[V65:1] Diskussion mit Wilhelm Flitner im Anschluß an das
Interview
[V65:2] Das Gespräch zwischen Wilhelm Flitner und Ulrich Herrmann war der beeindruckende
Auftakt der Generationengespräche. Der damals 97jährige Flitner, begleitet und in
der Diskussion unterstützt von seiner Frau Elisabet, überraschte wohl alle durch seine
außerordentliche Konzentration und Lebendigkeit. Durch ihn war die
Pädagogik der 20er und 50er Jahre gleichsam persönlich präsent.
[V65:3] Die im Gespräch aufgenommenen Themen bildeten einen weiten
Kreis. Das Bedürfnis nach authentischer und persönlicher Information
über Fragen der Pädagogikgeschichte – das Verhältnis Flitners zu den Herbartianern und zur
Liberalen Theologie, zum Hohenrodter
Bund, zu Rudolf
Carnap – war dabei ebenso zu spüren wie das Interesse an
offenbar über die Generationen hinweg virulent gebliebenen
Grundsatzfragen: Sind gültige Normen immer schon im Leben und in der
Gesellschaft, enthalten? Ist die wissenschaftliche Reflexion darauf
beschränkt, diese Normen lediglich weiter zu klären und auf einen
Konsens hinzuarbeiten? Inwiefern besitzt die Pädagogik
Einflußmöglichkeiten im Bereich der Politik? Welche religiösen oder
menschlichen Grunderfahrungen sollen und können dem pädagogischen Denken
– damals und heute – zugrundeliegen?
[V65:4] Kaufmann:
[V65:5] Wie reimt sich folgendes zusammen: Sprangers Kritik
an Grisebach,
Ihre positive Einschätzung Grisebachs und zugleich Ihre enge Verbindung zu Spranger?
[V65:6] Flitner:
[V65:7] Ich habe nicht die Position Grisebachs begrüßt, sondern nur die Klarheit
seiner Position, und stimme mit Sprangers Kritik überein.
[V65:8] Schulze:
[V65:9] Wie war Ihr Verhältnis zu Wilhelm Rein?
|b 33|
[V65:10] Flitner:
[V65:11] Rein hat mich zur Habilitation aufgefordert. Er hat mich
mit einer Arbeit über die Grundlagen der Didaktik habilitiert, die
keineswegs seinem System zugehörte.12
12Flitner hat mir
gegenüber gesprächsweise einmal geäußert, es habe sich bei
dieser Habilitationsschrift um einen Versuch gehandelt, den
Kanon der gymnasialen Bildungswege in seinem inneren
Zusammenhang zu begründen. Es würde sich damit um eine frühe
Formulierung seiner bildungstheoretischen Gymnasial-Schriften
der 1950er und 60er Jahre gehandelt haben. Ein Manuskript dieser
Habilitationsschrift ist bisher nicht wieder aufgetaucht (U.
H.).
Dann war da die Zusammenarbeit im Vorstand der JenenserVolkshochschule. Der Herbartianismus war zu sehr mechanisiert. Dies
ging vor allem auf Tuiskon
Ziller zurück, nicht auf Johann Friedrich Herbart selbst und seine Allgemeine Pädagogik von
1806. Ich meine vor allem den Schematismus der Formalstufen-Methodik. Man mußte sich im Gymnasialseminar strikt daran halten. Ähnliche
Probleme haben wir heute.
[V65:12] Loch:
[V65:13] Entsteht das Neue nur durch Treulosigkeit? Können
wir dieser Figur nur schwer entrinnen, obwohl wir doch auf den
Generationszusammenhang so großen Wert legen?
[V65:14] Bollnow:
[V65:15] Nohl war
stolz darauf, der unmittelbare Nachfolger von Herbart zu sein.
[V65:16] Flitner:
[V65:17] Er hat das Grab pflegen lassen.
[V65:18] Nipkow:
[V65:19] Wie war Ihr Verhältnis zur liberalen Theologie,
ferner zu dem religionspädagogischen Anliegen der Herbart-Schule? Bei Tuiskon Ziller
u.a. gingen ja Pädagogik und Religionspädagogik wechselseitig ineinander
auf, und der theologische Grundgedanke, der zugleich vollständig
pädagogisiert und ethisiert wurde, betraf die innerweltliche Verwirklichung
des Reiches Gottes durch Erziehung und Ethik.
[V65:20] Flitner:
[V65:21] Ich stand der liberalen Theologie nahe. Mein Lehrer
war Heinrich Weinel, ein Hauptschüler von Adolf von Harnack. Studiert habe ich auch bei Hans Lietzmann. Die Reich-Gottes-Theologie der Herbartianer ist
mir nicht bekannt. Ich hätte sie auch nicht angenommen.
|b 34|
[V65:22] Scheilke:
[V65:23] Welches waren Ihre Mitstreiter im Hohenrodter Bund?13
13Näheres dazu in
FlitnersLebenserinnerungen und in
seinen Abhandlungen zur Erwachsenenbildung im 1. Band seiner
„Gesammelten Schriften“
.
[V65:24] Flitner:
[V65:25] Dazu gehörten Theodor Bäuerle, Robert von Erdberg, Werner Picht, WolfgangPfleiderer, Oskar Hammelsbeck, Ernst Michel, Martin Buber, Eugen Rosenstock.
[V65:26] Scheilke:
[V65:27] Wodurch entstand dieser Bund?
[V65:28] Flitner:
[V65:29] Er entstand aus einem Streit zwischen der Thüringer
und der Berliner Richtung in der Volksbildungsarbeit. Die Thüringer Richtung
hatte einen universalen Zug, war stark künstlerisch orientiert,
lebensfreudig. Die Berliner Richtung war demgegenüber wissenschaftlich
orientiert, an der allgemeinen Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnis an
die entscheidenden Schichten in der Demokratie
interessiert. Die Wendung zur Demokratie und ihr Inhalt war das Thema. Der
Inhalt fehlte der Weimarer Republik von ihrer Gründung her. Sie war
formal-liberal. Sie ist es geblieben und mit daran gestorben. Die Autonomie
der Pädagogik galt nicht dem zentralen Inhalt. Im Gegenteil: Die Autonomie
ist der Anspruch, die pädagogischen Gedankengänge in ihrer Selbständigkeit ernstzunehmen; sie ist – mit Herbart zu sprechen – ein
„einheimischer
Begriff“
.14
14Zur
Debatte über die
„(relative) Autonomie der
Pädagogik“
in der Weimarer Zeit vgl. (mit den weiteren
Nachweisen) U. Herrmann:
Pädagogische Autonomie. Ein politisch-pädagogisches Prinzip
und seine Folgen in der Zeit der Weimarer Republik in
Deutschland. In: Die deutsche Schule 81 (1989), S.
285–296.
Hinter dem Begriff der Autonomie bzw. der relativen Autonomie der
Pädagogik steht eine ethisch-geistige Grundentscheidung, die arbiträr ist,
die sich aus dem Zusammenspiel der daran Beteiligten erst ergeben kann. Nun
waren im Hohenrodter Bund sowohl
Katholiken wie Protestanten, Marxisten (Hermann Heller) wie Liberale (Theodor Bäuerle, Heuß), religiöse Menschen (Romano Guardini, Martin Buber) und andere. Ich erinnere mich an einen Fußweg von
Freudenstadt nach Hohenrodt. Da diskutierten vor mir drei: Michel, Buber und noch ein dritter. Es war sehr bewegend. Ich blieb
immer hinter ihnen stehen. Es war eine conversatio
sacra.
|b 35|
[V65:30] Loch:
[V65:31] Wo sehen Sie die Verbindung zwischen dem Bund der freien jungen Männer
(August Ludwig Hülsen)15
15Loch spielt an auf
die Parallele zwischen Hülsen und dem Bund der freien Männer um 1800 in Jena – Flitner promovierte
1912 über diesen Bund, seine Dissertation ist im 5. Band seiner
„Gesammelten Schriften“
wiederabgedruckt – und
dem Sera-Kreis vor 1914. Über den
„Sitz im
Leben“
von Flitners Pädagogik vgl. die Aufschlußreiche Arbeit
von J. Burmeister: W. Flitner –
Von der Jugendbewegung zur Volkshochschule und
Lehrerbildung. (Stud. u. Dok. z. dt. Bildungsgesch. Bd. 35.)
Köln/Wien 1987.
und dem Hohenrodter Bund?
Welche Funktionen haben Freundschaften, und welche Bedeutung hat überhaupt das Phänomen des
„Bundes“
in Ihrem Leben?
[V65:32] Flitner:
[V65:33] Ich kann die Bedeutung von beidem nur
bestätigen.
[V65:34] Schweitzer:
[V65:35] Könnten Sie Ihre Auffassung über ethische und
pädagogische Normen noch einmal verdeutlichen?
[V65:36] Flitner:
[V65:37] Gewisse Normen sollten als selbstverständlich
angenommen werden. Wir können dann Konsequenzen aus ihnen ziehen.
[V65:38] Schweitzer:
[V65:39] Handelt es sich hierbei nicht um zwei Ebenen: zum einen um das Leben mit seinen Normen, zum anderen um das Gespräch und
den Diskurs über die Normen?
[V65:40] Flitner:
[V65:41] Die Normen sind uns im Leben gegeben. Sie sind umstritten. Diesen Streit durch Reflexion im Gespräch zu klären wäre die Aufgabe.
[V65:42] Herrmann:
[V65:43] Aber wir können ihn auch entscheiden?
[V65:44] Flitner:
[V65:45] Hier gilt nur der Beweis des Geistes und der Kraft (nach Paulus).
[V65:46] Mollenhauer:
[V65:138] Der Satz
„Normen sind gegeben“
stürzt mich in große Schwierigkeiten.
Wenn wir wissen wollten, welche Normen gegeben sind, |b 36|wissen
wir damit immer noch nicht, welche Normen gelten sollen. Karl Otto Apel reagiert hier ähnlich wie Carnap. Für mich kann
es nur ein Gespräch über die sprachlichen Regelungen für die
Normendiskussion geben.
[V65:47] Rauschenberger:
[V65:140] Es geht nicht nur um
Normen, sondern auch um praktische Fragen, um Handeln, um
Praxis.
[V65:48] Mollenhauer:
[V65:110] Sie haben 1909/10 Carnap kennengelernt.
Waren das zwei verschiedene Wege, die Sie und er gegangen sind? Sie
sagen:
„Die Umgangssprache ist das Medium unserer
Reflexion“
.
[V65:49] Flitner:
[V65:112] Ich bin mit Carnap zeitlebens im
Gespräch geblieben. Für Carnap charakteristisch ist die Resignation.
Lebensfragen und Sinnfragen sind wissenschaftlich nicht
beantwortbar. Mein Einwand: Man muß sie aber stellen!Carnaps Antwort: Wir
müssen sie der Poesie und Religion überlassen. Damit aber kommen wir
wieder ins Alltagssprachliche hinein, so meine ich.
[V65:50] Andreas Flitner:
[V65:51] Entsteht nicht zum Teil die Vorstellung von einem
„Vakuum“
, in das man Normen erst einführen müßte, wogegen Du Dich verwahrt hast?
[V65:52] Flitner:
[V65:53] Im Gespräch der verschiedenen Lebenskreise miteinander kommt doch zutage, was an möglicher geistiger Substanz für die
Demokratie vorhanden wäre, wenn man sie mobilisierte. Meine These: Im Grunde
ist die Sache schon vorhanden, sie ist im Volk lebendig. Aber sie hat sich
noch nicht produktiv organisieren lassen. Ein Beispiel sind die Konfessionsschulen. Für die Reformpädagogik gab es den Streit
überhaupt nicht.
|b 37|
[V65:54] Nipkow:
[V65:55] Da Sie den Streit um die Konfessionsschule während
der Weimarer Republik berühren, fällt mir die Rolle des späteren Bischofs
Otto Dibelius ein, der
1920/21 vehement das Modell einer konfessionell
homogenen evangelischen Erziehungsschule vertrat, auch auf Kosten der
Einheit des öffentlichen staatlichen Schulwesens. Wie sehen Sie das
Verhältnis zwischen dem staatlichen Schulsystem und Schulen in freier Trägerschaft?
[V65:56] Flitner:
[V65:57] Beides muß sein, sonst kommen die öffentlichen Schulen
nicht voran.
[V65:58] Fauser:
[V65:91] Was bedeuten religiöse
Grunderfahrungen für Ihre Pädagogik? In den zwanziger Jahren und heute? Ich darf mich auf meine Lektüre Ihrer Systematischen
Pädagogik beziehen: Der Text war mir zu wenig kritisch,
zu wenig empirisch, als ich ihn zum ersten Mal las. Heute wirkt er
wohltuend nüchtern, praktisch gehaltvoll, aber dann doch im ganzen
als Ausdruck eines säkularen Humanismus, nicht religiöser
Erfahrung.
[V65:59] Flitner:
[V65:93] Es gibt eine spekulative
Philosophie des Religiösen. Ob das eine religiöse Denkform ist, sei
dahingestellt. Die Erzählung, in der ein religiöser Zusammenhang
vorgetragen wird, hat eine spekulative Grundlage (
„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“
). Dies ist das
eine.
[V65:94] Sodann spielen
menschliche Grunderfahrungen bei dem Verständnis religiöser
Grunderfahrungen eine Rolle. Mit Nohl nenne ich die Erfahrung der
Dankbarkeit. Wer das nicht empfindet, versteht nicht religiöse
Dankbarkeit. Dankbarkeit ist alltagssprachlich. Von ihr erhebt sich
ein Moment der Andacht, das Denken an das Ganze. Dankbarkeit und
Andacht sind eine Unterbrechung der gewöhnlichen Denkweisen. Die
Grunderfahrung der Dankbarkeit ist empirisch, die muß ich machen.
Und ich muß den Aufstieg aus dem alltagssprachlichen Verstehen von
Dankbarkeit zum Religiösen ermöglichen, d. h. das auf das Ganze
Bezügliche. Das ist nach Nohl eine religiöse Grunderfahrung.
[V65:95] Oder die Reue. Scheler hat sie
ausführlich beschrieben: daß wir schuldig geblieben sind, das zu
leisten oder zu erdulden, was wir eigentlich hätten leisten oder
erdulden müssen. In der seelischen Tiefe liegt dies Schuldgefühl und
dauert möglicherweise lebenslang an. Ein Schuldgefühl aus ersten
Kindertagen bleibt, und Späteres kommt hinzu. Das Schuldgefühl, daß ich mit im
Krieg gewesen bin, das bleibt. Angesichts dieser Schuld bleibt nur
die Reue. Sie schließt über ihre all|b 38|tägliche
Praxis hinaus den Punkt ein, wo sie sich auf das Ganze des
Schuldigseins, der persönlichen Existenz, auf die ganze Biographie bezieht, und das in Verbindung mit der Andacht gegenüber dem
Ganzen.
[V65:96] Das Gewissen hängt eng
damit zusammen, oder die Liebe. Sie ist im Alltag, im täglichen
Leben beheimatet und bekannt in ihren tausend Variationen. Sie
drängt aus sich selbst heraus auf Ewigkeit. Dann kommt immer wieder
der Punkt, wo das Ganze der Welt hineinspielt. Damit nähern wir uns einer religiösen Grunderfahrung. Sie ist nicht
für jedermann möglich, aber sie ist prinzipiell möglich. Die Dichter
und Propheten sprechen alle davon. Auf diese
religiösen Grunderfahrungen bezieht sich die Meditation der
Andacht.
[V65:60] Kaufmann:
[V65:98] In Ihrer
„Allgemeinen Pädagogik“
gehen Sie weiter. Das pädagogische Handeln zielt auf
„Erweckung der Person“
als einer religiösen
Erfahrung. Zur Personwerdung ist eine Erfahrung der Transzendenz
notwendig, auch wenn wir sie methodisch nicht herbeiführen
können.
[V65:61] Flitner:
[V65:100] Darauf läuft es
hinaus.
[V65:62] Herrmann:
[V65:102] Sind es ethische oder
religiöse Grunderfahrungen?
[V65:63] Nipkow:
[V65:104] Befinden wir uns damit
nicht in der Nähe der Auffassung Schleiermachers, wenn er von
der Anschauung des
„Universums“
spricht?
[V65:64] Flitner:
[V65:106] Das Religiöse ist die
Kontemplation des Ganzen. Das (eigentlich) Reale ist das Ding an
sich, ist Gott.
[V65:65] Fauser:
[V65:108] Ich suche nach einer
vergleichbaren Erfahrung. Für mich gilt eine Art säkulare
Verzweiflung. Was Wilhelm Flitner religiöse Erfahrung nennt, das führt zur Erfurcht. Ich kann Kindern und Menschen gegenüber
auch Ehrfurcht empfinden. Aber einer politischen und pädagogischen
Position möchte ich heute andere Grunderfahrungen
unterlegen.
[V65:66] Schulze:
[V65:114] Welche öffentliche
Wirksamkeit hat der Einspruch der Pädagogik? Das öffentliche
Bildungssystem ist damals nicht vom Konsens des |b 39|Hohenrodter
Bundes geprägt worden. Die Chance der Reformpädagogik war
damals und ist auch heute begrenzt. Wie haben Sie sich damit
auseinandergesetzt?
[V65:67] Flitner:
[V65:116] Such is
life! Ich konnte Hitler nicht verhindern. Eine begrenzte
Pluralität muß man anerkennen, nicht eine unbegrenzte; begrenzt
durch die Normen. Wir dürfen jedoch nicht in den ethischen
Relativismus und einen methaphysischen Nihilismus
ausweichen.
[V65:68] Herrmann:
[V65:118] Man appellierte damals an die Republik als Kulturstaat. Hans Freyer meinte, das sei illusionär.
[V65:69] Flitner:
[V65:120] Illusionär ist es, mit Hilfe
der Pädagogik Politik gestalten zu wollen. Wir können nur Politik
unter pädagogische Ansprüche stellen.
[V65:70] Gruschka:
[V65:122] Wilhelm Flitner bestreitet also, daß
ein theoretischer Pädagoge einen direkten Einfluß auf die Gestaltung
der Schulen haben kann?
[V65:71] Flitner:
[V65:124] Das stimmt nicht. Wer mit dem
Ministerpräsidenten Johannes Rau spricht, muß wissen, was er rät.
[V65:72] Herrmann:
[V65:126] Hier liegt ein Mißverständnis
vor. Pädagogen können als Täter des Wortes höchst einflußreich sein.
Aber was Politiker unabhängig von ihnen tun, dafür kann man die
Pädagogen nicht haftbar machen.
[V65:73] Gruschka:
[V65:128] Wilhelm Flitner steht für eine
bestimmte Wirkung einer Pädagogik, die die Bildungsdiskussion
sinnorientierend beeinflussen wollte. Ist das heute nicht mehr
möglich?
[V65:74] Andreas Flitner:
[V65:130] Die Art von Konsensbildung, an
der Du mitgewirkt hast (Tutzinger Maturitätskatalog, Beratung der
Westdeutschen Rektorenkonferenz), hat die Zeit nicht überlebt. Wir
begegnen freilich heute dem Postulat
„Zurück zur Allgemeinbildung!“
Aber keiner leistet die hierfür notwendige Konsensarbeit, und
es kann sie auch keiner mehr leisten. Wie siehst Du die damalige
Tutzinger Arbeit nachträglich? Der Konsens ist Euch doch |b 40|schon bei der Realisation aus den Fingern
geglitten? Muß man von einer Aussichtslosigkeit der Konsensfindung
heute sprechen?
[V65:75] Flitner:
[V65:132] Jeder für sich? Ist das so?
Frau Knab?
[V65:76] Knab:
[V65:134] Auch die Arbeit des Deutschen Ausschusses für das
Erziehungs- und Bildungswesen, an der ich teilnehmen
durfte, ist als Versuch zu verstehen, zwischen Relativismus und
Nihilismus hindurchzukommen. Wie ist das Scheitern des Versuchs Ende
der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre zu erklären? Wir erfuhren
einerseits die Kritik, daß den Vorschlägen und Empfehlungen
„letzte“
Begründungen fehlten. Zum anderen traf uns die gegenläufige
Kritik an einem vermeintlich zu hohen Verbindlichkeitsgrad der vom
Ausschuß gemachten Vorschläge. Walter Dirks war der Meinung, für das
politisch Wichtige könne man sich begnügen mit einer tragfähigen
Grundlage im Sinne einer
„mittleren Tiefe“
. Das
war aber ein schlechtes Wort. Es diskreditierte schließlich alle.
[V65:77] Dauber:
[V65:136] In meinem Leben sind drei
Erfahrungsbereiche besonders wichtig geworden. An ihnen möchte ich
das Problem der Findung von normativem Konsens verdeutlichen. Es ist
zum einen eine andere Lebenspraxis mit der Leitidee des Rechtes auf
Ungezogenheit. Sie bestimmt mich seit etwa acht Jahren, und hier denken Herbert Stubenrauch, Christian Marzahn und Marianne Gronemeyer ähnlich wie ich. Sodann gehöre ich einer
Freundesgruppe an. Wir treffen uns dreimal im Jahr und suchen einen
gemeinsamen Weg, gemeinsame Antworten. Drittens nenne ich unsere
Verständigungsversuche über die Wirklichkeit im Blick auf die
Zukunft. Lebenspraxis, Gespräch und Reflexion greifen dabei
ineinander.
[V65:78] Herrmann:
[V65:142] Man kann das Normenproblem auch in Wilhelm
Flitners intellektueller Biographie verorten.
Die Gruppe der
„Freideutschen Studenten“
, denen erin seinen Jenenser Studienjahren angehörte, verband immer schon Gleichgesinnte
und Gleichgestimmte, die nicht einverstanden waren mit der herrschenden Kultur des wilhelminischen Zeitalters.
Man wollte sich aber nicht nur intern verständigen, sondern auch um
der öffentlichen Wirksamkeit willen. Die Kriegsheimkehrer sahen neue
Aufgaben vor sich. Darum tat Wilhelm Flitner für sich den Schritt und ging nach Kiel
an die Pädagogische
Akademie, statt ein Extra-Ordinariat an der Universität Leipzig(neben Litt)anzunehmen.
|b 41|
[V65:143] Die gedanklichen
Voraussetzungen bei dem Plan einer öffentlich wirksamen
pädagogischen Volksbildungsinitiative waren das Vertrauen in die
Persönlichkeit und die Idee der Arbeitsgemeinschaft. Hierdurch
sollte Konsensbildung möglich werden. Diese Überzeugung machte jene
Pädagogen aber auch politisch
„blind“
. Sie wußten nicht, was zu tun war, wenn der geforderte
Konsens mit der politischen Lage der Republik nicht vermittelt
werden konnte. Sie hatten zwar, wie ich es nennen möchte, eine
„pädagogische Inversion“
vornehmen können, aber mehr nicht. In diesem Zusammenhang ist auch das Buch über die
„Europäische Gesittung“
zu sehen, das Flitner während der NS-Zeit ausarbeitete. Die Rede von Normen ist nur sinnvoll, wenn sie der Pädagoge
selbst repräsentiert. Aus der Spannung zwischen Politik und Pädagogik entstand darum auch um 1933 bei den Pädagogen eine unsichere
Reaktionslage.
[V65:79] Bollnow:
[V65:147] Die Philosophiegeschichte hat
gezeigt: Es gibt keine Letztbegründungen. Wir müssen den
hermeneutischen Ansatz radikal zu Ende denken. Wir leben in einer
Welt, in der Weltauslegungen und Vorstellungen unterschiedlichster
Art lebendig sind. Man hat Vorstellungen über das, was man tut und
nicht tut. Ich bin allergisch gegen das Wort
„Normen“
. Ich habe nie mit Normen zu tun gehabt. Man muß
fundamentaler ansetzen bei dem, was man tut und nicht tut. Ich
unterscheide auch zwischen Diskurs und
Gespräch. Der Begriff Konsens ist ein schwieriger Kunstausdruck, den
ich ebenfalls vermeide. Es gibt eine Verständigung angesichts einer
konkreten Situation. Diese Verständigung ist noch etwas anderes als
der hier benutzte Begriff des Konsens.
[V65:80] Schweitzer:
[V65:149] Hieran anknüpfend wäre noch
einmal zu fragen, wie das Verhältnis zwischen Wilhelm Flitners Sicht der zwanziger Jahre und dem ist, was er über unsere Zeit weiß. Ist nicht
Flitners Ansatz einem abgehobenen transzendental-philosophischen Ansatz überlegen?
[V65:81] Nipkow:
[V65:151] Ich möchte mit Nachdruck von
den Ausführungen Otto Friedrich Bollnows und Wilhelm Flitners ausgehen. Die
„gegebenen“
Werte braucht man nicht lange zu suchen, sie sind
die der Interessengruppen in der Gesellschaft. In unserer konkreten
Situation stehen die Pädagogen vor der Herausforderung, wie sie den
Interessen der neokonservativen Bildungs- und Schulpolitik der
Tendenzwende begegnen sollen. Ich erinnere an die Entwicklung, die
ungefähr mit dem Bonner Forum
„Mut zur Erziehung“
Anfang 1978
eingesetzt hat. Daneben stehen für mich persön|b 42|lich die Herausforderungen und die eigenen Interessen, die ich mit
den sogenannten
„neuen sozialen Bewegungen“
verbinde. Pädagogik kann und muß auch als Wissenschaft an dieser
Auseinandersetzung inmitten der spannungsreichen gesellschaftlichen
Interessenlage teilnehmen. Mein persönlicher Standpunkt ist hierbei
auf der Seite neuer Wertprioritäten. Ich trete ein für eine konkretere Lebensform, für eine Pädagogik
und Gesellschaftspolitik der Umkehr angesichts beispielloser
Bedrohungen, die mit dem schieren Überleben auf dieser Erde
beginnen.
[V65:82] Dauber:
[V65:153] Im Blick auf meinen Vorredner
freue ich mich, keinen Vatermord begehen zu müssen. Ich sehe die
Aufgabe der Pädagogik ähnlich. Die Hauptaufgabe ist, Gegenwerte zur nekrophilen Kultur unserer
Zeit zu formulieren, eine Gegenposition zu
„Weiter
so Deutschland!“
[V65:83] Mollenhauer:
[V65:155] Es gab damals in den zwanziger Jahren schon einmal gegensätzliche Krisenverarbeitungsformen: auf der einen Seite die Dada-Bewegung, auf der anderen Seite zum BeispielWalter Benjamin. Ich sehe eine Ungleichzeitigkeit des
Gleichzeitigen. Wilhelm
Flitner verkörperte einen Teil dieser Zeit und ihrer
Generation.
[V65:84] Loch:
[V65:157] Ich bin immer noch unsicher
hinsichtlich des wissenschaftlichen Status der Pädagogik. Was ist das, ein die Menschen aufbauendes Reden? Für mich ist das ganz
fremd, ein ganz anderes Genus.
[V65:85] Herrmann:
[V65:159] Was Sie ein ganz anderes Genus nennen, nannte
Herbart gerade den
„eigenen Gedankenkreis“
der Pädagogik. Dieser eigene
Gedankenkreis hängt schon mit Rousseaus Differenzerfahrung zwischen dem
Individuum einerseits und dem Allgemeinen andererseits zusammen. Es hat
zu tun mit der Bewahrung von nichtentfremdetem Leben inmitten von
Entfremdung. Wilhelm
Flitner wollte Identität, nicht Entfremdung. Aber das alles
nicht zeitabgehoben. Die Rede von Generationen macht nur Sinn, wenn man
Kohorten in ihren spezifischen Zeiterfahrungen mitbedenkt. Wilhelm Flitner und die
Freideutschen Studenten
wollten einen Neuaufbau entgegen den Lebensmustern des wilhelminischen
Zeitalters. Um so etwas zu verwirklichen, muß Flitner auf der
„pädagogischen Inversion“
beharren, und es zeigen sich deutliche
Verbindungslinien zu dem, was die jüngeren unter uns wie z. B. Dauber zuletzt im Blick auf
die Postmoderne gesagt haben.
Anmerkung:
[V65:161] Die von
Wilhelm Flitner erwähnten
Schriften sind jetzt zugänglich in seinen
„Gesammelten
Schriften“
, die im Verlag Schöningh-Paderborn erscheinen. Den dort in Band 11 erschienenen
„Erinnerungen 1889–1945“
sind die näheren biographischen
und werkgeschichtlichen Einzelheiten zu entnehmen. Vgl. auch die über 1945 hinausführende
Selbstdarstellung Flitners in: L. A. Pongratz (Hrsg.): Pädagogik in Selbstdarstellungen Bd. II,
Hamburg 1976, S. 146–197.