Sozialpädagogische Diagnosen [Werkkommentar]

1 Werk: Formale Beschreibung

1.1 Leittext

[1] Mollenhauer, Klaus & Uhlendorff, Uwe (119-A1). Sozialpädagogische Diagnosen. Über Jugendliche in schwierigen Lebenslagen (Monografie 1992). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition (2024). Hrsg. von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqf3&edition=A1.
[2] Basierend auf:
  • [3] Mollenhauer, Klaus, & Uhlendorff, Uwe (1992). Sozialpädagogische Diagnosen. Über Jugendliche in schwierigen Lebenslagen. Weinheim u. a.: Juventa.
[4] Das Werk von Klaus Mollenhauer und Uwe Uhlendorff erschien in erster Auflage 1992 im Juventa Verlag, Weinheim und München, in der Reihe
Materialien
als Paperback mit 184 Druckseiten. Es enthält 11 Kapitel und einen Anhang inklusive eines Literaturverzeichnisses. Eine der Einleitung vorangestellte Danksagung (s. KMG 119-A1, Abs. 119:1) adressiert die Jugendlichen, die Erzieherinnen und Erzieher sowie den Träger der Jugendhilfe-Maßnahme, auf die das Werk zurückgeht (s. u. 2.1), und den Verein Evangelische Jugendhilfe Obernjesa. Zudem findet sich ein Motto, frei nach Adorno:
Es gibt kein wahres Leben im valschen
(KMG 119-A1, Abs. 119:1)
. Eine Besonderheit der Sozialpädagogische Diagnosen ist die Dokumentation einiger Interviewtranskripte und Wochenberichte im Anhang (s. KMG 119-A1, Anhang, Abs. 119:335–1275), auf die im Text häufig Bezug genommen wird. Diese empirischen Dokumente wurden hier ebenfalls ausgezeichnet, so dass sie mit distant-reading-tools bearbeitbar sind.

1.2 Weitere Fassungen

[5] Mollenhauer, Klaus & Uhlendorff, Uwe (119-A2). Sozialpädagogische Diagnosen. Über Jugendliche in schwierigen Lebenslagen (Monografie 1995). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition (2024). Hrsg. von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqf3&edition=A2.
[6] Basierend auf:
  • [7] Mollenhauer, Klaus & Uhlendorff, Uwe (1995). Sozialpädagogische Diagnosen. Über Jugendliche in schwierigen Lebenslagen (2. Auflage). Weinheim u. a.: Juventa.
[8] Mollenhauer, Klaus & Uhlendorff, Uwe (119-A3). Sozialpädagogische Diagnosen I. Über Jugendliche in schwierigen Lebenslagen (Monografie 1999-2004). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition (2024). Hrsg. von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqf3&edition=A3.
[9] Basierend auf:
  • [10] Mollenhauer, Klaus & Uhlendorff, Uwe (1999). Sozialpädagogische Diagnosen I. Über Jugendliche in schwierigen Lebenslagen (3. Auflage). Weinheim u. a.: Juventa.
  • [11] Mollenhauer, Klaus & Uhlendorff, Uwe (2004). Sozialpädagogische Diagnosen I. Über Jugendliche in schwierigen Lebenslagen (4. Auflage). Weinheim u. a.: Juventa.
[12] Die Sozialpädagogische Diagnosen erschienen insgesamt in vier Auflagen (1992, 1995, 1999 und 2004). Einzige Abweichung von der ersten zu den drei folgenden Auflagen ist die Streichung des genannten Mottos am Ende der Danksagung sowie die Ergänzung des Titels um den Zusatz
I
, da 1995, ebenfalls von Mollenhauer und Uhlendorff verfasst, die Sozialpädagogische Diagnosen II. Selbstdeutungen verhaltensschwieriger Jugendlicher als empirische Grundlage für Erziehungspläne(s. KMG 132-A) erschienen. Mit Sozialpädagogische Diagnosen III. Ein sozialpädagogisch-hermeneutisches Diagnoseverfahren für die Hilfeplanung(s. Uhlendorff, 1997) erscheint 1997 der dritte Teil, der allein von Uwe Uhlendorff verfasst ist; es handelt sich dabei um dessen Dissertation.

1.3 Übersetzungen

[13] Übersetzungen liegen unserem Kenntnisstand nach nicht vor.

1.4 Unveröffentlichte Quellen

[14] SUB Göttingen, Cod. Ms. K. Mollenhauer
  • [15] Korr. All. Blan 01: 15.2.1993-11.03.1993, 2 Briefe zwischen Klaus Mollenhauer und Jürgen Blandow (Anlage
    Zwei Jahre Trägerverbund Mobile Betreuung Bremen. Ein Bericht
    in Jürgen Blandows Brief an Klaus Mollenhauer vom 15.2.1993, Umfang: 17 S.)
  • [16] Korr. All. Blan 02: 8.3.1989-4.4.1989, 4 Briefe zwischen Klaus Mollenhauer und Jürgen Blandow
  • [17] Korr. All. Muns: 8.8.1996-30.8.1996, 2 Briefe zwischen Klaus Mollenhauer und Chantal Munsch (Anlage eines Briefes, verfasst von Lothar Böhnisch, vom 1.8.1996)
  • [18] Manu. pub. 90 11: Klaus Mollenhauer (o. D.). Manuskript für Vortrag am 17.5.1993 in Bremen (Umfang: 3 S.)
  • [19] Manu. nicht-pub. oD 37: Klaus Mollenhauer (o. D.). Manuskript
    Methodisch-theoretische Erläuterungen zur
    pädagogisch-hermeneutischen Diagnose
    für Vortrag in Münster (Umfang: 10 S.)
  • [20] Versch. Fotos 06: Album mit eingeklebten Fotos (zum Jugendhilfe-Projekt, das den Sozialpädagogische Diagnosen zugrunde lag)

2 Inhalt und Kontexte

[21] Die Sozialpädagogischen Diagnosen entstehen zwischen 1988 und 1992; sie basieren auf der wissenschaftlichen Begleitung einer Jugendhilfemaßnahme, in der besonders stark belastete Jugendliche für einige Monate aus ihrem Umfeld (meist stationäre Einrichtungen der Jugendhilfe, Nichtsesshaften-Milieu oder Psychiatrie) herausgenommen werden, um an sozialpädagogischen
Erlebniskurse[n]
(KMG 119-A1, Abs. 119:12)
mit intensiver Betreuung im Ausland teilzunehmen. Ausgangspunkt ist zum einen eine mangelhafte Forschungslage im Hinblick auf diese Fallgruppe von
psychosozial schwer belastete[n] Jugendliche[n]
(KMG 119-A1, Abs. 119:11)
, die hier als
Stiefkind
sozialwissenschaftlicher Forschung
(KMG 119-A1, Abs. 119:11)
bezeichnet werden; zum anderen wachse aber – durch Heimreform und vermehrte Diskussionen um dezentrale und stärker auf Mitbestimmung ausgerichtete Organisationen sozialpädagogischer Hilfeleistungen – das Interesse an genau dieser Gruppe von Jugendlichen, die in den klassischen Formen des Hilfesystems nicht hinreichend gefördert werden können. Damit fallen die hier dokumentierten Untersuchungen genau in die Entstehungszeit derjenigen Reformbestrebungen, die im neu formulierten Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) von 1990 (s. KJHG vom 26. Juni 1990, BGBl. I S. 1163) ihren Niederschlag finden. Fast gleichzeitig entstehen die Grundfragen ästhetischer Bildung(s. KMG 193-a), ebenfalls auf Grundlage eines empirischen Projektes, das 1990–93 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wurde.
[22] Das sozialpädagogische Praxis-Projekt fand in drei Kursen (zwei Jungenkurse und ein Mädchenkurs) mit einem Betreuungsschlüssel 1:2 statt, es nahmen insgesamt 18 Jugendliche teil. Während sich die Jungengruppen in einem Flussmündungsgebiet der Insel Korsika aufhielten, wurde der Mädchenkurs auf einem Bauernhof in den Pyrenäen realisiert. Die Dauer war auf fünf bis sieben Monate angelegt, an die sich noch eine Integrationsphase anschloss (s. KMG 119-A1, Abs. 119:12).
[23] In der wissenschaftlichen Begleitung erfolgte zunächst die Erhebung folgender Daten:  
  • [24] narrative Interviews mit den Jugendlichen (exemplarisch dokumentiert im Anhang des Werkes, s. KMG 119-A1, Anhang, Abs. 119:335–1264)
  • [25] Akten der Jugendlichen zur Vorgeschichte und mit vorheriger Diagnose
  • [26] wöchentliche Berichtsprotokolle der Erzieher*innen (ebenfalls exemplarisch dokumentiert im Anhang des Werkes, s. KMG 119-A1, Anhang, S. 119:1265–1275)
  • [27] Fotoserien, zum Teil von den Jugendlichen, zum Teil von der wissenschaftlichen Begleitung (s. KMG 119-A1, Abs. 119:13)
  • [28] sozialpädagogische Diagnosen für jede*n Jugendliche*n, die auf Grundlage der Interviews angefertigt wurden (s. KMG 119-A1, Abs. 119:13).
[29] Die Sozialpädagogischen Diagnosen erscheinen in einer Werkphase, in der Mollenhauer sich seit zehn Jahren vermehrt der kulturwissenschaftlichen und -historischen Grundlegung der Allgemeinen Pädagogik widmet, sich hingegen kaum zu sozialpädagogischen Themen äußert (s. z. B. KMG 081-A). Mit den Sozialpädagogische Diagnosen beginnt also eine zweite Phase der Hinwendung zur Sozialpädagogik, in der er sich
kritisch mit der Sozialpädagogik, wie sie sich inzwischen entwickelt hatte, auseinandersetzt und auf eine Revision der theoretischen Fundierung der Sozialpädagogik drängt
(Füssenhäuser & Thiersch, 2001, S. 1886)
. Entsprechend liegt eine der Absichten in einer theoretischen Fundierung der empirischen Operationen; sie wird hier vor allem mit Bezugnahmen auf den Symbolischen Interaktionismus, die (Leib-)Phänomenologie und die Theorie der Lebenswelt nach Habermas und Schütz geleistet, methodologisch gerahmt von Hermeneutik und Ethnomethodologie. Während sich solche Bezugnahmen eher im Hintergrund befinden und hier oft implizit bleiben, steht eine andere Absicht im Vordergrund: Es soll ein pädagogisches Diagnoseinstrument entwickelt werden, das es erlaubt, die subjektiv erlebten und geäußerten
Lebensthemen
der betroffenen Jugendlichen in einer verallgemeinerten Form zur Sprache zu bringen. Daraus können dann Aufgaben und (Inszenierungs-)Regeln für das pädagogische Milieu so entwickelt werden, dass die Jugendlichen darin ihre Problemlagen nicht nur bearbeiten, sondern vor allem eine gelingende Zukunft entwerfen können. In Abgrenzung zur subsumtionslogischen und meist auf die Vergangenheit gerichtete Diagnostik in Psychologie und Psychiatrie wird hier das Besondere der pädagogischen Diagnostik in ihrem Zukunftsbezug ausformuliert. Damit korrespondiert drittens das Anliegen, sozialpädagogisch diagnostische Fähigkeiten stärker in das Selbstbild erzieherischer Professionalität zu integrieren
(s. Niemeyer & Rautenberg, 2006, S. 333)
.
[30] Die Nähe zu den parallel erfolgenden Werkentwicklungen in kulturgeschichtlichen und ästhetischen Fragen der Allgemeinen Pädagogik zeigt sich methodologisch im Rückgriff auf die Hermeneutik, mit der eine letztlich kulturwissenschaftlich fundierte Orientierung an den Sinnentwürfen und Symbolisierungsweisen der Jugendlichen und ihrer Erzieher*innen einhergeht.
Was will denn eigentlich dieser jugendliche Mensch mit seinem Leben und dem derjenigen, die ihm verbunden sind?
(KMG 119-A1, Abs. 119:332)
formulieren Mollenhauer und Uhlendorff die
pädagogisch-diagnostische Frage
(KMG 119-A1, Abs. 119:332)
komplementär zur Grundfrage Schleiermachers
(Was will denn eigentlich die erwachsene Generation mit der jüngeren?)
(
Schleiermacher, 1826/1983, S. 9
, zit. n. KMG 119-A1, Abs. 119:332). Auch eine bildungstheoretische Argumentation liegt den Diagnosen zugrunde und verbindet allgemeinpädagogisches und sozialpädagogisches Arbeiten. Indem nach der bildenden Wirkung bestimmter basaler Tätigkeiten der Bewältigung des Alltagslebens (wie z. B. Angeln, Kochen, Nähen) gefragt wird, werden diese ihrer allein zweckrationalen Verortung enthoben und auf die Artikulation von Selbst- und Weltverhältnissen hin erweitert (s. KMG 119-A1, Abs. 119:333–334).
[31] Die Veröffentlichung Pädagogisch-hermeneutische Diagnose in der Jugendhilfe(s. KMG 113-a) erscheint während der Durchführung des Praxis-Projektes (1990) und basiert auf dem Vortrag
Methodisch-theoretische Erläuterungen zur
pädagogisch-hermeneutischen Diagnose
, den Mollenhauer 1989 auf einer Tagung in Münster hielt
(s. Mollenhauer, o. D., Manu. nicht-pub. oD 37)
. Hier werden erste empirische Ergebnisse festgehalten.
[32] Dass ein zweiter Band auf Grundlage eines weiteren Projektes geplant ist, kündigen Mollenhauer und Uhlendorff bereits im Ausblick an:
Wir hoffen, in dieser Hinsicht mit Hilfe eines quantitativ erheblich umfänglicheren Projekts, allerdings ohne Praxisanteile, nächstens weiterzukommen, in dem eine für Niedersachsen repräsentative Stichprobe von Jugendlichen interviewt werden soll, die den Auswahlkriterien der hier dokumentierten wissenschaftlichen Begleitstudie entspricht.
(KMG 119-A1, Abs. 119:333)
[33] Mit den Sozialpädagogischen Diagnosen eröffneten Mollenhauer und Uhlendorff eine differenzierte Diskussion über hermeneutische Diagnosen in der Kinder- und Jugendhilfe. Sie verfolgten das Ziel, aus der Rekonstruktion von Einzelfällen, verallgemeinerbare Kategorien der Diagnostik entwickeln zu können. Eher indirekt nehmen sie dabei Bezug auf die in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts vorherrschenden sozialpädagogischen Richtungen, von denen eine – verbunden vor allem mit dem Namen Hans-Uwe Otto – stark an den politischen und gesellschaftlichen Bedingungen der sozialen Arbeit und ihrer Institutionen orientiert ist, während die andere – verbunden vor allem mit dem Namen Hans Thiersch – stärker eine lebensweltbezogene Fallanalyse fokussierte. Beiden Strömungen (Otto und Thiersch) attestieren Mollenhauer und Uhlendorff eine unzureichende Orientierungsmöglichkeit für die Profession. Die T-Shirt-Aufschrift eines von ihnen beobachteten Erziehers:
Erziehung ist Scheiße
(KMG 119-A1, Abs. 119:8)
lesen sie als Ausdruck solcher professionellen Desorientierung. Sie sehen die akademische Disziplin entsprechend in der Verantwortung, zwischen einer Lebensweltorientierung, in der
alles mit allem zusammenhängt und deshalb spezifisch Pädagogisches nicht mehr ausgemacht werden kann
KMG (119-A1, Abs. 119:8)
und einer wissenschaftlich abstrakten Rede, die
an allem vorbei[führt], was den Erziehungsalltag bestimmt
(KMG 119-A1, Abs. 119:8)
einen neuen Weg einzuschlagen. Den Erziehungsalltag von stark benachteiligten Jugendlichen bestimmen viel mehr als das vernünftige, aufgeklärte, distanzierte oder auch therapeutische Gespräch spezifische Tätigkeiten und in diesen Tätigkeiten werden bestimmte Lebensthemen sicht- und bearbeitbar. Fünf Dimensionen solcher Lebensthemen stellen Mollenhauer und Uhlendorff zur Debatte:
Körper/Leib, Selbstentwurf, Moralische Urteile, Zeit-Konzepte, Abweichendes Verhalten/Devianz
(Mollenhauer, o. D., Manu. pub. 90 11, S. 2–3)
. Aus der Verknüpfung von Lebensthemen und ihnen entsprechenden Tätigkeiten entwickeln sie das diagnostisch-hermeneutische Instrumentarium, mit dem neben Diagnostik vor allem auch die Planung sozialpädagogischer Interventionen ermöglicht werden sollen.
[34] Im Nachlass findet sich ein Briefwechsel (s. Mollenhauer und Blandow, 15.2.1993-11.3.1993, Korr. All. Blan 01) ebenfalls zwischen Klaus Mollenhauer und Jürgen Blandow, in dem letzterer eine Einladung für einen Vortrag auf der Fachveranstaltung anlässlich des 15-jährigen Jubiläums des Arbeitskreis Jugendwohngemeinschaften und Jugendberatung e. V. (AJJ e. V.) ausspricht (s. an Mollenhauer, 15.2.1993, Korr. All. Blan 01). Dieser Einladung liegt ein umfangreicher Bericht zu den vergangenen zwei Jahren Arbeit des Trägerverbundes
Mobile Betreuung Bremen
von Jürgen Blandow bei (s. Blandow an Mollenhauer, 15.2.1993, Anlage
Zwei Jahre Trägerverbund Mobile Betreuung Bremen. Ein Bericht
, S. 1–17). Von diesem intensiven Austausch zwischen Mollenhauer und Blandow zeugt auch ein 3-seitiges Manuskript von Mollenhauer (s. Mollenhauer, o. D., Manu. pub. 90 11, S. 1–3) mit Stichworten zu den Sozialpädagogischen Diagnosen für den Vortrag am 17. Mai 1993 in Bremen. Mollenhauer führt hier als erste kleine Zusammenfassung aus:
Sozialpädagogische Diagnosen
sind also, oder sollen sein: Beschreibungen der Lage eines Kindes oder Jugendlichen im Hinblick auf deren Möglichkeiten
(Mollenhauer, o. D., Manu. pub. 90 11, S. 1)
.

3 Rezeption

[35] Die vier Auflagen der Sozialpädagogischen Diagnosen(s. KMG 119-A1, KMG 119-A2 und KMG 119-A3) bezeugen eine intensive Rezeption des Werkes zwischen 1992 und 2004. Als besonders fruchtbar für die Sozialpädagogik nennt Lenzen schon ein Jahr nach Erscheinen des ersten Bandes die
theorieorientierte sozialpädagogische Forschung, fern von Praktizismus, aber doch nah an den Problemen sozialpädagogischer Praxis
(Lenzen, 1993, S. 13)
, die
inzwischen zum Kanon der unverzichtbaren theoretischen Orientierungen geworden
(Lenzen, 1993, S. 13)
sei. Eine eingehende Auseinandersetzung erfuhren die Diagnosen durch den 2004 erschienenen und bereits erwähnten Sammelband Sozialpädagogische Diagnosen in der Praxis. Erfahrungen und Perspektiven, herausgegeben von Franz-Josef Krumenacker, der mit einem Brief Mollenhauers an Jürgen Blandow aus dem Jahre 1989 (s. Mollenhauer an Blandow, 24.3.1989, Korr. All. Blan 02) eröffnet wird (s. KMG V90-a). Der Ansatz sozialpädagogischer Diagnostik sei
eine innovative, zugleich wissenschaftlich fundierte und praxistaugliche Vorgehensweise zur Falldiagnose
(Krumenacker, 2004, S. 10)
. Weiter formuliert Krumenacker, dass Mollenhauer und Uhlendorff mit ihrem Diagnoseverfahren
die Einschätzung, dass man sich zeitaufwändiges hermeneutisches Diagnostizieren zwar im Wissenschaftsbetrieb, nicht aber in der Praxis der Jugendhilfe leisten könne
(Krumenacker, 2004, S. 10)
widerlegten. Mollenhauers eigene Einschätzung dazu ist in einem Brief an Chantal Munsch, damals noch Studentin, vom 8.8.1996 (s. Mollenhauer an Munsch, 8.8.1996, Korr. All. Muns) erkennbar. Munsch ist im Zusammenhang ihrer Diplomarbeit auf der Suche nach gelungenen Kooperationen zwischen Praktiker*innen und Wissenschaftler*innen der Sozialen Arbeit in Forschungsprojekten und bittet Mollenhauer und Uhlendorff um Unterlagen zu ihrem Projekt (s. Munsch an Mollenhauer, Uhlendorff und Boehme, 30.8.1996, Korr. All. Muns). Mollenhauer bedauert in seinem Antwortschreiben, nicht so ausgiebig, wie erwünscht antworten zu können. Ihre
Hoffnung [fürs Projekt] war diese: Über den Zeitraum eines Jahres hinweg sollte ein dichter Austausch von Beobachtungen und Erfahrungen zwischen den
Praktikern
und den
Wissenschaftlern
zu einer genaueren
Diagnose
[...] der Lebensprobleme dieser Jugendlichen führen, um dann begründete Erfahrungs- und Lernangebote folgen zu lassen. Das ist im strengen Sinne nicht gelungen
(Mollenhauer an Munsch, 8.8.1996, Korr. All. Muns, S. 1)
. Die Gründe dafür zählt er im Folgenden auf. An späterer Stelle heißt es weiter:
So optimistisch, wie ich vielleicht vor 20 Jahren noch war, bin ich nicht mehr. Den Praktikern wie den Forschern wird eine Mühe abverlangt, die für beide die Grenzen von Kompetenz und Interesse erreicht
(Mollenhauer an Munsch, 8.8.1996, Korr. All. Muns, S. 3)
. Dennoch treffe einerseits die Publikation
(Sozialpädagogische Diagnosen)
bei den Praktiker*innen auf Einverständnis, andererseits werde die Weiterentwicklung der Diagnose
(Sozialpädagogische Diagnosen II)
verlangt (s. Mollenhauer an Munsch, 8.8.1996, Korr. All. Muns, S. 2).
[36] Ader und Schrapper fassen zusammen, Mollenhauer und Uhlendorff komme
das Verdienst [zu], sozialpädagogische Diagnosen als ein eigenständiges Label entwickelt und in der sozialpädagogischen Wissenschaft etabliert zu haben
(Ader & Schrapper, 2020, S. 287)
. Zahlreiche weitere sozialpädagogische Texte setzen sich mit den hier entwickelten Diagnosen auseinander (s. z. B. Ader & Schrapper, 2020; Cinkl, 2004; Füssenhäuser & Thiersch, 2001; Höpfner & Jöbgen, 2004; Krumenacker, 2004; Niemeyer, 2005; Niemeyer, 1998).

4 Literatur

4.1 Andere hier verwendete Werke von Klaus Mollenhauer

    [37] Mollenhauer, Klaus. Vergessene Zusammenhänge. Über Kultur und Erziehung (Monografie 1983; KMG 081-A). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqkc&edition=A.
    [38] Mollenhauer, Klaus. Pädagogisch-hermeneutische Diagnose in der Jugendhilfe (Beitrag 1990; KMG 113-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqfh&edition=a.
    [39] Mollenhauer, Klaus & Uhlendorff, Uwe. Sozialpädagogische Diagnosen II. Selbstdeutungen verhaltensschwieriger Jugendlicher als empirische Grundlage für Erziehungspläne (Monografie 1995/2000; KMG 132-A). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqd2&edition=A.
    [40] Mollenhauer, Klaus. Grundfragen ästhetischer Bildung. Theoretische und empirische Befunde zur ästhetischen Erfahrung von Kindern (Monografie 1996; KMG 134-A). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqcs&edition=A.
    [41] Mollenhauer, Klaus. Brief an Jürgen Blandow aus dem Jahr 1989 (Beitrag 2004; KMG V90-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqg6&edition=a.

4.2 Weitere Literatur

    [42] Ader, Sabine & Schrapper, Christian (Hrsg.) (2020). Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen in der Jugendhilfe. München: Ernst Reinhardt.
    [43] Brumlik, Micha (1998). Das Selbst und seine Erfahrung – die verborgene Ethik in Klaus Mollenhauers Hermeneutik. Neue Praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik, 28 (5), 486–489.
    [44] Cinkl, Stephan (2004). Sozialpädagogische Diagnosen als Instrument von Fachberatung. Sozialpädagogische Anregungen und Verknüpfungen für Psychotherapeuten, Supervisoren und Leitungskräfte. In Franz-Josef Krumenacker (Hrsg.), Sozialpädagogische Diagnosen in der Praxis. Erfahrungen und Perspektiven. (S. 119–134). Weinheim u. a.: Juventa.
    [45] Füssenhäuser, Cornelia & Thiersch, Hans (2001). Theorien der Sozialen Arbeit. In Hans-Uwe Otto & Hans Thiersch (Hrsg.), Handbuch Sozialarbeit Sozialpädagogik (2., völlig überarbeitete Auflage). (S. 1876–1900). Neuwied u. a.: Luchterhand.
    [46] Gesetz zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts: Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG). Gesetz vom 26. Juni 1990 (BGBl. I S. 1163).
    [47] Höpfner, Norbert & Jöbgen, Manfred (2004). Die Rückgewinnung des Analytischen: Pädagogische Diagnostik als Ausweg aus der Institutionspädagogik? In Franz-Josef Krumenacker (Hrsg.), Sozialpädagogische Diagnosen in der Praxis. Erfahrungen und Perspektiven. (S. 77–89). Weinheim u. a.: Juventa.
    [48] Krumenacker, Franz-Josef (Hrsg.). (2004). Sozialpädagogische Diagnosen in der Praxis. Erfahrungen und Perspektiven. Weinheim u. a.: Juventa.
    [49] Krumenacker, Franz-Josef (2004). Zehn Jahre Sozialpädagogische Diagnosen. In Ders. (Hrsg.), Sozialpädagogische Diagnosen in der Praxis. Erfahrungen und Perspektiven. (S. 7–13). Weinheim u. a.: Juventa.
    [50] Lenzen, Dieter (1993). Pädagogik zwischen Hilfe, Bildung und Kritik. Laudatio für Klaus Mollenhauer. In Ders. (Hrsg.), Verbindungen. Vorträge anläßlich der Ehrenpromotion von Klaus Mollenhauer. (S. 9–16). Weinheim: DSV.
    [51] Niemeyer, Christian (1998). Klaus Mollenhauer und sein Verhältnis zur geisteswissenschaftlichen (Sozial-)Pädagogik. Neue Praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik, 28 (5), 465–472.
    [52] Niemeyer, Christian (2005). Klaus Mollenhauer (1928–1998): Der eine Enkel geisteswissenschaftlicher Pädagogik. In Ders., Klassiker der Sozialpädagogik. Einführung in die Theoriegeschichte einer Wissenschaft. (2., überarbeitete und erweiterte Auflage). (S. 215–254). Weinheim: Juventa.
    [53] Niemeyer, Christian & Rautenberg, Michael (2006). Klaus Mollenhauer (1928–1998) Pädagogik als vergessener Zusammenhang. In Bernd Dollinger (Hrsg.), Klassiker der Pädagogik. Die Bildung der modernen Gesellschaft. (S. 331–352). Wiesbaden: Springer.
    [54] Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst (1826/1983). Vorlesungen aus dem Jahre 1826. Einleitung. In Erich Weniger & Theodor Schulze (Hrsg.). Pädagogische Schriften 1. Die Vorlesungen aus dem Jahre 1826. (S. 7–62). Frankfurt am Main u. a.: Ullstein.
    [55] Uhlendorff, Uwe (1997). Sozialpädagogische Diagnose III. Ein sozialpädagogisch-hermeneutisches Diagnoseverfahren für die Hilfeplanung. Weinheim u. a.: Juventa.
[56] [Lisa-Katharina Heyhusen, Nele Borchers & Cornelie Dietrich]