Schwierigkeiten mit dem „Szientismus“ und das autobiographische Motiv [Werkkommentar]

1 Werk: Formale Beschreibung

1.1 Leittext

[1] Mollenhauer, Klaus. Schwierigkeiten mit dem
Szientismus
und das autobiographische Motiv (Beitrag 1997; KMG 144-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqbw&edition=a.
[2] Basierend auf:
  • [3] Mollenhauer, Klaus (1997). Schwierigkeiten mit dem
    Szientismus
    und das autobiographische Motiv. In Günther Bittner & Volker Fröhlich (Hrsg.), Lebens-Geschichten. Über das Autobiographische im pädagogischen Denken (S. 213–223). Zug: Die Graue Edition.
[4] Der Aufsatz umfasst 11 Druckseiten inklusive zwei jeweils eine Seite einnehmenden schwarz-weißen Abbildungen von Rembrandt. Die Literaturangaben im Text beziehen sich fast alle auf einen Beitrag von Günther Bittner (Bittner, 1996).

1.2 Weitere Fassungen

[5] Weitere Fassungen liegen unserem Kenntnisstand nach nicht vor.

1.3 Übersetzungen

[6] Übersetzungen liegen unserem Kenntnisstand nach nicht vor.

1.4 Unveröffentlichte Quellen

[7] SUB Göttingen, Cod. Ms. K. Mollenhauer
  • [8] Korr. All. Cloer 01: Ernst Cloer an Klaus Mollenhauer, 20.2.1998 (Umfgang: 2 Seiten)
  • [9] Korr. All. Fröh: Korrespondenz zwischen Klaus Mollenhauer und Volker Fröhlich, 15.11.1996–18.7.1997 (Anfrage für einen Vortrag und anschließende Korrektur des darauf basierenden Aufsatzes, Umfang: 5 Briefe)
  • [10] Manu. pub. 90 28: Klaus Mollenhauer (o. D.). Schwierigkeiten mit dem
    Szientismus
    und das autobiographische Motiv Kurzvortrag zum Symposium aus Anlass des Geburtstages von Prof. Dr. Günther Bittner, Würzburg, am 22. Februar 1997 (Manuskript des publizierten Aufsatzes Schwierigkeiten mit dem
    Szientismus
    und das autobiographische Motiv
    , Umfang: 8 Seiten. Handschriftliche Überarbeitung des Vortrages für die Aufsatzform. Ohne Abbildungen)
  • [11] Manu. pub. 90 29: Klaus Mollenhauer (o. D.). Schwierigkeiten mit dem
    Szientismus
    und das autobiographische Motiv Kurzvortrag zum Symposium aus Anlass des Geburtstages von Prof. Dr. Günther Bittner, Würzburg, am 22. Februar 1997 (Manuskript des publizierten Aufsatzes Schwierigkeiten mit dem
    Szientismus
    und das autobiographische Motiv
    , Umfang: 8 Seiten. Handschriftliche Überarbeitung des Vortrages für die Aufsatzform. Abbildungen anliegend)

2 Inhalt und Kontexte

[12] Der Aufsatz basiert auf einem Vortrag Mollenhauers auf dem Symposium aus Anlass des 60. Geburtstages von Günther Bittner, das vom 21. bis 22. Februar 1997 in Würzburg stattfand. Die Veranstaltung widmete sich der Diskussion um dessen
an der Biographie und der Perspektive der von Erziehung betroffenen Subjekte orientierten Pädagogik
(Bittner & Fröhlich, 1997, S. 11)
, deren Grundzüge Bittner in seiner 1996 publizierten Monografie Kinder in die Welt, die Welt in die Kinder setzen (Bittner, 1996) dargelegt hatte. Anliegen war es,
Möglichkeiten und Grenzen eines autobiographischen Zugangs zum Verständnis pädagogischer Gedanken kritisch abzuwägen
(Bittner & Fröhlich, 1997, S. 11)
und Bittners Verständnis von Pädagogik aus Perspektive unterschiedlicher Disziplinen – Pädagogik, Philosophie und Psychoanalyse – zu diskutieren (Fröhlich an Mollenhauer, 15.11.1996, Korr. All. Fröh). Damit schließt das Symposion an eine in jener Zeit schon fast 20-jährige Debatte an, die sich mit der Erschließung und Interpretation autobiografischer Texte in der Erziehungswissenschaft befasste (Baacke & Schulze, 1979; Schulze, 1998).
[13] Mollenhauer stellt in seinem Aufsatz einen Anschluss an Bittners Buch her. Die darin vorgetragene Klage über eine szientistisch voreingenommene und die Subjektperspektive zu stark vernachlässigende Erziehungswissenschaft lässt Mollenhauer fragen, ob Erziehungswissenschaft als akademische Disziplin an Universitäten wirklich nötig sei, oder ob die Frage des Generationenverhältnisses nicht ebenso gut in anderen Disziplinen wie der Soziologie, der Ethnologie, der Psychologie behandelt werden könne. Auf diese selbstgestellte Frage antwortet er sodann in drei Schritten.
[14] Zunächst erläutert er das Verhältnis von Pädagogik als wissenschaftlicher Disziplin und praktischer Tätigkeit: Die Wissenschaft habe Wissen über Erziehung zu vermitteln, das nicht unmittelbar in der Praxis anwendbar sei, da sie mit ihren Mitteln immer nur einen Ausschnitt dessen, was Erziehung und Bildung ausmachen, beschreiben und bearbeiten könne. Die
Pädagogik [habe] einen
szientistich nicht einholbaren Sinn
[…], wie Herwig Blankertz sagte
(KMG 144-a, S. 214)
– ein Motto, welches Mollenhauer bereits den Vergessenen Zusammenhängen (KMG 081-A) voranstellt und auch in KMG 150-a diskutiert. Vielmehr sehe er die Aufgabe der Erziehungswissenschaft darin, in Form von wissenschaftlichen Studien über Fehlerrisiken, verborgen z. B. in Alltagsmeinungen, aufzuklären. Die von ihm empfohlene Zurückhaltung der Wissenschaft gegenüber der pädagogischen Praxis begründet Mollenhauer mit den verschiedenen Wissensformen, die in der Praxis wirksam werden, neben dem wissenschaftlichen Wissen sei dies vor allem das erinnerte praktische und biografische Wissen derjenigen, die in pädagogischer Verantwortung tätig sind.
Gescheitert
[…] ist eine derartige Bemühung [Umsetzung von Wissenschaft in Praxis, d. Verf.] nur dann, wenn ihren Leistungen aufgebürdet wird, die Praxis anleiten zu sollen.
(KMG 144-a, S. 217)
Das
autobiographische Motiv
(KMG 144-a, Abs. 144:8)
sei daher ein
ironischer Kontrapunkt
(KMG 144-a, Abs. 144:8)
gegenüber der
szientistischen
(KMG 144-a, Abs. 144:8)
Produktion von Wissen. Diese Auffassung erweitert Mollenhauer im dritten Schritt um Materialien der bildenden Kunst, die für ihn ähnlich wie eine Autobiografie im (forschenden) Leser eine doppelte Einstellung hervorbrächten: Zum einen lese man – als Erziehungswissenschaftler – die Kunstwerke subsumtionslogisch, suche also etwas Allgemeines über Erziehung, Kindheit, Unterricht etc.; zum anderen werde man aber auch in einen unabschließbaren Dialog mit dem je ganz Besonderen dieses Bildes, dieser Biografie oder dieses Musikstückes gebracht, der sich zur Subsumtionslogik immer kontrapunktisch verhalte. Als Beispiel bespricht Mollenhauer zwei Radierungen von Rembrandt, in denen sich Rembrandts eigene pädagogische Sprache zeige. Bilder, genau wie autobiographische Texte, seien Fiktionen und Konstruktionen des
Innenweltlichen
, in ihnen stecke Wissen, das nicht anders zugänglich sei als durch eine, wie Nelson Goodman es nenne,
metaphorische Exemplifizierung
(KMG 144-a, S. 219)
.
[15] Mit autobiografischen Texten, ebenso wie mit der Lage der Disziplin hat sich Mollenhauer immer wieder beschäftigt. Schon 1982 schreibt er von
mehrere[n] Versäumnisse[n]
in Bezug auf
die letzten 15 Jahre unserer Wissenschaft
(KMG 075-a, Abs. 075:15)
und bezieht sich dabei auf die stark sozialwissenschaftliche und empiristische Ausrichtung der Disziplin. Dieser Überzeugung entsprechend brachte er mit den Vergessenen Zusammenhängen (KMG 081-A) eine neue Perspektive in das Fach. 1991 (KMG 117-a) sowie 1996 (KMG 135-a) stellt er grundsätzliche Fragen zum Fortbestand der Erziehungswissenschaft, während er – ebenfalls 1996 – scharf auf die plakativen Formulierungen zum Niedergang der Allgemeinen Pädagogik reagiert, die von Michael Winkler und Thomas Rauschenbach vorgetragen worden waren KMG (siehe 137-a und den Werkkommentar dazu).

3 Rezeption

[16] Heinz-Elmar Tenorth beschreibt Mollenhauers Beziehung zur Erziehungswissenschaft als gekennzeichnet durch eine
ironische Brechung
(Tenorth, 2000, S. 24, Fußnote 22)
. Ernst Cloer widmete einen in der Zeit um Mollenhauers Tod 1998 entstandenen und später überarbeiteten Aufsatz dem Verstorbenen (Cloer, 2006). Er nennt Mollenhauers pädagogisches Denken
stets inspirierend [v]orausweisend[]
(Cloer, 2006, S. 172)
und hebt vor allem hervor, dass
Mollenhauer die szientistische und die über das autobiographische Motiv erzeugte Wissensproduktion nicht als Dual, sondern […] als
Kontrapunkt
verstanden hat.
(Cloer, 2006, S. 173)
[17] Hans-Rüdiger Müller thematisiert in seinem Handbuch-Beitrag Biographie (Müller, 2014) u. a. aus einem historischen Blickwinkel die Richtungen der pädagogischen Biographieforschung und erwähnt – ausgehend von dem Zeitpunkt der Entstehung der pädagogischen Biographieforschung ab den 1970er Jahren – neben Cloer (2006) auch Mollenhauers Beitrag, die beide
eher pädagogisch-hermeneutische, an kulturellen Erziehungs- und Bildungserfahrungen interessierte Ansätze […] der pädagogischen Biographieforschung
(Müller, 2014, S. 540)
darstellten.
[18] Monika Bourmer spricht von der Existenz eines
Kuriosum[s]
(Bourmer, 2017, S. 20)
, das in Bezug auf die Methodik der Interpretation von Autobiographien bestünde, wenngleich gerade auch in der Erziehungswissenschaft – und an dieser Stelle verweist sie u. a. auf Mollenhauers Beitrag – die Vorzüge der Autobiographie als Quelle mehrfach beschrieben worden seien.

4 Literatur

4.1 Andere hier verwendete Werke von Klaus Mollenhauer

    [19] Mollenhauer, Klaus. Marginalien zur Lage der Erziehungswissenschaft (Beitrag 1982; KMG 075-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqkv&edition=a.
    [20] Mollenhauer, Klaus. Vergessene Zusammenhänge. Über Kultur und Erziehung (Monografie 1983; KMG 081-A). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqkc&edition=A.
    [21] Mollenhauer, Klaus. Gibt es für die Erziehungswissenschaft eine Zukunftsperspektive? (Beitrag 1991; KMG 117-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqf7&edition=a.
    [22] Mollenhauer, Klaus. In Erinnerung an die geisteswissenschaftliche Pädagogik. Wozu Pädagogik? Versuch eines thematischen Profils (Beitrag 1996; KMG 135-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqch&edition=a.
    [23] Mollenhauer, Klaus. Über Mutmaßungen zum
    Niedergang
    der Allgemeinen Pädagogik – eine Glosse (Beitrag 1996; KMG 137-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqck&edition=a.
    [24] Mollenhauer, Klaus.
    Über die Schwierigkeit, von Leuten zu erzählen, die nicht recht wissen, wer sie sind
    . Einige bildungstheoretische Motive in Romanen von Thomas Mann (Beitrag 1998; KMG 150-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqbp&edition=a.

4.2 Weitere Literatur

    [25] Baacke, Dieter & Schulze, Theodor (1979). Aus Geschichten lernen. Zur Einübung pädagogischen Verstehens. München: Juventa-Verlag.
    [26] Bittner, Günther (1996). Kinder in die Welt, die Welt in die Kinder setzen. Eine Einführung in die pädagogische Aufgabe. Stuttgart: Kohlhammer.
    [27] Bittner, Günther & Fröhlich, Volker (1997). Vorwort. In Günther Bittner & Volker Fröhlich (Hrsg.), Lebensgeschichten. Über das Autobiographische im pädagogischen Denken (S. 9–12). Zug: Die Graue Edition.
    [28] Bourmer, Monika (2017).
    Wohl dem, der sagen kann
    als
    ,
    ehe
    und
    nachdem
    !
    Die Bedeutung von Autobiographien in der Erziehungswissenschaft. Überlegungen zur Erschließung exquisiter Quellen. In Silke Allmann & Jorina Talmon-Gros (Hrsg.), Kon-Texte. Pädagogische Spurensuche (S. 13–37). Wiesbaden: Springer VS.
    [29] Cloer, Ernst (2006). Pädagogisches Wissen in biographischen Ansätzen der Historischen Sozialisations- und Bildungsforschung. Methodologische Zugänge, theoretische und empirische Erträge. In Heinz-Hermann Krüger & Winfried Marotzki (Hrsg.), Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung (2., überarbeitete und aktualisierte Auflage, S. 171–204). Wiesbaden: VS.
    [30] Müller, Hans-Rüdiger (2014). Biographie. In Christoph Wulf & Jörg Zirfas (Hrsg.), Handbuch Pädagogische Anthropologie (S. 537–547). Wiesbaden: Springer VS.
    [31] Schulze, Theodor (1998). Günther Bittner/Volker Fröhlich (Hrsg.): Lebens-Geschichten. Über das Autobiographische im pädagogischen Denken. Kusterdingen: Die Graue Edition 1997. [Rezension]. Zeitschrift für Pädagogik, 44(6), 930–934.
    [32] Tenorth, Heinz-Elmar (2000). Kritische Erziehungswissenschaft. Oder von der Notwendigkeit der Übertreibung bei der Erneuerung der Pädagogik. In Cornelie Dietrich & Hans-Rüdiger Müller (Hrsg.), Bildung und Emanzipation. Klaus Mollenhauer weiterdenken. (S. 17–25). Juventa.
[33] [Lisa-Katharina Heyhusen]