Der Leib – Bildungshistorische Beobachtungen an ästhetischen Objekten [Werkkommentar]

1 Werk: Formale Beschreibung

1.1 Leittext

[1] Mollenhauer, Klaus. Der Leib – Bildungshistorische Beobachtungen an ästhetischen Objekten (Beitrag 1997; KMG 148-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqbj&edition=a.
[2] Basierend auf:
  • [3] Mollenhauer, Klaus (1998). Der Leib – Bildungshistorische Beobachtungen an ästhetischen Objekten. In Michele Borrelli & Jörg Ruhloff (Hrsg.), Deutsche Gegenwartspädagogik Band 3. Interdisziplinäre Verflechtungen und intradisziplinäre Differenzierungen (S. 56–78). Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.
[4] Das Werk erschien 1998 und umfasst 23 Druckseiten inklusive drei ausführlichen Fußnoten und einem Literaturverzeichnis. Es enthält zudem zehn schwarz-weiße Abbildungen von Kunstwerken und Notationen.

1.2 Weitere Fassungen

[5] Weitere Fassungen liegen unserem Kenntnisstand nach nicht vor.

1.3 Übersetzungen

[6] 1999 erschien eine italienische Übersetzung, die durch Michele Borrelli erfolgte:
  • [7] Mollenhauer, Klaus (1999). Il corpo. Osservazioni storico-formative su oggetti estetici. In Michele Borrelli & Jörg Ruhloff (Hrsg.), La Pedagogia Tedesca Contemporanea. III Volume. Sezione interdisciplinare e pedagogico-sistematica (S. 83–112). Cosenza: Pelligrini Editore.

1.4 Unveröffentlichte Quellen

[8] SUB Göttingen, Cod. Ms. K. Mollenhauer
  • [9] Korr. All. Fisch: Brief von Klaus Mollenhauer an Wolfgang Fischer, 19.6.1997 (Umfang: 2 Seiten)
  • [10] Korr. All. Grus 03: Brief von Klaus Mollenhauer an Andreas Gruschka, April 1997 (Umfang: 3 Seiten)
  • [11] Korr. All. Otto 10 Korrespondenz zwischen Klaus Mollenhauer und Gunter Otto, 19.6.-20.7.1997 (Umfang: 2 Briefe)
  • [12] Manu. pub. 90 38-001: Klaus Mollenhauer (o. D.). Der Leib - Bildungshistorische Beobachtungen an ästhetischen Objekten (Ausdruck eines computerschriftlichen Typoskripts von einer anliegenden Diskette; ohne Abbildungen; schriftliche Anmerkung einer dritten Person)
  • [13] Manu. pub. 90 38-002: Klaus Mollenhauer (o. D.). Der Leib - Bildungshistorische Beobachtungen an ästhetischen Objekten (Typoskript des Aufsatzes; handschriftlicher Vermerk
    letzte Fassung
    ; keine Abweichungen vom publizierten Text; wenige handschriftliche formale Korrekturen)
  • [14] Manu. pub. 90 38-003: (Entwurf einer Einzelseite aus dem Aufsatz, entspricht S. 62—63 im Aufsatz mit Abbildung; mit handschriftlichen Anmerkungen einer dritten Person)
  • [15] Manu. pub. 90 38-004: (zwei handschriftliche Einzelseiten; Notizen zum Aufsatz und zu Abbildungen im Aufsatz)
  • [16] Manu. pub. 90 38-005: (zwei Kopien eines Notenblattes (entspricht Abbildung 7))
  • [17] Manu. pub. 90 38-006: (drei Seiten Kopien der Abbildungen 3, 5 und 9 aus dem Aufsatz)
  • [18] Uni-Lehre 90 15-001: Klaus Mollenhauer, Vorlesung WS 1995/96: Die Pädagogik der Moderne – Interpretationen von bildnerischen und musikalischen Dokumenten (Typoskript unvollständig, Umfang: 96 Seiten)
  • [19] Uni-Lehre 90 15-005: Klaus Mollenhauer, Vorlesung WS 1995/96: Die Pädagogik der Moderne (Übersicht zu Ideen der einzelnen 10 Blöcke, Aufführung von Kunst- und Musikwerken sowie der Versuch, eine gemeinsame Thematik aufzuzeigen, Umfang: 10 Seiten mit Literatur)

2 Inhalt und Kontexte

[20] Der Text basiert auf dem zweiten Abschnitt der letzten allgemeinpädagogischen Vorlesung, die Mollenhauer vor seiner Emeritierung an der Universität Göttingen im Wintersemester 1995/96 hielt. Sie trug den Titel Die Pädagogik der Moderne – Interpretationen von bildnerischen und musikalischen Dokumenten (siehe auch den Kommentar zu KMG 133-a). Weitere Teile dieser Vorlesung waren der ebenfalls veröffentlichte Aufsatz Aspekte der Lehre – Bildungshistorische Belehrungen durch Kunst (KMG 146-a) sowie, als Abschiedsvorlesung, der Text Fiktionen von Individualität und Autonomie – Bildungstheoretische Belehrungen durch Kunst (KMG 133-a). Das Vorlesungsmanuskript ist z. T. erhalten und zeigt sehr viele textliche Übereinstimmungen (Uni-Lehre 90 015-001). Gegenüber dem Vorlesungsmanuskript hat Mollenhauer für die Druckfassung des Aufsatzes sowohl einen einleitenden als auch einen abschließenden Teil ergänzt. Auch hinsichtlich Anmerkungen, Fußnoten und Bildmaterial gibt es einige Differenzen zwischen Vorlesungsskript und Aufsatzmanuskript.
[21] Wie auch in den anderen Abschnitten der Vorlesung verfolgt Mollenhauer das Ziel, Werke der Kunst und der Musik als bildungshistorische Quellen zu interpretieren und ihr Potential für eine kritische, mindestens differenzierende Kommentierung der erziehungswissenschaftlichen Historiografie zu entfalten. Anders als bei den anderen zentralen allgemeinpädagogischen Begriffen, die Mollenhauer in der Vorlesung bearbeitete – z. B. das Ich, die Interaktion, die Lehre – ergibt sich die Nähe zur Kunst bei der Leibthematik wie von selbst. Dadurch, dass Kunst und Musik immer durch die Sinne aufgenommen werden, eine unmittelbare Wirkung auf den Organismus ausüben und als Stimmung, Atmosphäre, Lust oder Abwehr leibliche Resonanzen hervorrufen, sind die Künste im Bezug auf Äußerungen zur Leibthematik den diskursiven Texten überlegen:
Bilder und Musikstücke […] inszenieren uns als Leibwesen.
(KMG 148-a, S. 56)
Schwierigkeiten stellen sich allerdings ein bei dem Versuch, solche
Inszenierungen
und die damit verbundenen egologischen Erfahrungen in eine intersubjektiv plausible, wissenschaftlich anerkennbare Sprache zu überführen.
[22] Die Bedeutung der Leiblichkeit für die Bildung des Menschen beschäftigt Mollenhauer über viele Jahre. Ganz explizit taucht der Leib 1987 als ein Thema in seinem Text Korrekturen am Bildungsbegriff (KMG 093-b) auf. In allen Texten zur Ästhetischen Bildung, die er in den späten 1980er und 1990er Jahren schrieb, wurden Phänomene der Sinnlichkeit immer wieder thematisch. Auch in seiner zunehmend intensiver werdenden Rezeption der nachhusserlschen leibphänomenologischen Arbeiten von Maurice Merleau-Ponty und – in der Erziehungswissenschaft – Käte Meyer-Drawe (1984) zeigt sich die zentrale Bedeutung des Themas. Wie andere Erziehungs- und Kulturwissenschaftler*innen der Zeit (etwa Kamper & Wulf, 1982; Müller, 1998) sah auch Mollenhauer eine enge Beziehung zwischen der bis dahin vernachlässigten Leibthematik und einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Vernunftbegriff der Aufklärungstradition.
[23] Im vorliegenden Text findet Mollenhauer in der Auseinandersetzung mit Werken aus der Zeit zwischen dem 15. und dem 20. Jahrhundert drei zentrale Themen, in denen der Leib in bildungstheoretisch relevanter Weise thematisch wird.
[24] Ein erstes Thema ist Der bewegte und
ausdrucksvolle
Leib
(Abschnitt 1), dessen Darstellung in Kunst und Musik für Mollenhauer in der Renaissance ihren Anfang nimmt.
So wie die Musik Dufays damit beginnt, uns mit den Empfindungsmöglichkeiten des Ohres bekannt zu machen, führt uns Donatello die Selbständigkeit des bewegten Körpers und der damit verbundenen bewegenden Erfahrung vor Augen.
(KMG 148-a, Abs. 148:12)
[25] Das zweite Thema (Abschnitt 2), das Mollenhauer anhand der Hörerfahrungen mit zwei Streichquartetten, Ludwig van Beethoven und Luigi Nono, bearbeitet, liege in der
Nötigung
zu einer leibgebundenen Selbstreflexion, zu der Mollenhauer drei Modi findet: 1. die äußerlich beobachtbare Bewegung, 2. die Konzentration auf die hervorgerufene Empfindung und 3. die Resonanz zwischen innerer und äußerer Komponente des Leibes. Bei Nono beispielsweise gehe es nicht mehr um die Frage ob es
schön
oder
häßlich
sei, sondern
ob es stimmt
(KMG 148-a, Abs. 148:39)
, was nur in einer selbstreflexiven Bewegung, in die die un-erhörte Gegenüberstellung von Klang und Stille uns hineinziehe, erfahren werden könne.
Diese Musik bringt uns […] hervor als jemand, der sein Hörorgan als Erkenntnisinstrument einzusehen beginnt […] als Organ der Selbsterkenntnis
(KMG 148-a, S. 72)
.
[26] Ein drittes Thema, das die Bedeutung des Leibes für eine Bildungstheorie erschließe, erläutert Mollenhauer an den Caprichos von Francisco de Goya, die eindrücklich die Begegnung mit der eigenen Fremdheit in der Selbstbetrachtung oder -reflexion darstellen. Lange vor Sigmund Freuds Traumdeutung würden sie in radikaler Kritik an der Gesellschaft mit der
zerstörte[n] Integrität des menschlichen Leibes
(KMG 148-a, S. 75)
konfrontieren und uns nicht nur den dargestellten, sondern immer auch unseren Leib vor Augen führen.

3 Rezeption

[27] Der Text wurde viel rezipiert. Christian Niemeyer und Michael Rautenberg schreiben in ihrem Aufsatz, der Leib-Text sei nicht nur
[e]rwähnenswert
(Niemeyer & Rautenberg, 2012, S. 346)
in ihrer Gesamtdarstellung von Mollenhauers Werk, sondern sie betonen auch, dass eine
Fortführung des Gesprächs mit Mollenhauer hätte fruchtbar sein können
(Niemeyer & Rautenberg, 2012, S. 346)
. Hier verweisen sie auf Käte Meyer-Drawe, die in ihrem Aufsatz Die Not der Lebenskunst mit Rückgriff auf den Leib-Text festhält, dass wir Probleme damit hätten, die Zweideutigkeit
wir sind Leib und wir haben einen Körper
im Denken zu fassen, weshalb
Leiblichkeit eine kaum in Bildungstheorien zu integrierende Dimension
(Meyer-Drawe, 2000, S. 149–150)
sei. Mollenhauers Interpretation des Gemäldes La vecchia von Giorgione greift sie hierbei als positives Beispiel heraus:
Man müßte schon eine sehr artifizielle Haltung einnehmen, um in diesem Bild nicht die Tragik unseres vergänglichen Leibes, den Kummer darüber, daß wir altern, zu sehen.
(Meyer-Drawe, 2000, S. 150)
Zudem hebt sie Mollenhauers Bemühungen
um die Rehabilitierung der Leiblichkeit im pädagogischen Diskurs
(Meyer-Drawe, 2000, S. 153)
hervor. In Anlehnung an Mollenhauers Interpretation von Goyas El sueno de la razon produce monstruos führt sie Mollenhauers Fremdheits-Thematik weiter und schreibt, dass
Bildung […] nicht Identitätsfindung, sondern Gestaltung einer unausweichlichen Fremdheit mit uns selbst, also eine konflikthafte Lebensformung unter historischen, gesellschaftlichen, aber auch naturgegebenen Bedingungen
(Meyer-Drawe, 2000, S. 154)
bedeute.
[28] Auch Jörg Ruhloff weist dem Text einen bedeutsamen Platz zu. Im Kontext eines
neuerlich[en] begriffsgeschichtliche[n] Umbruch[s]
(Ruhloff, 1998, S. 420)
in der Pädagogik ist er ihm ein Beispiel dafür, wie
die leibliche Umstimmung der Aufmerksamkeitsrichtungen des Hörens und Sehens durch neue Werke der Musik und der bildenden Kunst an markanten bildungsgeschichtlichen Epochenschwellen
(Ruhloff, 1998, S. 420)
aufgezeigt werden könne. Zustimmung findet Mollenhauer auch bei Gunter Otto, der schreibt:
Ich unterschreibe jede Zeile und jedes Argument Ihres bildungshistorischen Leib-Textes
(Otto an Mollenhauer, 20.7.1997, Korr. All. Otto 10, S. 1)
. Gleichzeitig wurde Mollenhauer auch auf Unstimmigkeiten hingewiesen. So dankt er im Sommer 1997 Wolfgang Fischer in einem Brief für seinen
Hinweis auf meine Mängel im
Leib
-Artikel: Vom
Leibapriori
schrieb ich dort nur zitatweise und wohl ziemlich unbedacht. Ich habe – peinlich, peinlich! – einfach übernommen, was ich andernorts las. Nun denke ich, daß von
Apriori
gar nicht die Rede sein kann
(Mollenhauer an Fischer, 19.6.1997, Korr. All. Fisch, S. 1)
. Beispiel für eine jüngere Rezeption ist der Text Tim Zumhofs (2019), der sich sowohl mit der früheren Leib-Thematisierung Mollenhauers in Korrekturen am Bildungsbegriff (KMG 093-b) als auch mit vorliegendem Text (KMG 148-a) intensiv auseinandersetzt.
[29] Zur weiteren Rezeption siehe auch den Werkkommentar zu Aspekte der Lehre (KMG 146-a).

4 Literatur

4.1 Andere hier verwendete Werke von Klaus Mollenhauer

    [30] Mollenhauer, Klaus. Korrekturen am Bildungsbegriff? (Beitrag 1987; KMG 093-b). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqhv&edition=b.
    [31] Mollenhauer, Klaus. Fiktionen von Individualität und Autonomie – Bildungstheoretische Belehrungen durch Kunst (Beitrag 1996; KMG 133-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqcv&edition=a.
    [32] Mollenhauer, Klaus. Aspekte der Lehre – Bildungshistorische Belehrungen durch Kunst (Beitrag 1996; KMG 146-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqbm&edition=a.

4.2 Weitere Literatur

    [33] Kamper, Dietmar & Wulf, Christoph (Hrsg.) (1982). Die Wiederkehr des Körpers. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
    [34] Meyer-Drawe, Käte (1984). Leiblichkeit und Sozialität: Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität. München: Fink.
    [35] Meyer-Drawe, Käte (2000). Die Not der Lebenskunst: Phänomenologische Überlegungen zur Bildung als Gestaltung exzentrischer Lebensverhältnisse—Fünf Überlegungen. In Cornelie Dietrich & Hans-Rüdiger Müller (Hrsg.), Bildung und Emanzipation. Klaus Mollenhauer weiterdenken (S. 147–154). Weinheim [u. a.]: Juventa.
    [36] Müller, Hans-Rüdiger (1998). Ästhesiologie der Bildung. Bildungstheoretische Rückblicke auf die Anthropologie der Sinne im 18. Jahrhundert. Würzburg: Königshausen & Neumann.
    [37] Niemeyer, Christian & Rautenberg, Michael (2012). Klaus Mollenhauer (1928—1998). Pädagogik als vergessener Zusammenhang. In Bernd Dollinger (Hrsg.), Klassiker der Pädagogik. Die Bildung der modernen Gesellschaft (3., durchgesehene Auflage, S. 331–352). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
    [38] Ruhloff, Jörg (1998). Versuch über das Neue in der Bildungstheorie. Zeitschrift für Pädagogik, 44(3), 411–423.
    [39] Zumhof, Tim (2019).
    Alle Bildung zielt darauf, sich von außen sehen zu lernen
    – Hans Blumenbergs Begriff der Sichtbarkeit als ein Beitrag zur Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. In Malte Brinkmann, Johannes Türsting & Martin Weber-Spanknebel (Hrsg.), Leib – Leiblichkeit – Embodiment. Pädagogische Perspektiven auf eine Phänomenologie des Leibes (S. 343–360). Wiesbaden: Springer VS.
[40] [Lisa-Katharina Heyhusen]