Terrorismus, Jugend und Erziehung [Werkkommentar]

1 Werk: Formale Beschreibung

1.1 Leittext

[1] Mollenhauer, Klaus. Terrorismus, Jugend und Erziehung (Beitrag 1979; KMG 067-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqmg&edition=a.
[2] Basierend auf:
  • [3] Mollenhauer, Klaus (1979). Terrorismus, Jugend und Erziehung. In Iring Fetscher, Klaus Mollenhauer, Heinz Steinert, Heinz Giehring & Thomas Ziehe (Hrsg.), Jugend und Terrorismus: Ein Hearing des Bundesjugendkuratoriums (S. 27–39). München: Juventa.
[4] Der Beitrag geht zusammen mit den übrigen vier Beiträgen des Sammelbandes auf eine Expertenanhörung auf einer Arbeitssitzung des Bundesjugendkuratoriums vom 26. bis 27. September 1978 zurück. Der Text Mollenhauers umfasst 13 Seiten und ist in einen einleitenden Abschnitt und drei Kapitel (teils mit nummerierten Unterabschnitten) gegliedert. Bezugnahmen auf den Fachdiskurs werden nicht mit Quellen- und Literaturnachweisen belegt.

1.2 Weitere Fassungen

[5] Mollenhauer, Klaus (067-b). Jugend und Terrorismus. Wider den pädagogisch-politischen Aberglauben (Zeitschriftenartikel 1979). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition (2024). Hrsg. von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller.
[6] Basierend auf:
  • [7] Mollenhauer, Klaus (1979). Jugend und Terrorismus. Wider den pädagogisch-politischen Aberglauben. betrifft:erziehung, 12(9), 42–44.
[8] Der Artikel ist als Vorabdruck des Sammelbandbeitrags KMG 067-a erschienen und wurde im Textumfang um etwa die Hälfte gekürzt. Die in den Vorabdruck aufgenommenen Textteile sind nahezu (bis auf teils veränderte Zwischenüberschriften und Formatierungen) identisch mit den entsprechenden Teilen der Langfassung. Obwohl als Vorabdruck chronologisch vor dem Sammelbandbeitrag erschienen, wird der Artikel aufgrund der erheblichen Kürzungen in der KMG als b-Fassung geführt.

1.3 Übersetzungen

[9] Übersetzungen liegen unserem Kenntnisstand nach nicht vor.

1.4 Unveröffentlichte Quellen

[10] SUB Göttingen, Cod. Ms. K. Mollenhauer
  • [11] Manu. pub. 70 14: Mollenhauer, Klaus (Sept. 1978). Terrorismus – Jugend – Erziehung. Vortrag Bonn/Bundesjugendkuratorium (Bundesministerium für Familie, Jugend und Gesundheit), Bonn. (12 Seiten. Notiz auf Seite 1:
    Vortrag Bonn/Bundesjugendkuratorium (Bundesministerium für Familie, Jugend und Gesundheit) Sept. 1978
    )
  • [12] Manu. pub. 70 15: Mollenhauer, Klaus (1979). Terrorismus – Jugend – Erziehung. (Abdruck des publizierten Beitrags 1979, o. O., 8 Blätter.)

2 Inhalt und Kontexte

[13] In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre verbanden sich unterschiedliche Stränge im öffentlichen Diskurs über Erziehung zu einer lebhaften Debatte zu den Folgen der Liberalisierung von Erziehungspraxen im Laufe des vorangegangenen Jahrzehnts. Konservative Erziehungskritik auf der einen Seite (vgl. die durch das Forum Mut zur Erziehung (vgl. Lübbe et al., 1978) ausgelösten Diskussionen, hierzu auch KMG 060-a), Radikalisierungen in Teilen der marxistisch orientierten Erziehungswissenschaft (Gamm, 1972) und in der pädagogischen Praxis (so z. B. in der Antipädagogik, vgl. Braunmühl, 1975) auf der anderen Seite, sowie neue Phänomene einer politisch resignativen, hedonistischen, selbstbezogenen und in Teilen gewaltbereiten Jugendkultur (vgl. KMG 063-a, KMG 065-a, KMG 074-a) führten zu heftigen Auseinandersetzungen sowohl innerhalb der Disziplin als auch in der Öffentlichkeit. Die Debatte wurde weiter angeheizt durch einen am 25.4.1977 unter dem Pseudonym Ein Göttinger Mescalero in den vom ASTA der Universität Göttingen herausgegebenen Göttinger Nachrichten publizierten Text. Hintergrund war die Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback bei einem Terroranschlag der RAF am 7.4.1977. Unter der Überschrift Buback – ein Nachruf äußerte der Autor u. a. eine
klammheimliche Freude
über den Tod Siegfried Bubacks, wenngleich dann im Weiteren vom Autor verschiedene strategische und moralische Argumente gegen den Mordanschlag vorgebracht wurden
(vgl. die Dokumentation auf der Website der Georg-August-Universität Göttingen)
. Der Artikel sorgte in der Öffentlichkeit vielfach für Empörung (vgl. den Rückblick von Reimar Paul in taz.de vom 25.4.2017) und führte zu besorgten öffentlichen Debatten zu den Entwicklungstendenzen in Teilen der damaligen Jugendgeneration (vgl. Fetscher et al., 1979; ferner Aßmann, 2015, S. 236–237).
[14] Mollenhauer tritt in seinem Beitrag der von ihm als Alltagsdoxa bezeichneten Auffassung entgegen, dass der Terrorismus auf die strukturelle gesellschaftliche Gewalt zurückzuführen sei, wie es ihm auch umgekehrt ein Mythos zu sein scheint,
man könne ihn aus individuellen Biographien von Terroristen erklären, oder gar – hier bereits ins Absurde übertrieben – er sei eine Folge von Erziehungspraktiken, wie sie im Rahmen der Reformanstrengungen seit den sechziger Jahren bei uns einige Verbreitung fanden
(KMG 067-a, Abs. 067:1)
. Jeder Versuch, Terrorismus und Erziehung in einen direkten Zusammenhang zu bringen, müsse zu falschen Konsequenzen führen. Anstelle einer solchen
Konstruktion linear-kausaler Wirkungsketten
(KMG 067-a, Abs. 067:8)
vertritt er die These, dass es eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den Gewaltäußerungen unterschiedlicher Jugend-Phänomene wie der Halbstarken in den 1950er Jahren, der Rocker und den Terroristen gebe, die es zunächst einmal als Ausdruck eines veränderten Verhältnisses der Generationen zueinander zu verstehen gelte.
Der Konflikt mit den Älteren verliert seine sichtbare Dramatik; die Jugendlichen entfernen sich einfach […], ohne den langwährenden Streit mit den Eltern
(KMG 067-a, Abs. 067:13)
. Anstelle eines Kontaktes zur Tradition seien die kompromißlose Zurückweisung etablierter Lebensformen und die Suche nach einer sogenannten alternativen Lebenspraxis getreten. Die Gesellschaft liefere für eine derartige Suche unterschiedliche Modelle, so etwa die Idole in der kommerziellen Sphäre oder die
ökologischen, religiösen oder neuerdings auch therapeutischen […] Gruppen und Sekten
(KMG 067-a, Abs. 067:14)
, die nur noch stilisierte Realitätserfahrungen möglich machten und zumindest die Phantasie gewaltsamer Reaktionen zuießen. Problematisch sei, dass die erwachsene Generation angesichts dieser neuen Verhaltensformen der jüngeren Generation ihrerseits lediglich mit staatlicher Gewalt zu antworten bereit sei und damit
in dem Empfinden vieler Jugendlicher die Gewaltaktionen nachträglich als gerechtfertigt erscheinen
(KMG 067-a, Abs. 067:21)
.
[15] Während der erste Textabschnitt (Pädagogik und Politik) und der zweite Textabschnitt (Der indirekte Zusammenhang von
Terrorismus
, Jugend-Problematik und Erziehung
) auf eine derartige Gegenwartsanalyse zielen, beschäftigt sich der dritte Textabschnitt (Die pädagogische Problemlinie) mit dem Versuch, eine pädagogische Perspektive auf die skizzierten Probleme einzunehmen. Ausgehend von der zu Beginn der Moderne von Friedrich Schleiermacher aufgestellten und bis dato weitgehend uneingelösten Forderung,
der Jugend zu helfen,
mit Kraft
in eine Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse einzutreten, drohen wir ihnen dort, wo sie es versuchen – freilich häufig ungeschickt, häufig auch mit uns gefährlich anmutenden Sympathien, häufig auch für uns beängstigend – mit dem Abbruch der Kommunikation
(KMG 067-a, Abs. 067:24)
. Angesichts dieser Situation sieht Mollenhauer
drei Typen von Problemen im Umgang mit der Jugend, die wir lösen müssen, wenn wir ein dem Stand der geschichtlichen Entwicklung und der pädagogischen Vernunft angemessenes Verhältnis zwischen den Generationen wollen
(KMG 067-a, Abs. 067:25, Herv. i. O.
): Erstens die durch die erwachsene Generation mit erzeugten
Aporien der Identitäts- und Lebensstilsuche akzeptieren [zu] lernen
und sich ernsthaft auf eine Auseinandersetzung über Alternativen zu den tradierten Lebensmodellen einzulassen
(KMG 067-a, Abs. 067:26–27)
; zweitens anstelle der im rechten, aber auch im linken politischen Lager vorfindbaren Selbstgewissheit bzgl. des eigenen Lebensstils die prinzipielle Unabgeschlossenheit der Wahrheitssuche anzuerkennen; und drittens sich für eine ethische Diskussion jener Normen zu öffnen,
die als konsensfähig für alle akzeptierbar wären
(KMG 067-a, Abs. 067:28)
.
[16] Weitere Ausführungen zur Interpretation des besonderen Habitus der damaligen Jugendgeneration und zu entsprechenden pädagogischen Handlungsperspektiven finden sich auch in anderen Texten Mollenhauers (insbesondere KMG 060-a, KMG 063-a, KMG 065-a, KMG V52-a, KMG 074-a).

3 Rezeption

[17] Auf das Werk wurde im Rahmen einer Analyse der Jugendgewalt in den 1970er Jahren, insbesondere der Mescalero-Affäre und dem von Anschlägen der Roten Armee Fraktion gekennzeichneten sogenannten Deutschen Herbst, Bezug genommen, um den Zusammenhang zwischen Jugendgewalt und der gesellschaftlichen Situation der Jugendgeneration zu beleuchten (Lindner, 1996, S. 310). Aßmann hebt Mollenhauers Beitrag als Ausnahme in einer ansonsten defizitären Forschungslage zum Zusammenhang von radikaler Gewaltaffinität und Bildung hervor (Aßmann, 2020, S. 71).

4 Literatur

4.1 Andere hier verwendete Werke von Klaus Mollenhauer

    [18] Mollenhauer, Klaus. Die Thesen machen keinen Mut (Beitrag 1978; KMG 060-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqnv&edition=a.
    [19] Mollenhauer, Klaus. Condorcet versus Rousseau: Versuch einer Erläuterung der Schwierigkeiten, die ein Pädagoge mit dem Thema haben kann (Beitrag 1979; KMG 063-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqn1&edition=a.
    [20] Mollenhauer, Klaus. Kinder und ihre Erwachsenen. Anmerkungen zur Tradition des pädagogischen
    Kolonialismus
    (Beitrag 1979; KMG 065-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqmm&edition=a.
    [21] Mollenhauer, Klaus. Thesen zu den Prinzipien eines Konzeptes offener Jugendarbeit (Beitrag 1979; KMG V52-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqmd&edition=a.
    [22] Mollenhauer, Klaus. Ist das Verhältnis zwischen den Generationen gestört? (Beitrag 1982; KMG 074-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqkx&edition=a.

4.2 Weitere Literatur

    [23] Aßmann, Alex (2015). Klaus Mollenhauer. Vordenker der 68er – Begründer der emanzipatorischen Pädagogik. Eine Biografie. Paderborn: Schöningh.
    [24] Aßmann, Alex (2020). Bildung und radikale Gewalt. Essay über politische Radikalisierungsprozesse als bildungstheoretisches Themenfeld. Zeitschrift für Praktische Philosophie, 7(2), 67–90.
    [25] Braunmühl, Ekkehard von (1975). Antipädagogik. Studien zur Abschaffung der Erziehung. Weinheim: Beltz.
    [26] Fetscher, Iring, Mollenhauer, Klaus, Steinert, Heinz, Giehring, Heinz & Ziehe, Thomas (Hrsg.) (1979), Jugend und Terrorismus: Ein Hearing des Bundesjugendkuratoriums. München: Juventa.
    [27] Gamm, Hans-Jochen (1972). Das Elend der spätbürgerlichen Pädagogik. Studien über den politischen Erkenntnisstand einer Sozialwissenschaft. München: List.
    [29] Lindner, Werner (1996). Jugendprotest seit den fünfziger Jahren. Dissens und kultureller Eugensinn. Opladen: Leske und Budrich.
    [30] Lübbe, Hermann, Spaemann, Robert, Bausch, Hans, Mann, Golo, Hahn, Wilhelm & Lobkowicz, Nikolaus (1978). Mut zur Erziehung. Beiträge zu einem Forum am 9./10. Januar 1978 im Wissenschaftszentrum Bonn-Bad Godesberg. Stuttgart: Klett-Cotta.
    [31] Paul, Reimar (25.4.2017). Göttinger
    Buback-Nachruf
    vor 40 Jahren. Nur vier Zeilen zitiert. taz. https://taz.de/Goettinger-Buback-Nachruf-vor-40-Jahren/!5404214/ .
[32] [Hans-Rüdiger Müller]