Die vergessene Dimension des Ästhetischen in der Erziehungs- und Bildungstheorie [Werkkommentar]

1 Werk: Formale Beschreibung

1.1 Leittext

[1] Mollenhauer, Klaus. Die vergessene Dimension des Ästhetischen in der Erziehungs- und Bildungstheorie (Beitrag 1990; KMG 114-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqfx&edition=a.
[2] Basierend auf:
  • [3] Mollenhauer, Klaus (1990). Die vergessene Dimension des Ästhetischen in der Erziehungs- und Bildungstheorie. In Dieter Lenzen (Hrsg.), Kunst und Pädagogik. Erziehungswissenschaft auf dem Weg zur Ästhetik? (S. 3–17). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
[4] Das Werk erschien 1990 in dem Buchteil Vergewisserungen und umfasst 15 Druckseiten. Die von Mollenhauer verwendete Literatur ist in einem Gesamtverzeichnis, das die verwendete Literatur in den Texten aller Beitragenden des Sammelbandes auflistet, am Ende des Sammelbandes (S. 211–219) aufgeführt.

1.2 Weitere Fassungen

[5] Weitere Fassungen liegen unserem Kenntnisstand nach nicht vor.

1.3 Übersetzungen

[6] Übersetzungen liegen unserem Kenntnisstand nach nicht vor.

1.4 Unveröffentlichte Quellen

[7] SUB Göttingen, Cod. Ms. K. Mollenhauer
  • [8] Korr. All. Lenz 08: 24.2.-2.3.1989, Briefwechsel zwischen Klaus Mollenhauer und Dieter Lenzen (Vorbereitung der Publikation. Daneben erörtern Mollenhauer und Lenzen hier Fragen über Fiktionalität und Realität über ästhetische Fragen hinaus)

2 Inhalt und Kontexte

[9] Der Text entstand für eine Vortragsreihe, die an der Hochschule der Künste Berlin 1989/90 vom dortigen Vizepräsidenten Wolfgang Nickel in Zusammenarbeit mit Dieter Lenzen organisiert wurde (Lenzen, 1990, S. VIII). Diese Vortragsreihe wurde in Teilen in dem genannten Sammelband publiziert. Für die Publikation ausgewählt wurden neben einem Beitrag von Mollenhauer solche von Alfred Langewand, Otto Karl Werckmeister, Konrad Wünsche, Helga de la Motte-Haber, Helmut Hartwig, Theodor Schulze, Gert Mattenklott, Gerhard de Haan, Christoph Wulf und Dieter Lenzen. Im Anschluss an die Vortragsreihe fand eine Diskussion (KMG V72-a), zu der alle Vortragenden eingeladen waren, statt.
[10] Den Veranstaltern ging es um die Frage, ob zu Beginn der 1990er Jahre und im Kontext postmodernen Denkens das Verhältnis von Kunst und Pädagogik neu zu bestimmen sei. Lenzen geht zunächst allerdings von einem ganz anderen Verhältnis aus, indem er Naturwissenschaft und Erziehungswissenschaft insofern als homolog charakterisiert, als beide auf eine – stets zu verbessernde – Praxis bezogen seien, hier die Technik, dort die Erziehung. Sowohl in den Naturwissenschaften als auch in den Erziehungswissenschaften stellten sich angesichts einer wachsenden Skepsis gegenüber der modernen Idee einer stetigen Optimierung und eines stetigen Wachstums an Wissen und neuen Entwicklungen Fragen nach einer Rückbesinnung auf ästhetische Dimensionen der jeweiligen Wissenschaften, die mit den Begriffen einer
ökologischen Naturästhetik
(Böhme, 1989)
oder der traditionsreichen Vorstellung der Erziehung als einer Kunst angedeutet werden können.
[11] Mollenhauer nimmt den Grundgedanken Lenzens indes nicht auf, ihm geht es nicht um eine Bearbeitung der Frage, ob die Erziehung statt oder neben einer Technik nicht auch eine Kunst genannt werden könnte, sondern allgemeinpädagogisch um das Verhältnis von Kunst und Pädagogik sowie bildungstheoretisch um die ästhetische Dimension der Bildung des Menschen. Das Werk gliedert sich in drei Abschnitte. Im ersten (
Hoffnungen
) vertritt und erläutert Mollenhauer die These, dass Kunst und Pädagogik deutlich zu trennen seien, und warnt mit zum Teil starken Formulierungen vor
sentimentale[m] Quark
(KMG 114-a, Abs. 114:8)
, der entstehe, wenn man die Angelegenheiten der Erwachsenen, als die er ästhetische Ereignisse – und er denkt dabei in aller Regel an Kunstwerke – ausweist, zu pädagogisieren versuche. In Auseinandersetzung mit den ästhetischen Theorien bzw. Theoriefragmenten Jean-Jacques Rousseaus, Denis Diderots und Friedrich Schillers kommt er zu dem Schluss:
Probleme, die Autoren ästhetischer Ereignisse oder Produkte haben, und Probleme, die Pädagogen mit ihrer Klientel haben, sind offenbar ziemlich verschieden
(KMG 114-a, Abs. 114:9)
. Gleich im Anschluss führt er jedoch auch mögliche Antithesen an, nämlich zum einen die den Schriften der genannten Autoren inhärenten aufklärerischen Volksbildungsinteressen, die ähnlich auch im Bauhaus noch einmal auftauchen (KMG 103-a, sowie im gleichen Band wie KMG 114-a die Beiträge von Werckmeister (1990) und Wünsche (1990)), sowie die bei Diderot auftauchende Formulierung von der Magie der Farben, welche ihn auf die Spur der egologischen Empfindungsseite ästhetischer Wirkungen führt. Im zweiten Abschnitt (
Lesarten
) entfaltet Mollenhauer erneut sein Theorem einer ästhetischen Alphabetisierung, wie er es auch bereits in KMG V69-A und KMG 112-a entworfen hatte. Im dritten Abschnitt (
Die gebrochene Perspektive
) erweitert er das Programm der Alphabetisierung in bildungstheoretischer Hinsicht und bearbeitet damit naheliegende Verkürzungen des Themas in einer durchaus naheliegenden kognitivistischen und rein curricularen Lesart. Mit Rückgriff auf den Autonomiestatus der Künste verweist Mollenhauer hier exemplarisch auf die nicht-semantisierte Musik, die dann auch nicht als Zeichensystem aufgefasst und also analog zur Schrift erlernt werden könne, was der Begriff der Alphabetisierung ja nahelegt. Des Weiteren arbeitet er die je besonderen ästhetisch hervorgebrachten Empfindungen und Gefühle, die das in Bildung begriffene Selbst auf eine Weise differenziere, die nicht ohne Verluste in Sprache zu übersetzen sei.

3 Rezeption

[12] Eine erste ausführliche Rezeption des Textes erscheint im selben Band in Form der durch Thomas Bichler bearbeiteten Dokumentation einer längeren Diskussion, zu der am Ende der Vortragsreihe die Vortragenden eingeladen waren (KMG V72-a). Im Vorwort begründet Lenzen die Ausrichtung des Kolloquiums auf Mollenhauers Beitrag damit, dass
seine These [zur ästhetischen Alphabetisierung, CD] sich wie keine andere eignet, die Positionen zu polarisieren und klar erscheinen zu lassen
(Lenzen, 1990, IX)
.
[13] In späteren Jahren wird dieser Text immer wieder in Verbindung gebracht mit der zu Beginn der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts beginnenden Auseinandersetzung mit der ästhetischen Dimension der Bildung und Erziehung, die durch Mollenhauer angestoßen wurde. Dabei wird mal die bildungstheoretische, mal die ästhetische Positionierung stärker betont, oftmals aber auch beides in ihrer Verbindung.
[14] Michael Parmentier (1998) bezeichnet Mollenhauers wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung mit der ästhetischen Erfahrung und der ästhetischen Dimension des Bildungsprozesses als dessen
Altersthema
(Parmentier, 1998, S. 33)
. So habe Mollenhauer Mitter der 1980er Jahre viele Aufsätze – darunter eben KMG 114-a – verfasst, die in der Kunst eine sozusagen fachdidaktische Unruhe zur Folge hatten (Parmentier, 1998, S. 33). Heinz-Elmar Tenorth (2000) würdigt Mollenhauer in seinem Beitrag anlässlich des Gedenk-Symposiums im November 1998 in Göttingen. Er betont, Mollenhauer habe zu der in den 90er Jahren neu aufgeflammten Debatte über den Bildungsbegriff in entscheidender Weise beigetragen. Seine Beiträge seien
für diese Debatte schon deshalb unentbehrlich gewesen, weil er das Thema der Bildung zu einer Zeit festgehalten hat, als der Mainstream des Faches davon nicht mehr reden wollte
(Tenorth, 2000, S. 87)
.
[15] Stefan Groß (2010) rekonstruiert in seiner Dissertation Zwischen Politik und Kultur. Pädagogische Studien zur Sache der Emanzipation bei Klaus Mollenhauer anhand des Textes KMG 114-a das Innovative sowohl in Mollenhauers Werk als auch in der Disziplin. Indem Mollenhauer sich für Kunstwerke nicht mehr nur als spezifische Quellen der pädagogischen Historiographie, sondern auch als Zeugnisse für Bildungsbewegungen interessiere, betrete er
sowohl in methodischer als auch in phänomenologischer Hinsicht pädagogisches Neuland
(Groß 2010, S. 134)
.
[16] Vielfach ist der Text auch im Kontext spartenspezifischer Auseinandersetzungen aufgenommen und diskutiert worden. Ulrike Hentschel (2004) befasst sich in ihrem Aufsatz Zwischen Material und Bedeutung grundlegend auch mit der Differenz von ästhetischer Erfahrung und dessen Versprachlichung. In der einführenden theaterpädagogischen Verortung ihres Themas arbeitet sie
vor dem Hintergrund der Schriften Klaus Mollenhauers, der in den 1980er und 90er Jahren, als der allgemeine Ästhetikboom auch die Erziehungswissenschaft erreichte, erheblich zur Klärung und Erneuerung der bildungstheoretischen Dimension des Ästhetischen beigetragen hat.
(Hentschel, 2004, S. 157)
Zu ebenjenen Schriften Mollenhauers zählt Hentschel auch KMG 114-a (Hentschel, 2004, S. 157). In vergleichbarer Weise thematisiert Yvonne Ehrenspeck (2002) die bildungstheoretische Bedeutung der musikalischen Bildung in Anlehnung an Mollenhauers Argumentation, auch in KMG 114-a. Neuere Arbeiten aus der Allgemeinen Pädagogik setzen sich ebenfalls mit Mollenhauers Thesen zum Ausdruckspotential in kindlich-ästhetischer Produktivität auseinander (Dietrich, 2015; Klepacki, 2021).

4 Literatur

4.1 Andere hier verwendete Werke von Klaus Mollenhauer

    [17] Mollenhauer, Klaus. Ästhetische Bildung und Kultur – Begriffe, Unterscheidungen, Perspektiven (Monografie 1988; KMG V69-A). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqhc&edition=A.
    [18] Mollenhauer, Klaus. Ästhetische Bildung als Kritik, oder: Hatte das
    Bauhaus
    eine Bildungstheorie? (Beitrag 1989; KMG 103-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqgp&edition=a.
    [19] Mollenhauer, Klaus. Ästhetische Bildung zwischen Kritik und Selbstgewißheit (Beitrag 1990; KMG 112-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqg2&edition=a.
    [20] Mollenhauer, Klaus. Kunst und Pädagogik als Alphabetisierungsaufgabe. Eine Dokumentation der Diskussion über den Beitrag von Klaus Mollenhauer (Gespräch 1990; KMG V72-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqfs&edition=a.

4.2 Weitere Literatur

    [21] Böhme, Gernot (1989). Für eine ökologische Naturästhetik. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
    [22] Dietrich, Cornelie (2015). Die Theorie der ästhetischen Bildung bei Klaus Mollenhauer. In Tom Braun, Max Fuchs & Wolfgang Zacharias (Hrsg.), Theorien der Kulturpädagogik (S. 277–289). Weinheim [u. a.]: Beltz Juventa.
    [23] Ehrenspeck, Yvonne (2002). Stichwort Ästhetik und Bildung. Zeitschrift für Kritische Musikpädagogik, 4(1), 1–24.
    [24] Groß, Stefan (2010). Zwischen Politik und Kultur. Pädagogische Studien zur Sache der Emanzipation bei Klaus Mollenhauer. Würzburg: Königshausen & Neumann.
    [25] Hentschel, Ulrike (2004). Zwischen Material und Bedeutung. Ästhetische Erfahrung und Sprache im zeitgenössischen Theater und in der Theaterpädagogik. In Gundel Mattenklott & Constanze Rora (Hrsg.), Ästhetische Erfahrung in der Kindheit. Theoretische Grundlagen und empirische Forschung (S. 157–170). Weinheim [u. a.]: Juventa.
    [26] Klepacki, Leopold (2021). Pädagogische (Un-)Möglichkeiten des Ästhetischen. Die Verhandlung des Verhältnisses von Kunst und Pädagogik bei Klaus Mollenhauer, Gunter Otto und Gert Selle. In Jörg Zirfas, Moritz Krebs, Leopold Klepacki, Daniel Burghardt, Diana Lohwasser, Juliane Noack Napoles & Tanja Klepacki (Hrsg.), Geschichte der Ästhetischen Bildung. Das 20. Jahrhundert (Bd. 4, S. 261–285). Paderborn: Brill, Ferdinand Schöningh.
    [27] Lenzen, Dieter (1990). Vorwort. In Dieter Lenzen (Hrsg.), Kunst und Pädagogik. Erziehungswissenschaft auf dem Weg zur Ästhetik? (S. VII–XI). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
    [28] Parmentier, Michael (1998). Entdeckt, was ihr wollt. Zum Tode von Klaus Mollenhauer. Eine Würdigung. Erziehungswissenschaft, 9(17), 23–42.
    [29] Tenorth, Heinz-Elmar (2000). Bildung – was denn sonst? In Cornelie Dietrich & Hans-Rüdiger Müller (Hrsg.), Bildung und Emanzipation. Klaus Mollenhauer weiterdenken. (S. 87–101). Weinheim [u. a.]: Juventa.
    [30] Werckmeister, Otto Karl (1990). Klees Kunstunterricht. In Dieter Lenzen (Hrsg.), Kunst und Pädagogik. Erziehungswissenschaft auf dem Weg zur Ästhetik? (S. 28–44). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
    [31] Wünsche, Konrad (1990). Das Bauhaus als
    Erzieher
    . Fragen nach dem Anteil der Pädagogik am Bauhaus. In Dieter Lenzen (Hrsg.), Kunst und Pädagogik. Erziehungswissenschaft auf dem Weg zur Ästhetik? (S. 45–59). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
[32] [Cornelie Dietrich]