Erziehungswissenschaft [Textfassung c]
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Erziehungswissenschaft

[070:1] Begriff: E. nennen wir das Insgesamt der methodisch kontrollierten Erkenntnisbemühungen, die sich
»Erziehung«
und
» Bildung«
zum Gegenstand machen. Diese Gegenstandsbestimmung ist indessen nicht eindeutig. Durch die vielfältigen Formen der Institutionalisierung deckt der ursprüngliche Wortsinn von Erziehung längst nicht mehr die Thematik der E. ab. Gleiches gilt für den älteren Ausdruck
»Pädagogik«
(in der urspr. griech. Bedeutung: Lehre von der Führung der Knaben). Zieht man die Forschung zu Rate, die heute unter dem Namen E. oder Pädagogik geschieht, dann kann man den Gegenstand bestimmen als: alle Handlungen, die die Funktion haben, die nachwachsende Generation zum Status des Erwachsenen zu führen, und zwar je nach Maßgabe des gesellschaftlich geltenden Begriffs von
»Erwachsensein«
; ferner alle Handlungen, die sich an den Erwachsenen wenden, sofern er als Lernender erscheint; das schließt Prozesse der Selbstbildung ebenso ein wie die Prozesse nachholenden Lernens, des Umlernens, der
»Resozialisierung«
also vor allem jene Vorgänge, die sich innerhalb des heranwachsenden Individuums abspielen, als Formierung seines Selbst- und Weltverhältnisses.
[070:2] Geschichte: Das Nachdenken der Erziehung und ein entsprechender Bestand gesellschaftlichen Wissens sind vermutlich integraler Bestandteil jeder Kultur, da die Bildung des Nachwuchses zu den Basisfunktionen der Überlebensfähigkeit gattungsspezifisch gehört. Wie andere Teilsysteme unseres Wissenskorpus auch, hat sich das Erziehungswissen über verschiedene Stufen hinweg erst allmählich zu seiner gegenwärtigen i.e.S. wissenschaftlichen Gestalt entwickelt. Bis in die beginnende Neuzeit hinein war das Nachdenken über Erziehung und Bildungzunächst Teil der mythischen Erzählungen, dann Teil des Nachdenkens über den Oikos (Haushalt), dann auch pädagogisch interessierte Essayistik, schließlich auch Teil der praktischen Philosophie – so in der Antike, in der Kirchenväterliteratur, der mittelalterlichen Philosophie, im Humanismus bis zu Comenius, Locke, Rousseau und Kant. Im 17. und 18. Jh. setzt mit Entschiedenheit das ein, was Foucault die Differenzierung der
»Humanwissenschaften«
genannt hat und was ein wesentliches Merkmal der bürgerlichen Gesellschaft ist: Es entsteht – zunächst durch Comenius, dann durch Rousseau am pointiertesten – die Frage nach der Bildsamkeit des Menschen; sie enthält drei Teilfragen: die historisch-empirische Frage nach dem, was der erzogene Mensch ist, unter welchen Bedingungen er zu dem, was er ist, geworden ist; die anthropologische Frage nach dem, was der zu erziehende Mensch sein kann, nach den Bedingungen seiner Bildung, die gattungsspezifisch in seiner Natur als
»animal educandum«
liegen (Anthropologie); die praktisch-ethische Frage nach dem, was der Mensch sein soll und welche Handlungsziele sich also der Erzieher, an Vernunftsgründen orientiert, setzen solle. In diesem Sinne sagt wenig später Kant,
»der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung«
. Und Schleiermacher (1826) präzisiert die durch Rousseau eingeleitete Trennung der Erziehungstheorie von weltanschaulichen bzw. ethischen Systemen mit dem Argument, daß faktisch eine noch wissenschaftlich zu nennende Reflexion von Erziehungsproblemen ihre Postulate aus keiner Ethik mehr deduzieren dürfte, da mit einer Pluralität von Ethiken gerechnet werden müsse. Fortan – und dies ist z.B. von Pestalozzi, Schleiermacher und Herbart bereits ausgeführt worden – entfaltet sich die E. als eine teils empirische, teils der praktischen Philosophie sich anschließende Disziplin. In der zugleich resümierenden und programmatischen Formulierung Roths,
»Pädagogische Anthropologie: Bildsamkeit und Bestimmung«
, ist das ausgedrückt.
[070:3] Methodologie und Wissenschaftstheorie: Angesichts dieser verschiedenartigen Anforderungen an die E. entstand spätestens seit Diltheys Umriß einer Pädagogik als
»Geisteswissenschaft«
eine prinzipielle Kontroverse, die sich in den 60er Jahren des 20. Jh. – auch unter dem Eindruck des
»Positivismusstreites«
in den Sozialwissenschaften (Adorno, Albert, Habermas, Popper) – zuspitzte. In dieser Kontroverse spielen die Methodenprobleme eine Schlüsselrolle; es sind die folgenden: 1. Der Gegenstand der E. ist ein Teil sozialer Wirklichkeit, dessen Sinn verstanden werden muß; das bedeutet methodisch: an den Regeln kontrollierter Interpretation orientiertes Verstehen (Hermeneutik) von
»Texten«
der Erziehungswirklichkeit (Ausdrucksformen der handelnden Personen, Selbstzeugnisse, Handlungen, |c 182|schriftliche Dokumente, Programme, Selbstdeutungen von Praktikern usw.). 2. Diese Erziehungswirklichkeit, d.h. besonders der Umgang der Generationen miteinander, folgt zwar eigentümlichen, von anderen gesellschaftlichen Bereichen relativ unabhängigen Regeln (Bourdieu), ist aber dennoch z.B. mit dem System gesellschaftlicher Arbeitsteilung, den gesellschaftlich geltenden Verkehrsformen, den Wissens- und Glaubenssystemen eng verknüpft; kurz: Sie ist eine historische Wirklichkeit, die mit den Methoden der Geschichtsforschung und der Gesellschaftswissenschaften aufgeklärt werden muß. 3. Innerhalb der Erziehungswirklichkeit spielen empirische Annahmen über Bedingungen, Ursachen und Folgen des Erziehungshandelns eine konstitutive Rolle; die E. greift deshalb solche in der Praxis enthaltenen Annahmen auf und überprüft sie mit den Methoden der empirischen Sozialforschung auf ihre Gültigkeit. 4. Zu solchen Annahmen gehören auch die Zwecksetzungen oder Zielvorstellungen des praktischen Handelns; diese aber sind empirisch zugänglich nur insofern, als sie beschrieben, nach ihrer Herkunft befragt (Ideologien, Interessen usw.) und auf ihre Realisierbarkeit hin geprüft werden können; ihr Geltungsgrund ist kein möglicher empirischer Gegenstand, aber dennoch
»argumentationszugänglich«
(Schwemmer); der Geltungsgrund pädagogischer Handlungsnormen muß begründungsfähig sein, wenn die pädagogischen Handlungsziele letztlich nicht dezisionistisch gesetzt werden sollen – dazu bedarf es der Methode ethischer Argumentation.
[070:4] Das soll am Beispiel der Familienberatung erläutert werden: An der Beratung als (einem Handlungszusammenhang) sind Menschen aus verschiedenen Kontexten, also auch aus verschiedenen Sinnzusammenhängen beteiligt: die ratsuchende Familie mit ihren Problemen und der SozArb mit seiner institutionell verankerten Berufsrolle; die damit in den Blick genommene Wirklichkeit muß zunächst dokumentiert, beschrieben und verstanden werden (1). Beides – die Familie wie die Berufsrolle – ist Teil komplexerer Umwelten, größerer sozialer Systeme und ihrer Geschichte, aus der wir einiges über die gesellschaftliche Bedeutung der familialen Erziehung erfahren können, über die Professionalisierung des Berufsstandes der SozArb/SozPäd, der institutionalisierten Hilfeformen, sie darin offensichtlichen oder verdeckten Kontrollinteressen usw. (2). Die Beratung soll ihr Ziel erreichen; sie hat den Zweck, etwas zu bessern (die Beziehung der Eltern zu ihren Kindern, die Fähigkeit der Kinder, Probleme lösen zu können, die Beziehungen der Familie zur Nachbarschaft usw.); sie wird also offenbar als geeignetes Mittel zur Erreichung jener Zwecke angesehen. Ist sie das? Liegen die Ursachen für die Beratungsbedürftigkeit dort, wo die Berater oder wo die Planer von Beratungseinrichtungen, die
»Erfinder«
von Beratungsmethoden sie vermuten? Fragen dieser Art sind nur durch empirische Forschung zu beantworten (3). Aber soll überhaupt die Familie als der primäre Ort der Erziehung erhalten bleiben? Diese Frage ist nur noch teilweise der empirischen Beantwortung fähig (Familienpolitik). Wer die Familie
»für sich selbst«
als einen Wert betrachtet, ohne Rücksicht auf die Aufgaben, die sie erfüllt, die Wirkungen, die sie erzeugt, verläßt hier schon den Kreis erfahrungswissenschaftlicher Argumentation. Er kann gefragt werden, wie denn dieser Wert und damit auch die mit ihm verbundenen Handlungsnormen begründet werden können. Aber auch, wer den Wert der Familie mit dem Hinweis auf ihre besondere pädagogische Leistungsfähigkeit begründet (also noch empirisch argumentierte), käme im nächsten oder einem späteren Schritt in Schwierigkeiten: Er müßte sagen, welches Kriterium er für
»pädagogische Leistungsfähigkeit«
wählt und mit welchem Grunde er das tut, zu welcher Form die Kinder in der Familie sich bilden sollen und warum. Die Warumfrage könnte soweit getrieben werden, daß schließlich ein empirischer Verweis nicht mehr möglich ist oder in einen Zirkelschluß gerät; dann kann nur noch das Gespräch abgebrochen – oder praktisch (ethisch) argumentiert werden (4).
[070:5] Theorie und Praxis: Die Eigentümlichkeit erziehungswissenschaftlicher Fragestellungen (ihre
»Autonomie«
in bezug auf andere wissenschaftliche Disziplinen) entsteht aus der Tatsache, daß E. die Theorie eines Handelns und daß überdies dieses Handeln pädagogisch ist, d.h. beispielsweise vom ökonomischen und politischen Handeln unterschieden. Die Vorstellung, die wir (die
»Praktiker«
und
»Theoretiker«
) uns von diesem Handeln machen, ist also folgenreich für die Art, in der wir einerseits erziehen und andererseits theoretisieren. Diese Vorstellungen sind indessen ihrerseits geschichtlich: Nicht nur die angestrebten Handlungsziele (Erziehungsziele) sind verschieden, sondern auch die anderen Momente der Erziehungshandlung und der Vorstellung, die sich Erzieher von dieser Handlung machen. Trotz dieser Geschichtlichkeit gibt es indessen unhintergehbare Prinzipien, die eine pädagogische Handlung – ihrem Begriff nach – immer vor anderen Handlungen auszeichnen: In ihr wird das Kind (der Jugendliche, der Klient, allgemein der
»Educandus«
) nach Maßgabe seiner
»Bildsamkeit und Bestimmung«
(Roth), der Erziehungsvorgang als – freilich asymmetrischer – Dialog, die zu bewältigende Handlungsaufgabe als Herausforderung der möglichen Produktivität, der Handlungszusammenhang als sinnstiftend, darin sowohl Sinn tradierend als auch modifizierend, begriffen.
[070:6] Das so skizzierte Verhältnis von Praxis und Theorie hat mehrere Aspekte: 1. Zunächst gibt es überhaupt keine Form von Praxis, die nicht Theorie in irgendeiner Weise enthielte, mindestens in Gestalt der Vorstellungen, Begriffe, Annahmen, die die Bedingung dafür sind, daß eine Handlung überhaupt zustande kommt; insofern ist das Verhältnis von Theorie und Praxis das Verhältnis von Denken und Handeln (Erweiterung der Erfahrung über die je eigene, besondere hinaus). 2. So entsteht ein gesellschaftliches Wissen über pädagogische Praxis, das sich teils als pragmatische Theorie (Alltagswissen), teils als wissenschaftliche Theorie niederschlägt und wiederum auf das Handeln zurückwirkt. 3. Wählt die E. eine
»praxeologische«
Begründung (Benner) für ihre |c 183|eigenen Begriffe, Verfahren und Aussageformen, dann ergibt sich für sie die Aufgabe, diese Spirale aufzuklären (von der besonderen pädagogischen Handlungssituation und ihren theoretischen Elementen ausgehend, über generalisierendes Alltagswissen zum wissenschaftlichen Wissensbestand, seiner Leistungsfähigkeit und Funktion führend und als Aufklärung über diesen Zusammenhang wieder zur besonderen pädagogischen Handlung zurückkehrend). 4. Bei diesem Aufklärungsversuch stößt man auf eine epochal wesentliche Hypothese: Die Wissenssysteme industrieller Gesellschaften tendieren offenbar dazu, technologische Begründungen den praxeologischen vorzuziehen, d.h., die pädagogische Praxis nicht als Handlungsort für Sinnproduktion zu verstehen, sondern als Anwendungsfall für Wissen über Zweck-Mittel-Relationen bei gleichsam konstant gehaltenen Sinnentscheidungen; Erziehen wird dann nicht verstanden als eine fundamentale Form der Konfrontation mit dem Problem der Menschwerdung, sondern als ein Ensemble von Sozial- oder Lerntechniken, das zur Aufrechterhaltung eines kulturell eingespielten Sinnes zweckentsprechend eingesetzt wird; der Begriff
»Bildsamkeit«
umfaßt dann nur noch das Insgesamt der empirischen (anthropologischen, psychologischen, soziologischen, psychiatrischen) Kenntnisse über im Regelfall erwartbare Ausgangslagen, der Begriff
»Bestimmung«
nur noch Handlungsziele, die im Rahmen des je herrschenden Status- und Kompetenzsystems definierbar sind. (5) Sollte diese Hypothese zutreffen, dann ließen sich das Theorie-Praxis-Problem wesentlich betreffende Vorgänge der pädagogischen Wirklichkeit interpretieren: Einerseits können wir gegenwärtig beobachten, daß pädagogische Felder immer dichter mit technologischen Handlungsmodellen besiedelt werden (Curriculumkonstruktionen, Spezialheime, Verhaltenstherapie, Beratungstechniken usw.), sich dabei wissenschaftlicher Konstrukte bedienen, im Typus aber eine
»praxislose Theorie«
(Kamper) darstellen, folgt man dem oben angedeuteten Begriff von Praxis; andererseits zeigt sich eine Flucht in
»theorielose Praxis«
, in Formen spontanen, unaufgeklärten Handelns, eine
»falsche Unmittelbarkeit«
, in der das Übergewicht technologischer Wissensbestände gleichsam unterlaufen werden soll. Auf SozArb/SozPäd angewendet bedeutet – der Möglichkeit nach – das Plädoyer für weitere
»Professionalisierung«
eine Verstärkung der technologischen Wissensbestände, das Plädoyer für
»Selbstorganisation«
eine Verstärkung der theoretisch unaufgeklärten Attitüde der Aktion. Innerhalb dieses Dilemmas muß die E. ihren Weg einer praxeologisch orientierten und in Hinsicht auf ihre Erkenntnisse verläßlichen Theorie finden.
[070:7] Gliederung der E.: Der Ausbau der E. als eine umfangreiche, mit vielerlei Methoden und Theorien operierende, einem breiten Spektrum von Forschungsgegenständen sich zuwendende und deshalb auch in sich relativ differenzierte Disziplin erfolgte erst in jüngster Zeit. Noch bis weit in die 50er Jahre hinein gab es an Universitäten i.d.R. nur einen Lehrstuhl für dieses Fach, zu dessen Verpflichtungen die Lehre der Pädagogik in ihrer ganzen Breite gehörte. Eine Änderung trat zunächst durch den Ausbau der Pädagogischen Hochschulen zu wissenschaftlichen Hochschulen für die Ausbildung des Volksschullehrers, dann durch das meist obligatorische Studium der Pädagogik für die Lehrer an weiterführenden Schulen, den sprunghaften Anstieg der Studentenzahlen in den 60er Jahren, vor allem aber durch die Reformen im Bildungswesen und den dadurch entstandenen Bedarf an Bildung und Erziehungsforschung, schließlich auch durch die Einführung von Magister- und Diplomstudiengängen an den Hochschulen ein. Die dadurch um ein vielfaches erweiterte Lehr- und Forschungskapazität brachte nun auch eine stärkere Differenzierung nach Schwerpunkten oder Einzel-
»Pädagogiken«
mit sich. Während es – der auf die Schule konzentrierten öffentlichen Aufmerksamkeiten für pädagogische Fragen wegen – bis etwa 1962 nur eine allgemeine und eine Schulpädagogik gab mit ersten, aber spärlichen Andeutungen einer SozPäd und einer Theorie der Erwachsenenbildung, konnten schon wenige Jahre später Diplomstudiengänge an den Universitäten angeboten werden mit den Schwerpunkten Schulpädagogik, Erwachsenenbildung, SozPäd, Berufsbildung und Heilpädagogik (Ausbildung, Soziale Berufe). Obwohl diese Gliederung – durch das Diplom nahegelegt – plausibel ist im Hinblick auf die gegenwärtig institutionalisierten Berufsfelder, scheint doch fraglich, ob sie i.S. einer logischen Gliederung der Sache und i.S. einer Antizipation auch künftiger Aufgaben von professionellen Erziehern, Lehrern, Beratern usw. überzeugend genug ist. Nimmt man die Forschungsprobleme, die gegenwärtig diskutiert werden, zum Ausgangspunkt, dann ließe sich eine andere Gliederung denken:
  1. 1.
    [070:8] In der allgemeinen Theorie der Erziehung/Bildung innerhalb der E. werden solche Probleme bearbeitet, die sich auf die gemeinsamen Merkmale aller Situationen beziehen, in denen Menschen – allerdings vorzugsweise unerwachsene – sich in Bildungsprozessen befinden. Darüber hinaus werden für die E. im Ganzen die Fragen nach der angemessenen Forschungsmethode, nach den begründbaren leitenden Begriffen, der praxeologischen (auch ethischen) Orientierung aufgeworfen.
  2. 2.
    [070:9] Die Erziehungs- und Bildungsgeschichtsforschung verfolgt solche Fragen in die Geschichte hinein und überprüft damit zugleich auch historisch-gesellschaftlich konkret Sinn und Funktion der Problemstellungen, die in der allgemeinen Pädagogik aufgeworfen würden. Der nicht nur aufs Allgemeine, sondern auch aufs Konkrete und Besondere bezogenen Arbeitsweise historischer Forschung wegen richtet die historische Pädagogik ihre Aufmerksamkeit – nach einer längeren ideengeschichtlichen Phase – vornehmlich auf die institutionellen Ausprägungsformen des Erziehungs- und Bildungswesens im Verlauf der europäischen Geschichte; das bedeutet gegenwärtig noch vornehmlich die Geschichte des Schulwesens, aber auch Geschichte der Familie, der Jugendhilfe der Sozialisation des Jugendalters und be|c 184|stimmter Teilgruppen der Bevölkerung (Arme, Irre, Delinquente etc.) samt der damit verbundenen segregierenden Einstellungen und Institutionen.
  3. 3.
    [070:10] Die didaktische Forschung bzw. Theorie befaßt sich mit den Formen geplanten Lernens in verschiedenen pädagogischen
    »Settings«
    (Schule, Jugendarbeit, Erwachsenenbildung, Free School, Pädagogik der Entwicklungsländer, Museumsdidaktik, Heimerziehung usw.). Dabei steht gegenwärtig noch die Unterrichts- und fachdidaktische Forschung (Curriculumforschung) im Vordergrund; eine durch wissenschaftliche Forschung gestützte Didaktik der außerschulischen Bildung beispielsweise gibt es noch ebenso nur in ersten Ansätzen wie eine Didaktik der Heimerziehungoder eine didaktische Reflexion der nicht oder nur schwach institutionalisierten Formen der Bildung (Familie, Straße, Subkultur etc.).
  4. 4.
    [070:11] Auch die Theorie der Mittel, Medien und Methoden, der Instrumente der Erziehung befindet sich erst in den Anfängen. Eine erste Systematisierung hat Schulze versucht. Forschungsgegenstand ist hier die breite Skala der
    »Werkzeuge«
    : Körpergesten, Sprache, Spielzeuge, Lernmaterialien, Mittel der Unterstützung und Gegenwirkung, pädagogische Alltagsstrategien usw.
  5. 5.
    [070:12] Die Theorie der Lebensalter und des Lebenslaufs wird immer wichtiger. Besonders Kindheits- und Jugendforschung gibt es auch im internationalen Rahmen umfänglich und verläßlich; die pädagogischen Fragestellungen aber kommen, wegen der i.d.R. nur psychologischen und soziologischen Orientierung solcher Forschung, häufig zu kurz.
  6. 6.
    [070:13] Die Devianz- und Therapieforschung hat sich im letzten Jahrzehnt kräftig entwickelt. Ihr geht es– als pädagogischer Forschung – vor allem um die Frage, nach welchen Regeln die pädagogisch relevanten Klassifikationen von
    »normal«
    und
    »anormal«
    ,
    »verhaltensgestört«
    ,
    »kriminell«
    usw. vorgenommen werden (Abweichendes Verhalten), wie das so klassifizierte Verhalten im Bildungsprozeß entsteht, welche Probleme das für den Educandus mit sich bringt, welches die angemessenen Formen pädagogischen Umgangs (Therapie) wären.
[070:14] Die institutionelle Gliederung der E. folgt gegenwärtig jedoch eher einer Differenzierung nach Ausbildungsgängen. Das hat eine nicht immer nützliche Spezialisierung zur Folge, die dazu führt, daß beispielsweise Lehrer wenig über Devianz, Sozialpädagogen wenig über Didaktik, Berater wenig oder nichts über Bildungsprozesse wissen, sehr zum Nachteil ihrer wissenschaftlich-beruflichen Kompetenz.
[070:15] Eine Gliederung oder Arbeitsteilung der E. wird sich gegenwärtig kaum festschreiben lassen. Kulturtheoretische Problemstellungen gewinnen an Gewicht, damit auch die kulturvergleichende Forschung. Skepsis gegenüber dem
»Eurozentrismus«
der theoretischen Bemühungen nimmt zu. Das Verhältnis von Erziehung und Ökonomie muß neu bedacht werden. Die
»Professionalisierung«
pädagogisch relevanter Berufe bewegt sich teils von der E. weg. Wie also künftig eine Wissenschaft beschaffen sein wird, die sich um die Aufklärung der Frage bemüht, wie die Generationen in verschiedenen Gesellschaften faktisch miteinander umgehen und wie sie miteinander umgehen sollten, läßt sich gegenwärtig nicht zuverlässig sagen.
[070:16] Literatur: D. Benner: Hauptströmungen der Erziehungswissenschaft, München 1978; H. Blankertz: Theorien und Modelle der Didaktik, München ⁹1975; F. Blättner: Geschichte der Pädagogik, Heidelberg 1951; H. Giesecke: Einführung in die Pädagogik, Weinheim/München 1990; D. Lenzen (Hrsg.): Erziehungswissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek 1994; Th. Litt: Führen oder Wachsenlassen, Stuttgart 1949; W. Klafki u.a.: Erziehungswissenschaft, Fischerbücherei Funkkolleg, 3. Bde., Frankfurt/M. 1976 ff.; K. Mollenhauer: Theorien zum Erziehungsprozeß, München 1972; D. Lenzen/K. Mollenhauer (Hrsg.): Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Bd. 1, Theorien und Grundbegriffe der Erziehung, Stuttgart 1983; H. Roth: Pädagogische Anthropologie, 2 Bde., Hannover 1966; J. Speck/E. Wehle: Handbuch pädagogischer Grundbegriffe, 2 Bde., München 1970; Th. Schulze: Methoden und Medien der Erziehung, München 1978; H. Thiersch/H. Ruprecht/U. Herrmann: Die Entwicklung der Erziehungswissenschaft, München 1978.