2. Grundthemen der Erziehung und Bildung
[143:10] Die Titelfrage dieser Tagung, nämlich ob die Pädagogik sich als
“Reparaturwerkstatt”
für misslingende Sozialisation oder
ob sie sich als
“Zukunftsschmiede”
verstehen solle, hat
nicht nur in der Wahl dieser Opposition, sondern schon in den Vokabeln etwas ProvozierendesA√. Dass Pädagogik sich einerseits mit Vergangenheiten, andererseits mit
Zukünftigem befasst, wird seit vielen hundert Jahren niemand leugnen. Inwiefern aber zur
Beschreibung dieser Verhältnisse mechanistische Metaphern tauglich sind, ist
seit 250 Jahren, seit La
Mettries
“homme machine”
, strittig. Die Maschinen-Metapher, aber auch die ihr
entgegengesetzte einer dynamischen Ganzheit des
“Organismus”
hat einige Plausibilität. Überdies waren sie in der Geschichte des pädagogischen Denkens ziemlich produktiv. Da
dies aber ein eigenes Thema wäre und ich zu beschreiben hätte, welche
Richtungen mit der Wahl solcher Metaphern eingeschlagen werden und wie sie
sich zueinander verhalten, verzichte ich auf solche Erörterungen
(vgl. Meyer-|a 20|Drawe
1996). Ich bleibe also gewissermassen
“unterhalb”
solcher denkstrategisch wichtigen
Problemstellungen.
[143:11] Jeder Versuch,
“Grundthemen”
zu ermitteln,
enthält das Risiko, das komplexe Feld von Praktiken und Forschungen über
Gebühr zu stilisieren, zumal dann, wenn man sich auf wenige zu beschränken
sucht. Unabhängig von deren institutioneller Lokalisierung möchte ich die
folgenden vier Themen in die Aufmerksamkeit, in den Vordergrund rücken:
Generation, univer|A 37|salistische moralische
Orientierungen, Interkulturalität und die ästhesiologischen Komponenten der Bildung des Menschen. Alle vier Themen haben den
Vorteil, pädagogisch Allgemeines zur Sprache zu bringen, in der Geschichte
überliefert zu sein und auf ungelöste Probleme in der gegenwärtigen Praxis
und Theorie zu verweisen.
[143:12] 1. Generation: Die täglichen Anforderungen der Praxis in
den verschiedenen und inzwischen höchst spezialisierten pädagogischen
Institutionen verstellen leicht den Blick dafür, dass sie alle eingebettet sind in einen kulturellen Entwurf des
Verhältnisses der Generationen zueinander. Diesen auf lange Zeiträume hin
gerichteten Blick hatte vor 170 Jahren Schleiermacher empfohlen. Die
inzwischen bis zum Überdruss zitierte Ausgangsfrage der Pädagogik lautet, in Schleiermachers Worten:
“Was will denn eigentlich die ältere Generation mit
der jüngeren?”
Man kann diese Frage heute in zwei verschiedene differenzieren,
nämlich: Was will ein Individuum der erwachsenen Generation im Hinblick auf
die ihm verbundenen Individuen der heranwachsenden, und welche
Vernunftgründe kann es für seine Art des Umgangs mit Kindern und
Jugendlichen geltend machen? Und: Welche Verhältnisse, als
sozialstrukturelle Systemvorgaben, sind herrschend oder greifen Platz,
Vorgaben, die ohne Rücksicht auf konkrete Personen und individuell
verantwortete Formen des Umgangs den Rahmen markieren, innerhalb dessen das
pädagogische Handeln spielt, auch wenn es sich dieses Rahmens nicht bewusst ist. – Jede dieser beiden Fragen enthält eine je eigene
Problematik.
[143:13] Die erste Frage wird, wie es scheint, zunehmend ausgedünnt. Sie
droht, im Unterschied zu Schleiermachers Begriff von der Sache, auf private Dimen|a 21|sionen oder auf die Verhältnisse singulärer
Erziehungseinrichtungen zu schrumpfen: Die kulturelle Überlieferungsaufgabe
wird den von Personen verantworteten Handlungen im Umgang mit der jüngeren
Generation von anderen Instanzen der Sozialisation immer mehr aus der Hand
genommen. Denkt man sich die Familie als den primären Ort der Artikulation
von Generationenbeziehungen, dann wird eine solche Behauptung anschaulich:
Die Erfahrungsbereiche und die Fälle mehren sich, in denen nicht mehr
Generationen-Beziehungen inszeniert werden, sondern die junge Generation
eigene Wege geht und sich selbst inszeniert. In Venedig
beispielsweise, eine Familie, ferienmässig: Wer studiert die Bellinis, wer die Biennale, wer die Discos? Oder in
Bern: Ist Paul
Klee noch ein relevantes Thema oder haben Computer-Bilder und
Videoclips nicht längst dessen Stelle eingenommen? – In dieser Situation
schrumpft die Generationenbeziehung fast auf nur eine Frage zusammen: Bin
ich, als Erwachsener, ein noch hinreichend überzeugendes Modell für
zukunftsfähige Problemstellungen? Mit dieser Frage sind nicht nur Eltern,
sondern auch die Lehrerinnen und Lehrer der Altphilologie (beispielsweise),
ist auch die |A 38|Heimerziehung konfrontiert, etwa dann,
wenn es um Entscheidungen über innenarchitektonische Ausgestaltung der Räume
geht. Krisenhaft ist die Lage dann, wenn die ältere Generation den Mut und
die Kraft verliert, die deutliche Konturierung ihrer eigenen Lebensform,
ihrer Herkünfte und Zukunftsprojektionen zur Geltung zu bringen,A√ ohne dadurch die Selbstinszenierungen der jungen Generation
abzuwerten.
[143:14] Eine solche Empfehlung folgt noch der Meinung Schleiermachers, ist also selbst ein Moment
der traditionellen und überlieferungswürdigen Bestände unserer Kultur. Etwas
anders steht es mit der zweiten Frage, den sozialstrukturellen Vorgaben.
Viel ist gegenwärtig die Rede vom
“Generationen-Vertrag”
. In seinem Licht könnten
die individuell zu präsentierenden und zu verantwortenden Entwürfe von
Generationen-Beziehungen obsolet erscheinen, als Reste eines idealistischen
Denkens, das von der irrigen Meinung geleitet ist, die Ausgestaltung der
Generationen-Beziehung sei noch in der Verfügung der Individuen. Die
gesellschaftlichen Verhältnisse haben längst andere Entscheidungen gesetzt. Z.B.: Die ethnologisch vergleichende Sozialpolitik-Forschung hat uns
darüber belehrt, dass, je zuverlässiger die staatliche Altersvorsorge gesichert ist
(Altersrenten), um so dünner und brüchiger die persönlich bestimmten
Beziehungen zwischen |a 22|den Generationen werden können.
Das ist plausibel, denn die adressatenunspezifische frühzeitige Zahlung von
Rentenbeiträgen entlastet die persönlich bestimmte Verantwortung für die
Alten, kann deshalb auch die persönliche Beziehung zwischen den Generationen
ausdünnen. Der
“contrat social”
hat also
Folgen im System der Interaktionen. Es gibt auch, neuerdings, den
umgekehrten Fall: Die Wirtschaft ist, gelegentlich, nicht mehr in der Lage,
für die junge Generation ausreichende Ausbildungsplätze zur Verfügung zu
stellen, kündigt also den Generationen-Vertrag zu seiner einen Seite hin.
Zwar müssen die jungen Arbeitnehmer ihre Rentenbeiträge zahlen, sie haben aber
keine Garantie dafür, dass sie dazu überhaupt in der Lage sein können. Der sicherlich
wohlmeinenden Idee, wir müssten die Beziehungen zwischen den Generationen als persönlich zu
verantwortende, das Verhältnis der Vergangenheit zur Zukunft reflexiv in
Rechnung stellende Beziehung zum Thema machen, wird dadurch der Boden
entzogen. Wer erzieherisch tätig ist, als Eltern, Lehrer oder
Sozialpädagogin, muss heute mit dieser Differenz, oder gar mit diesem Widerspruch, seinen
Weg zu finden suchen. Die Differenz wurde kürzlich in einer anschaulichen
Metapher formuliert: Sollen wir uns die
“Neuankömmlinge”
A√ wie Immigranten denken, die sich unserer Kultur assimilieren müssen,
oder wie Neuankömmlinge, denen wir eine wohnliche Welt präsentierenA√, die sie zum Bleiben ermuntertA√
(Brumlik |A 39|1995)?
[143:15] 2. Ganz anders geartet ist die Frage nach einer
universalistischen Moral. Die Forschungen zu diesem Thema sind
inzwischen kaum noch zu übersehen. Die vielen Aufmerksamkeiten, die es
gewonnen hat, verweisen auf ein Grundproblem unserer Kultur und dessen
pädagogische Folgen. Jede Art von Erziehung – so will es unsere
Überlieferung – soll moralisch rechtfertigungsfähig sein; und Kant hat uns
Hoffnung gemacht, dass solche Rechtfertigungen letzten Endes eine Form finden könnten, die
von allen gebilligt wird. Seitdem denken wir nicht nur darüber nach,
welche Form des Urteilens im Fluchtpunkt unserer
Argumentationen liegen sollte; uns beschäftigt auch das Problem, ob es
Lernwege dorthin gibt. Solche Lernwege lassen sich als
individuelle Genese oder als Kulturentwicklung denken. Die Pädagogik hat es
mit beidem zu tun.
|a 23|
[143:16] Im Hinblick auf die Kulturentwicklung, also auf die kollektiv mehr
oder weniger akzeptierten moralischen Standards, befinden wir Europäer uns
in einer misslichen Lage. Wir haben uns von den religiösen Institutionen als den
letztendlich entscheidenden moralischen Autoritäten gelöst. In die
entstandene Lücke haben wir die rationale, Güter abwägende Begründung
gesetzt. Wir haben Menschenrechte und Verfassungen entworfen, deren
vornehmlicher Zweck darin besteht, das Individuum vor
kollektiven/staatlichen Zugriffen zu schützen. Wir haben damit den innerhalb
unserer Kultur entwickelten Begriff von Individualität und bürgerlicher
Subjektivität in Anspruch genommen – ein historischer Vorgang, der
nichtA√ für die ganze Gattung geltend gemacht werden kann, von dem wir aber
dennoch unterstellen, er müsste universell geltend gemacht werden.
[143:17] Auch im Hinblick auf die Ontogenese, die Entwicklung des einzelnen
Individuums also, gibt es Misslichkeiten. Zwar finden wir es plausibel, eine postkonventionelle Moral ins Auge
zu fassen, d.h. ein moralisches Argumentationsniveau, auf dem Besonderheiten der
historischen, kulturellen und individuellen Lebenslage relativierend ins
Verhältnis gesetzt und zu universell geltenden Maximen hingeführt werden
können. Aber ähnlich wie beim Kulturvergleich ist an solchen theoretischen
Entwürfen bemängelt worden, dass sie die konkrete Erfahrungswelt der Kinder nicht erreichen; blicken
wir nämlich von der postkonventionellen Stufe der Entwicklung moralischer
Urteilsbildung her auf die Optionen von Kindern – z.B.
für Solidarität mit den Schwachen und gegen die Eigentumsordnung,
für das Leben und gegen Zerstörung und Ausbeutung,
aber auch für das Wohlergehen der eigenen Gruppe in Gleichgültigkeit gegen
andere –, dann geschieht es leicht, dass die moralische Substanz solcher
Optionen verblasst, und zwar nur deshalb, weil sie nicht als güterabwägende
Argumentation vorgetragen werden, keine rational zu nennende allgemeine
Geltungsbegründung regelhaft anstreben.
|A 40|
[143:18] Dieses zunächst nur moral-theoretisch scheinende Problem
hat eine historische Seite. Das sogenannte
“westliche”
Demokratieprojekt enthält ein sehr anspruchsvolles moralisches Lernprogramm.
Es greift tief in die traditionellen Bestände und Gewissheiten ein, vor allem dadurch, dass nun nicht mehr kollektiv akzeptierte Autoritäten das sittlich Gute
verbürgen sollen und auch die Reduktion auf je singuläre Interessenlagen
oder auf die in den primären |a 24|Lebenszusammenhängen
erfahrenen
“Werte”
einer kritisch abwägenden Prüfung
bedürfen. Durch die Historiographie der höchst langsamen Veränderung von
Mentalitäten im Lauf der Geschichte belehrt, dürfen wir annehmen, dass jene ja auch mit dem Begriff der
“Mündigkeit”
verknüpfte Lernerwartung eine Zumutung ist, der die Individuen wie die
sozialen Kollektive nur in allmählichen historischen Schritten gerecht
werden können.
[143:19] Dabei stellt sich leicht Ungeduld, wenn nicht gar Frustration ein.
Es ist deshalb gar nicht so verwunderlich, wenn im politischen und
pädagogischen Feld viele vor dieser schwierigen Mündigkeits-Erwartung
zurückweichen. Das ist z.B. dann der Fall, wenn der angebliche Werteverlust beklagt wird. Ich
vermag diesen Verlust nicht zu entdecken, jedenfalls nicht als
“Verlust”
, allenfalls als leichte Verschiebung: Die dem
Konzept des postkonventionellen moralischen Urteils angemessene und in
unseren Verfassungen zum Ausdruck gebrachte Verfahrensrationalität
wird nur von Randgruppen nicht als Wert anerkannt. In den sechziger Jahren setzte eine Sensibilisierung für die Lebenslagen von
Kindern ein, die zwar noch nicht die ganze Gesellschaft erfasst hat, aber doch stetig grössere Kreise zu ziehen scheint. Dass
Natur nicht nur ein Ausbeutungsobjekt ist, sondern dass der schonende Umgang mit ihr einen Wert darstellt, an dem das
Überleben der Gattung hängt, wird von immer weniger Gesellschaftsmitgliedern
in Zweifel gezogen. Dass der Gerechtigkeitswert in Geltung ist, zeigen die heftigen
Auseinandersetzungen um die Zukunft des Sozialstaates. Fast überflüssig zu
sagen: Die Werte, die sich aus der herrschenden Eigentumsordnung
ergeben bzw. diese legitimieren, sind kaum strittig, bis hin zu dem Punkt,
an dem sie, wie im massenhaften Konsumverhalten, zum Fetisch zu werden
drohen; aber auch sie können, wie auch die anderen im Prinzip, ihre Geltung einbüssen, wenn der moralische Diskurs nicht in der Lage ist, sie, im
Verhältnis zu jenen anderen, in Kontrolle zu halten. Werte können also
freilich unterhöhlt werden. Wo beginnt diese Unterhöhlung im Falle der
Eigentumswerte: bei der überproportional steigenden Wirtschaftskriminalität
der Reichen oder bei den Warenhausdiebstählen der 15jährigen?A√
[143:20] Es ist ein dümmliches, vielleicht sogar verschlagenes
Abwehrmanöver, die Auffüllung der Lücken, die zwischen Geltung und
empirischer Befolgung klaffen, den Pädagogen aufzubür|A 41|den oder, schlimmer noch, deren Entstehen |a 25|ihnen
anzulasten. Es ist nichts weniger als ein schleichender Fundamentalismus, im
Gewände europäischer Überlieferung. Statt sich den Schwierigkeiten einer die
Werte gegeneinander abwägenden Urteilsfindung zu stellen, wird ein
konventionelles Verfahren empfohlen mit dem Titel
“Werteerziehung”
. Derartiges erfordert eine professionelle
pädagogische Antwort. Meine Antwort ist diese: Es ist überhaupt nicht
strittig, dass Kinder in ihren primären Lebensbezügen – also Familie, Kindergarten,
Grundschule, Heim – so etwas wie Eindeutigkeit, Konstanz, Verlässlichkeit der moralischen Orientierung, also auch der in der Lebenspraxis
solcher Gruppen geltenden Werte erfahren müssen. Der Unterschied liegt im Verhalten oder Handeln des Erwachsenen, der
Kenntnis hat von den sensiblen Nuancen der Interaktion, der weiss, wie schwierig der Weg zur Fähigkeit der Übernahme der Perspektiven
von anderen ist, der einen Begriff von jenem fiktiven Ende eines
postkonventionellen Moralurteils hat. Die Unterhaltung mit einem Kinde –
dessen können wir angesichts der vielen empirischen Befunde sicher sein –
wird anders ausfallen bei einem Erwachsenen, der die damit zugemuteten
Balanceleistungen im Kopf hat, als bei einem, der auf naive Identifikation
mit Werten setzt. Die mögliche Universalisierung moralischer Urteile wäre
dann auch kein Dogma, sondern, für professionelle Pädagoginnen und
Pädagogen, ein regulatives Prinzip.
[143:21] 3. Das hängt nun eng zusammen mit dem dritten meiner Grundthemen,
der Interkulturalität. Die Schweiz, aber auch die Niederlande,
Frankreich und England, verfügen in Europa und in dieser Frage schon über
längere Erfahrungen. Die Deutschen sind Anfänger in diesem der ganzen Kultur
zugemuteten Curriculum. Man könnte es – wenn es nicht zynisch wäre – als
einen historischen Grossversuch, einen Test ansehen, in dem die folgende Frage geprüft wird: Ist eine
politische Kultur, die mit den Leitbegriffen der Liberté, Fraternité und
Egalité ihre eigene Zukunft entwarf,
noch in der Lage, unter neuen Bedingungen ethnisch-kultureller
Mischungsverhältnisse das ursprünglich universalistische Projekt
aufrechtzuerhalten? Der Test bringt, jedenfalls derzeit, keine eindeutigen
Resultate, bis hin zu kriminellem Widerspruch.
|a 26|
[143:22] Auch in dieser Lage wird der Pädagogik aufgebürdet, die Wogen zu
glätten, die von den (erwachsenen!) Konventionalisten in Bewegung gebracht
wurden. Wir, die Pädagoginnen und Pädagogen, versuchen es: Wir lassen keinen Zweifel daran – er wäre aberwitzig –, dass die Einwanderer und ihre Kinder sich durch das Nadelöhr der je
herrschenden Sprache hindurchzwängen müssen. Das ist unzweifelhaft eine
Assimilationserwartung. Aber unterhalb der gemeinsamen Verständigungsmedien,
und sich durch diese hindurchartikulierend, behalten die kulturellen
Herkünfte und Zugehörigkeiten indessen ihr je thematisches Profil. Wenn wir
das |A 42|akzeptieren, tun wir nichts anderes als zu
bekräftigen, dass wir die pluralistische Struktur der modernen Gesellschaften
anerkennen, wenngleich hier in einem besonders exponierten Fall. Dieser Fall
ist nicht nur eine Probe auf die Tragfähigkeit nicht-imperialer
universalistischer Antizipationen, sondern auch auf unsere schon erwähnte
Fähigkeit zur virtuellen Übernahme, zum Sich-Hineindenken in die Perspektive
anderer. Diese aus der Philosophie des Pragmatismus stammende Idee,
inzwischen zahllos als empirischer Sachverhalt nachgewiesen, enthält
freilich im Hinblick auf die Wirklichkeit multikultureller Gesellschaften
eine Zumutung an Lernfähigkeit, mit der sich Ängste schüren lassen, so als
gäbe seine Identität auf, wer sich ernstlich auf die der anderen
einzustellen versucht. Wir sollten uns bewusst halten, dass der inzwischen abgegriffene Terminus
“Identität”
ursprünglich eine schwierige und erst im Tode endende Balance-Leistung des
Individuums bedeutet, jederzeit fragil. Wer diese Dynamik stillstellen will,
etwa als blosse
“Zugehörigkeit”
, verleugnet damit das kulturelle Konzept
von
“Mündigkeit”
(Gruschka 1995).
[143:23] Der schlichte Rassismus, der aus den Äusserungen und Tätigkeiten Le
Pens und seiner Anhänger spricht, oder die Unfähigkeit deutscher
rechtsradikaler, zur Gewalt neigender Cliquen, mit Ambiguitäten,
Mehrdeutigkeiten also umzugehen – das sind deutliche Zeichen historischer
Regression. Wird eine Aufgabe zu schwer, dann wehrt man sie ab oder greift
zu früheren, primitiveren Lösungen. Das gilt für Kinder, aber auch für
Politiker und Pädagogen. Dass ziemlich viele noch an dieser Hürde scheitern, zeigen die europaweit
etwa auf 15 % geschätzten Bürgerinnen und Bürger, die die letzten 200 Jahre der
Entwicklung moderner Demokratien nicht haben nachvollziehen können – Fusskranke gleichsam auf diesem beschwerlichen Weg.
|a 27|
[143:24] Der schwierigste Lernfall ist dabei nicht einmal der erwachsenen,
der erziehenden Generation aufgebürdet. Diese verfügt vielleicht, dort wo
sie professionell ist, über die notwendigen interaktionstheoretischen
Kenntnisse (etwa zum Problem des Perspektivenwechsels) und über die
Kompetenz, entsprechende Lernarrangements für Kinder und Jugendliche zu
inszenieren. Dem schwierigsten Lernfall sind jene konfrontiert, die aus der
Fremde kommen und unter uns leben wollen. Denken wir uns ein 16jähriges
muslimisches Mädchen, kurdisch, aus einer Familie, der die Herkunftskultur
wichtig ist, der Vater ist Taxifahrer, sie hat gerade den Übergang in die
Sekundarstufe geschafft, geht abends gelegentlich in Discos, hat Freunde,
aber muss ihre
“Ehre”
bewahren, will in Mitteleuropa
bleiben, aber auch ihre
“Wurzeln”
in der Türkei nicht
verlieren, weiss nicht, ob die Familie dorthin zurückkehren wird, wird zur Frau in
einem Land, in dem sie
“feministische”
Erwartungen
erreichen, mit ihrer Herkunft überhaupt|A 43| nicht
kompatibel, usw..usw. Die sozial-psychischen Lernprobleme, mit denen dieses Mädchen konfrontiert ist, übertreffen bei weitem das, was wir
Erwachsene uns, universalistisch und pluralistisch gebildet, abverlangen müssten.
[143:25] 4. Die ästhesiologischen Komponenten der Bildung des
Menschen: Der Ausdruck
“ästhesiologisch”
weist auf die
Frage hin, welche Bedeutung im Leben des Menschen seiner Sinnestätigkeit
zukommt, wenn er ein Bewusstsein von sich selbst erwirbt und damit zu
anderem, zu Personen oder Kulturprodukten, in Beziehung tritt. Diese Frage
spielte in der Pädagogik eine lange Zeit nur eine untergeordnete, wenn nicht
gar keine Rolle. Pädagogen sind merkwürdigerweise zumeist auf alles
Sprachliche fixiert. Das ist deshalb merkwürdig, weil doch der
ontogenetische Anfang jeder Erziehung in einem vorsprachlichen Stadium
beginnt und also es zunächst gleichsam auf der Hand liegt, dass dieser
Anfang der Bildebewegungen des Menschen mit der Sinnestätigkeit anhebt.
[143:26] Damit stellt sich eine für die Pädagogik ziemlich fundamentale
Frage ein: Bleiben diese Anfänge über die ganze Entwicklung des Individuums
erhalten oder werden sie, durch die Prozeduren des Spracherwerbs, durch die
Aneignung von Wissensbeständen und Verhaltensgewohnheiten, durch immer
komplizierter werdende kognitive Operationen allmählich weggearbeitet?
|a 28|
[143:27] Eines der für unser Fach, für seine Praxis wie auch für seine
Theorie, interessantesten Gedankenexperimente stellte Condillac in der
Mitte des 18. Jahrhunderts an. Er gehörte jenen französischen Philosophen
zu, die in der Regel als
“Materialisten”
etikettiert
werden, den argumentativen Hintergrund für die französische Revolution
vorbereiteten, in der Tradition des pädagogischen Denkens dann aber kaum
mehr vorkamen. Er stellte sich eine Marmorstatue vorA√ und fragte, wenn sie lebendig würde, wann sie wohl, im Nacheinander
der erwachenden Sinne, ein Bewusstsein von sich selbst gewinnen würde. Seine
Antwort, nach abwägendem Durchgang durch die verschiedenen Sinne, lautete:
Ich gewinne ein Bewusstsein meiner selbst, im ersten Schritt, durch das taktile Spüren meines
eigenen Leibes (
“Elle se touche, et dit: c’est
moi”
), in Abwägung zu den Sensationen des Gesichtssinnes
(vgl. Müller 1996)
.
[143:28] Derartige Fragen – die Antworten müssten heute angesichts der biologisch-anthropologischen Forschung
komplizierter ausfallen – gewinnen derzeit eine besondere Aktualität, und
zwar von drei Richtungen her: Die Kinder- und Jugendkultur
konfrontiert uns, zunehmend, wie es scheint, mit einem
“Habitus”
, in dem Körperselbsterfahrung inszeniert wird;
Auto-Crashing, |A 44|Skooter-Kunststücke, Graffiti, die
Freude an wirbelnden Videoclips, an sprachlosen Computerspielen, auch an Techno-Dance, dies und Ähnliches sind nicht nur einer Beschleunigungsmode, einem
Protest oder einem profitablen Markt geschuldet, sondern auch (!), so
vermute ich, einem Impuls, sich selbst in einer Weise zu erfahren, die noch
nicht durch die intellektuellen Pädagogen-Diskurse besetzt ist. Dazu gibt es
im kulturellen Habitus der Erwachsenen, wenngleich durch traditionelle
Gewohnheiten gebremst, eine Parallele, nämlich die massenhaft ansteigenden
Museums- und Sonderausstellungs-Besuche. Auch hier ist schwer
zu entscheiden, ob der Markt ein Bedürfnis befriedigt oder ob er es erzeugt.
(Schaue ich mir die Bilder Vermeers in Den Haag oder van Goyens in Leiden an, weil ich es mir vom
Feuilleton habe einreden lassen oder weil solche Bilder mich schon immer
faszinierten und ich glaube, dabei etwas über mich zu erfahren?).
Diderot, mit
Condillac befreundet,
schrieb manchen Bildern der Pariser Salons um die Mitte des 18.
Jahrhunderts, insbesondere denen Chardins,
“Magie”
zu. Sie hatten
nämlich, nach seiner und auch der Meinung späterer Kunsthistoriker, die
Eigenschaft, den taktilen Sinn (wenngleich nur virtuell), das |a 29|Spüren also meiner selbst, mit dem optischen zu verbinden. Joseph Beuys (und
freilich noch manch anderer) hat das, in unserem Jahrhundert, zur
Meisterschaft gebracht. Steckt also nicht doch in der ästhetischen
Geschäftigkeit der Märkte und Kunden ein Bildungssinn, der tiefer reicht? Schliesslich ist, nahezu gleichzeitig, in den pädagogischen Institutionen
und an ihrem Rande Ähnliches aufgetaucht (inzwischen ist es schon ganz
unoriginell geworden, darauf hinzuweisen): In der Elementar- und
Primarpädagogik wächst das Interesse an expressiv-ästhetischen Tätigkeiten;
auf Körperempfindungen bezogene Therapien, Paratherapien und
“Kreativitäts”
-Kurse gehören mehr und mehr zum
Standard-Angebot in Jugendhilfe und Erwachsenenbildung und verbreiten sich
weit in den Freizeitmarkt hinein. Derartiges wird in einer reichhaltigen und
fast unübersehbaren Literatur kommentiert und befördert; auch die Forschung
in diesem Feld nimmt allmählich an Zahl und Zuverlässigkeit zuA√.
[143:29] Darf man dies alles so verstehen, dass innerhalb unserer pädagogischen Kultur nun das Gedankenexperiment
Condillacs in Bildungs-
und Selbstbildungs-Taten übertragen wird? Oder handelt es sich um nichts
anderes als um Fluchten in ein Gelände von Irrationalität hinein, um den
System- Zumutungen zu entgehen, eine neuerliche Variante von bürgerlicher
Ideologie? Der inflationäre Gebrauch der schwer aufklärbaren Vokabel
“Kreativität”
könnte das vermuten lassen. Ich denke
indessen, dass mit diesem Etikett der kulturelle, anthropologische und
bildungstheoretische Sinn dieser Phänomene verspielt würde. Die
Argumentationsstände der französischen
“Materialisten”
konnten, aus vielerlei Gründen, die deutsche Bildungstheorie |A 45|und ihre pädagogische Institutionalisierung nicht erreichen. Nun
hat, nach 200 Jahren, die Praxis sie zurückgewonnen. Es ist zu hoffen, dass
die akademische Theorie damit zwar streng, aber auch
“hermeneutisch”
umgeht.
3. Besonderheiten des ausserschulischen Feldes
[143:30] Von dem, was ausserhalb der Unterrichtsanstalten geschieht, war gelegentlich schon in
Andeutungen die Rede. Dieses Feld – im theoretischen Vokabular nennen wir es
“Sozialpädagogik”
, in praktischer Beschreibung sagen
wir
“Kinder- und Jugendhilfe”
und haben dann immer noch
das Problem, |a 30|wie wir den Ausdruck
“Sozialarbeit”
darin unterbringen oder sonst irgendwie darauf
beziehen – dieses Feld also ist, so scheint mir, ein besonders sensibler
Indikator für pädagogisch relevante Vorgänge innerhalb unseres Gemeinwesens.
Das mag überraschen, handelt es sich doch statistisch gesehen nur um eine
Minderheit der nachwachsenden Generation, die von diesen Einrichtungen und Massnahmen erreicht wird. Zudem könnte man hier tatsächlich annehmen, dem Titel
dieser Tagung folgend, dass es die
“Reparaturwerkstatt”
unseres
Generationen-Verhältnisses ist. Indessen hat man sich, seit dieses Feld in
die akademische und wissenschaftliche Aufmerksamkeit gerückt ist – also seit
den zwanziger Jahren, mit einigen Vorahnungen im 19. Jahrhundert –, gegen eine
solche Etikettierung immer wieder gewehrt, als sei es ein zugeschriebenes
Stigma. Ich halte eine solche Abwehr für falsch. Nur ein sehr trüber Blick
auf unsere Gesellschaft könnte übersehen, dass der schwierige Weg der
Moderne, gepflastert mit den Stolpersteinen institutioneller
Differenzierung, Pluralisierung der Lebensformen, abstrakter
Leistungserwartung, Misserfolgsbedrohung, emotionaler Kälte oder Überhitzung, Konsum-Verführungen usw.,
angesichts der anspruchsvollen Vorstellung eines politisch und alltäglich
“mündigen”
Bürgers nicht von jedem erfolgreich begangen
werden kann. Dass viele stolpern, gehört zur Normalität dieser Gesellschaften. Es
mindert nicht den Status der Sozialpädagogik, wenn sie die Schattenseite der
Moderne im Auge hat. Aber so eindeutig ist das gar nicht. Um es zu
erläutern, greife ich aus der Fülle der beschreibbaren Probleme nur drei
heraus, die mir besonders aktuell erscheinen und im Felde der
Sozialpädagogik deutlicher zum Bewusstsein kommen als anderswo:
Normalitätsentwürfe, Armuts-Fragen, Verwertungszumutungen.
[143:31] 1. Normalitätsentwürfe: In etwas grober Vereinfachung kann man sagen, dass die nun ungefähr 500 Jahre alte europäische Alphabetisierungskampagne
recht erfolgreich war. Sie hat indessen nicht nur ein differenziertes System
von Unterrichtsanstalten zur Folge gehabt, sondern auch den Entwurf eines
Normalverlaufs von Lebenswegen, zunächst nach Ständen geordnet, dann |A 46|aber auch mit manchen Verzweigungen. Wie wir aus
alten Schulordnungen, aber auch aus den Genre-Bildern besonders der
niederländischen Malerei ersehen können, griff dies tief in
Verhaltensgewohnheiten der |a 31|jungen Generation ein. Die
Schule präsentierte nicht nur ein Alphabetisierungs-, sondern auch ein
Disziplinierungsprogramm, das bis zurück auf die Familien sich erstreckte.
Es passt ins Bild, dass sich parallel zur Schulentwicklung Bemühungen etablierten, stationär
und ambulant, die sich um jene kümmerten, die dem schulischen
Normalitätsentwurf nicht folgen konnten oder mochten. Seitdem gibt es auch
in pädagogischen Feldern Modernitätsgewinner und -Verlierer.
[143:32] Die Sozialpädagogik hat es grossenteils mit den Verlierern zu tun. Allerdings sind die Grenzlinien nicht mehr
so leicht zu ziehen. Inzwischen nämlich, besonders in der zweiten Hälfte
unseres Jahrhunderts – aber vordem schon in der kaiserdeutschen Abwehr
proletarischer oder sozialdemokratischer Lebensentwürfe – scheint überhaupt
zur Disposition zu stehen, ob die Pädagogik noch, von der Pflicht zu
zuverlässiger Unterrichtung abgesehen, mit einem einheitlichen
Normalitätsentwurf operieren kann. Das Problemfeld, mit dem es die
Sozialpädagogik derzeit zu tun hat, indiziert nämlich eine Charakteristik
unserer Kulturlage, die schon Schleiermacher
1826 ahnte,
als er die Meinung vertrat, man müsse, um des Fortschreitens der Kultur
willen, das Jugendalter als eine Experimentierphase mit Normalitätsentwürfen
ansehen. Wenn wir heute den soziologischen Schlagworten
“Individualisierung”
und
“Pluralisierung”
willig
folgen, gelegentlich wohl allzu rasch, dann betrifft das auch die Frage, mit
welcher Gewissheit wir noch von
“Normalität”
reden
können. Die Klientel der Kinder- und Jugendhilfe ist zum grossen Teil dadurch zu charakterisieren, dass sie unter den institutionalisierten Normalitätsentwürfen leidet. Das
breite Problemfeld, das zwischen dem autistischen Kind und dem der Schule
und seiner Familie mit Gleichgültigkeit oder Verachtung den Rücken kehrenden Jugendlichen liegt, bringt eine zweifache Frage hervor:
Welches sind die elementaren Kompetenzen, die wir für normale Lebensführung
unterstellen müssen – und wie kann unser eigener Normalitätsentwurf
gerechtfertigt werden, wenn wir die vielen Alternativen zur Kenntnis
nehmen?
[143:33] In dieser Lage zu empfehlen, wie heute häufig zu beobachten, man
solle sich an der
“Lebenswelt”
der Klientel
“orientieren”
, kommt mir unbedacht oder verschleiernd
vor, jedenfalls dann, wenn pädagogisches Handeln gemeint ist. Wie könnte ich
mein Handeln an der Lebenswelt eines 14jährigen |a 32|Jungen orientieren, der, im Alter von 10 Jahren, in einem Heim
untergebracht ist, wegen schwer erträglicher Familienverhältnisse, nun auch
aus dem Heim beständig fortläuft, die Schule vermeidet, sich mal dieser, mal
jener Clique oder Subkultur |A 47|anschliesst, am Stadtrand in Bretterbuden übernachtet, durch kleine Diebstähle
sich über Wasser hält, sonst niemandem etwas zuleide tut, dem eine spätere
Zukunft noch gleichgültig ist usw.? Es ist keine Frage, dass es hermeneutisch-diagnostischer Anstrengungen bedarf, um die Lage und
die Normalitätsexperimente dieses Jungen zu verstehen. Das
pädagogische Handeln aber muss sich in das schwierige Feld pluraler Normalitätsentwürfe
hineinbegeben und darf sich nicht einzig an dieser
“Lebenswelt”
orientieren, sondern an dem rechtfertigungsfähigen Weg,
der für einen solchen Jugendlichen begehbar ist.
[143:34] 2. Armutslagen: Sozialpädagogik und Sozialarbeit haben es
immer schon auch mit denen zu tun gehabt, die am gesellschaftlichen
Wohlstand weniger teilhatten als andere. Das war zu Zeiten Pestalozzis und
Wicherns nicht anders,
als es heute ist.
[143:35] Historiographische Hinweise, die darauf hinauslaufen, dass wenigstens eines der sozialpädagogischen Grundthemen mit der
frühneuzeitlichen Armengesetzgebung oder dem Amsterdamer
“Tuchthuis”
beginnen, treffen auch heute noch die Sache.
Schon aus dem Vergleich der Jugendhilfe- mit den Sozialhilfe-Statistiken
geht hervor, dass die Klientel der ausserschulischen pädagogischen Einrichtungen und Massnahmen vorwiegend den durch Armut bedrohten Bevölkerungsteilen entstammt. In
dieser Lage ist bemerkenswert, dass auch die sozialpolitischen Prognosen uns kaum einen Rückgang dieser
Bedrohung versprechen können. Wir werden es also, selbst in Europa, mit
einem relativ dauerhaft bleibenden Problem zu tun haben.
[143:36] In dieser Sachlage können die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
durch Pädagogik kaum verändert werden. Das gilt nicht nur global, sondern
selbst für Europa. Keine Art von Pädagogik kann das immer stärker werdende
Auseinanderdriften von hohen und niedrigsten Haushaltsbudgets verhindern. In
dieser Lage hilft die an Pädagogik und Jugendstrafrechtspflege gerichtete
Erinnerung wenig, ein europäischer Sozialhilfeempfänger verfüge über ma|a 33|terielle Ressourcen, die in manchen
Entwicklungsländern Wohlstand indizieren. Armut ist eine kulturrelative
Kategorie, weil sie sich an dem innerhalb einer Gesellschaft oder Kultur
durchschnittlich herrschenden Anspruchsniveau bemisst. Dieses Niveau wird
nicht von Pädagogen in Szene gesetzt, sondern von Ökonomie und Politik. Die
Pädagogik hat lediglich die Folgen zu tragen. Die empirisch bisher nicht
widerlegte, wenngleich vielfältig benörgelte
“Anomie”
-Theorie R.
Mertons, nach der in einer Gesellschaft, die Eigentum, Besitz,
Wohlstand als Werte favorisiert, diejenigen, die nicht über die Mittel dazu
verfügen,
“anomische”
Handlungsstrategien einschlagen, um
die Werte dennoch zu erreichen, ist also die Vorgabe.
|A 48|
[143:37] Über dieseA√ aber haben wir nachzudenken. Die Praxis des Unterrichts in Schulen
erreicht diese Problemlage in der Regel zumeist nur unter dem merkwürdigen
Namen
“Sozialisationsdefizit”
. Das führt dann zu den
Diagnosen von Leistungsschwäche oder Lernverweigerung, um deren Hintergründe
sich freilich das dort professionelle Personal nur innerhalb enger Grenzen
kümmern kann. Es ist richtig, wenn die Schule sich auf ihre Aufgaben des
Unterrichtens konzentriert und dabei einen unifizierenden, einen die
Gleichheit vor den unterrichtlichen Ansprüchen betonenden Habitus
realisiert. Mit Recherchen nach den
“Lebenswelten”
, wie
manche heute gern sagen, wäre sie überfordert.
[143:38] Anders ist die Sachlage im Felde von Sozialpädagogik/Sozialarbeit.
Wenn wir schon Armut dauerhaft in Rechnung stellen müssen, und wenn wir
wissen, dass das Heranwachsen unter solchen Bedingungen mindestens misslich ist, jedenfalls zu lebenslangen Beschädigungen führen kann,
dann stellen sich pädagogische Fragen besonderer Art ein: Wissen wir
wirklich hinreichend zuverlässig, welche Dimensionen der Erziehungskraft
etwa von Familien durch Armut gravierend beschädigt werden? Verfügen
vielleicht nicht doch auch Armutsmilieus über pädagogische Ressourcen, die
in der einen oder anderen Hinsicht den Wohlstandsmilieus überlegen sein
könnten? Gibt es ein pädagogisches Komplement zur sozialpolitischen
Strategie der Armutsbekämpfung, wenn doch, jedenfalls
mittelfristig, dies als Sisyphos-Tätigkeit eingeschätzt wird? Müssen wir
nicht – anstatt in erlebnisdichten Beschreibungen die biographischen
Engpässe und Versagungen immer wieder zu beklagen oder in der Manier von
Fest- oder einleitenden |a 34|Kongressvorträgen (wie
diesem) auf den
“Zusammenhang politischer, materieller,
instrumenteller und sozialer Nöte und Aufgaben”
(Thiersch)
und deren pädagogische Folgen appellativ zu verweisen – ich sage:
müssen wir nicht jenseits oder diesseits der allgemeinen, aber abstrakten
Richtigkeit solcher Formeln uns viel genauer einstellen auf die empirischen
Details solcher Milieus oder Lebensformen und auf die hermeneutischen
Herausforderungen, die sie für Theorie und Praxis bereithalten? Wissen wir
wirklich genug über die pädagogisch relevanten Unterschiede zwischen
Lebenslagen, innerhalb unserer Kultur, die unter kurzfristiger
Armutsbedrohung stehen, und solchen, in denen wir langfristige, auch
intergenerationell dauerhafte materielle Versagungsmilieus konstatieren
müssen, und darüber, welche Formen des pädagogischen Eingriffs, der Hilfe,
der Unterstützung hier angemessen wäre?
[143:39] Die Armutsthematik greift, wenn ich recht sehe, tief in das
hinein, was seit einiger Zeit unter dem Titel
“Wertedebatte”
publizistisch reichhaltig bedient wird. Die
Armutsfrage macht das Dilemma deutlich: Der herrschende Wert
“Eigentum”
, in den verschiedenen Auslegungen der
gesellschaftlichen Praxis – vom Leistungsprinzip, dem Karriere-Erfolg, den
Konsumzumutun|A 49|gen des Warenmarktes bis (negativ)
zur Steuerhinterziehung und dem Kaufhausdiebstahl eines 13jährigen – ist
unbestritten, wenn man von den Diskursen der akademischen Ethik absieht.
Sind aber die Chancen zur Verwirklichung dieses Wertes deutlich ungleich
verteilt, wie etwa im Falle der Armut, dann entstehen anomische Situationen,
im Extremfall
“Kriminalität”
. Könnten vielleicht
Armutsmilieus in der Lage sein, diesen Wert in Zweifel zu ziehen?
[143:40] 3. Verwertungszumutungen:
“Was eine Funktion hat, ist
ersetzlich; unersetzlich nur, was zu nichts taugt”
, hat Adorno einmal geschrieben. Diese Behauptung bezog Adorno zwar auf die Kunst; aber
könnte sie nicht auch im pädagogischen Feld einen Sinn haben? Das scheint
zunächst absurd zu sein. Mindestens darin doch sind sich pädagogische Praxis
und Wissenschaft einig, dass allen Einrichtungen des Erziehungs- und Bildungssystems eine Funktion
zugesprochen wird, ein gesellschaftlicher Verwendungssinn dessen, was dort
mit der nachwachsenden Generation geschieht. Notengebung, |a 35|die verschiedenen Zeugnisarten, Übergänge von einer Einrichtung
in die andere, der Streit um die Modernisierung der Lehrpläne, die
Berufseinmündungsprobleme, die damit verbundenen Statuszuweisungen, selbst
noch
“Persönlichkeitsbildung”
,
“Kompetenzerwerb”
– dies alles sind Komponenten der pädagogischen
Funktionscharakteristik, auch wenn sie nicht mehr in dem älteren Vokabular
von Utilität, Brauchbarkeit, Nützlichkeit, von Förderung oder Auslese
vorgetragen werden. Auch die Vokabeln
“Zukunftsschmiede”
oder
“Reparatur”
verweisen auf derartige Funktionen. Die
Sozialpädagogik/Sozialarbeit hat innerhalb solcher Verwendungszumutung ihren
funktionalen Ort: Die Kfz-Werkstatt bringt in Ordnung, was durch Fehler im
Herstellungswerk oder irgendwie unpassende Benutzung unbrauchbar wurde.
[143:41] An den Rändern des Unterrichtssystems, im Hinblick auf Familien, besonders aber im Bereich der Kinder- und
Jugendhilfe können sich Zweifel einstellen, ob solche Beschreibungen
durchweg empirisch triftig und ob die damit verbundenen Erwartungen nicht
eher Zumutungen sind, die einige Skepsis verdienen. Man kann das Problem,
das darin liegt, am ehesten durch extreme Fälle erläutern. Die Integration
behinderter Kinder in die Normalschule, jedenfalls in den ersten sechs Schuljahren, zeigt, dass es sich um eine Frage des pädagogischen Gesamthabitus handelt und
nicht um eine Frage, mit der nur Spezialeinrichtungen konfrontiert sind,
nämlich: Einerseits wird das Kind in einen situativen Kontext eingefädelt,
in dem es beständig den Verwertungszumutungen, der
“Funktion”
des Unterrichtssystems konfrontiert ist, auch wenn das
pädagogische Personal nicht solche Absichten verfolgen sollte; andererseits
sollen die Unterrichtsprozeduren dafür sorgen, dass dieses Kind nicht ständig Versagens-Erfahrungen |A 50|macht. Woher kommt dieses zweite Motiv? Noch konturierter tritt das
Problem hervor, wenn wir an autistische Kinder oder solche mit Down-Syndrom
denken. Kann man in solchen Fällen überhaupt noch pädagogisch vernünftig
handeln in der Perspektive von Funktionen und Verwertungen? Zwischen solchen
Extremfällen und dem Alltag in schulischen oder Jugendhilfe- Einrichtungen
gibt es mannigfache Übergänge, die meine skeptische Frage mal stärker
konturieren, mal in den Hintergrund von
“Ausnahmefällen”
treten lassen.
|a 36|
[143:42]
“Was eine Funktion hat,
ist ersetzlich”
; das gilt für Produkte, Einrichtungen und
Menschen. Was indessen
“zu nichts
taugt”
, das sei, so meinte Adorno,
“unersetzlich”
. Unersetzlich also ist auch ein
Individuum, ein einzelnes Exemplar unserer Gattung, für das die
Tauglichkeits-, Verwertungs- oder Funktionserwartungen ins Leere gehen. Das
ist der Kontrapunkt zu den pragmatischen Entwürfen pädagogischer
Einrichtungen.
4. Schluss: Zwei Konstruktionen von
“Pädagogik”
[143:43] Angesichts dieser Lage ist es nicht leicht, eine Summe zu ziehen,
das Verschiedene auf handliche Formeln zu bringen. Ein solcher Versuch wäre
auch ganz unpassend. Über Generationenverhältnisse, universalistische Moral,
Interkulturalität, ästhesiologische Probleme und über Normalitätsentwürfe,
Armutslagen und Verwertungszumutungen habe ich relativ naiv geredet. Bedenke
ich nun noch einmal, was ich da eigentlich getan habe, dann muss ich
einsehen, dass ich, trotz der vielen Bezugnahmen auf
“Reales”
,
keine Realitäten beschrieben, sondern
Problem-Konstruktionen vorgeschlagen habe. Ist die Art des
Denkens über Pädagogik, die ich dabei vorgeführt habe, eigentlich
akzeptabel? Lasse ich meine sieben Grundfragen noch einmal Revue passieren,
dann fällt mir innerhalb dieser eine Differenz auf, die wichtiger sein
könnte als die einzelnen Themen, die ja ohnehin nur skizzenhaft vorgetragen
wurden und leicht mit anderen Optionen in Konkurrenz geraten können. Es ist
die Differenz zwischen zwei verschiedenen Entwürfen derjenigen Tätigkeiten,
die wir mit den Namen
“Erziehung”
und
“Bildung”
verbinden:
[143:44] Einerseits habe ich, mit den neuzeitlichen Traditionen
pädagogischen Denkens übereinstimmend, diese Tätigkeiten als
Handlungen gedacht. Bei den Stichworten
“Generationenverhältnis”
,
“universalistische
Moral”
,
“Interkulturalität”
und Erziehung
angesichts von
“Armut”
dominierte dieser Entwurf, ganz in
dem Sinne, in dem häufig davon gesprochen wird, dass die Pädagogik eine
“Handlungswissenschaft”
sei.
Verwendet man diese Vokabel, dann wird in der Regel eine schwierige
Unterstellung mitgeführt: die Annahme nämlich, solche Handlungen hätten ein
erreichbares Ziel, die Akteure könnten sich als ihrer selbst bewusste
|A 51|Subjekte inszenieren, und sie |a 37|könnten, durch derartig gedachte pädagogische Handlungen, die
nachwachsende Generation auf den gleichen Weg bringen. Dieser Weg wird dann
häufig so gedacht, dass er auf einen (unendlich fern liegenden) Fluchtpunkt, ein Telos, einen
geschichtsphilosophisch ausmachbaren Endzweck hinführt. Wer den modisch
gewordenen Ausdruck
“Handlungskompetenz”
verwendet, sei
es zur Beschreibung von Ausbildungsabsichten für professionelle Pädagogen,
sei es zur Beschreibung dessen, was man bei den Edukanden zu erreichen
hofft, folgt dieser Konstruktion, auch wenn er die geschichtsphilosophischen
Implikationen auf sich beruhen lässt. Es scheint, als gäbe es dazu keine
vernünftige Alternative. Von der Alphabetisierung über soziales Lernen,
heilpädagogische Formen der Behandlung bis hin zur Therapie von Süchten und
Abhängigkeiten ist uns diese Form der Zweckrationalität, die vernünftige
Begründung der Zwecke und die angemessene Wahl von Mitteln, um sie zu
erreichen, auferlegt.
[143:45] Was aber wäre der Fall, wenn wir daran zweifeln würden, dass wir, in jenem idealistischen Sinne von Handlungskompetenz,
tatsächlich bewusst und in den Folgen kalkulierbar, Subjekte unseres Handelns sind? Die
Geschichte unseres Jahrhunderts hat dafür schmerzhafte Beispiele parat. Aber
auch in der kleinteiligen trivialen pädagogischen Praxis gehört es zur
alltäglichen Erfahrung, dass wir, die erwachsene Generation, uns undurchsichtig bleiben können und dass die rational entworfenen Erziehungshandlungen – trotz der
überwältigenden Fülle empirischer Forschung in diesem Feld – ihr Ziel nicht
erreichen. Seit Marx, Freud und Foucault können wir das wissen. In solcher Lage erscheint es anmassend anzunehmen, dass die zweckrational angelegten pädagogischen Handlungen mehr als nur
Oberflächenphänomene erreichen – auch wenn schon diese wichtig genug sein
sollten. Es bedarf deshalb einer zweiten, nicht alternativen, aber
konkurrierenden Konstruktion.
[143:46] Einer solchen zweiten Konstruktion folgen – andererseits
– meine Stichworte
“Ästhesiologie”
,
“Normalitätsentwürfe”
und
“Verwertungszumutungen”
.
In diesen Fällen habe ich es nicht auf die zweckrational organisierbaren
pädagogischen Handlungen mit den je zugehörigen Kompetenzen abgesehen,
sondern ein anderes Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern konstruiert.
Man hat ihm den Namen
“Teilhabe”
oder, in Erinnerung |a 38|an Platon,
gegeben
(Lenzen 1996)
. Man kann das philosophisch oder biologisch fundieren. Eines der
biologisch relevanten Prinzipien ist die
“Resonanz”
(Cramer 1996), d.h. das biochemisch ermittelte Mitschwingen der Zellen mit dem, was in
den anderen geschieht. Die pädagogische Phänomenologie nennt das, bezogen
auf menschliche Interaktion,
“Responsivität”
. Da wir,
trotz der vielen Hypothesen, nicht zuverlässig wissen, wie ein Organismus
seine kulturelle Gestalt |A 52|als Individualität findet
und wie diese zum souveränen Subjekt ihres Handelns werden könnte, da also
unser prognostisches Wissen allzu dürftig ist, wäre es vielleicht hilfreich,
dem traditionellen Konstrukt des voll handlungskompetenten Subjekts ein
anderes Konstrukt an die Seite zu stellen. Kein Kind muss durch Pädagogik
“zum Menschen gemacht”
werden, wie es in der
pädagogischen Tradition gelegentlich hiess. Es ist dies immer schon, und zwar vor jeder pädagogischen
Bemühung. Die
“Idee”
des Menschen – wenn man so
platonisch reden will – zeigt sich in jedem Neuankömmling von Beginn an, sie muss nicht erst hergestellt werden.
[143:47] Die Grenzen, bei dieser Konstruktion, verlaufen anders.
Es ist dann, für die pädagogische Tätigkeit, nicht die Differenz zwischen
handlungskompetenten und -inkompetenten Teilnehmern an einer Sozietät,
sondern die Differenz zwischen einer Tätigkeit, die solche
“Resonanz”
oder
“Responsivität”
verhindert und
einer anderen, die sie zulässt. Der Philosoph R.
Rorty, sonst gar nicht auf erziehungsphilosophische Erörterungen
erpicht, hat dies auf eine knappste Formel gebracht. Die eine
Frage, die nämlich nach der kompetenten Teilnahme an der res publica, sei letzten Endes eine nach dem je
herrschenden Vokabular, eine Frage also danach, wie wir über das Verhältnis
zwischen Individuum und Gesellschaft reden – und da gibt es viele
Varianten. Die andere Frage sei die,
“ob du
Schmerzen hast”
,
“leidest du?”
Es sei möglich,
beide Fragen zu stellen, ohne die eine der anderen
aufzuopfern.