In Erinnerung an die geisteswissenschaftliche Pädagogik [Werkkommentar]

1 Werk: Formale Beschreibung

1.1 Leittext

[1] Mollenhauer, Klaus. In Erinnerung an die geisteswissenschaftliche Pädagogik. Wozu Pädagogik? Versuch eines thematischen Profils (Beitrag 1996; KMG 135-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqch&edition=a.
[2] Basierend auf:
  • [3] Mollenhauer, Klaus (1996). In Erinnerung an die geisteswissenschaftliche Pädagogik: Wozu Pädagogik? Versuch eines thematischen Profils. In Andreas Gruschka (Hrsg.), Wozu Pädagogik? Die Zukunft bürgerlicher Mündigkeit und öffentlicher Erziehung (S. 15–35). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
[4] Das Werk erschien 1996 als erster Beitrag des Sammelbandes nach der Einleitung von Andreas Gruschka. Der Text umfasst 21 Druckseiten inklusive eines halbseitigen Literaturverzeichnisses und ist gegliedert in sechs Abschnitte.: 1. Ausgangsfragen, 2. Erinnerungen, 3. Individualisierungen, 4. Werte, 5. Perspektive und Planimetrie und 6. Aufgaben.

1.2 Weitere Fassungen

[5] Weitere Fassungen liegen unserem Kenntnisstand nach nicht vor

1.3 Übersetzungen

[6] Übersetzungen liegen unserem Kenntnisstand nach nicht vor.

1.4 Unveröffentlichte Quellen

[7] SUB Göttingen, Cod. Ms. K. Mollenhauer
  • [8] Korr. All. Grus 03: 29.3.-12.4.1995, zwei Briefe zwischen Klaus Mollenhauer und Andreas Gruschka (Gruschka schreibt an Mollenhauer und die Mitautor*innen des Sammelbandes über den Stand der Arbeiten und nennt den Veröffentlichungstermin. Mollenhauer übersendet im Brief vom 14.4.1995 ein Manuskript und schreibt
    Ich glaube, daß mir ein manierlicher Text gelungen ist, eine Art Credo […]
    . Die Wiederholungen zu
    Individualität
    und
    Individualisierung
    seien gewollt.)

2 Inhalt und Kontexte

[9] Der von Andreas Gruschka herausgegebene Sammelband mit dem provokanten Titel Wozu Pädagogik? entstand aus mehreren Motiven heraus. Zum einen treffe er, so Gruschka, als Schulpädagoge immer wieder auf Lehramtsstudierende, die nach dem Sinn eines erziehungswissenschaftlichen Begleitstudiums fragen, wenn denn dieses Fach ihnen kein für den Lehrberuf praktisch relevantes Wissen vermitteln könne. Tieferliegend aber geht es dem Herausgeber um die Frage, ob das aufklärerische und in der Kritischen Erziehungswissenschaft weiterentwickelte Prinzip einer Erziehung zur Mündigkeit (Adorno & Becker, 1975) angesichts eines zunehmenden Rechtsradikalismus und zunehmender Ausländerfeindlichkeit bei jungen Menschen in Deutschland noch zukunftsfähig sei (Gruschka, 1996). Auch die materiell angespannte Lage der pädagogischen Institutionen und Einrichtungen veranlasst Gruschka, die Frage an Vertreter aus verschiedenen gesellschaftlichen Systemen wie Schule, Jugendhilfe, Kirche und Wirtschaft weiterzugeben. Der erste Abschnitt des Buches ist erziehungswissenschaftlich theoretischer Natur und wird mit dem Text Mollenhauers (KMG 135-a) eröffnet.
[10] Mollenhauer wendet die Frage Wozu Pädagogik? kulturwissenschaftlich, indem er sie mit derjenigen Jean-Paul Sartres parallelisiert, der nach dem zweiten Weltkrieg fragte, warum und für wen man als Schriftsteller schreibe (Sartre, 1958). Den von Sartre geprägten Begriff einer litterature engagée bringt Mollenhauer in Verbindung mit Wilhelm Flitners Begriff der Pädagogik als einer
réflexion engagée
, ein Denken und Schreiben also, das sich […] bindet, verpflichtet weiß […], woran?
(KMG 135-a, S. 15)
. Für die geisteswissenschaftliche Pädagogik habe der bindende pädagogische Grundgedanke darin bestanden, das
pädagogisch Gute
(KMG 135-a, Abs. 135:3)
durch ein Mitwirken an und Begründen von Reformen im historischen Verlauf zu befördern. Dies sei auch Motiv für die zahlreichen Reformversuche der 1960er und 1970er Jahre gewesen. Angesichts einer starken Ernüchterung, die sich nach den vielfältigen Reformbestrebungen dieser Zeit in Schule, Curriculum, Jugendhilfe inzwischen vor dem Hintergrund von restaurativen Kräften eingestellt habe, fragt Mollenhauer skeptisch, ob Pädagogik
vielleicht nur die (entbehrliche) Geranie auf dem bürgerlichen Balkon
(KMG 135-a, Abs. 135:11)
sei, hinter dem sich ganz andere als pädagogische Kräfte und Instanzen Geltung verschafften. Pädagogik könne als akademische Disziplin nur dann zukunftsfähig sein, wenn sie nicht von sich verlange, die pädagogische Praxis zu verbessern; sie könne diese nur beschreiben und über sie aufklären, gleichzeitig aber dies doch als eine réflexion engagée tun.
[11] Es sind vor allem drei kulturgeschichtlich fundamentale Fragen und deren in Mollenhauers Interpretation durchaus widersprüchliche Bedeutung für die Pädagogik und Bildungstheorie, die dieser eingedenk dieser geisteswissenschaftlichen Tradition – zu der für ihn vor allem auch Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schleiermacher zählen (siehe Abschnitt 2: Erinnerungen) – in den Blick nimmt:
  • [12] die Frage der Individualisierung (Abschnitt 3), die sowohl als Emanzipation aus vorgegebenen kollektiven Ordnungen als auch als Zumutung an den oder die Einzelne*n verstanden werden müsse;
  • [13] die Frage nach einem pädagogischen Umgang mit den sich häufig widersprechenden Werten (Abschnitt 4), wenn in der Moderne zunehmend
    die Rechtfertigung für leitende Werte nicht mehr durch die Anrufung von Autorität oder Tradition gefunden werden kann
    (KMG 135-a, S. 25)
    – Mollenhauer nennt hier den Wert des humanen und des nicht-humanen Lebendigen, den Wert menschlicher Individualität und denjenigen der Solidarität;
  • [14] und schließlich die Frage danach, ob es in der gegenwärtigen Lage einer pluralisierten, multikulturellen und identitätsoffenen Gesellschaft noch angemessen sei, für die Bildung des Menschen einen linearen Fluchtpunkt (wie das Abitur, den Berufserfolg etc.) anzunehmen (Abschnitt 5: Perspektive und Planimetrie).
[15] In Analogie zu einer entwicklungstheoretischen Orientierung menschlicher Bildung formuliert Mollenhauer abschließend Entwicklungsaufgaben für das Fach Pädagogik, ein thematisches Profil für deren nähere Zukunft sowie ein Curriculum für die akademische Disziplin der Erziehungswissenschaft (Abschnitt 6: Aufgaben): Es ist für ihn das Thema der Erziehung und Bildung unter Bedingungen von Armut, das Thema einer immer noch überfälligen Erneuerung des schulischen Curriculums, das Thema der zunehmend fragiler werdenden Normalitätsentwürfe in Schule und Jugendhilfe und schließlich das Thema der ästhetischen Bildung. Mit allen Themen bekräftigt er seine Auffassung, dass Pädagogik
Teil der Selbstauslegungsbemühungen unserer Kultur
(KMG 135-a, Abs. 135:46)
und insofern auch nicht entbehrlich sei. Zwei dieser Themen bzw. Entwicklungsaufgaben, nämlich Normalitätsbalancen und Armut, benennt Mollenhauer 1996 auch in seinem Beitrag Kinder und Jugendhilfe (KMG 136-a) als thematische Spezifika der Sozialpädagogik, die im pädagogischen Feld zwischen Schule und Familie eine ganz eigene Bedeutsamkeit für die Reproduktion und Erneuerung gesellschaftlicher Verhältnisse sowie für die Individuierung der Adressat*innen erlangen würden.
[16] Fünf Jahre zuvor hatte Mollenhauer schon einmal die grundlegende Frage gestellt, ob bzw. unter welchen Bedingungen die Erziehungswissenschaft eine Zukunft habe, hatte dort vor allem den Habermasschen Begriff des Reflexionswissens als einer zukunftsfähigen Wissensform erläutert (siehe KMG 170 und den dazugehörigen Werkkommentar).

3 Rezeption

[17] Der Text ist breit rezipiert worden. Michael Winkler zitiert den Untertitel von KMG 194 in seinem Mollenhauer-Buch als Kapitelüberschrift:
In Erinnerung an die Geisteswissenschaftliche Pädagogik
(Winkler, 2002, S. 38)
und diskutiert das Problem der réflexion engagée über die verschiedenen Phasen von Mollenhauers Werk, insbesondere mit Bezug auf seine sozialpädagogischen Arbeiten (dazu Winkler, 2009). Ebenfalls sozialpädagogisch interpretiert wird KMG 135-a bei Christian Niemeyer (2010) sowie Christian Niemeyer und Michael Rautenberg (2012). Den allgemeinpädagogischen Gehalt und die Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Diskussion um die Postmoderne bzw. reflexive Modernisierung bearbeiten Bodo Rödel (2005) sowie Stefan Groß (2010).

4 Literatur

4.1 Andere hier verwendete Werke von Mollenhauer

    [18] KMG 117-a
    [19] KMG 136-a

4.2 Weitere Literatur

    [20] Adorno, Theodor W. & Becker, Hellmut (1975). Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969 (4. Auflage). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
    [21] Groß, Stefan (2010). Zwischen Politik und Kultur. Pädagogische Studien zur Sache der Emanzipation bei Klaus Mollenhauer. Würzburg: Königshausen & Neumann.
    [22] Gruschka, Andreas (1996). Einleitung. In Andreas Gruschka (Hrsg.), Wozu Pädagogik? Die Zukunft bürgerlicher Mündigkeit und öffentlicher Erziehung (S. 1–13). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
    [23] Niemeyer, Christian (2010). Klaus Mollenhauer (1928–1998): Der eine Enkel geisteswissenschaftlicher Sozialpädagogik. In Christian Niemeyer, Klassiker der Sozialpädagogik: Einführung in die Theoriegeschichte einer Wissenschaft (3., aktualisierte Auflage, S. 212–251). Weinheim [u. a.]: Juventa.
    [24] Niemeyer, Christian & Rautenberg, Michael (2012). Klaus Mollenhauer (1928-1998). Pädagogik als vergessener Zusammenhang. In Bernd Dollinger (Hrsg.), Klassiker der Pädagogik. Die Bildung der modernen Gesellschaft (3., durchgesehene Auflage, S. 331–352). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
    [25] Rödel, Bodo (2005). Rekonstruktion der Pädagogik Klaus Mollenhauers. Ein Beitrag zur Geschichte der Pädagogik in der Postmoderne. Hamburg: Kovač.
    [26] Sartre, Jean-Paul (1958). Was ist Literatur? Ein Essay. Hamburg: Rowohlt.
    [27] Winkler, Michael (2002). Klaus Mollenhauer. Ein pädagogisches Porträt. Weinheim [u. a.]: Beltz.
    [28] Winkler, Michael (2009). Theorie und Praxis revisited oder: Sozialpädagogik als Handwerk betrachtet. In Eric Mührel, Bernd Birgmeier & Hans-Ludwig Schmidt (Hrsg.), Theorien der Sozialpädagogik — Ein Theorie-Dilemma? (S. 307–332). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
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