Empfehlungen des Beirats für Heimerziehung zur Reform der Heimerziehung in Hessen [Textfassung c]
|c 277|

Empfehlungen des Beirats für Heimerziehung zur Reform der Heimerziehung in Hessen

[V35:2] Der Beirat hatte den Auftrag zu prüfen,
ob die bisherige Praxis der Heimerziehung mit den Problemen der modernen Industriegesellschaft noch vereinbart werden kann
, und gegebenenfalls praktikable Empfehlungen und Vorschläge zur Reform der Heimerziehung zu erarbeiten.
[V35:3] Bei seiner Arbeit konnte sich der Beirat außer auf die Erfahrung und Sachkenntnis seiner Mitglieder insbesondere auf die einschlägige Literatur, Gespräche mit Heimleitern und -trägern, eigene Erhebungen und Informationen seitens verschiedener Behörden stützen.
[V35:4] Da umfassende, verlässliche Daten über den Bereich der Heimerziehung nicht zur Verfügung standen, verzögerte sich die Arbeit wesentlich. Die eigenen Erhebungen konnten den Informationsmangel zwar bessern, aber nicht beheben. Die Verarbeitung der gerade in der letzten Zeit zahlreich erschienenen Berichte und Dokumentationen über Heimerziehung erforderte beträchtliche Zeit. Schließlich hat sich die Zusammensetzung des Beirats aus Personen mit unterschiedlichen beruflichen Erfahrungen und Kenntnissen über den Bereich der Heimerziehung als zwar sehr fruchtbar, aber auch recht zeitaufwendig erwiesen. Eingehende Gespräche waren erforderlich, um zu ausgewogenen Arbeitsergebnissen zu gelangen.
[V35:5] Der Beirat hält eine Reform der Heimerziehung für dringend notwendig. Seine Empfehlungen beziehen sich auf folgende Sachbereiche:
  1. 1.
    [V35:6] Erfüllung des gesetzlichen Auftrags hinsichtlich Entwicklung, Planung und Koordination im Bereich der Heimerziehung.
  2. 2.
    [V35:7] Stärkung der Funktionsfähigkeit und Ausweitung der Kompetenz des Landesjugendendamtes.
  3. 3.
    [V35:8] Neuordnung der wirtschaftlichen Grundlage der Heime.
  4. 4.
    [V35:9] Organisatorische Grundvoraussetzungen für eine Reform der Heimerziehung.
  5. 5.
    [V35:10] Personelle Voraussetzungen für eine Reform der Heimerziehung.
  6. |c 278|
  7. 6.
    [V35:11] Die pädagogische Arbeit im Heim.
  8. 7.
    [V35:12] Neuordnung der Heimeinweisung; Beziehungen der Heimerziehung zu anderen Formen der Jugendhilfe.

1. Erfüllung des gesetzlichen Auftrages hinsichtlich Entwicklung, Planung und Koordination im Bereich der Heimerziehung.

[V35:13] Ein Haupthindernis für eine Reform der Heimerziehung ist das Fehlen zureichender Planung und Koordination. Wie in anderen Bereichen der Sozialpolitik muss auch im Bereich der Heimerziehung in Hessen ein Prozess umfassender Entwicklung, Planung und Koordination aller öffentlichen wie privaten Aktivitäten eingeleitet werden.
[V35:14] Zu diesem Zweck empfiehlt der Beirat:
[V35:15] 1.1 Innerhalb des Landesjugendwohlfahrtsausschusses ist ein ständiger Unterausschuss für Entwicklung, Planung und Koordination der Heimerziehung zu schaffen. Ihm sollen Vertreter der unten aufgeführten pädagogischen Fachausschüsse der einzelnen Trägergruppen zusammen mit Vertretern der Jugendbehörden, der Wissenschaften und der kommunalen Spitzenverbände angehören. Aufgabe dieses Unterausschusses soll sein, die Heimerziehung in Hessen durch Zusammenfassung aller Beteiligten fortlaufend zu entwickeln, zu planen und unter Einbeziehung aller Formen der Jugendhilfe zu koordinieren.
[V35:16-17] Die Verwirklichung umfassender Planung und Koordination setzt voraus, dass die einzelnen Trägergruppen die Erziehungsarbeit in ihren Heimen stärker als bisher fortlaufend reflektieren, klären und den wissenschaftlichen, pädagogischen und politischen Anforderungen anpassen. Der Beirat fordert daher:
[V35:18] 1.2 Die Förderung von Heimen für Kinder und Jugendliche sollte davon abhängig gemacht werden, dass jede private und öffentliche Trägergruppe einen ständigen pädagogischen Ausschuss errichtet, der sich aus Fachkräften (z. B. Pädagogen, Psychologen, Jugendpsychiatern, Sozialwissenschaftlern) zusammensetzt und dem sowohl die Heimberatung obliegt wie die Aufsicht über die gesamte pädagogische Arbeit in den Heimen der betreffenden Trägergruppe (interne Fachaufsicht). Mindestens eins dieser Ausschussmitglieder sollte in dieser Funktion hauptamtlich tätig sein. Diese Fachausschüsse üben ihre Funktion unbeschadet der bestehenden Verwaltungsreferate bei den Trägergruppen und der gesetzlichen Heimaufsicht seitens des Landesjugendamtes aus.
[V35:19] Aufsicht und Beratung haben das Ziel, die pädagogische Arbeit der Heime so zu fördern, dass sie den erziehungs- und sozialwissenschaftlichen, politischen und grundgesetzlichen Anforderungen entspricht. Insbesondere sollen sie den einzelnen Heimen bei der Entwicklung einer den jeweiligen Aufgaben und Bedingungen angemessenen Konzeption und Organisation ihrer Arbeit helfen. Außerdem soll die Beratung sicherstellen, dass bei allen wirtschaftlichen Entscheidungen (z. B. Haushaltsplanung, Baumaßnahmen) pädagogische Gesichtspunkte zentral berücksichtigt werden.
[V35:20] 1.3 In die Vorbereitung von Entscheidungen der oberen und obersten Jugendbehörden, die die Heimangelegenheiten von Trägergruppen berühren, sollen stets auch Vertreter der zuständigen pädagogischen Fachausschüsse miteinbezogen werden.
|c 279|
[V35:21] Viele wichtige Sachfragen können sinnvoll nur innerhalb eines umfassenden Planungs- und Koordinationsprozesses diskutiert und entschieden werden. Hierzu gehört vor allem die Heimdifferenzierung – nach dem JWG eine Aufgabe des Landesjugendamtes. Bis heute ist sie in Hessen wegen des Fehlens eines Planungsapparates und der nötigen Daten und Informationen nicht erfüllt. Daher muss sich der Beirat hinsichtlich der Differenzierung auf folgende Stellungnahme beschränken:
[V35:22] 1.4 Gegenwärtig sind in Hessen hinsichtlich Heimerziehung weder die Erfahrungen und Anregungen der Erziehungs- und Sozialwissenschaften, der Medizin und Psychotherapie ausgeschöpft, noch die mannigfaltigen Erziehungsnotstände in ihrer Unterschiedlichkeit angemessen berücksichtigt. Insbesondere fehlt ein gestuftes System von Heimen mit unterschiedlich eigens ausgebauten und gestalteten therapeutischen Angeboten neben den pädagogischen – je nach Art und Schweregrad der Störungen und Schädigungen.

2. Stärkung der Funktionsfähigkeit und Ausweitung der Kompetenz des Landesjugendamtes.

[V35:23] Mit der Schaffung eines Planungsgremiums (gemäß 1.1.) muss ein Ausbau des Landesjugendamtes einhergehen. In dieser Hinsicht empfiehlt der Beirat:
[V35:24] 2.1 Sämtliche Heime für Kinder und Jugendliche im Lande Hessen, auch die des LWV, sollen der Aufsicht des LJA unterstellt werden.
[V35:25] 2.2 Das LJA sollte personell zu einer intensiven Heimaufsicht in Stand gesetzt werden.
[V35:26] 2.3 Sämtliche Heime sollten verpflichtet werden, dem LJA die für Entwicklung, Planung und Koordination der Heimerziehung notwendigen Daten und Informationen regelmäßig zur Verfügung zu stellen.
[V35:27] 2.4 Das LJA sollte, gegebenenfalls durch Zusammenarbeit mit anderen Behörden, in Stand gesetzt werden, die erhobenen Daten in angemessener Weise computermäßig aufzubereiten und auszuwerten.

3. Neuordnung der wirtschaftlichen Grundlage der Heime.

[V35:28-29a] Die Möglichkeit der Heime zu einer Veränderung ihrer Struktur und Arbeitsweise hängt weitgehend von einer Neuordnung ihrer wirtschaftlichen Grundlage ab. Viele Heime sind in einer jahrelang geübten Tradition des Wirtschaftens und Veranschlagens von Kosten befangen, die der Fortentwicklung, Strukturwandlung und Erhöhung des Anspruchsniveaus der Heimerziehung hinderlich ist. Das bisherige Verfahren des Aushandelns von Gruppenpflegesätzen und das des sogenannten Selbstkostennachweises haben nicht zu kostendeckenden Pflegesätzen geführt. Die dem bisherigen Formular des Selbstkostennachweises zugrunde liegende Kostenaufstellung lässt keine Fortentwicklung der Heime zu.
[V35:29b] Der Beirat empfiehlt daher:
[V35:30] 3.1 Wegen der großen Unterschiedlichkeit selbst von Heimen der gleichen Kategorie sollte das Verfahren der Festsetzung von Gruppenpflegesätzen mit Höchst- u. Mindestsätzen aufgegeben werden.
|c 280|
[V35:31] 3.2 Die Vereinbarung kostendeckender Pflegesätze für jedes einzelne Heim sollte einer Stelle übertragen werden, die nicht selbst Kostenträger und zugleich pädagogisch sachverständig ist. Es wird vorgeschlagen, das Landesjugendamt mit dieser Aufgabe zu betrauen. An den Pflegesatzverhandlungen sollen die Fachberater der Trägergruppe teilnehmen.
[V35:32] 3.3 Das System des Selbstkostennachweises muss neu erarbeitet werden. Den Heimen muss ermöglicht werden, neben allen laufenden Aufwendungen auch zukünftige Aufgaben und Bedürfnisse planend zu berücksichtigen. Die Neubearbeitung des Selbstkostennachweises zusammen mit den Trägergruppen sollte rasch erfolgen, da Reformbemühungen nur Erfolg haben, wenn sie sich auf gesunder wirtschaftlicher Basis entfalten.
[V35:33a] 3.4 Die öffentliche Förderung der Aktivitäten von Trägern der freien Jugendhilfe sollte in Zukunft, sofern nach Reform des Pflegesatzsystems überhaupt noch notwendig, nur im Rahmen der Gesamtplanung des Bereiches der Heimerziehung erfolgen. Insbesondere sollte bei der Vergabe von Mitteln die gesetzlich gebotene Überprüfung nach § 9 JWG stärker als bisher erziehungswissenschaftlichen, medizinisch-therapeutischen, verfassungsrechtlichen und gesellschaftlichen Gesichtspunkten Rechnung tragen.
[V35:33b] Die bisherige Regelung der Übernahme aller Kosten für FE und FEH durch den LWV führt die Kommunen und Kreise dazu, Heimunterbringungen vor Ausschöpfung der ambulanten Jugendhilfemöglichkeiten zu betreiben und den Ausbau der letzteren zu vernachlässigen. Der Beirat empfiehlt daher:
[V35:34] 3.5 Für alle Heimunterbringungen ist dieselbe Kostenregelung unter Beteiligung der Kreise und Städte wie des LWV einzuführen.

4. Organisatorische Grundvoraussetzungen für eine Reform der Heimerziehung.

[V35:35] In der Heimerziehung gibt es keine organisatorischen Entscheidungen, die nicht auch die Möglichkeiten der pädagogischen Arbeit mehr oder minder stark beeinflussen. Besonders der Einfluss des Standortes eines Heimes auf die Erziehung ist bisher viel zu wenig bedacht worden. Umfang und Art der Erziehungs-, Bildungs- und Berufsangebote, der Freizeitalternativen, der Besuchsmöglichkeiten sind vom Standort ebenso abhängig wie die Chance, qualifizierte Mitarbeiter längere Zeit an das jeweilige Heim zu binden.
[V35:36] Der Beirat empfiehlt daher:
[V35:37] 4.1 Bei Entscheidungen über Schließung, Gründung, Verlegung oder sonstige Veränderung von Heimen sollte vom Träger und den Jugendbehörden stets geklärt werden, welche Einflüsse vom gewählten Standort des Heimes auf die pädagogische Arbeit ausgeübt werden bzw. zu erwarten sind und ob die geplante Lösung pädagogisch und ökonomisch vertretbar ist. Bei manchen Heimen wird eine Verlegung in eine günstigere Umgebung oder gar eine Schließung aus pädagogischen und wirtschaftlichen Gründen nicht zu umgehen sein.
[V35:38] Ordnung, Regelung und Kontrolle der Arbeit erfolgen in den Heimen für Kinder und Jugendliche heute noch weitgehend nach dem Modell einer strikt hierarchisch geordneten Verwaltung – mit Konzentration von Verantwortung und Entscheidungsbefugnis an der Spitze. Wir wissen heute jedoch, dass dies Modell für pädagogische |c 281|wie für jegliche soziale Arbeit unangemessen ist, weil es diejenigen, die die pädagogische Arbeit unmittelbar tun, ohne die dafür nötige Verantwortung und Entscheidungsbefugnis lässt und den Zusammenschluss der Mitarbeiter zu selbstbewussten kooperationsfähigen Arbeitsgruppen verhindert. Beides ist aber nun zugleich eine Voraussetzung demokratischer Erziehung. Unsichere, abhängige, unmündige Erwachsene können junge Menschen nicht zu mündigen Staatsbürgern erziehen.
[V35:39] Die Änderung der Organisations- und Entscheidungsstruktur innerhalb einer Institution ist ein schwieriger von verschiedenen Faktoren abhängiger Vorgang, der ohne Hilfe von außen in Form einer Institutionsberatung häufig nicht gelingt. Die Beratung darf sich nicht auf Organisations- und Kooperationsprobleme beschränken, sie muss die pädagogisch-therapeutische Arbeit miteinbeziehen (Supervision), um den Mitarbeitern allmählich dazu zu verhelfen, pädagogisch-therapeutische Entscheidungen angemessener und sicherer zu treffen. Institutionsberatung und Supervision der laufenden pädagogischen Arbeit müssen durch passende Fortbildungs- und Ausbildungsprogramme ergänzt werden, die am Lernen durch Verarbeitung eigener Gruppenerfahrung orientiert sind (gruppendynamische Laboratoriumsmethode). Nur mittels solcher praxisnaher Trainingsmethoden kann eine Erweiterung des Verständnisses für menschliche Beziehungen, Verhaltensweisen, Störungen und Schädigungen erzielt werden – eine der wichtigsten Voraussetzungen angemessenen pädagogisch-therapeutischen Handelns.
[V35:40] Der Beirat empfiehlt daher:
[V35:41a] 4.2 Wenn die Beratung im Rahmen der internen und der vom LJA ausgeübten Heimaufsicht nicht ausreicht, um die Änderung der Arbeitsweise eines Heimes von einer hierarchisch organisierten zu einer kooperativen sicherzustellen, muss von externer Institutionsberatung in Verbindung mit Supervision und gruppendynamisch orientierten Fortbildungsprogrammen Gebrauch gemacht werden.
[V35:41b] Viele Probleme der Heimerziehung können nur im Zusammenhang mit einer solchen organisatorisch-fachlichen Umstrukturierung individuell für jedes Heim geklärt und entschieden werden. Hierzu gehört insbesondere die Frage der Heimgröße und der Gruppengröße.
[V35:41c] Der Beirat empfiehlt:
[V35:42] 4.3 Die Größe eines Heimes und die Größe der Gruppen müssen auf die Gesamtkonzeption des betreffenden Heimes, seine Organisation und Arbeitsweise bezogen sein. Sie müssen so bestimmt werden, dass eine kooperative demokratische Gestaltung der pädagogischen Arbeit im Heim durch sie nicht gestört oder behindert wird. Gegenwärtig sind viele Heime und viele Gruppen in Heimen schon nach diesem letzten Kriterium viel zu groß. Heimprojekte, die mehr als 60 Plätze vorsehen, sollten besonders sorgfältig hinsichtlich ihrer pädagogischen Konzeption geprüft werden.

5. Personelle Voraussetzungen für eine Reform der Heimerziehung.

[V35:43] Die oben herausgestellten Organisations-Probleme der Heime wirken sich auf die Rollen und das Verhalten der Mitarbeiter aus. Besondere Aufmerksamkeit gebührt in diesem |c 282|Zusammenhang dem Gruppenerzieher und seiner Situation. In abhängiger Stellung, ohne relevante Entscheidungskompetenzen, ohne Supervision, ist er berufsspezifischen Belastungen ausgesetzt, die ihren Grund in der Heimstruktur haben. Hinzu kommen die häufig unzureichenden Wohnbedingungen, die unzureichende Besoldung, die mangelhaften späteren Berufswechsel und Aufstiegschancen und die damit zusammenhängenden Überalterungsprobleme. Viele der Schwierigkeiten hängen mit der Heimstruktur, zugleich aber auch mit dem Ausbildungsstand der Gruppenerzieher eng zusammen. Zur Ausbildungssituation der Heimerzieher muss auf folgendes aufmerksam gemacht werden:
[V35:44-45] Höchstens 50 % der in Hessen tätigen Heimerzieher haben irgendeine pädagogische Ausbildung. Die Absolventen von Fachschulen für Sozialpädagogik entscheiden sich heute zum verschwindend geringen Teil für eine spätere Tätigkeit in der Heimerziehung. Angesichts des zu erwartenden großen Bedarfs an Vorschulerziehern und der größeren Attraktivität dieser Tätigkeit ist mit einem weiteren Absinken der Nachwuchs-Ziffern zu rechnen.
[V35:46] Die Gründe für den katastrophalen Nachwuchsmangel sind nicht nur in der Ausbildung – so reformbedürftig sie auch sein mag – zu suchen, sondern auch in der fehlenden Anziehungskraft des Heimerzieherberufs. Wenn der Heimerzieherberuf in absehbarer Zeit nicht attraktiver gestaltet wird, ist mit der Schließung einer größeren Anzahl von Heimen aus Personalgründen zu rechnen.
[V35:47] Entscheidender Ansatzpunkt für eine Verbesserung der Nachwuchssituation und der Qualifizierung der Heimerzieher muss deshalb die strukturelle Neuordnung des Heimwesens sein. Änderung der Heimstruktur und der Nachwuchssituation für den Heimerzieherberuf sind wechselseitig miteinander verflochten. Hinsichtlich Ausbildung und Fortbildung der Mitarbeiter in Heimen empfiehlt der Beirat:
[V35:48] 5.1 Die Neueinstellung von unausgebildeten
Heimerziehern
ist nicht mehr zu gestatten. Verbandseigene Ausbildungen können staatlich anerkannte Ausbildungen nicht ersetzen.
[V35:49] 5.2 Allen erzieherischen Mitarbeitern ohne staatlich anerkannte pädagogische Ausbildung muss ermöglicht werden, einen staatlich anerkannten Berufsabschluss zu erwerben. Entsprechende Einrichtungen für diese ergänzende Ausbildung sind Fachhochschulen anzugliedern.
[V35:50] 5.3 Bis zum Jahre 1980 müssen alle pädagogischen Mitarbeiter in Heimen eine staatlich anerkannte pädagogische Ausbildung absolviert haben.
[V35:51] 5.4 Für die an einer Fachschule ausgebildeten Erzieher ist die Möglichkeit pädagogischer Zusatzausbildung an Fachhochschulen zu schaffen.
[V35:52] 5.5 Die notwendige Differenzierung der Heime erfordert für viele Mitarbeiter eine heilpädagogische Zusatzausbildung. Die dafür erforderlichen Einrichtungen sind zu schaffen, da bisher in Hessen keine heilpädagogische Ausbildungsmöglichkeit besteht.
[V35:53] 5.6 Die Fachschulen und Fachhochschulen sollten in ihren Curricula Heimerziehung und Heilpädagogik schwerpunktmäßig berücksichtigen.
[V35:54] 5.7 Im Rahmen der Differenzierung und Spezialisierung der Heimerziehung wird eine zunehmende Nachfrage nach therapeutisch vorgebildetem Personal für Kinder- und Jugendheime und stärker klinisch orientierte Einrichtungen entstehen. Um diesen |c 283|Bedarf decken zu können, ist auch in Hessen die Schaffung einer Psychagogenausbildung dringend erforderlich. Da in dem staatlichen Sigmund-Freud-Institut, Ausbildungs- und Forschungsinstitut für Psychoanalyse in Frankfurt/Main, eine fachlich kompetente Ausbildungseinrichtung zur Verfügung steht, wird vorgeschlagen, dieses Institut zum Ausbau der seit langem vorgesehenen Abteilung für Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie und zur Organisation einer Psychagogenausbildung zu veranlassen.
[V35:55] 5.8 Für die Ausbildung von Heimberatern und Supervisoren sind die institutionellen Voraussetzungen an einer hessischen Hochschule zu schaffen.
[V35:56] 5.9 Neben den bereits unter 4.2. aufgeführten Fortbildungsmaßnahmen muss für alle pädagogischen Mitarbeiter der Heime die Möglichkeit eines längerfristigen regelmäßigen Bildungsurlaubs geschaffen werden. Der Bildungsurlaub kann die erwähnten Fortbildungsprogramme nicht ersetzen.
[V35:57] 5.10 Zur Vermeidung der in diesem Beruf besonders bedenklichen Überalterung müssen Möglichkeiten für einen rechtzeitigen Berufswechsel geschaffen werden. Außerdem wird empfohlen, den Eintritt der Altersrente bzw. der Pensionierung vorzuverlegen (vorgezogene Berentung).

6. Die pädagogische Arbeit im Heim.

[V35:58] Die pädagogische Arbeit im Heim steht – als Erziehung im öffentlichen Auftrag – in besonderer gesellschaftlicher Verantwortung. Unbeschadet der Freiheit ihrer je besonderen Ausrichtung hat sie dem Stand der einschlägigen Wissenschaften und dem Wandel gesellschaftlicher Umstände ebenso Rechnung zu tragen, wie den Normen des Grundgesetzes. Jedem Heim ist die Aufgabe gestellt, eine pädagogische Konzeption seiner Arbeit zu entwickeln, welche die pädagogischen Einzelmaßnahmen zu begründen vermag. Dabei ist davon auszugehen, dass sich die Heime immer mehr auf die Erziehung und Therapie verhaltensgestörter Kinder und Jugendlicher werden einstellen müssen. Stärker als bisher muss die erzieherisch-therapeutische Arbeit von einem zureichenden Verständnis für seelische und körperliche Störungen und Schädigungen, ihre Entstehung und ihre Beeinflussbarkeit, bestimmt sein. Dies Verständnis muss Tag für Tag in Bezug auf die einzelnen zwischenmenschlichen Ereignisse und Abläufe in den Heimen konkretisiert, gemeinsam erarbeitet werden – möglichst in Zusammenhang mit regelmäßiger Supervision. Nur dann kann sich eine spezifische pädagogisch-therapeutische Kompetenz der Heime allmählich entwickeln. Pädagogische Rezepte oder Maxime können diesen Prozess nicht ersetzen, erschweren ihn eher.
[V35:59] Die folgenden Empfehlungen beziehen sich auf institutionelle Voraussetzungen einer solchen pädagogischen Arbeit:
[V35:60] 6.1 lm Rahmen der Heimerziehungsreform kommt dem Angebot geeigneten und reichhaltigen Spiel, Beschäftigungs- und Lernmaterials wie auch der Ausstattung mit Einrichtungen für Spiel, Sport und Gestaltung besondere Bedeutung zu. Der Aufwand der Heime für solche Materialien und Einrichtungen muss entsprechend den technischen Möglichkeiten und den kulturellen Ansprüchen wesentlich erhöht werden.
|c 284|
[V35:61] 6.2 Kinder und Jugendliche in Heimen sollen, wenn irgend möglich, öffentliche Schulen außerhalb des Heimes besuchen. Um den Schülern einen möglichst konfliktfreien Anschluss an letztere zu ermöglichen, sollen in den Heimen Lern- bzw. Unterrichtsgruppen eingerichtet werden, die eine individuelle und spezielle Förderung in den beeinträchtigten Lern- und Verhaltensbereichen zur Aufgabe haben. Dafür sind heilpädagogisch ausgebildete Lehrkräfte erforderlich. Wenn nötig, sollen solche Gruppen darüber hinaus den Unterricht in der öffentlichen Schule begleiten.
[V35:62] Berufsausbildung und Arbeitsangebot sind weitgehend von der soziographischen Lage und der besonderen pädagogischen Aufgabe des Heims abhängig.
[V35:63] Diesbezüglich empfiehlt der Beirat:
[V35:64] 6.3 Da verhaltensgestörte Jugendliche in der Regel auch im Bereich des Arbeitsverhaltens gestört sind, ist eine Übergangsphase nach der Heimeinweisung mit dosierten Leistungsforderungen und einem reichhaltigen Angebot an Arbeitsmöglichkeiten nötig. Nur so können eine dauerhafte Arbeitsmotivation, ein sachgerechtes Arbeitsverhalten und damit auch eine begründete Berufswahl vorbereitet und aufgebaut werden.
[V35:65] 6.4 Innerhalb der Heime sind an Ungelernten- und Hilfsarbeitertätigkeiten sowie am traditionellen Handwerk und an Geschlechtsrollen orientierte Arbeitsangebote durch industriebezogene, kaufmännisch-administrative und gestalterische Tätigkeiten zu ersetzen.
[V35:66] 6.5 Außerdem müssen in zunehmendem Maße für die Jugendlichen der Heime qualifizierte und technisch gut ausgestattete Arbeitsstätten außerhalb der Heime gewonnen werden.
[V35:67] 6.6 Die kontinuierliche Kooperation mit der Arbeitsstätte wie mit der Familie der Kinder und Jugendlichen und der Schule gehört zu den wichtigsten – bisher nicht genügend erfüllten – Aufgaben der Gruppenerzieher. Daher empfiehlt der Beirat eine entsprechende Anhebung des Personalschlüssels.

7. Neuordnung der Heimeinweisung; Beziehungen der Heimerziehung zu anderen Formen der Jugendhilfe.

[V35:68] Für die gegenwärtige Praxis der Heimeinweisung ist kennzeichnend, dass nur in einer geringen Zahl der Fälle vorher eine zureichende Diagnostik mit darauf basierender ausdrücklicher indikationsmäßiger Entscheidung für Heimerziehung erfolgt. Wie schon oben unter 3.5. erwähnt, verführt die gegenwärtige Kostenregelung für Heimerziehung in Zusammenhang mit dem unzureichenden Ausbau der ambulanten Jugendhilfe-Möglichkeiten zu einem pädagogisch und therapeutisch nicht gerechtfertigten Übergewicht der Heimerziehung im Rahmen der gesamten Jugendhilfe-Aktivitäten. Unter diesen Umständen kann weder ein klares Konzept der Indikation zur Heimerziehung erwartet werden noch eine verlässliche Schätzung des wirklichen Bedarfs an Heimplätzen verschiedener Art unter Voraussetzung eines ausgebauten Systems ambulanter Jugendhilfeaktivitäten.
[V35:69] Der Beirat empfiehlt deshalb:
[V35:70] 7.1 Heimeinweisungen ohne diagnostische Abklärung und ausdrückliche Indikationsstellung der Heimerziehung sind pädagogisch-therapeutisch nicht vertretbar. Bei Noteinweisungen ist die Untersuchung unverzüglich nachzuholen.
|c 285|
[V35:71] Hinsichtlich der ambulanten Jugendhilfemaßnahmen empfiehlt der Beirat:
[V35:72] 7.2 Den Ausbau aller Jugendhilfe-Möglichkeiten im Vorraum der Heimerziehung, vor allem, wenn sie den sozialen Nahraum der Minderjährigen mit einbeziehen.
[V35:73] Eines weiteren Ausbaues bedürfen unter diesem Gesichtswinkel vor allem:
[V35:74] 7.2.1 Die Erziehungsbeistandschaft (z. B. durch Beauftragung hauptamtlicher Erziehungsbeistände)
[V35:75] 7.2.2 die soziale Gruppenarbeit, die Sozial- und Erziehungshilfe für unterprivilegierte Bevölkerungsgruppen, Heilpädagogische Kindergärten und Kindertagesstätten, psychotherapeutische Zentren.
[V35:76] 7.2.3 die Erziehungsberatungsstellen, die auch in Hessen dem von der WHO empfohlenen Schlüssel 1 : 50 000 Einwohnern angepasst werden sollten und deren Tätigkeit durch Angliederung ausschließlich therapeutisch arbeitender Teams und durch zugehörige Therapieheime wirkungsvoller gestaltet werden sollte.
[V35:77] 7.2.4 Ferner sollten überregionale mit qualifizierten Fachkräften besetzte Beobachtungsheime bzw. Stationen geschaffen werden, denen in erster Linie diagnostische und Zuweisungsaufgaben obliegen. Außerdem sollen sie aber auch die Heime vor überstürzten, pädagogisch und organisatorisch oft schwer zu bewältigenden Noteinweisungen abschirmen.
[V35:78] 7.2.5 Schließlich müssen weitere klinisch-diagnostische und therapeutische Einrichtungen in Verbindung mit Universitätskliniken, Landes-, Kreis- und Stadtkrankenhäusern geschaffen werden, die fachlich für die speziellen Jugendhilfe-Aufgaben des JWG qualifiziert sind.
[V35:79] An den Beratungen des Beirats für Heimerziehung waren beteiligt:
    [V35:80] als Mitglieder: Dipl.-Psych. Amalie Eikel (Psychologie, Erziehungsberatung)
    [V35:81] Prof. Dr. phil. Peter Fürstenau (Psychoanalyse u. Soziologie)
    [V35:82] Karl Hewel (Leiter d. Heimstatt Bischof Ferdinand, Wbn)
    [V35:83] Prof. Dr. phil. Klaus Mollenhauer (Erziehungswissenschaft)
    [V35:84] Dr. phil. Manfred Priepke (Direktor der Höheren Fachschule für Sozialpädagogik und Leiter der Erziehungsabteilung für Jugendliche in den Anstalten Hephata)
    [V35:85] Prof. Dr. med. Hermann Stutte Kinder- u. Jugendpsychiatrie)
[V35:86] als ständige Behördenvertreter:
    [V35:87] Reg-Direktor Dr. Herbert Schlusche (Hessisches Sozialministerium)
    [V35:88] Oberschulrat Karl-Heinz Königstein (Hessisches Kultusministerium)
    [V35:89] Oberregierungsrätin Dr. lrma Kuhr (LJA Hessen)
    [V35:90] Harald Doenst, MA. (Landeswohlfahrtsverband Hessen)