Grundfragen ästhetischer Bildung [Werkkommentar]

1 Werk: Formale Beschreibung

1.1 Leittext

[1] Mollenhauer, Klaus. Grundfragen ästhetischer Bildung. Theoretische und empirische Befunde zur ästhetischen Erfahrung von Kindern (Monografie 1996; KMG 134-A). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqcs&edition=A.
[2] Basierend auf:
  • [3] Mollenhauer, Klaus (1996). Grundfragen ästhetischer Bildung. Theoretische und empirische Befunde zur ästhetischen Erfahrung von Kindern. Unter Mitarbeit von Cornelie Dietrich, Hans-Rüdiger Müller und Michael Parmentier. Weinheim [u. a.]: Juventa.
[4] Das Werk umfasst 320 Seiten, inklusive eines Anhangs von 57 Seiten. Dieser enthält neben der Literaturliste im Wesentlichen viele Beispiele bildnerischer und musikalischer Produkte von Kindern.

1.2 Weitere Fassungen

[5] Weitere Fassungen liegen unserem Kenntnisstand nach nicht vor.

1.3 Übersetzungen

[6] 2001 erschien eine japanische Übersetzung des Werks, die durch Hiromoto Makabe, Yasuo Imai und Shinji Nobira erfolgte.
  • [7] Mollenhauer, Klaus (2001). Kodomo wa bi wo do keikensuruka (Hiromoto Makabe, Yasuo Imai, & Shinji Nobira, Übers.). Machida-Tokyo: Tamagawa-daigaku-shuppanbu.

1.4 Unveröffentlichte Quellen

[8] SUB Göttingen, Cod. Ms. K. Mollenhauer
  • [9] Korr. All. Beckmann: 13.12.-19.12.1996, zwei Briefe zwischen Klaus Mollenhauer und der Bochumer Studentin Wibke Beckmann. (In ihrem handschriftlichen Brief stellt Beckmann an Mollenhauer eine Nachfrage zum Mimesis-Kapitel und der dort unvollständigen Verwendung eines Bildes von Paul Klee, auf die Mollenhauer in seinem Brief ausführlich antwortet.)
  • [10] Korr. All. Bitt: 3.1.-24.1.1996, zwei Briefe zwischen Klaus Mollenhauer und Günther Bittner (samt Zusendung des gedruckten Buches an Bittner, wofür dieser sich mit einer Rückmeldung zu einzelnen Kapiteln bei Mollenhauer bedankt)
  • [11] Korr. All. Boehm: 21.12.1995-11.10.1996, drei Briefe zwischen Klaus Mollenhauer und Gottfried Boehm (zur Fertigstellung des Buches und zu kritischen Nachfragen Boehms zum Buch, die Mollenhauer ausführlich beantwortet)
  • [12] Korr. All. Bundesv: 3.3.1996, Brief von Klaus Mollenhauer an Max Fuchs (Vorstand der Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung e.V. über theoretische Grundannahmen zum Begriff der Individualität
  • [13] Korr. All. Furr 03: 7.7.1997, Brief von Max Furrer an Klaus Mollenhauer (Furrer bedankt sich bei Mollenhauer für die Übersendung der Werke Grundfragen ästhetischer Bildung und Sozialpädagogische Diagnosen.)
  • [14] Korr. All. Grus 03: 24.1.1996, Brief von Andreas Gruschka an Klaus Mollenhauer (Gruschka bedankt sich bei Mollenhauer für die Übersendung des Buches und äußert seinen ersten positiven Eindruck über das Werk.)
  • [15] Korr. All. Legl: 21.12.1995-22.1.1996, zwei Briefe zwischen Klaus Mollenhauer und Wolfgang Legler. (Legler zeigt sich nach Zusendung des Buches beeindruckt.)
  • [16] Korr. All. Maka 02: 3.2.-11.12.1997, fünf Briefe zwischen Klaus Mollenhauer und Hirimoto Makabe (zu Fragen der Übersetzung des Buches durch Makabe ins Japanische)
  • [17] Korr. All. Maset: 2.1.-29.1.1997, vier Briefe zwischen Klaus Mollenhauer und Pierangelo Maset (aus Anlass der Rezension von Maset in Kunst + Unterricht)
  • [18] Korr. All. Meye 01: 3.5.-15.11.1993, zwei Briefe von Klaus Mollenhauer an Käte Meyer-Drawe (u. a. kritische Gedanken Mollenhauers zu den genutzten Interpretamenten)
  • [19] Korr. All. Nieß: 21.12.1995, Brief von Klaus Mollenhauer an Manfred Nießen (mit Anfrage zum gewünschten Bestellsatz an Exemplaren des Buches)
  • [20] Korr. All. Otto 08: 2.1.1997 und o. D., zwei Briefe zwischen Klaus Mollenhauer und Gunter Otto (einer der Herausgebenden der Zeitschrift Kunst + Unterricht) über die Veröffentlichung der Rezension von Maset. (Mollenhauer übt Kritik an dem Druck der Rezension von Maset und schlägt eine Veröffentlichung einer Kontroverse zu den Inhalten der Rezension vor, der Otto zustimmt. Mollenhauer schickt als Anlage seine
    Erwiderung
    auf Maset mit Bitte um Veröffentlichung.)
  • [21] Korr. All. Otto 09: 21.5.1997, Brief von Klaus Mollenhauer an Gunter Otto (zu einem geplanten Treffen mit Maset)
  • [22] Korr. All. Rump: 16.6.1997, ein Brief von Klaus Mollenhauer an Horst Rumpf. (Dank für die Rezension in der Zeitschrift für Pädagogik und einige Richtigstellungen zur Autorenschaft in dem Buch)
  • [23] Korr. All. Schön: 18.8.1995, Brief von Klaus Mollenhauer an Regine Schön (mit Anfrage einer weiteren Beteiligung an einem geplanten Kolloquium zum Thema des Buches)
  • [24] Korr. All. Werck: 29.11.1993 und 3.1.1995, zwei Briefe zwischen Klaus Mollenhauer und Otto Karl Werckmeister (zur Idee der Grundfragen am Wissenschaftskolleg Berlin, zum Stand der Arbeiten sowie zu den Reaktionen von Kolleg*innen)
  • [25] Manu. nicht-pub. 90 01: 1996, Klaus Mollenhauer: Kommentar zu einer Kontroverse zwischen Gerd Selle und Gunter Otto in der Zeitschrift Kunst + Unterricht in den Heften 192 und 193, 6 S.)
  • [26] Manu. nicht-pub. 90 03: (1991, Klaus Mollenhauer: Ästhetische Bildung (Wien, 9. März 1991), Ausführungen zur Ästhetischen Emanzipation, zur bildenden Wirkung ästhetischer Ereignisse und zur Ästhetischen Identifikation, 10 S.)
  • [27] Manu. nicht-pub. oD 41: 1992, Klaus Mollenhauer: o. T., Ausführungen zum Begriff der Ästhetischen Bildung, handschriftlich von Mollenhauer:
    Vortrag Hamburg
    , 19 S.)
  • [28] Uni-Lehre 90 18: Sommersemester 1991, Vorlesung: Pädagogische Ästhetik
  • [29] Uni-Forschung 7: Umfängliche Forschungsunterlagen zum Forschungsprojekt, darunter Setting-Vorschläge, Korrespondenz, Untersuchungsaufbau; 71 Einzelsignaturen, circa 370 Blätter.

2 Inhalt und Kontexte

[30] Nachdem Mollenhauer sich seit Beginn der 1980er Jahre mit kulturtheoretischen Themen und seit seinem Aufenthalt am Wissenschaftskolleg in Berlin 1986/87 zunehmend mit theoretischen Fragen der Ästhetischen Bildung auseinandergesetzt hatte (KMG 100-a; KMG 103-a; KMG 111-a; KMG 114-a), leitete er zu Beginn der 1990er Jahre ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes qualitativ-empirisches Projekt, dessen Ergebnisse in dem Buch Grundfragen ästhetischer Bildung (im Folgenden: Grundfragen) dargestellt sind. In dem Projekt arbeiteten neben studentischen Hilfskräften Michael Parmentier, Cornelie Dietrich, Hans-Rüdiger Müller, Maria Wermelskirchen und Maria Weiß mit. Obwohl Mollenhauer auf dem Buchcover als alleiniger Autor erscheint, erfolgen in der Titelei sowie in einem Brief an Horst Rumpf (Mollenhauer an Rumpf, 16.6.1997, Korr. All. Rump) mehrere Hinweise auf das Autor*innenteam: Einmal heißt es Unter Mitarbeit von Cornelie Dietrich, Hans Rüdiger Müller und Michael Parmentier, auf der nächsten Seite werden dieselben Personen als Autoren genannt; daran schließt sich eine Danksagung an, in der neben anderen noch einmal Cornelie Dietrich und Hans-Rüdiger Müller hervorgehoben werden, als diejenigen, die die auf Musik bzw. Musik
bezogenen Teile der Studie mit großer Zuverlässigkeit betreut
(KMG 134-A, Abs. 134:1)
haben. Aus dem Brief an Rumpf wird außerdem ersichtlich, dass drei der Kapitel des Buches nahezu vollständig von Michael Parmentier (Kap. 3 und Kap. 8) bzw. Cornelie Dietrich (Kap.9; s. dazu auch Dietrich, 1998) geschrieben worden sind.
[31] Ziel der Studie war die empirische Fundierung seines allgemeinpädagogischen Verständnisses ästhetischer Erfahrungen als eines konstitutiven Moments von Bildung, mithin eine über fachdidaktische Fragen hinausgehende und ästhetische Medien übergreifende Erforschung der produktiven wie rezeptiven Bewegungen zwischen Kindern und ästhetischen Objekten bzw. eigenen ästhetischen Praktiken. Das Buch enthält insgesamt zehn Kapitel: In einem ersten Theoriekapitel werden zunächst die zentralen Begriffe geklärt sowie die Frage erläutert, was unter Grundfragen ästhetischer Bildung zu verstehen sei:
Der
Grund
allen Redens über ästhetische Erfahrung ist demnach dort zu suchen, wo das Ich mit dem Selbst in eine artikulierte Beziehung eintritt.
(KMG 134-A, Abs. 134:38)
Die folgenden acht Kapitel enthalten empirische Befunde aus dem genannten Projekt und führen diese je auf theoretische Fragen zurück bzw. entwickeln sie weiter, bevor in einem Schlusskapitel die allgemeinpädagogischen Erträge der Studie zusammengefasst werden. Zentrale und leitende Begriffe der Untersuchungen waren
Wahrnehmung
,
Empfindungen
,
Wirkungen
und
Verstehen
ästhetischer Ereignisse sowie die Frage, wie diese Vorgänge wiederum in eigener ästhetischer Tätigkeit oder in Sprache artikuliert werden. Einen der theoretischen Ausgangspunkte der Studie bildet das philosophische Argument, ästhetische Wirkungen und Erfahrungen seien nicht unmittelbar beobachtbar und auch nicht in sprachlichen Ausdruck – generiert etwa durch Befragungen – transformierbar, ohne dass eine wesentliche Veränderung des Gegenstandes erfolgen würde. Vielmehr, so hatte Mollenhauer bereits zuvor mit Bezug auf den Philosophen Josef König (König, 1978) dargelegt, könne sich die Wirkung und das Verstehen ästhetischer Objekte nur selbst in ästhetischer Form zeigen. Dem folgend liegt ein besonderer Schwerpunkt der empirischen Untersuchungen in den Grundfragen auf den hermeneutischen Auslegungen von kindlichen, ästhetischen Produkten. Exemplarisch für die spartenübergreifenden Fragestellungen allgemeiner ästhetischer Bildung wurden für die Untersuchungen für bildnerische und musikalische Produkte oftmals je gleiche Kategorien generiert.
[32] Im Verlauf der Erhebungen, die sich über mehrere Jahre erstreckten, wurden an zwei stationären Einrichtungen der Jugendhilfe sowie an einer Schule (Klasse 5 und 6) 10- bis 14-jährige Kinder dazu angeregt, durch verschiedene Impulse und Aufgaben, selbst bildnerisch und musikalisch tätig zu werden. Auf diese Weise entstanden über 600 Bilder und 300 musikalische Improvisationen, die den Korpus für die Auswertungsprozesse bildeten. Einige Aufgabenstellungen wurden dabei deduktiv aus theoretisch gewonnenen Fragestellungen heraus entwickelt und waren dann auch leitend für die entsprechenden Kapitel im Buch. So wurde – vgl. Kapitel 3 – etwa das Phänomen der Mimesis (Gebauer & Wulf, 1992; Otto & Otto, 1987) empirisch eingeholt über die Aufgabe, zu einem vorgelegten bzw. vorgespielten Werk eine eigene bildnerische oder musikalische Antwort zu formulieren. Oder es wurde das in der Musikästhetik vielfach beschriebene Ereignis musikalischer Interaktion (zwischen Stimmen, zwischen Spieler*innen, s. dazu etwa Kaden, 1984; Klüppelholz & Busch, 1983) überführt in die Aufgabe, mit zwei Instrumenten ein musikalisches Gespräch zu führen (vgl. Kapitel 4). Dabei sollte die musikalische Interaktion als ein ganz spezifisches Merkmal des Miteinander-Musizierens und dessen Eigensinnigkeit im Unterschied zu verbaler Interaktion untersucht werden. Auch das achte Kapitel des Buches – Das Kritzel, verfasst von Michael Parmentier (s. o.) – basiert auf einer vorab erfolgten Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Kritzelns, welches in der Entwicklung des Zeichnens vielfach als frühes Stadium beschrieben ist, jedoch in späteren Stadien nicht getilgt ist und außerdem auch in der modernen Kunst als expressive Leibgestik eine bedeutende Rolle spielt. Eine Vertiefung der Leibthematik erfolgt auch im neunten Kapitel, verfasst von Cornelie Dietrich (s. o.), in dem der Korpus musikalisch kleiner Sinneinheiten in den kindlichen Improvisationen daraufhin untersucht wird, wie sich in Auseinandersetzung mit leiblich fundierten Bewegungsimpulsen und tonalen Klangimpulsen eine musikalische Form en miniature entwickelt.
[33] Andere Aufgabenstellungen waren offen formuliert und dienten der Generierung von Material, die Kategorien der Analyse wurden dann induktiv gewonnen. Eine Besonderheit der Datendokumentation liegt darin, dass die musikalischen Improvisationen alle transkribiert wurden, so dass sie einer genauen Analyse zugänglich wurden – vergleichbar denen der Bilder. Damit konnte das Vorhaben realisiert werden, die Produkte der Kinder mit einer ähnlichen Ernsthaftigkeit und Gründlichkeit zu untersuchen, wie dies sonst in Bild- und Musikwissenschaft an Kunstwerken unternommen wird.
[34] Als zentrale und zusammengehörige Ergebnisse der umfassenden empirischen Untersuchungen können die in den Kapiteln 5-7 dargelegten Kategorien des Stils, der Gestalt und des Ausdrucks gelten. Mit ihnen sind induktiv drei elementare und auf verschiedene Dimensionen von Wahrnehmung und Figurierung ästhetischen Materials bezogene Kategorien gefunden worden, die in jedem Bild, in jeder musikalischen Improvisation Anlass zu hermeneutischen Operationen bieten.
[35] Mit der Kategorie des Stils wird ermittelt, auf welche konventionell eingespielten Muster der bildlichen oder musikalischen
Sprache
ein Kind zugreift, um sich mit seinem Stück anderen verständlich zu machen. Für die Musik kann das beispielsweise die Liedform, für das Bild die Form eines Blicks aus dem Fenster sein. Demgegenüber wird in der Kategorie Gestalt untersucht, auf welche Formen der Wahrnehmungsorganisation sich die Kinder im Prozess ihrer ästhetischen Tätigkeit vornehmlich beziehen. Referenztheorie hierfür ist die Gestalttheorie: Mit
Gestalt [wird] eine ordnende Tätigkeit der Sinne bezeichnet, die sich sowohl im Wahrnehmungsvorgang als auch in ästhetischen Figurationen Geltung verschafft, relativ unabhängig von kulturellen Normen und bewussten Ausdrucksintentionen
(KMG 134-A, S. 153)
. Noch einmal kategorial Anderes wird mit der Frage nach Richtungen des Ausdrucks eingeholt. In der basalen Unterscheidung von solchen Stücken (bildnerischen wie musikalischen), die eher eine Stimmung, etwas Zuständliches erzeugen und solchen, die eine deutlich wahrnehmbare Dynamik und Bewegung (
Antriebsstücke
,
KMG 134-A, Abs. 134:501–503
) erzeugen bzw. enthalten, nähern sich die Untersuchungen dem schwierigen, aber für eine Differenzierung ästhetischer Erfahrung unerlässlichen Frage nach dem Verhältnis von Innen- und Außenwelt.

3 Rezeption

[36] Mollenhauer stand mit vielen Kolleg*innen, die sich ebenfalls mit Ästhetik und ästhetischer Bildung beschäftigten, im Austausch und er sandte vielen von ihnen ein Exemplar des Buches zu. Im Nachlass finden sich darauf zahlreiche briefliche Reaktionen. Der Kunsthistoriker Gottfried Boehm äußert sich sehr positiv zum Buch (Boehm an Mollenhauer, 27.3.1996, Korr. All. Boehm) und spezifiziert die Leibthematik, die Verbindung von Produktion und Rezeption sowie anthropologische Fragen der Kunsterfahrung. Mollenhauer antwortet darauf am 11.10.1996 ausführlich (Mollenhauer an Boehm, 11.10.1996, Korr. All. Boehm).
[37] Eine kritische Rezension des Buches schrieb der in Lüneburg lehrende Kunstpädagoge Pierangelo Maset, die in der Zeitschrift Kunst und Unterricht erschien (Maset, 1996). Auf die Rezension folgt der Briefwechsel zwischen Maset und Mollenhauer (Mollenhauer und Maset, 2.1.-29.1.1997, Korr. All. Maset), in dessen Verlauf sie ihre Positionen allmählich annähern. Aus der genauen Analyse der ästhetischen Produkte entstand für Maset der Eindruck, Mollenhauer habe damit das reformpädagogische Motiv eines
Genius im Kinde
(Maset, 1996, S. 15)
rehabilitieren wollen. Diesen Vorwurf hatte Mollenhauer bereits im ersten Kapitel antizipiert:
Ästhetische Produkte von Kindern […] unter dieser Perspektive zu beschreiben, bedeutet nun in gar keinem Sinne, dass diese als kleine Genies, als Kulturschöpfer, als kreative Teilnehmer am Kunst-Diskurs betrachtet werden. Vom
Genius im Kinde
soll nicht die Rede sein. Indessen und allerdings soll die Rede sein von ästhetischen Erfahrungen, die man in kindlichen Produkten entdecken kann, wenn man sich hat bilden lassen von den
gelungenen
ästhetischen Produkten unserer Kultur
(KMG 134-A, S. 20)
.
[38] Ähnlich kritisch bezieht sich der Maler und Komponist Burkardt Söll (Söll, 1997) auf die im Buch gewählte Ausgangsposition, die von Kindern hervorgebrachten ästhetischen Produkte und Prozesse mit Werken der klassischen Moderne, mithin einer zu kritisierenden Hochkultur, in Verbindung zu bringen und andere ästhetische Praktiken wie z. B. Comic oder Graffiti nicht einzubeziehen.
[39] Demgegenüber formuliert Horst Rumpf (1997) in seiner Rezension:
Mollenhauers Ausforschungen ästhetischer kunstorientierter Praxis stellen die laufende Diskussion über ästhetische Erfahrung und ihre Genese auf eine neue Basis
(Rumpf, 1997, S. 483)
. Rumpf interessiert sich als Allgemein- und Schulpädagoge vor allem für die
lange genug als dunkel, unklar, dem Verstehen unzugänglich abgewertete […], degradierte menschliche Sinnlichkeit
(
Rumpf, 1997, S. 485
; s. auch Rumpf, 1981). In Mollenhauers Werk seien
aktuelle Suchbewegungen reichhaltig dokumentiert, sie als nicht hintergehbares Fundament jeder menschlichen Weltzuwendung auszugraben und neu ernst zu nehmen
(Rumpf, 1997, S. 485)
.
[40] Das komplexe Werk ist dann in verschiedenen Subdisziplinen der Erziehungswissenschaft vielfältig rezipiert worden, nur einiges davon kann hier exemplarisch vorgestellt werden. Im Rahmen der Allgemeinen Erziehungswissenschaft setzen sich etwa Ulrike Pilarczyk und Ulrike Mietzner (2005) oder Ralf Bohnsack, Bettina Fritzsche und Monika Wagner-Willi (2014) mit den methodischen Fragen der Interpretation der von Kindern erzeugten Bilder auseinander und entwickeln diese weiter, Pilarczyk und Mietzner (2005) insbesondere mit dem Medium der Fotografie. Auffallend wenig ist hingegen die Arbeit mit musikalischem Material in Debatten der Allgemeinen Erziehungswissenschaft eingegangen. Dabei bleibt offen, ob dies mit der nach wie vor gültigen Vorrangstellung des seit der Aufklärung favorisierten Sehens vor dem Hören (s. dazu Wulf, 1993) zusammenhängt oder seine Ursache in der komplizierteren und voraussetzungsreicheren Behandlung des Materials findet, die Mollenhauer im Werk bereits antizipierte:
Das Lesen von Partituren […], das Hören und Beschreiben musikalischer Vorgänge gehört nicht gleichermaßen zu den Selbstverständlichkeiten im pädagogisch-intellektuellen Umgang mit unseren Kultursachverhalten […]. Mit der Entscheidung, Bild und Musik gleichgewichtig zur Sprache zu bringen, […] haben wir nicht nur uns, sondern auch dem Leser einiges zugemutet
(KMG 134-A, S. 34, Herv. i. O.)
.
[41] Mit den bildungs- und subjekttheoretischen Teilen des Buches setzen sich u. a. Micha Brumlik (2000, S. 159) und Käte Meyer-Drawe (2000) auseinander, während Gabriele Weiß (2013) die empirischen Befunde zusammen mit der theoretischen Grundlegung in ihre Reformulierung ästhetischer Erziehung in allgemeinpädagogischer Absicht fundierend einbezieht. Ähnlich sind auch für Christian Rittelmeyer (2012; 2014) sowie für Cornelie Dietrich, Dominik Krinninger und Volker Schubert (2012) die Grundfragen wichtiger empirischer und bildungstheoretischer Bezugsrahmen in ihren allgemeinpädagogisch gerahmten Theorien ästhetischer Bildung.
[42] Auch im Feld der Frühen Bildung erfährt das Buch eine Rezeption, so etwa bei Cornelie Dietrich (2010), Katharina Schneider (2017) oder Kathrin Borg-Tiburcy (2019). Alle drei Autorinnen nehmen dabei die Figur der Grundlegung ästhetischer Erfahrungen aus den Grundfragen im Sinne einer Anfänglichkeit auf und prüfen deren Potential für theoretische und empirische Weiterentwicklungen in der frühkindlichen Bildungspraxis.
[43] In spezifischen Feldern der kulturell-ästhetischen Bildung sowie der künstlerischen Fachdidaktiken wird auf das Werk ebenfalls vielfach Bezug genommen. So nutzt Gundel Mattenklott (2007) insbesondere die empirischen Arbeiten aus den Grundfragen zur musikalischen Interaktion für ihre Argumentationen in der
Grundschule der Künste
(Mattenklott, 2007, S. 123–124)
. Einige Jahre später, 2002, veranstaltet Mattenklott zusammen mit Constanze Rora eine interdisziplinäre Tagung zur ästhetischen Erfahrung von Kindern. In der Einleitung ihres 2004 herausgegebenen Tagungsbands heben die Herausgeberinnen hervor, Mollenhauer, Dietrich, Müller und Parmentier brächten mit den Grundfragen ästhetischer Bildung die theoretischen und empirischen Befunde zur ästhetischen Erfahrung von Kindern hervor, die sie ursprünglich dazu veranlassten, Mollenhauer zu einem Vortrag einzuladen. Für sie gehörten Mollenhauers Beiträge zur ästhetischen Bildung zu den wichtigsten der Zeit (Mattenklott, 2004, S. 8). Ein Gespräch zwischen Mattenklott, Rora und Mollenhauer konnte aufgrund von dessen Tod im März 1998 nicht mehr stattfinden. Im genannten Tagungsband finden sich zahlreiche Bezugnahmen auf und Auseinandersetzungen mit den Grundfragen. Ulrike Hentschel etwa führt in ihrem theaterpädagogischen Beitrag Zwischen Material und Bedeutung in das Thema Sprache und ästhetische Erfahrung ein und fasst letztere als
durch die wahrnehmende und gestaltende Auseinandersetzung mit Kunst [des Theaters]
(Hentschel, 2004, S. 157)
, und nicht
im weiten Sinne als […] []aisthetische Erfahrung[]
(Hentschel, 2004, S. 157)
. Diese Differenzierung treffe sie
vor dem Hintergrund der Schriften Mollenhauers, der in den 1980er und 90er Jahren […] erheblich zur Klärung und Erneuerung der bildungstheoretischen Dimension des Ästhetischen beigetragen hat
(Hentschel, 2004, S. 157)
. An dieser Stelle verweist Hentschel u. a. auf die Grundfragen. Demgegenüber nutzt Kaspar Spinner (2004) das Mimesis-Kapitel ebenso wie Mollenhauers Theorem der Gestaltwahrnehmung und -artikulation für eine Weiterentwicklung in die Literaturdidaktik hinein.
[44] Immer wieder ist das Phänomen ästhetischer Erfahrung in der Modellierung Mollenhauers Gegenstand der Auseinandersetzung. Einerseits bezieht man sich kritisch auf die theoretische Position Mollenhauers als zu wenig am Subjekt der Erfahrung orientiert, andererseits schätzt man die empirischen Vorarbeiten Mollenhauers, die eine materialgestützte Diskussion der Spezifika der auf Auge und Ohr bezogenen ästhetischen Tätigkeiten allererst ermöglicht. In diesem Kontext entwickeln etwa Stefan Gies, Werner Jank und Ortwin Nimczik (2001) den Begriff der ästhetischen Praxis weiter, indem sie Mollenhauers Argumentation mit neueren Arbeiten Martin Seels verknüpfen und so die Rolle des Subjekts ausdifferenzieren. Bei Elias Zill (2016) erfolgt eine weitere musikpädagogische Rezeption der Grundfragen. Der Autor setzt sich mit der methodischen Schwierigkeit auseinander, wie aus den Werken der kindlichen Improvisationen auf den Erfahrungsgehalt und die signifikante Geste der eigenen Erfindung geschlossen werden könne. Eine Auseinandersetzung mit weiteren hermeneutischen Verfahren schließt sich an.

4 Literatur

4.1 Andere hier verwendete Werke von Klaus Mollenhauer

[45] Mollenhauer, Klaus. Ist ästhetische Bildung möglich? (Beitrag 1988; KMG 100-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqh5&edition=a.
[46] Mollenhauer, Klaus. Ästhetische Bildung als Kritik, oder: Hatte das
Bauhaus
eine Bildungstheorie? (Beitrag 1989; KMG 103-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqgp&edition=a.
[47] Mollenhauer, Klaus. Die ästhetische Dimension der Bildung. Zur Einführung in den Themenkreis (Geleitwort 1990; KMG 111-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqg0&edition=a.
[48] Mollenhauer, Klaus. Die vergessene Dimension des Ästhetischen in der Erziehungs- und Bildungstheorie (Beitrag 1990; KMG 114-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqfx&edition=a.

4.2 Weitere Literatur

[49] Bohnsack, Ralf, Fritzsche, Bettina & Wagner-Willi, Monika (Hrsg.) (2014). Dokumentarische Video- und Filminterpretation. Methodologie und Forschungspraxis. Opladen [u. a.]: Budrich.
[50] Borg-Tiburcy, Kathrin (2019). Die ästhetische Dimension kindlicher Tätigkeit: Eine Rekonstruktion gemeinschaftlicher Herstellungsprozesse ästhetischen Sinns. Wiesbaden: Springer VS.
[51] Brumlik, Micha (2000). Das Selbst und seine Erfahrung. Die verborgene Ethik in Klaus Mollenhauers Hermeneutik. In Cornelie Dietrich & Hans-Rüdiger Müller (Hrsg.), Bildung und Emanzipation. Klaus Mollenhauer weiterdenken (S. 155–161). Weinheim [u. a.]: Juventa.
[52] Dietrich, Cornelie (1998). Wozu in Tönen denken. Historische und empirische Studien zur bildungstheoretischen Bedeutung musikalischer Autonomie. Kassel: Bosse.
[53] Dietrich, Cornelie (2010). Anfänge Ästhetischer Bildung. Von der sensumotorischen Spur zur Sinn-Struktur. Zeitschrift Ästhetische Bildung, 2(1), 1–12.
[54] Dietrich, Cornelie, Krinninger, Dominik & Schubert, Volker (2012). Einführung in die Ästhetische Bildung (2. Auflage). Weinheim [u. a.]: Beltz Juventa.
[55] Gebauer, Gunter & Wulf, Christoph (1992). Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
[56] Gies, Stefan, Jank, Werner & Nimczik, Ortwin (2001). Musik lernen. Zur Neukonzeption des Musikunterrichts in den allgemeinbildenden Schulen. Diskussion Musikpädagogik, (9), 6–24.
[57] Hentschel, Ulrike (2004). Zwischen Material und Bedeutung. Ästhetische Erfahrung und Sprache im zeitgenössischen Theater und in der Theaterpädagogik. In Gundel Mattenklott & Constanze Rora (Hrsg.), Ästhetische Erfahrung in der Kindheit. Theoretische Grundlagen und empirische Forschung (S. 157–170). Weinheim [u. a.]: Juventa.
[58] Kaden, Christian (1984). Musiksoziologie. Berlin: Verlag Neue Musik.
[59] Klüppelholz, Werner & Busch, Hermann J. (Hrsg.) (1983). Musik gedeutet und gewertet. Texte zur Rezeptionsgeschichte von Musik. München: DTV.
[60] König, Josef (1978). Die Natur der ästhetischen Wirkung (1957). In Günther Patzig (Hrsg.), Vorträge und Aufsätze (S. 256–337). Freiburg [u. a.]: Karl Alber.
[61] Maset, Pierangelo (1996).
Grundfragen ästhetischer Bildung
? Rezension. Kunst + Unterricht, (207), 15.
[62] Mattenklott, Gundel (2004). Einleitung 1. Teil: Zur ästhetischen Erfahrung in der Kindheit. In Gundel Mattenklott & Constanze Rora (Hrsg.), Ästhetische Erfahrung in der Kindheit. Theoretische Grundlagen und empirische Forschung (S. 7–23). Weinheim [u. a.]: Juventa.
[63] Mattenklott, Gundel (2007). Grundschule der Künste. Vorschläge zur musisch-ästhetischen Erziehung (2., korrigierte Auflage). Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.
[64] Meyer-Drawe, Käte (2000). Die Not der Lebenskunst: Phänomenologische Überlegungen zur Bildung als Gestaltung exzentrischer Lebensverhältnisse – fünf Überlegungen. In Cornelie Dietrich & Hans-Rüdiger Müller (Hrsg.), Bildung und Emanzipation. Klaus Mollenhauer weiterdenken (S. 147–154). Weinheim [u. a.]: Juventa.
[65] Otto, Gunter & Otto, Maria (1987). Auslegen. Ästhetische Erziehung als Praxis des Auslegens in Bildern und des Auslegens von Bildern. Velber: Friedrich.
[66] Pilarczyk, Ulrike & Mietzner, Ulrike (2005). Das reflektierte Bild. Die seriell-ikonografische Fotoanalyse in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
[67] Rittelmeyer, Christian (2012). Warum und wozu ästhetische Bildung? Über Transferwirkungen künstlerischer Tätigkeiten. Ein Forschungsüberblick (2. Auflage). Oberhausen: Athena-Verlag.
[68] Rittelmeyer, Christian (2014). Aisthesis: Zur Bedeutung von Körper-Resonanzen für die ästhetische Bildung. München: kopaed-Verl.
[69] Rumpf, Horst (1981). Die übergangene Sinnlichkeit. Drei Kapitel über die Schule. München: Juventa.
[70] Rumpf, Horst (1997). Klaus Mollenhauer/Christoph Wulf (Hrsg.): Aisthesis/Ästhetik. Zwischen Wahrnehmung und Bewußtsein. Pierangelo Maset: Ästhetische Bildung der Differenz. Kunst und Pädagogik im technischen Zeitalter. Klaus Mollenhauer: Grundfragen ästhetischer Bildung. Theoretische und empirische Befunde zur ästhetischen Erfahrung von Kindern. Zeitschrift für Pädagogik, 43(3), 481–485.
[71] Schneider, Katharina (2017). Ästhetische Erfahrung in Spielpraktiken von Kindergartenkindern. Eine ethnografische Studie im Elementarbereich. Weinheim: Beltz Juventa.
[72] Söll, Burkhardt (1997). Die Kunst mit dem großen K. Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie, 17(2), 212–213.
[73] Spinner, Kaspar H. (2004). Literarästhetische Interpretation von Kindertexten. In Gundel Mattenklott & Constanze Rora (Hrsg.), Ästhetische Erfahrung in der Kindheit. Theoretische Grundlagen und empirische Forschung (S. 185–194). Weinheim [u. a.]: Juventa.
[74] Weiß, Gabriele (2013). Ästhetische Erziehung. In Sabine Andresen, Christine Hunner-Kreisel & Stefan Fries (Hrsg.), Erziehung (S. 111–117). Stuttgart [u. a.]: J. B. Metzler.
[75] Wulf, Christoph (1993). Das Ohr als Erkenntnisorgan. Berlin: Akademie-Verlag.
[76] Zill, Elias (2016).
Wow, das klingt schon richtig gut...
. Eine qualitative Studie zu musikalisch-ästhetischen Erfahrungen von Schülern in produktionsorientierten Projekten. In Jens Knigge & Anne Niessen (Hrsg.), Musikpädagogik und Erziehungswissenschaft (S. 231–247). Münster [u. a.]: Waxmann.
[77] [Cornelie Dietrich]