Diderot und Chardin – Zur Theorie der Bildsamkeit in der Aufklärung [Werkkommentar]

1 Werk: Formale Beschreibung

1.1 Leittext

[1] Mollenhauer, Klaus. Diderot und Chardin – Zur Theorie der Bildsamkeit in der Aufklärung (Beitrag 1988; KMG 098-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqh9&edition=a.
[2] Basierend auf:
  • [3] Mollenhauer, Klaus (1988). Diderot und Chardin – Zur Theorie der Bildsamkeit in der Aufklärung. Pädagogische Korrespondenz, 4, 33–46.
[4] Das Werk erschien 1988 als Zeitschriftenaufsatz in der Pädagogischen Korrespondenz unter der Rubrik Das historische Lehrstück und umfasst 13 Druckseiten inklusive eines Literaturverzeichnisses und zweier schwarz-weißen Abbildungen von Kunstwerken Chardins.

1.2 Weitere Fassungen

[5] Weitere Fassungen liegen unserem Kenntnisstand nach nicht vor.

1.3 Übersetzungen

[6] Übersetzungen liegen unserem Kenntnisstand nach nicht vor.

1.4 Unveröffentlichte Quellen

[7] SUB Göttingen, Cod. Ms. K. Mollenhauer
  • [8] Manu. pub. 80 50: Klaus Mollenhauer (o. D.). Diderot und Chardin – Zur Theorie der Bildsamkeit (händisch auf erster Seite vermerkt:
    1. Fassung
    , Manuskript des Aufsatzes z. T. geklebt mit Korrekturen, Umfang: 19 Seiten)
  • [9] Manu. pub. 80 51: Klaus Mollenhauer (o. D.). Diderot und Chardin – Zur Vorgeschichte der Theorie der Bildsamkeit (händisch auf erster Seite vermerkt:
    1. Ausdruck
    , Manuskript des Aufsatzes mit Korrekturen, Umfang: 18 Seiten)
  • [10] Manu. pub. 80 52: Klaus Mollenhauer (o. D.). Diderot und Chardin – Zur Vorgeschichte der Theorie der Bildsamkeit (Manuskript des Aufsatzes, Korrigierte Fassung, Umfang: 18 Seiten)
  • [11] Korr. All. Kut: 18.2.-18.11.1988, Korrespondenz zwischen Klaus Mollenhauer und Günter Kutscha (zur geplanten Gedenkschrift zum 60. Geburtstag von Herwig Blankertz)
  • [12] Korr. All. Lenz 13: 23.6.1986, 18-seitiger Brief von Klaus Mollenhauer an Dieter Lenzen (zur Gedenkschrift zum 60. Geburtstag von Herwig Blankertz)
  • [13] Uni-Lehre 80 11-001: Vorlesung: Stationen neuzeitlicher Bildungstheorie. Interpretationen von Bildern aus fünf Jahrhunderten (innere und äußere Gliederung der Vorlesung, Tabelle)

2 Inhalt und Kontexte

[14] Ursprünglich sollte der Aufsatz in einer Gedenkschrift zum 60. Geburtstag von Herwig Blankertz publiziert werden, er wurde jedoch schließlich nicht in den Band aufgenommen, da sich die Herausgebenden entschieden,
nur solche Beiträge zu berücksichtigen, die sich kritisch oder konstruktiv mit der Pädagogik von Herwig Blankertz auseinandersetzen.
(3.10.1988, Korr. All. Kut, S. 1)
. Dieser Hintergrund erklärt aber die kurze Nennung Blankertz’ zu Beginn des Artikels.
[15] In Auseinandersetzung mit Diderot und Chardin, insbesondere mit dem Bild
Die junge Lehrerin
von letzterem setzt Mollenhauer seine Reihe solcher Untersuchungen fort, in denen er grundlegende Probleme der Pädagogik und ihrer Geschichte durch Werke aus Kunst und Literatur neu interpretiert. Hier die beiden, wie Mollenhauer schreibt, in der Geschichte der Pädagogik bisher kaum beachtete Personen, werden von ihm herangezogen, um die Theorie der Bildsamkeit der Aufklärung zu untersuchen und dabei wesentlich in ihrer Uneindeutigkeit zu betonen. Während die Pädagogik der Aufklärungszeit in späterer Zeit oft auf eine Formel der
Vernunftorientierung
gebracht wird, die dann durch eine ebenso vereindeutigende und verkürzende Formel der romantischen Epoche gebrochen wird, zeigt Mollenhauer hier durch die Auseinandersetzung mit sensualistischem Material und Wahrnehmungs-, Rezeptions- und Perzeptionsanalysen des Bildes Chardins, die bis dahin vernachlässigte Vieldeutigkeit der Epoche um die Mitte des 18. Jahrhunderts.
[16] Diderot rezensierte in seinem
Salon
im Louvre inszenierte Ausstellungen und maß Chardins Werken dabei eine besondere Rolle zu. Chardins Gemälde, vor allem
Die junge Lehrerin
(1735–36), dienen Mollenhauer als Exemplifizierung eines sensualistischen Problems, welches sowohl in der Ästhetik als auch als Komponente von Bildungsproblemen interpretiert werden könne. Ästhetisch thematisiert er die unscharfe Bildmitte, das Nichterkennen dessen, worauf die Lehrerin zeigt, die Verschiedenheit der Figuren,
en face und en profil
(KMG 098-a, Abs. 098:31)
. Dies setzt er in Beziehung zu den stets im Ungewissen liegenden Gegenständen des Lernens und der häufig mehrdeutigen Zeigegeste von Lehrer*innen. Mit Bezugnahme auf Johann Friedrich Blumenbachs Theorie des Bildungstriebs von 1781, einem gleichsam organischen Pendant des pädagogischen Begriffs der Bildsamkeit, kommt er zu dem Schluss, Chardin schaffe es durch seine Malweise,
am Beispiel einer Lehr-Lern-Situation
(KMG 098-a, Abs. 098:17)
den Blick auf die Komponente der Erwachsenen-Kind-Beziehung sowie auf die Bedeutung der Differenz von Sinnlichkeit und Begriff für den Vorgang der Bildsamkeit zu lenken. Mollenhauer weist dabei auf den
sensuelle[n] Widerspruch zwischen perspektivischer Zeichnung und gleichsam
kontrafaktischer
Farbe
(KMG 098-a, Abs. 098:30)
und seinen individuellen Stil (KMG 098-a, Abs. 098:28–32) hin. Diderot gelinge dies ebenfalls durch die literarische Form des Dialogs, welcher beispielsweise in den
Gespräche[n] mit D´Alembert
(1769) zu finden ist und der darin ausführlich umschriebenen sensualistischen Thematik (KMG 098-a, Abs. 098:32–34).
[17] Chardin und seine Kunst beschäftigte Mollenhauer auch vor diesem Werk, dies zeigt eine Tabelle zur im Sommersemester 1986 gegebenen Vorlesung
Stationen neuzeitlicher Bildungstheorie. Interpretationen von Bildern aus fünf Jahrhunderten
(Uni-Lehre 80 11-001), wo das Gemälde
Die junge Lehrerin
bereits auftaucht, sowie ein 18-seitiger Brief an Dieter Lenzen, in dem Mollenhauer bereits seinen Beitrag zu Chardin ankündigt (Mollenhauer an Lenzen, 23.6.1986, Korr. All. Lenz 13, S. 7). Das Thema Bildsamkeit findet sich bereits fünf Jahre zuvor (1983) in den Vergessenen Zusammenhängen (KMG 081-A), dort als 3. Kapitel (Bildsamkeit Oder: Vertrauen, daß Kinder lernen wollen). Auch dort interpretiert Mollenhauer Kunstwerke, allerdings nicht von Chardin (siehe Werkkommentar zu KMG 118). Die Gemälde Chardins und auch die Texte Diderots werden in einigen weiteren Werken von Mollenhauer herangezogen (siehe z. B. KMG 095; KMG 114-a; KMG 133; KMG 134-A).

3 Rezeption

[18] In derselben Ausgabe der Pädagogischen Korrespondenz erschien ebenfalls unter der Rubrik Das pädagogische Lehrstück ein Aufsatz von Andreas Gruschka mit dem Titel Das Interesse an der Geschichte. Ergänzende Überlegungen zum Beitrag von Klaus Mollenhauer mit herzlichen Glückwünschen zu seinem 60. Geburtstag. Gruschka bettet Mollenhauers Werk in die Reihe der nach objektivierender Erkenntnis strebenden Pädagog*innen ein. Dabei sei dessen Versuch, durch Bildinterpretationen an
Schätze[] positiven Wissens über gelingende Erziehung
(Gruschka, 1988, S. 49)
zu gelangen, inspirierend für weiterführende Deutungen. Gruschka warnt zu Beginn seines Aufsatzes, dass durch die Verwendung von Bildern
mit der entsprechend positiven Bildinterpretation bloß eine neue Variante affirmativer Geschichtsschreibung
(Gruschka, 1988, S. 49)
entwickelt werden könne. Er arbeitet daher das Herrschaftsmoment, das Machtgefüge zwischen Lehrer*in und Kind heraus, da das Kind nur lerne, was vom Lehrer/von der Lehrerin vorgegeben werde.
Die Macht des Lehrers wird zum Mittel, um die zivilisatorisch verordnete Spaltung von Sinnlichkeit und Verstand durchzusetzen.
(Gruschka, 1988, S. 51)
[19] Michael Parmentier schreibt in seinem Nachruf, Mollenhauer habe sich zur Beantwortung bildungstheoretischer Fragestellungen weniger bekannten Autor*innen in der Erziehungswissenschaft gewidmet, und nennt als
pädagogische[n] Geheimtip [sic!] Diderot
(Parmentier, 1998, S. 31)
. Und in einem weiteren Nachruf danken die Herausgebenden der Pädagogischen Korrespondenz Mollenhauer für seinen Beitrag zu Diderot und Chardin,
an den sich noch viele Studien zur Bildung im Kindesalter anschließen lassen
(Parmentier & Gruschka, 1998, S. 5)
. Ein Beispiel dafür wäre etwa Sehen Sehen. Ein bildungstheoretischer Versuch über Chardins
L´enfant au toton
, die 1993 in Berlin gehaltene Antrittsvorlesung von Michael Parmentier, in der er sich mit ähnlichen Fragen wie Mollenhauer einem anderen Gemälde Chardins nähert.
[20] Im Kontext dieser Diskussionen um Bildung und Bildsamkeit sowie deren frühen, von der erziehungswissenschaftlichen Historiographie bis dahin jedoch völlig vernachlässigten Bedeutsamkeit der Leiblichkeit und Sinnlichkeit des sich bildenden Subjekts entstand auch die von Hans-Rüdiger Müller verfasste Habilitationsschrift zur Ästhesiologie der Bildung (Müller, 1998).

4. Literatur

    [21] KMG 081-A
    [22] KMG 095
    [23] KMG 114
    [24] KMG 133
    [25] KMG 134-A

4.2 Weitere Literatur

    [26] Gruschka, Andreas (1988). Das Interesse an der Geschichte. Ergänzende Überlegungen zum Beitrag von Klaus Mollenhauer mit herzlichen Glückwünschen zu seinem 60. Geburtstag. Pädagogische Korrespondenz, 4, 47–53.
    [27] Müller, Hans-Rüdiger (1998). Ästhesiologie der Bildung. Bildungstheoretische Rückblicke in die Anthropologie der Sinne im 18. Jahrhundert. Würzburg: Königshausen & Neumann.
    [28] Parmentier, Michael (1993). Sehen Sehen. Ein bildungstheoretischer Versuch über Chardins
    L’enfant au toton
    . In Hans-Georg Herrlitz & Christian Rittelmeyer (Hrsg.), Exakte Phantasie. Pädagogische Erkundungen bildender Wirkungen in Kunst und Kultur (S. 105–121). Weinheim [u. a.]: Juventa.
    [29] Parmentier, Michael (1998). Entdeckt, was ihr wollt. Zum Tode von Klaus Mollenhauer. Eine Würdigung. Erziehungswissenschaft, 9(17), 23–42.
    [30] Parmentier, Michael & Gruschka, Andreas (1998). Der Pädagoge als Intellektueller. Erinnerungen an Klaus Mollenhauer. Pädagogische Korrespondenz, 23, 5–24.
[31] [Lisa-Katharina Heyhusen & Cornelie Dietrich]