Gibt es für die Erziehungswissenschaft eine Zukunftsperspektive? [Werkkommentar]

1 Werk: Formale Beschreibung

1.1 Leittext

[1] Mollenhauer, Klaus. Gibt es für die Erziehungswissenschaft eine Zukunftsperspektive? (Beitrag 1991; KMG 117-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqf7&edition=a.
[2] Basierend auf:
  • [3] Mollenhauer, Klaus (1991). Gibt es für die Erziehungswissenschaft eine Zukunftsperspektive? In Tapio Aittola & Jürgen Matthies (Hrsg.), Philosophie, Soziologie und Erziehungswissenschaft in der Postmoderne (S. 23–35). Nykykulttuurin Tutkimusyksikkö: Universität Jyväskylä/Finnland.
[4] Das Werk erschien 1991 und umfasst 13 Druckseiten inklusive Literaturverzeichnis. Der Text ist in drei Abschnitte gegliedert: 1. Nationale Bestände, 2. Deutsche Bedenklichkeiten und 3. Zukunftsfähige Problemstellungen.

1.2 Weitere Fassungen

[5] Weitere Fassungen liegen unserem Kenntnisstand nach nicht vor

1.3 Übersetzungen

[6] Übersetzungen liegen unserem Kenntnisstand nach nicht vor.

1.4 Unveröffentlichte Quellen

[7] SUB Göttingen, Cod. Ms. K. Mollenhauer
  • [8] Manu. pub. 90 08: Klaus Mollenhauer,(o. D.) Manuskript zum Vortrag an der Universität Jyväskylä in Finnland am 16.11.1990 im Rahmen des interdisziplinären Kolloquiums Soziologie, Philosophie, Erziehungswissenschaft (inhaltlich deckungsgleich mit dem publizierten Aufsatz, 15 S.)
  • [9] Korr. All. Matthi 02: Briefwechsel zwischen Klaus Mollenhauer (11.12.1989, 27.11.1990) und Jürgen Matthies (o. D.) (zur Tagung in Finnland und zum Manuskript sowie zu einer eventuellen Übernahme eines Lehrauftrages in Finnland)
  • [10] Korr. All. Lenz 05: Brief von Dieter Lenzen an Klaus Mollenhauer vom 14.1.1991 (mit Kommentar zu Mollenhauers Vortrag bzw. Aufsatz sowie Äußerungen zu einem Symposium bei einer Tagung der Kommission Wissenschaftsforschung zum Thema
    Ästhetik
    )

2 Inhalt und Kontexte

[11] Im Rahmen der im November 1990 an der Universität Jyväskylä aus Anlass des 350-jährigen Jubiläums des finnischen Universitätswesens stattgefundenen Tagung Philosophie, Soziologie und Erziehungswissenschaft in der Postmoderne hielt Mollenhauer neben dem Soziologen Ulrich Beck und dem Philosophen Wolfgang Welsch einen Hauptvortrag. Eingeladen hatte der deutsche Kollege Jürgen Matthies, zu der Zeit tätig an der Universität Jyväskylä. Über die mögliche Bedeutung der sogenannten Postmoderne wurde zu dieser Zeit in der Erziehungswissenschaft viel diskutiert. Dieter Lenzen, dem Mollenhauer den Vortragstext zusandte, kommentierte den Vortrag in einem Brief vom 14.1.1991 (Lenzen an Mollenhauer, 14.1.1991, Korr. All. Lenz 05, S. 3–4). Dieselben Kollegen – Welsch und Beck –, mit denen Mollenhauer in Jyväskylä eingeladen war, lud Lenzen drei Jahre später an die Freie Universität Berlin ein, wo er ein Symposium aus Anlass der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Mollenhauer veranstaltete (KMG 126-a).
[12] In seinem Vortrag erläutert Mollenhauer zunächst die Entstehung der Bildungs- und Erziehungstheorie im deutschen Aufklärungsdiskurs, die einhergehe mit der Konstitution eines homo educandus
der Mensch könne zum Menschen werden nur durch Erziehung
(KMG 117-a, Abs. 117:1)
. Er vergleicht diese grundlegende Überzeugung deutscher Pädagogik mit derjenigen aus dem englischsprachigen und französischen Sprachraum und stellt für Deutschland eine seit dem 18. Jahrhundert bestehende Doppelorientierung der Pädagogik fest: Einerseits richte sich der Diskurs an der philosophischen Vorstellung einer individuellen Persönlichkeitsbildung aus; andererseits habe sich parallel dazu ein
Ideal […] von der Machbarkeit des vernünftigen Bürgers durch […] Instruktion
(KMG 117-a, Abs. 117:2)
etabliert.
[13] Von zwei Seiten würden nun kritische Fragen an die Erziehungswissenschaft herangetragen, die die im Titel formulierte Frage nach einer Zukunft der Erziehungswissenschaft rechtfertigen würden. Wenn die den homo educandus tragende Idee einer Erziehung zum vernünftigen Bürger durch die postmoderne Debatte brüchig werde, so müsse das notgedrungen auch die Erziehungswissenschaft irritieren. Mollenhauer bezieht sich hier auf verschiedene Schriften, in denen von einem
Ende der Erziehung
die Rede war (etwa
Giesecke, 1985
;
Lenzen, 1985
,
Wünsche, 1985
). In der Praxis der Erziehung finde man ebenso Anklagen an das mit der Erziehung stets gegebene asymmetrische Machtverhältnis zwischen den Generationen, welche sich in Gegenbewegungen wie der Antipädagogik artikulierten.
[14] Mollenhauer selbst fügt noch ein drittes Bedenken hinzu, das er aus den internationalen Vergleichen gewinnt. So könne man an vielen anderen westlichen Ländern sehen, dass eine eigene Erziehungswissenschaft offenbar nicht notwendig sei, um ein gesellschaftliche Strukturen stabilisierendes und reproduzierendes Bildungssystem aufrecht zu erhalten, denn positives Wissen über Vorgänge des Lernens, der Ausbildung, der Entwicklung und deren Gefahren, über die Bildungsinstitutionen und ihre Geschichte könne zuverlässig auch durch andere Disziplinen wie die Soziologie, die Psychologie, die Ökonomie oder die Geschichtswissenschaft generiert werden.
[15] Mit Bezugnahme auf Ulrich Becks Risikogesellschaft (Beck, 1986) beschreibt Mollenhauer dann solche Risiken oder Ambivalenzen, die aus einer positivistisch verstandenen Auffassung der Erziehungswissenschaft resultierten:
Jeder Wissensbestand produziert nicht nur Fortschritt, sondern auch Risiko, und zwar auch dann, wenn er
emanzipatorisch
eingebunden ist
(KMG 117-a, Abs. 117:19)
. So produziere etwa die Ungleichheitsforschung und ihre Bestrebungen, mehr junge Menschen höher zu qualifizieren, das Risiko einer
noch schärferen Selektion des verbleibenden Restes
(KMG 117-a, Abs. 117:20)
und mache Kinder und Jugendliche zu nichts anderem als Lerner*innen. Auch der Versuch, Machtbeziehungen und Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Generationen möglichst zu nivellieren, berge das Risiko, dass die Erwachsenen sich der kulturellen und gesellschaftlichen Verantwortung der nächsten Generation gegenüber mehr und mehr entzögen.
[16] Mollenhauer macht sich in seiner Argumentation nicht den Begriff der Postmoderne zu eigen, sondern neigt eher zu dem auch von Beck favorisierten Theorem einer reflexiven Modernisierung (Schroer, 2009). So entwickelt er im Folgenden als ein zukunftsfähiges Prinzip der Erziehungswissenschaft die Bereitstellung von Reflexionswissen, mit dem die bestehende Praxis der Erziehung, aber auch der zugehörigen akademischen Disziplin, beschrieben und analysiert werden könne, mit dem aber nicht der Anspruch verbunden sein solle, die Praxis anzuleiten. Er nennt vier erziehungswissenschaftliche Forschungsfelder, die ihm besonders geeignet erschienen, solches Reflexionswissen zu generieren: Die Wissenschaftsforschung, die Phänomenologie, die Ethnomethodologie und die Praxeologie.
[17] Fünf Jahre später stellt Mollenhauer in einem anderen Text noch einmal eine ähnlich radikale Frage:
Wozu Pädagogik?
(KMG 135-a)
, verfolgt hier jedoch etwas anders gelagerte Fragen und findet auch andere Antworten.

3 Rezeption

[18] Annette Stroß (1992) setzt sich mit Mollenhauers Vortrag von 1991 (KMG 117-a) in ihrem Vortrag Die Paradoxie historischen Orientierungswissens auseinander, den sie 1992 auf einem Symposion gehalten hat, auf dem auch Mollenhauer vortrug (KMG 123-a). Stroß untersuchte ein Korpus an Texten, die zwischen 1982 und 1991 publiziert worden waren und sich mit disziplinärer Identität auseinandersetzten. Eine Argumentationslinie, die sich in ihrer Lektüre der Texte herausstellte, sei u. a. und eben mit Verweis auf Mollenhauer, dass
[d]ie Identität der Disziplin […] generell in Frage gestellt [wurde]
(Stroß, 1992, S. 188)
.
[19] Auch in Finnland, wo der Vortrag, der KMG 117-a zugrunde liegt, gehalten wurde und wo der Tagungsband erschienen war, wurde das Werk in finnischer Sprache rezipiert (Anttonen, 1998; Laine, 2000).

4 Literatur

4.1 Andere hier verwendete Werke von Mollenhauer

    [20] KMG 123-a
    [21] KMG 126-a
    [22] KMG 135-a

4.2 Weitere Literatur

    [23] Anttonen, Saila (1998). Valta, moraali ja yhteiskunnallis-historiallinen oppiminen. Sivistyshistoriallinen tie kansallissosialistisesta totuuden politiikasta demokratisoiviin uudelleenkoulutusohjelmiin. Tampere: Tampereen yliopisto.
    [24] Beck, Ulrich (1986). Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
    [25] Giesecke, Hermann (1985). Das Ende der Erziehung. Neue Chancen für Familie und Schule. Stuttgart: Klett-Cotta.
    [26] Laine, Kaarlo (2000). Koulukuvia. Koulu nuorten kokemistilana. Jyväskylä: Jyväskylän yliopisto. Kampus kirja [jakaja].
    [27] Lenzen, Dieter (1985). Mythologie der Kindheit. Die Verewigung des Kindlichen in der Erwachsenenkultur. Versteckte Bilder und vergessene Geschichten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
    [28] Schroer, Markus (2009). Theorie Reflexiver Modernisierung. In Georg Kneer & Markus Schroer (Hrsg.), Handbuch Soziologische Theorien (S. 491–515). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
    [29] Stroß, Annette (1992). Die Paradoxie historischen Orientierungswissens. Zur Unmöglichkeit von Identitätsstiftung angesichts der Fiktivität des Stiftungsziels. In Dietrich Benner, Dieter Lenzen & Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Erziehungswissenschaft zwischen Modernisierung und Modernitätskrise. Beiträge zum 13. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft vom 16.-18. März 1992 in der Freien Universität Berlin (S. 188–192). Weinheim [u. a.]: Beltz.
    [30] Wünsche, Konrad (1985). Die Endlichkeit der pädagogischen Bewegung. Neue Sammlung. Vierteljahres-Zeitschrift für Erziehung und Gesellschaft, 25(1), 433–449.
[31] [Cornelie Dietrich]