewältigen. Sie versucht das in vielen Fällen durch ein gefängnisinternes Unterrichtsangebot, durch Bereitstellung von Arbeits- und Berufsausbildungsmöglichkeiten, durch soziale Trainingskurse, durch Therapieangebote.
[128:49] Die Wirklichkeit der
Gefängnispädagogik
ist indessen in vielen Fällen von einer derartigen Ausgestaltung des Vollzugs der Jugendstrafe noch entfernt. Die Gründe dafür sind nicht nur finanzieller Natur. Für viele Kritiker liegen sie vor allem in einer, wie behauptet wird, prinzipiellen Unvereinbarkeit von Erziehungs- und Strafzweck, besonders wenn, wie in diesem Fall, die Strafe in einem längerfristigen Freiheitsentzug besteht. Seit es die Jugendstrafe gibt, also seit 1923, wird deshalb auch diskutiert, ob sie nicht abgeschafft werden sollte. Die dafür ins Feld geführten Argumente sind vor allem psychologischer und pädagogischer Art: Die Biographien jugendlicher Straftäter, besonders derjenigen, die zu einer Jugendstrafe verurteilt |A 30|werden, sind derart konflikthaft, entbehrungsreich, auch in viele Zufälle verstrickt, daß eigentlich eine Entkriminalisierung des Jugendrechts nötig ist – im Extremfall wird die Heraufsetzung der Strafmündigkeit auf 18 Jahre gefordert. Erst dann habe eine pädagogische und therapeutische Behandlung wirklich eine Chance, könnte die Resozialisierungsaufgabe erfüllt werden. Die hohe Rate der
Rückfälligen
, derer also, die trotz dieser harten Strafform immer wieder straffällig werden, also eine verfestigte
kriminelle Karriere
einschlagen (das sind mehr als zwei Drittel), scheint jenen Kritikern recht zu geben. Der Gegeneinwand bringt zur Sprache, daß es dann aber nicht mehr die
abschreckende Wirkung
der Strafe gebe und möglicherweise gerade ein Anreiz für Straftaten im Jugendalter geschaffen werde. In dieser Kontroverse steckt im Kern ein pädagogisches Problem von allgemeiner Bedeu|a 472|tung: Mit welchen Regeln, Maßnahmen, Einrichtungen kann eine Kultur sichern, daß ein Bewußtsein der Differenz von Recht und Unrecht aufrechterhalten und bekräftigt wird? Wie kann sie vor allem Sorge dafür tragen, daß im Jugendalter, der für die Bildung des Rechtsbewußtseins entscheidenden Lebensphase, diese Differenz nicht nur eingesehen wird, sondern auch Folgen im sozialen Handeln hat? Und gehören nicht, trotz allem notwendigen Verständnis für schwierige Lebenslagen und Lebensläufe, die Unterscheidungen von Recht und Unrecht, Strafe und Sühne, letzten Endes also ein Begriff von Schuld und schuldhaftem Handeln notwendig zu dem, was auch der Pädagoge nicht aus seinen Orientierungen streichen darf? Wenn es gelänge, die Jugendgefängnisse abzuschaffen, ohne damit zugleich jene Orientierungen zu vergessen, könnte das Problem vielleicht einer Lösung nähergebracht werden.
[128:50] Damit sind die sozialpädagogischen Einrichtungen keineswegs vollständig beschrieben, sondern nur fünf besonders markante Typen charakterisiert. Es liegt in der Eigenart der Sozialpädagogik, also der außerschulischen Bestandteile unseres modernen Erziehungs- und Bildungssystems, daß vorhandene Einrichtungen sich beständig differenzieren und neue hinzukommen. Denn: dieser Teil der pädagogischen Versorgung der Bevölkerung muß, manchmal sehr kurzfristig, auf entstehende Notlagen, auf aktuell neu auftauchenden Bedarf, auf Erfolglosigkeit alter Einrichtungen reagieren. Auf einige Beispiele soll, wenn auch wiederholend, hier noch einmal hingewiesen werden, weil das kurzfristige Reagieren auf die gesellschaftliche Entwicklungsdynamik eine Art Wesensmerkmal der Sozialpädagogik ist:
[128:51] Das Unbehagen an den öffentlichen Formen der Kindergartenerziehung führte nach 1968 zur Gründung von privaten Initiativen der Vorschulerziehung (
«antiautoritäre Kindergärten»
). Die Schwierigkeiten der Heimerziehung, besonders bei Jugendlichen über 16 Jahren, führten in den 70er Jahren zur Einrichtung von Jugendwohngemeinschaften, also kleinen Haushaltseinheiten mit sechs bis neun Jugendlichen und einer entsprechenden Anzahl von pädagogischen Betreuern. Die Zunahme von Suchtgefährdeten und Abhängigen machte neuarti|A 31|ge Beratungs- und Therapieeinrichtungen nötig. Die angestiegene Aufmerksamkeit für Kindesmißhandlungen hatte zur Folge, daß Kinderschutzstätten eingerichtet und neue Formen der Hilfe für die in Gewalt verstrickten Familien gesucht wurden. Das sind nur einige Beipiele dafür, daß, im Unterschied zum System des Unterrichts und der Schulen, die sozialpädagogischen Einrichtungen sich beständig neuen Problemlagen anpassen müssen. Das hat Folgen für die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Problem|a 473|feld: Die Pädagogik/Erziehungswissenschaft allein ist nicht in der Lage, die nötige Forschungsarbeit zu leisten; soziologische Analysen gesellschaftlicher Strukturveränderungen und der Ursachen für jene Problemlagen sind ebenso nötig wie kriminologische Forschung und psychiatrische Diagnostik, eine kritische Diskussion gesetzlicher Bedingungen oder die AKlärung von Behandlungsmöglichkeiten.

5.2.4 Schluß: Normalitätsentwürfe

[128:52] Daß es innerhalb unserer Kultur
normal
ist, wenn erwartet wird, jeder Bürger solle lesen, schreiben und rechnen können, solle mit den wichtigsten Inhalten der Kultur bekannt geworden sein, solle schließlich auch arbeits- und berufsfähig, solle politisch beteiligungsfähig werden – das ist derart selbstverständlich, daß es uns kaum einfällt, solche Erwartungen in Zweifel zu ziehen. Auch wenn einzelne Bildungsinhalte der Schulen gelegentlich ein wenig verändert werden, akzeptieren wir doch im ganzen den
Normalitätsentwurf
, den die Schulen repräsentieren. Und wir glauben, uns darauf verlassen zu können, daß im Regelfall jedes Kind, jeder Jugendliche bereit und in der Lage ist, dieser Vorstellung eines normalen Lebens, normaler Sozialbeziehungen, normaler Wissensbestände und Fähigkeiten zu folgen.
[128:53] Das ist in der Sozialpädagogik anders. Sie hat es mit der Schattenseite jenes Normalitätsentwurfs zu tun: Mit Ausnahme vielleicht des Kindergartens ist jede sozialpädagogische Einrichtung einer doppelten Schwierigkeit konfrontiert; ihrer Klientel fällt es schwer, sich in die Normalitätserwartungen einzufädeln, freilich aus ganz verschiedenen Gründen; diese können in der psychosomatischen Charakteristik des Individuums liegen, in gesellschaftlichen Bedingungen (z.B. Jugendarbeitslosigkeit, Kindesmißhandlung), in normativen Konflikten zwischen den kulturell-allgemeinen Normalitätserwartungen und dem Wunsch oder Willen nach irgendwie andersartigen Formen der Lebensführung oder gar im offenen Widerspruch zu den gesellschaftlich herrschenden Normen. Die Sozialpädagogik hat sich deshalb mit der Frage auseinanderzusetzen, ob der kulturell-allgemeine Normalitätsentwurf weiterhin Geltung beanspruchen darf. Ihre Klienten A sind ja zum großen Teil solche, deren Lebensschwierigkeiten aus dem Konflikt mit den Standarderwartungen entstehen.A
[128:54] Das zeigt sich an sehr verschiedenen, mehr oder weniger dramatischen Lebenssituationen: Einrichtungen der Familienberatung, -bildung und -therapie, aber auch die sozialpolitischen Strategien der Familienhilfe |a 474|sind mit der Frage konfrontiert, ob der
Normalitätsentwurf
der bürgerlichen Kleinfamilie nicht modifiziert werden muß, besonders angesichts des steigenden Anteils sog. alleinerziehender Elternteile. Selbstverwaltete Jugendzentren konfrontieren die dort arbeitenden Sozialpädagogen gelegentlich mit der Frage, ob anarchistische Orientierungen noch mit der Funktion öffentlich subventionierter Jugendarbeit verträglich sind. Behinderte Kinder veranlassen dazu, die Standardformen des schulischen Unterrichts in Frage zu stellen. Angesichts steigender Drogenabhängigkeit entstehen Zweifel im Hinblick auf den traditionellen Umgang unserer Kultur mit Drogen jederlei Art. Die (schleichende) Verlängerung des Jugendalters stellt unsere Erwartungen im Hinblick auf die Normen altersgemäßen Verhaltens in Frage, damit auch die Standardformen gelungener Bildungs- und Berufskarrieren. Angesichts der Unfähigkeit des Rechtssystems, mit den vielfältigen Formen von Wirtschaftskriminalität in der Erwachsenengeneration fertig zu werden, mag man sich fragen, wo noch der Geltungsgrund liegt für eine strenge strafrechtliche Verfolgung von Eigentumsdelikten Jugendlicher. Oder eine ganz trivial scheinende Frage: Jugendforscher schlagen gegenwärtig schon mal vor, das aktive und passive Wahlalter auf 16 Jahre herabzusetzen. Sozialpädagogen und Kriminologen schlagen gelegentlich vor, die Strafmündigkeit auf 18 Jahre heraufzusetzen. Eine merkwürdige Differenz: Darf in ein Parlament gewählt werden, wer für seine Taten noch nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann? Man sieht daran, wie schwer sich gegenwärtig unsere Gesellschaft tut mit der Frage nach einem akzeptablen und gültigen Normalitätsentwurf für
Mündigkeit
.
[128:55] Sozialpädagogische Einrichtungen haben es Aalso Anicht nur mit den alltäglichen Erziehungs-, Bildungs- und Behandlungsproblemen zu tun, sondern auch mit derart fundamentalen Rückfragen an die normativen Geltungsansprüche unserer kulturellen Lebensform, unserer kollektiven Normalitätsentwürfe. Das sind teils empirische (stimmen die Tatsachenbehauptungen?), teils kulturtheoretische (befindet sich die moderne Gesellschaft wirklich in einer Art Übergang zu neuen Formen?), teils ethische Fragen (gibt es eine Form des guten/gerechten Lebens, die ich argumentativ vertreten kann?). Derartige Fragen stellen sich nur dem, der sensibel ist für die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklungen und für die Risiken, die sie bergen. Sozialpädagogische Einrichtungen können solchen Fragen kaum ausweichen, sie sind ihr innerstes Thema.
|a 475|

Literatur

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    |a 476|
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    [128:91] Statistisches Bundesamt: Einrichtungen und tätige Personen in der Jugendhilfe. Fachserie 13, Reihe 6.3. Wiesbaden 1992.
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    [128:95] Zwerger, B.: Bewahranstalt – Kleinkinderschule – Kindergarten. Aspekte nicht familialer Kleinkindererziehung in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert. Weinheim/Basel 1980.
A
1.
A
1.1.
A
nur
A
u. ä.
A
»sozialpädagogisch«
A
beispielsweise
A
»sozialpädagogisch«
A
A
»Sozialpädagogik«
A
»Pädagogik«
A
»Sozialen Frage«
A
»Pauperismus«
A
ø
A
öffentlicher
A
ø
A
»Handbuches der Pädagogik«
herausgegeben
A
H.
A
L.
A
ø
A
ø
A
von 1923
A
codifiziert
A
ø
A
ø
A
; zwischen
A
»Theorie«
A
»Sozialpädagogische Einrichtungen«
A
1.2.
A
Pluralität
A
ø
A
Vergesellschaftung der Erziehung
A
Gymnastik der Griechen
A
ø
A
des Mittelalters
A
Famlie
A
: Die
A
immer
A
mit dem Effekt, daß sich die Gesellschaft immer stärker differenzieren mußte
A
...
A
ø
A
vorherrschend gewesene
A
den
A
also auch
A
ø
A
auch
A
z. B.
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Integration
A
»Pädagogik«
A
(Humanismus)
A
Dafür
A
Alphabetisierung
A
sehr fortgeschrittenen
A
z. B.
A
, Nürnberg
A
%
A
%
A
10%
A
jeder
A
»Zeit«
A
z. B.
A
,
A
oder Ludwig Vives
A
Bevölkerungsvermehrung
A
war zunächst nur relativ, d. h. die Städte wurden größer, aber die Gesamtbevölkerung blieb noch weit bis ins 18. Jahrhundert ziemlich konstant
A
Aber schon
A
, wenn die Zahlen stiegen,
A
ø
A
sich
A
ø
A
um so
A
umso
A
»Straftäter«
A
z. B.
A
ø
A
ø
A
Halle
A
17..-17..
A
...
A
zwei
A
aber
A
ganze
A
ø
A
»Aufklärung«
A
auch
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z. B.
A
A. H.
A
J. H.
A
,
A
dann,
A
,
A
Kindheit
A
Jugendalter
A
(F. D. Schleiermacher, Pädagogische Vorlesungen 1826)
A
Heimerziehung
A
ø
A
außerschulischen Jugendbildung
A
ø
A
Kindergärten
A
ø
A
z. B.
A
Oberlius
A
z. B.
A
R.
A
»Kindergarten«
A
»Volkskindergärten«
A
Familien-Fürsorge
A
»Pauperismus«
A
Proletarisierung
A
Hilfe-Maßnahmen
A
Kapital-Interessen
A
z. B.
A
»Elberfelder System«
A
»Inneren Mission«
A
ø
A
Wicherns
A
ø
A
, studieren kann
A
[128:8-9] Die durch die Aufklärung, also die Vernunfttheorien des 18. Jahrhunderts, ins Spiel gebrachte neue pädagogische Perspektive führte dann, im 19. Jahrhundert, zu einem immer detailreicher ausgefächerten System sozialpädagogischer Einrichtungen. Dabei begannen zwei Gesichtspunkte allmählich eine besondere Bedeutung zu erhalten: Die Kindheit, vornehmlich aber das Jugendalter rückten als eine Lebensphase in den Blick, deren eigentümliche Charakteristik im ganzen Erziehungssystem pädagogisch zu berücksichtigen sei; und: Auch die Pädagogik habe Sorge dafür zu tragen, daß die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten des ständisch-feudalen gesellschaftlichen Systems allmählich geringer würden,
»denn es wäre frevelhaft, die Erziehung so anzuordnen, daß die Ungleichheit absichtlich und gewaltsam festgehalten wird auf dem Punkt, auf welchem sie steht«
(F. D. Schleiermacher, Pädagogische Vorlesungen 1826)
. Diese beiden Gesichtspunkte, altersgemäße Formen der Erziehung und eine Orientierung an der republikanischen Gleichheitsidee, erreichten indessen die Praxis sozialpädagogischer Einrichtungen nur gelegentlich. Die geringsten Spuren davon zeigten sich in der Heimerziehung, die noch bis in die Zeit der Weimarer Republik hinein zumeist durch den Zwang zur Arbeitsamkeit und religiös-kirchliche Disziplinierung gekennzeichnet blieb. Ein wenig Liberalität zeigte sich gelegentlich in den Anfängen der außerschulischen Jugendbildung, in Gesellen- und Jünglingsvereinen. Am ehesten folgte die Einrichtung von Kindergärten jenen beiden Gesichtspunkten: Nach einigen Vorläufern – z. B. die Kinderschule Oberlius (1740 – 1826) im Elsaß, die Kinderbewahranstalten in England, im Rheinland und in Westfalen, die pädagogischen Experimente der Frühsozialisten (z. B. R. Owens Gründung in Schottland 1809) – eröffnete 1840 Friedrich Fröbel den ersten
»Kindergarten«
, dessen Aufgabe und Arbeitsweise |A 12|sich streng auf die Eigentümlichkeiten des Kindesalters (vor allem das Spiel) gründen sollte; aber obwohl Fröbel in seiner Theorie der Kindheit und des Kindergartens die Gesamtheit der entsprechenden Altersgruppe im Auge hatte und nicht nur die privilegierten bürgerlichen Schichten, blieben die Kindergärten für lange Zeit Einrichtungen, die von Proletarier-Kindern kaum besucht wurden; diese blieben weiterhin auf Bewahranstalten bzw.
»Volkskindergärten«
(seit 1869) angewiesen. Das ist für sozialpädagogische Einrichtungen bis in die Gegenwart hinein charakteristisch geblieben: Sie sind Einrichtungen, die zum überwiegenden Teil auf Notlagen reagieren, auf Folgen gesellschaftlicher Strukturmerkmale (Armut, Ungleichheit, Industrialisierung, Landflucht, Verstädterung, Immigration, Drogenprobleme, Kriminalität usw.), von denen Kinder und Jugendliche besonders hart getroffen werden und die, wenn schon die Ursachen nicht beseitigt werden, wenigstens durch pädagogische Hilfen kompensiert werden sollen. Das wurde schon im 19. Jahrhundert am Beispiel der Familien-Fürsorge besonders deutlich, als – bedingt durch
»Pauperismus«
, Bevölkerungswachstum und Proletarisierung – die Zahl der in soziale Not geratenen Familien rasch anwuchs. Teils durch städtische Gemeinden, teils durch private
»Wohltätigkeitsvereine«
wurden Hilfe-Maßnahmen einer fallbezogenen Betreuung oder Beratung eingeleitet, die allerdings häufig in dem Konfliktfeld zwischen Kapital-Interessen, gerechter Sozialpolitik und pädagogischer Verantwortung nicht eindeutig Partei nahm für die Familien und ihre Kinder (z. B. das
»Elberfelder System«
1853). Vordem gab es allerdings bereits vielfältige private Initiativen, besonders aus dem kirchlichen Bereich, beispielsweise aus den Anfängen der
»Inneren Mission«
, für die man exemplarisch die Aufzeichnungen Johann Hinrich Wicherns (1808 – 1881), im übrigen einer der wichtigsten Gründer von Erziehungsheimen (das
»Rauhe Haus«
in Hamburg 1833), studieren kann. Wichern besuchte, beriet und unterstützte über mehrere Jahre hinweg verarmte und in schwierigsten Verhältnissen lebende Familien im Hamburger Stadtteil St. Georg und führte darüber, was äußerst selten ist, genaue Protokolle.
A
ø
A
»Jugendämter«
A
»Jugenfürsorge«
A
»Jugendpflege«
A
ø
A
die
A
die
A
»Jugendbewegungen«
A
die
A
»pädagogische Reformbewegung«
A
Familien-Fürsorge
A
favorisiert
A
1.3.
A
Rechts-Praxis
A
Kinder- und Jugendhilfe
A
Jugendhilfe-Gesetz
A
ø
A
z. B.
A
»unorganisierte«
A
ø
A
ø
A
Sozial-Milieus
A
Selbstständigkeits-Ansprüche
A
machte
A
Drogen-Therapie
A
waren
A
ø
A
»Tagesmüttern«
A
aber
A
Standard-Ausrüstung
A
Stadt-Architekten
A
-Sanierungsplanung
A
ø
A
ø
A
ø
A
Jahre später
A
1.3.1.
A
schon
A
ø
A
ø
A
ø
A
ø
A
sogenannte
A
,
A
Kinderkrippen
A
1986
A
»Kinderkrippen«
A
»Krabbelstuben«
A
28.000
A
1%
A
von null
A
ø
A
, die andere Hälfte also mehr
A
1028
A
1986
A
Jedes Kind wurde im
A
ø
A
4,3 Erzieherinnen/Erziehern (insgesamt waren es ca. 6.500)
A
; Erzieherinnen und Erzieher verteilten sich so, daß
A
2% des Personals
A
war
A
könne
A
gelegentliches
A
familistisches
A
ø
A
ø
A
, wie die teils sehr heftigen Diskussionen zeigen,
A
ø
A
; läßt
A
ø
A
patriarchalistischen
A
25%
A
10 Plätzen; ist
A
Familien-Nähe
A
»Tagesmütter«
A
1986
A
24.500
A
3.000
A
1.400
A
500
A
%
A
%
A
»Vergesellschaftung«
A
Friedrich
A
phänomenologische
A
theoretische
A
»sozial-romantisch«
A
Kindergarten-Gründerin
A
Lern-Materialien
A
repressiven
A
ø
A
Gleichaltrigen-Gruppen
A
»wirklichen«
A
»Waldorf-Pädagogik«
A
Null-
A
ø
A
»Nachahmung«
A
Phantasie-Anregung
A
u. a.
A
ø
A
Natur-Materialien
A
ø
A
ø
A
1.3.2.
A
12
A
»Freizeit«
A
der
A
der
A
Maßnahmen-Spektrum
A
Ferien-Maßnahmen
A
(1988)
A
ø
A
»Jugendgruppen«
A
Erwachsenen-Organisation
A
Verbands-Jugendarbeit
A
in der Regel
A
ø
A
Die
A
etwa
A
möglich gemacht
A
»Bundesjugendring«
A
Interessen-Bildung
A
»Freizeitheim«
A
»Jugend- Caffee«
A
»Heim der offe|A 20|nen Tür«
A
»Jugendzentrum«
A
o. ä.
A
»denen da oben«
A
»selbstverwaltet«
A
;
A
ø
A
; so
A
multikulturelle Fragen
A
1.3.3.
A
Heimen
A
Struktur-Merkmale
A
gleich geblieben
A
ø
A
»Hauswesen«
A
»Indikation«
A
d. h.
A
ø
A
1986
A
damaligen
A
2.500
A
75.000
A
wird
A
ø
A
Kontroll-Interessen
A
ø
A
Seit etwa 10 Jahren können wir aber auch einen
A
beobachten und, genau gleichzeitig, eine zunehmende
A
den
A
Maßnahmen-Differenzierung
A
Therapie-Wege
A
schweren
A
; zwar
A
»verwahrlost«
A
»kriminell«
A
Therapie-Pläne
A
Behandlungs-Praktiken
A
und andere.
A
;
A
ø
A
»Stil«
A
»therapeutisches Milieu«
A
Ausdrucck
A
»Therapeuten«
A
er/sie
A
/die
A
z. B.
A
In solchen Einrichtungen kann deutlich werden
A
1.3.4.
A
Beratungsstellen
A
ø
A
100.000
A
:
A
ø
A
u. ä.
A
»Therapien«
A
»beratungsbedürftig«
A
»pädagogischen«
A
o. a.
A
– im
A
ø
A
Zweien
A
; schließlich
A
; ob
A
»beratungsbedürftig«
A
ø
A
,
A
ø
A
»richtige Haltung«
A
Berautungsprozesses
A
50.000
A
Erziehungs- und Familienberatungsstelle
A
1.250
A
Mitarbeiterinnen/Mitarbeiter
A
»Fällen«
A
gültigen
A
ø
A
hatte
A
10%
A
; nun
A
(ca. 75%)
A
ø
A
; es
A
»beratungs-«
A
»therapiebedürftig«
A
zu definieren
A
,
A
,
A
72%
A
»System sozialer Kommunikation«
A
6%
A
eine
A
Drogenberatung und -therapie
A
3,6%
A
Therapie-Angebotes
A
»richtigen Haltung«
A
»Jugend- und Drogenberatungsstellen«
A
Jahrbuch Sucht 1992
A
Achter Jugendbericht 1990
A
,
A
100.000
A
ø
A
7%
A
,
A
Schwer
A
17%
A
»gebessert«
A
1.3.5.
A
Jugendgerichtes
A
, ist also
A
»normalen«
A
»Resozialisierung«
A
ø
A
können
A
wieder
A
sozialverträglichen
A
ø
A
, zu
»resozialisieren«
A
ø
A
10%
A
Jugendstrafe
A
ein |A 28|Zwanzigstel
A
ø
A
benutzt
A
anderen
A
»Rückfälligkeit«
A
ø
A
»kriminellen Karriere«
A
ø
A
ø
A
Gerichtes
A
gerechtfertigt erscheint
A
»Gefängnis«
A
10
A
»Verkehrskriminalität«
A
ø
A
Freiheitsentzuges
A
1984
A
Deutscher Bundestag, Drucksache 10/6739
A
6.406
A
18
A
294
A
; man muß aber die
»Heranwachsenden«
im Alter von 18 – 21 Jahren (noch einmal 13.327, darunter 823 weibliche) hinzurechnen. Ca. 20.000 Jugendliche im weiteren Sinne |A 29|befanden sich also in bundesdeutschen Gefängnissen
A
(z. B. Bayern ca. 3.500, Schleswig-Holstein ca. 800)
A
ø
A
und
A
ist
A
sogenannte
A
»offene«
A
Vollzuges
A
Anstalts-Reglement
A
Vollzuges
A
vollständig
A
u. ä.
A
»kriminellen«
A
tut
A
gefängnis-internes
A
Therapie-Angebote
A
[128:47-48] Im Jahre 1984 beispielsweise (alle Zahlen nach: Deutscher Bundestag, Drucksache 10/6739) befanden sich 6.406 Jugendliche (14 – 18 Jahre alt) in Jugendgefängnissen (davon nur 294 weibliche); man muß aber die
»Heranwachsenden«
im Alter von 18 – 21 Jahren (noch einmal 13.327, darunter 823 weibliche) hinzurechnen. Ca. 20.000 Jugendliche im weiteren Sinne |A 29|befanden sich also in bundesdeutschen Gefängnissen. Je nach Größe eines Bundeslandes (z. B. Bayern ca. 3.500, Schleswig-Holstein ca. 800) gibt es dort je mehrere Vollzugsanstalten. Diese sind nach Strafdauer und Behandlungsarten gegliedert, und man kann sagen, daß dies zugleich eine Gliederung nach der
»Schwere der Schuld«
, und das heißt auch nach der Schwierigkeit der je individuellen Biographie ist. So gibt es Jugendgefängnisse, die nur für Jugendliche mit kurzen Freiheitsstrafen unter fünf Monaten vorgesehen sind. Hier wird gegenwärtig ein Erziehungsstil realisiert, der die Prinzipien der Heimerziehung mit denen des juristischen Strafzwecks locker zu verbinden sucht, und zwar dadurch, daß sogenannte
»offene«
Formen des Vollzuges angestrebt werden: Die in Gruppen zusammenwohnenden Jugendlichen werden, soweit irgend möglich, an Ausbildungs- und Arbeitsplätze im näheren regionalen Umfeld vermittelt, müssen sich aber in der übrigen Tageszeit dem Anstalts-Reglement unterwerfen. Jugendliche, die längere, zum Teil viele Jahre währende Strafen zu verbüßen haben, erleben derartige Formen eines halboffenen Vollzuges erst gegen Ende ihrer Haftzeit. Den größten Teil der Aufenthaltsdauer im Gefängnis verbringen sie vollständig eingeschlossen. Der Erziehungs- bzw. Resozialisierungsaufgabe versuchen die Anstalten dadurch nachzukommen, daß innerhalb der Gefängnismauern möglichst viel geschieht im Hinblick auf versäumtes Lernen, auf Eingliederung in die Berufswelt, auf soziale Verhaltensweisen u. ä. Ein sehr großer Teil dieser Jugendlichen/Heranwachsenden verfügt nicht über einen regulären Schulabschluß; der größte Teil hat keine abgeschlossene Berufsausbildung; die meisten haben nicht lernen können, wie man mit Personen umgeht, die sich außerhalb der engsten eigenen, zumeist ebenfalls
»kriminellen«
Subkultur oder Clique befinden; in ihren privat-personalen Beziehungen scheiterten die meisten. Eine Jugendstrafvollzugsanstalt müßte alle diese Aufgaben bewältigen. Sie tut das in vielen Fällen durch ein gefängnis-internes Unterrichtsangebot, durch Bereitstellung von Arbeits- und Berufsausbildungsmöglichkeiten, durch soziale Trainingskurse, durch Therapie-Angebote.
A
»Gefängnis-Pädagogik«
A
Vollzuges
A
sei
A
könne
A
»Rückfälligen«
A
»kriminelle Karriere«
A
»abschreckende Wirkung«
A
ø
A
Dieser
A
Dafür sollen noch einige Beispiele wenigstens benannt werden.
A
Antiautoritäre
A
»Jugendwohngemeinschaften«
A
Suchtabhängigen
A
Therapie-Einrichtungen
A
ø
A
psychologische
A
1.4.
A
»normal«
A
ø
A
»Normalitäts-Entwurf«
A
Sozialpädagogische Einrichtungen haben es gleichsam mit der anderen Seite jenes kulturellen
A
.
A
: Sie hat es einerseits in der gößten Zahl der Fälle mit einer Klientel zu tun, der es schwer fällt
A
z. B.
A
Die
A
sozialpädagogischer Ein|A 32|richtungen
A
Standard-Erwartungen
A
Die Einrichtungen, ihre Mitarbeiter müssen deshalb diesen Konflikt sich zum Thema machen; sie können nicht – wenn sie ihre Klientel wirklich verstehen wollen – naiv die Partei der einen oder der anderen Seite nehmen.
A
Bildung
A
-Therapie
A
Familien-Hilfe
A
»Normalitätsentwurf«
A
sogenannter
A
Orientierung
A
Erwachsenen-Generation
A
ø
A
letzten Endes
A
immer
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Geltungsgründe
A
der
A
ø
A
ø