Rundgespräch im Anschluß an das Gespräch Mollenhauer und Schulze [Textfassung b]
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Diskussion mit Klaus Mollenhauer im Anschluß an das Interview*
*Von dem Rundgespräch mit Klaus Mollenhauer existiert keine Bandaufnahme. Der im folgenden abgedruckte Text wurde aus persönlichen Aufzeichnungen von Hans Bernhard Kaufmann rekonstruiert und von Friedrich Schweitzer aus seinen Notizen ergänzt. Er gibt den tatsächlichen Gesprächsverlauf nur näherungsweise wieder. Obwohl der folgende Text also redaktionell rekonstruiert ist, wurde er aus Gründen der Einheitlichkeit in der Darstellung eines wörtlichen Protokolls abgedruckt.

[V67:1] Das Gespräch zwischen Klaus Mollenhauer und Theodor Schulze unterscheidet sich von den beiden vorhergehenden Gesprächen schon durch den Umstand, daß hier beide Partner derselben Generation angehören und sich seit ihrer
wissenschaftlichen Kindheit
in Göttingen persönlich kennen. Auch das Rundgespräch war von der veränderten Generationenlage geprägt. Die direkte Lehrer-Schüler-Beziehung zwischen den 30- bis 40jährigen und den 50- bis 60jährigen drückte sich in einem lebhaften und zum Teil durchaus streitbaren Gesprächsverlauf aus. Besonders die Kritische Theorie und deren angemessene Aufnahme in der Pädagogik erwies sich als ein solcher Streitpunkt. Die Abwendung Mollenhauers von Begriff und Programm der Emanzipation wurde ihm als
Treulosigkeit
gegenüber all denen, die ihm gefolgt waren, zum Vorwurf gemacht. Aber war es überhaupt eine Abwendung?
[V67:2] Daneben ging es auch in diesem Gespräch um das Thema der Brüche oder der
Vergessenen Zusammenhänge
in der Wissenschaftsentwicklung. Gibt es nicht doch einen
pädagogischen Grundgedanken
(Wilhelm Flitner, der sich auch über die neuzeitliche Pädagogik hinaus, etwa bei Augustin u. a., finden läßt?
[V67:3] Gruschka:
[V67:6] Die unterstellte
Treulosigkeit
hat wohl mit zweierlei zu tun: mit dem Abschied von der Bildungsreform und der Distanzierung von der Gesellschaftskritik, für die die Indienstnahme der Kritischen Theorie wesentlich stand. Warum hat eigentlich die Kritische Theorie die Göttinger Schüler Wenigers letztlich nur kurz und dann auch nicht wirklich konse|b 84|equent beschäftigt? War sie nur Mittel zum Zweck der Emanzipation von dern Lehrern? Als man selbständig geworden war, wurde deutlich, daß bei den Lehrern mehr Identitätssicherndes als bei den Frankfurtern zu finden war. Adorno/Horkheimer – konsequent rezipiert – hätten keine kritische Variante positiver Pädagogik inspirieren können, sondern zu einer negativen Pädagogik gezwungen, die die Sillstellung des Organs der Kritik in der herkömmlichen, die Praxis immer wieder neu positiv auslegenden Pädagogik als Affirmation bekämpfen muß, solange nicht zugleich untersucht wird, warum die gutgemeinte Positivität letzlich notorisch in der Praxis ausbleibt. Das gilt wohlgemerkt für die Aufgabe der Theorie der Erziehung und unabhängig davon, daß Erziehung weiter eine praktische Aufgabe bleibt, die man möglichst gut zu bewerkstelligen und an der man sich auch zu orientieren hat. Ist die Reverenz an die Adresse Wilhelm Flitners im Gespräch ein Indiz dafür, daß Mollenhauer sich überhaupt nie von der geisteswissenschaftlichen Pädagogik emanzipieren wollte? War die Beziehung zur Kritischen Theorie also nur eine Episode in Ihrer kontinuierlichen Suche nach neuen Ansätzen und Fragestellungen?
[V67:7] Mollenhauer:
[V67:9] Es währe wohl zu einfach, wenn schon die Übereinstimmung mit Wilhelm Flitner als Argument der Kritik gelten könnte. Unbestreitbar hat es in der Pädagogik eine sehr produktive sozialwissenschaftlicher Theoriebildung gegeben.
[V67:10] Meine Übereinstimmung mit Wilhelm Flitner betrifft aber einen anderen Punkt: das Kriterium
sachlich begründen und sorgfältig argumentieren
; es ist wichtiger als der Streit um
Wissenschaftlichkeit
. Wenn z. B. Erwin Panofsky Bilder interpretiert, so tut er das nach Regeln, und das muß von anderen überprüft werden können. Pädagogik aber nur nach den Regeln der empirischen Sozialwissenschaften beurteilen zu wollen ist eine Selbstkastration. Ich muß aber so argumentieren, daß ich bereit bin, mich jeder sachlichen Kontrolle zu stellen. Im Grunde ist Wilhelm Flitners Formel
Ich reflektiere über eine Praxis, die mir am Herzen liegt, aber die Reflexion muß stimmen
die liberalste und die produktivste. Mein Hauptproblem mit der Kritischen Theorie liegt darin, daß ich mir, außer als polemisches Etikett, eine
negative Erziehung
nicht vorstellen kann. Eine kritische Erziehungstheorie mit diesen Vorgaben halte ich nicht für möglich.
[V67:13] Gruschka:
[V67:14] Hat Klaus Mollenhauer kein kontinuierliches Thema? Wechselt er immer wieder in neue Bereiche – und alle anderen hinter ihm her? hat er ein Betrachtungsmotiv?
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[V67:15] Mollenhauer:
[V67:16] Ein Thema habe ich nicht. Ich könnte höchstens mit Schleiermacher fragen:
Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren?
[V67:23] Loch:
[V67:24] Die Aufnahme Augustins in den
Vergessenen Zusammenhängen
weist auf eine Tradition der Pädagogik, die über Schleiermacher hinausgeht. Was bedeutet das für unser pädagogisches Denken? Was für eine Zukunft soll unsere Disziplin haben?
[V67:25] Mollenhauer:
[V67:28] Als ich Wilhelm Flitners
Allgemeine Pädagogik
las, war sie mir damals das wichtigste Buch, und besonders wichtig war mir darin die Hypothese, es gebe einen pädagogischen Gedankengang, der sich durch die Geschichte der menschlichen Gattung hindurchzieht. Das hat wenig mit unserem Fach im engeren Sinne zu tun. Auch vorher gab es schon ein pädagogisches Nachdenken, z. B. die Geschichte des Bildungsdenkens in der Frührenaissance. Wie instrumentiert man das?
Hier suche ich selbst nach neuen Entwürfen, die über die fachdisziplinären Ansätze hinausgehen.
[V67:29] Lütgert:
[V67:30] Noch einmal zum Streit um die pädagogische Autonomie: Ich meine, man sollte an einer phänomenologischen Pädagogik Weiterarbeiten, um vielleicht auf diesem Wege zu einem substanziellen Autonomiebegriff zu kommen. So könnten Wissens- und Wirklichkeitszusammenhänge, die den Vorsprung (die Autonomie) des Pädagogischen für die Menschwerdung des Menschen verständlich machen, entdeckt und erarbeitet werden.
[V67:31] Scheilke:
[V67:32] Nach dem bisherigen Stand des Gesprächs müßten m. E. folgende Fragen bearbeitet werden:
  1. 1.
    [V67:33] Wo liegen Zusammenhang und Abgrenzung im Verhältnis von Pädagogik und Politik?
  2. 2.
    [V67:34]
    Die Bedeutung und Reichweite der Sprachformen
    beschreiben, analysieren, werten
    blieben unklar.
    Warum besteht bestimmten Diskussionen gegenüber eine deutliche Sprachlosigkeit? Warum hat die Diskussion um die ökonomischen Probleme die Pädagogik eine Zeitlang so stark beeinflußt?
  3. 3.
    [V67:35] Die erneute Hinwendung zum Bildungsbegriff bedarf weiterer Klärung. Was heißt das für die Bildungspolitik?
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  5. 4.
    [V67:36] Ich habe die
    Wende
    Mollenhauers auch als eine Art Treulosigkeit gegenüber den Adoptivkindern einer emanzipatorischen Pädagogik empfunden. Was bedeutet dieser Traditionsbruch für die junge Generation der Pädagogen, die sich an Mollenhauer und die ihm Gleichgesinnten angeschlossen haben?
[V67:39] Nipkow:
[V67:40] Ich will noch einmal die Idee eines pädagogischen Grundgedankens aufnehmen, der die geschichtlichen Epochen übergreift. Was bedeutet dieser Zusammenhang über die Traditionsbrüche hinweg für die Weiterarbeit in der Pädagogik?
[V67:41] Mollenhauer:
[V67:46] Wie soll man diese Fragen in einer Diskussionsbemerkung beantworten können? Zusammenhang und Abgrenzung zwischen Pädagogik und Politik beispielsweise ist ein Thema, das von Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schleiermacher bis zu Dietrich Benners Entwurf einer Allgemeinen Pädagogik reicht. Darin stecken aber mindestens zwei der Art nach verschiedene Fragen: die immer wieder zu beobachtende und empirisch zu beschreibende Determination von Erziehungsverhältnissen durch die politischen, eine Frage sorgfältiger Analyse also – und die Frage nach den Begründungswegen für eine rechtfertigungsfähige Praxis, sowohl der Pädagogik als auch der Politik, und ihres Zusammenspiels. [V67:47] Die zweite Frage Scheilkes bezieht sich auf die ökonomischen Probleme der Pädagogik. Diese Probleme wurden wichtig, als es zu prüfen galt, ob die Hypothesen der marxistisch-materialistischen Denktradition auch für Praxis und Theorie der Erziehung geltend gemacht werden können. Diese Problemstellung hat – für mich – durch das Studium der
Grundrisse der politischen Ökonomie
, auch der Schriften beispielsweise von Alfred Sohn-Rethel oder Alfred Lorenzer, schließlich auch durch die Beschäftigung mit den ökonomischen Bedingungen für Sozialisationsprozesse, eine Reihe theoretischer Gesichtspunkte erbracht, für die ich keinen Grund sehe, sie aufzugeben. Allerdings hat sich gezeigt, daß die Beweisführungen schwierig werden, wenn es ins wissenschaftliche Detail geht, wenn die großräumigen Strukturen auf die kleinräumigen Vorgänge der Erziehungspraxis bezogen werden sollen. [V67:48] Das hängt dicht zusammen – Scheilke vermutet da richtig – mit der erneuten Hinwendung zum Bildungsbegriff. Mit einer Vorstellung von Bildung, die nur die arbeitsmarktförmige Herstellung eines Kenntnis- und Fähigkeitsprofils theoretisch im Auge hat, ist das Reservoir an interessanten und für Pädagogiik wichtigen Fragen rasch erschöpft. Die Pädagogik tat deshalb gut daran, derartige Problemstellungen wieder zu |b 87|erweitern, also einerseits sich an die Konzepte Herders, Humboldts, Simmels, Plessners (beispielsweise) zu erinnern und andererseits sich die Fragen der kognitiven Entwicklungstheorie und der psychoanalytischen Diskussion anzueignen. Was diese theoretische Arbeit für die Bildungspolitik bedeutet, ist noch nicht ganz leicht auszumachen. Mir scheint aber, daß die Praxis vieler Alternativschulen u. ä. erste Anzeichen sind. [V67:49] Wenn man also derartige Veränderungen der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit eine
Wende
nennen will, möchte ich nicht streiten; es ist aber ein wenig hilfreiches Etikett. Sensibel gemacht durch einen wieder erweiterten Bildungsbegriff denke ich allerdings, daß es nützlich ist, den symbolischen Formen der Bildung des Menschen große Aufmerksamkeit zu widmen. Das ist keine Option für
Kultur
und gegen
Gesellschaft/Ökonomie
– wiederum falsche Etiketten; Ethnologie und Sozialanthropologie belehren usn ja seit langem darüber, daß Werkzeuge einerseits Produktionsmittel, andererseits symbolische Repräsentanzen sind. Die
Adoptivkinder der emanzipatorischen Pädagogik
haben vielleicht zu wenig bedacht, daß ein kräftiger Schritt nach vorn in der Wissenschaft zunächst nur eine große Hypothese ist. Die wird dann, in der Arbeit am Detaik, zunächst ein wenig kleiner.